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Sigurd
Hebenstreit
Mit
den Augen der Kinder sehen:
Was
heißt „Erfolg oder Misserfolg in der
Kindergartenerziehung"?
in:
Welt des Kindes, 1995, Heft 2, S. 34
bis 39
Fragen
Erfolg
in einem Wirtschaftsunternehmen mag
sich in objektiven Zahlen ausdrücken
lassen: der Gewinn, der den Unternehmern
verbleibt, die Steigerung der Produktivitätsrate
im Vergleich zum Vorjahr, die Verbesserung
des Marktanteils gegenüber der Konkurrenz.
Aber Erfolg im erzieherischen Bereich
angeben? Die Erhöhung des Intelligenzquotienten
der Kinder? Die Verbesserung ihrer Schulchancen
in der nachfolgenden Grundschule? Die
Steigerung der sozialen Verträglichkeit,
gemessen durch objektive Beobachtungen?
"Ein Kind ist kein Lotterielos,
auf das der Gewinn eines Porträts im
Sitzungssaal eines Magistrats oder einer
Marmorbüste im Vestibül eines Theaters
fallen kann." (Janusz Korczak,
Das Kind lieben; Frankfurt 19883,
S. 116f)
Viele
Erzieherinnen wehren sich gegen objektive
Beurteilungen ihrer Arbeit als Erfolg
oder Misserfolg, und gerade diejenigen,
die sich um eine "offene"
Kindergartenarbeit bemühen, wollen
mit der größeren Freiheit, die sie Kindern
gewähren, selber frei sein, den gegenwärtigen
Augenblick zu gestalten, "situativ"
aufzunehmen, was sich gerade ergibt,
sich selber so geben zu können, wie
sie sich fühlen. Erfolg und Misserfolg
der Erziehungsarbeit lässt sich so nicht
objektiv messen, sondern man kann nur
subjektiv erspüren, ob die Alltagsgestaltung
gelungen ist, ob man sich selbst "gut
fühlt" und ob die Kinder sich "wohl
fühlen".
Was
aber, wenn die eigenen Gefühle trügen?
Oder wenn zwischen dem Erfühlen der
Erzieherin im Kindergartenalltag und
dem von 25 Kindern eine Diskrepanz auftaucht?
Oder wenn es da ein einziges Kind gibt,
das sich in die allgemeine Gefühlslage
nicht einpasst? Gefühle sind diffus,
und des öfteren täuscht einen das sprachlose
Mitfühlen. Würde die Beurteilung des
Erfolges einer Erziehungssituation
sich ausschließlich auf Emotionalität
gründen, so wäre sie hilflos den Stimmungsschwankungen
ausgesetzt. Also bedarf es doch einer
Objektivierung, wenngleich keiner quantifizierenden,
sondern einer sich sprachlich verständigenden.
Zu
stellen ist auch die Frage danach, was
als Erfolg von Kindergartenerziehung
zu gelten hat. Erfolgreich könnte eine
solche genannt werden, die die kognitive
Kompetenz, die emotionale Ausdrucksfähigkeit,
die soziale Handlungsmöglichkeit der
Kinder verbessert; oder eine solche,
die die Bedürfnisse der Eltern weitgehend
befriedigt; oder eine solche, die die
Ansprüche des Trägers entscheidend berücksichtigt;
oder eine solche, die für die Erzieherinnen
eine größtmögliche Berufszufriedenheit
verschafft. Pragmatisch ließe sich antworten,
erfolgreiche Kindergartenerziehung
zeichne sich dadurch aus, dass sie die
Bedürfnisse aller Beteiligten befriedige.
Doch was, wenn die unterschiedlichen
Aspekte zueinander in Konflikt stünden,
wenn die Bedürfnisse von Kindern sich
mit denen von Eltern nicht decken oder
die Ansprüche des Trägers mit denen
von Erziehrinnen nicht identisch sind?
Was macht den Kern des Kindergartengeschehens
aus, von dem aus sich ergibt, ob die
Erziehung erfolgreich ist oder nicht?
Und
noch eine letzte Frage: Was ist der
Maßstab, mit dem der Erfolg zu messen
ist? Ist es der der "großen Zahl",
die dann von Erfolg redet, wenn die
überwiegende Mehrheit oder doch die
meisten der Kinder, Eltern, Erzieherinnen,
Träger zufrieden sind? Oder ist es der
der "gleichen Verteilung",
d.h. wenn alle ein wenig bedient werden.
Ist es der des "geringsten Widerstandes",
nach dem erfolgreich Sein bedeutet,
es herrsche "Ruhe an der Front",
kein offenes Auftreten von Konflikten?
Oder ist es der der "aktuellen
Zustimmung", die auf das Hier
und Jetzt schaut, ohne sich um die längerfristige
Bewertung zu scheren? Der Fragen sei
genug, versuchen wir einige Antworten.
Aspekte
Eltern stellen folgende Fragen: Hat der Kindergarten über Mittag geöffnet,
so dass ich mir wieder eine Halbtagsbeschäftigung
suchen kann? Wird mein schwieriger Tobias
auch im Kindergarten bleiben können,
wenn er ganz frech ist? Lernen die Kinder
dort schön basteln? Werden auch Feste
nur für Erwachsene gefeiert? Werden
sie mir helfen, dass sich die Sprachschwierigkeiten
meines Jungen verlieren? Kann meine
Tochter ausnahmsweise ein wenig länger
bleiben, wenn ich mich aus der Stadt
verspäte? Werde ich andere Eltern kennen
lernen, mit denen ich auch außerhalb
des Kindergartens etwas unternehmen
kann? Im Vordergrund solcher und ähnlicher
Fragen stehen einerseits Erwartungen
der Eltern in Bezug auf die Normalität
ihrer Kinder, die sie im Kindergarten
erstmals mit anderen, gleichaltrigen
Kindern verglichen sehen und für die
sie sich Lernprozesse wünschen, die
eine erfolgreiche (Schul-)Laufbahn ebnen.
Andererseits geht es um eigene Erwachsenenansprüche: die Ermöglichung der besseren Vereinbarkeit
von Familie und Beruf genau so wie die
Erschließung eigener sozialer Kontakte.
Trägervertreter werden folgende Fragen stellen: Wie viel kostet mich
der Kindergarten? Wird sich die neue
Erzieherin in das Team integrieren?
Wird der Osterfamiliengottesdienst
gut klappen? Werden Eltern sich nicht
beschweren? Was bringt der Kindergarten
für die religiöse Erziehung des Kindes?
Wird die neue Leiterin die verkrusteten
Strukturen aufbrechen können? Steht
meine persönliche Inanspruchnahme in
richtigem Verhältnis zum Ertrag? Im
Vordergrund steht einerseits der Kindergarten
als Institution, die Geld und Zeit kostet,
und andererseits die Chance, Zielgruppen
für das übergreifende weltanschauliche
Angebot zu erreichen.
Erzieherinnen fragen: Werden wir uns im Team zusammenraufen, so dass
ich ohne Magenschmerzen morgens zur
Arbeit gehen kann? Werde ich den Ansprüchen
der immer schwierigeren Kinder gerecht?
Werden die Eltern mir meine Unsicherheit
auf dem Elternabend anmerken? Werde
ich morgen nicht mehr so aufbrausend
reagieren, wenn Sven mich mal wieder
nervt? Habe ich Spaß an der Arbeit,
oder überwiegt das Gefühl, sie fresse
mich auf? Werden die einzelnen Elemente
der geplanten didaktischen Einheit
gut klappen? Im Vordergrund stehen hier
einerseits die Dienstleistungsaufgaben
für die einzelnen Nutznießer der Veranstaltung
Kindergarten und andererseits die Frage
nach der eigenen Berufszufriedenheit.
Jede
der am Kindergarten beteiligten Erwachsenengruppen
weist gleichsam zwei Seiten auf: die
eine ist der Vertretung der jeweils
eigenen Interessen zugewandt, während
die andere sich auf das Kind bezieht.
Zu der ersten ist an dieser Stelle nichts
zu sagen, denn der Ausgleich zwischen
unterschiedlichen Interessen von Erwachsenengruppen
ist keine pädagogische Frage, sondern
eine politische. Die zweite, auf das
Kind gerichtete Seite gilt es dagegen
ein wenig näher zu beleuchten, da sie
in Bezug auf den pädagogischen Erfolg
von Erziehung die zentrale ist.
Meine
These lautet: Alle drei am Kindergartengeschehen
beteiligten Erwachsenengruppen instrumentalisieren
das Kind, wenn sie die jeweils eigenen
Bedürfnisse hinter der spezifischen
Sichtweise ihres Zugangs zum Kind verschwinden
lassen. Nichts ist im Kindergarten
konzeptionell schwieriger, als dass
Erzieherinnen, Eltern und Träger ihre
Erwachsenenbrillen ablegen und den Kindergarten
aus der Perspektive des Kindes, seines
Anspruchs auf Befriedigung seiner Entwicklungsbedürfnisse
betrachten. Wenn aber nach Erfolg oder
Misserfolg in der Kindergartenerziehung
gefragt wird, ist dieser Schritt notwendig:
Wir müssen uns von unserem Erwachsenenblick
distanzieren, um danach fragen zu können,
was für dieses Kind erzieherisch geboten
ist. Wir müssen Ziele, Inhalte, Methoden,
Medien unserer Erziehung aus der Perspektive
von Kindern betrachten, um Kriterien
dafür entwickeln zu können, ob sie erfolgreich
ist oder nicht. Nicht ob ein von uns
gesetztes Ziel durch den Erziehungsprozess
erreicht ist, ist dann die Frage, sondern
ob wir Hilfe haben geben können, damit
das Kind zu seinem Ziel kommt.
Erziehung
Ein
Blick in die Geschichte pädagogischen
Denkens zeigt, dass die Vorstellungen
von Erziehung um zwei extreme Positionen
kreisen:
• Das Kind kann gesehen werden als von Natur
aus gut, als von Gott mit einem eigenen
Schöpfungsplan bedacht, den es im Verlaufe
seiner Entwicklung realisieren muss.
Alles Wesentliche trägt es in sich,
seine Begabungen, seine Sittlichkeit,
seine Religiosität, den Kern seiner
Persönlichkeit; und die Aufgabe von
Erziehung besteht darin, Raum und Zeit
zu schaffen, Material und die eigene
Person anzubieten, damit der angelegte
Entwicklungsplan sich gestalten kann.
• Das Kind ist kognitiv, emotional, religiös
betrachtet noch ein Niemand, es bringt
nur seine "Weltoffenheit"
mit sich, die Bereitschaft, die Spuren
der Welt in sich aufzunehmen. Erziehung
hat die Aufgabe, gemäß den Vorgaben
der Gesellschaft das Kind zu prägen,
zu formen, festzulegen, zu schaffen.
Das
sind die beiden Grundfragen, die das
jeweilige Erziehungsverständnis prägen:
Liegt der Ausgangspunkt und das Movens
der Entwicklung in dem Kind selbst,
oder wird sie von Außen angestoßen;
und ist das Ziel der Erziehung das "zu-sich-selber-Kommen"
des Kindes, oder besteht es in dem Aufbau
von Qualifikationen, damit das Kind
in der Gesellschaft handlungsfähig wird?
Der nicht enden wollende Streit darüber,
was Erziehung sei und welchen Zielen
sie sich verpflichten müsse, um erfolgreich
zu sein, hat darin seinen Grund, dass
die Widersprüchlichkeit der beiden Positionen
in der Wirklichkeit selbst (dem Großwerden
von Kindern in der Welt) angelegt
ist. Wenn ich im Kindergarten erziehe
oder wenn ich über Kindergartenerziehung
nachdenke, muss ich immer zwei Pole
zur gleichen Zeit berücksichtigen, die
beide gleichermaßen "Recht"
haben:
• Ich kann aus einem Kind nicht machen, was
ich will, sondern ich muss seine Persönlichkeit,
die mit der Geburt auf der Welt erscheint,
respektieren; gleichzeitig aber: ein
Kind wird verkümmern und seelisch verkrüppeln,
wenn ihm bestimmte Erwachsene keine
Vorbilder anbieten, keinen Widerstand
gegen einen hemmungslosen Egoismus
leisten, keine Variationsbreite möglicher
Erwachsenenentwürfe präsentieren.
• Das Ziel der Erziehung ist die Herausbildung
einer eigenständigen Persönlichkeit,
die Darstellung einer einmaligen Individualität;
gleichzeitig aber: ein Kind muss kognitive,
emotionale und soziale Kompetenzen erwerben,
damit es später einen Arbeitsplatz
finden, am sozialen und politischen
Leben teilnehmen, eine Familie gründen,
eine stabile Wertebasis entwickeln kann.
• Das Kindergartenkind lebt im Hier und Jetzt,
und es hat ein Anrecht darauf, dass
es Hilfen bekommt, in dieser Gegenwart
glücklich leben zu können; gleichzeitig
aber: was wir heute pädagogisch tun,
hat auch einen Blick auf die Zukunft
der Kinder. Wenn wir uns ausschließlich
auf die Gegenwart beziehen würden, verbauten
wir dem Kind Chancen und würden damit
verantwortungslos handeln.
Gegenwart
Werfen
wir nach diesen grundsätzlichen Bestimmungen
noch einen Blick auf die Gegenwart unserer
Kinder, die wir an zwei Beispielen
andeuten. Noch nie wurden so viele Kinder
so früh, so lange und so umfassend in
speziellen Kinderinstitutionen betreut
wie heute - von der Krippe über den
Kindergarten bis zur Schule und den
begleitenden Hort verbringen viele Kinder
einen großen Zeitabschnitt ihres Tages
und Kinderlebens in speziell für sie
geschaffenen Einrichtungen. Nach der
Durchsetzung des privaten Fernsehens
und der Ausdehnung von immer mehr Programmen
über die gesamte Tages- und Nachtzeit
wird gegenwärtig die Einführung spezieller
Kinderkanäle erwogen, sowohl privat
wie öffentlich-rechtlich organisiert.
Kinder
werden zunehmend in spezialisierte Kinderräume
eingeschlossen und aus dem normalen
gesellschaftlichen Verkehr ausgegrenzt,
weil Kindheit für die Funktionalität
unseres Erwachsenenlebens etwas Störendes
ist. Erfolgreich ist die institutionalisierte
Erziehung dann, wenn sie den Erwachsenen
die Kinder vom Leibe hält und wenn sie
didaktisches Geschick entwickelt, den
immer größer werdenden Sprung von kindlichen
Erlebens- und Handlungsweisen zu denen
von Erwachsenen möglichst schnell,
vollständig und effektiv zu schaffen.
Pädagogisch
lässt sich diese zunehmende gesellschaftliche
Tendenz der Vertreibung von Kindlichkeit
beklagen, aber nicht aufhalten. Vielleicht
ist es ein Weg, die Gettoisierung von
Kindern zu nutzen, um Räume, Zeit und
Material so zu gestalten, dass Kindlichkeit
von Kindern dort gelebt werden kann.
Erfolgreich wäre Erziehung dann, wenn
sie der vorherrschenden Tendenz des
Blickens auf die Zukunft ein retardierendes
Moment entgegensetzte: nicht "entwickle
dich möglichst schnell und effektiv
zu einem Kindergarten- und Schulkind,
zu einem Jugendlichen und Erwachsenen",
sondern "bleibe möglichst lange
und intensiv, was du jetzt bist".
Eine so verstandene Erziehung wäre
erfolgreicher, wenn sie didaktisch schlechter
würde und statt dessen einen pädagogischen
Blick dafür entwickelte, die Welt und
uns selbst mit den Augen der Kinder
zu betrachten. Sie wäre erfolgreicher,
wenn sie weniger perfekt wäre - von
den Gebäuden über die Raumgestaltung
und das Material bis zu dem einstudierten
Erziehungsstil - und statt dessen mehr
Schmuddeligkeit zuließe (weil unsere
pädagogische Welt so ist, wie sie ist,
muß wahrscheinlich auch diese Schmuddeligkeit
erst wieder didaktisch kreiert werden).
Friedrich
Fröbel überschrieb seinen Aufruf zur
Gründung des Kindergartens mit den Worten:
"Kommt, laßt uns unsern Kindern
leben!"
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