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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1994 - 1

  Home / Texte / I / 1994 / 1

Sigurd Hebenstreit

Mit den Augen der Kinder sehen:

Was heißt „Erfolg oder Misserfolg in der Kindergartenerziehung"?

in: Welt des Kindes, 1995, Heft 2, S. 34 bis 39

Fragen

Erfolg in einem Wirtschaftsunternehmen mag sich in objektiven Zahlen ausdrücken lassen: der Gewinn, der den Unternehmern verbleibt, die Steigerung der Produktivitätsrate im Vergleich zum Vorjahr, die Verbesserung des Marktanteils gegenüber der Kon­kurrenz. Aber Erfolg im erzieherischen Bereich angeben? Die Erhöhung des Intelligenzquotienten der Kinder? Die Verbesserung ihrer Schulchancen in der nach­folgenden Grundschule? Die Steigerung der sozialen Verträglichkeit, gemessen durch objektive Beob­achtungen? "Ein Kind ist kein Lotterielos, auf das der Gewinn ei­nes Porträts im Sitzungssaal eines Magistrats oder einer Marmorbüste im Vestibül eines Theaters fallen kann." (Janusz Korczak, Das Kind lieben; Frankfurt 19883, S. 116f)

Viele Erzieherinnen wehren sich gegen objektive Beurteilungen ih­rer Arbeit als Erfolg oder Misserfolg, und gerade diejenigen, die sich um eine "offene" Kindergartenar­beit bemühen, wollen mit der größeren Freiheit, die sie Kindern gewähren, selber frei sein, den gegenwärtigen Augenblick zu gestalten, "situativ" aufzunehmen, was sich gerade ergibt, sich selber so geben zu können, wie sie sich fühlen. Erfolg und Misserfolg der Erziehungsarbeit lässt sich so nicht objektiv messen, sondern man kann nur subjektiv erspüren, ob die Alltagsgestaltung gelungen ist, ob man sich selbst "gut fühlt" und ob die Kinder sich "wohl fühlen".

Was aber, wenn die eigenen Gefühle trügen? Oder wenn zwischen dem Erfühlen der Erzieherin im Kindergartenalltag und dem von 25 Kindern eine Diskrepanz auf­taucht? Oder wenn es da ein einziges Kind gibt, das sich in die allgemeine Gefühls­lage nicht einpasst? Gefühle sind diffus, und des öfteren täuscht einen das sprach­lose Mitfühlen. Würde die Beurteilung des Erfolges einer Erziehungssi­tuation sich aus­schließlich auf Emotionalität gründen, so wäre sie hilflos den Stimmungsschwankun­gen ausgesetzt. Also bedarf es doch einer Objektivierung, wenngleich keiner quan­tifizierenden, sondern einer sich sprachlich verständigenden.

Zu stellen ist auch die Frage danach, was als Erfolg von Kindergar­tenerziehung zu gelten hat. Erfolgreich könnte eine solche genannt werden, die die kognitive Kom­petenz, die emotionale Ausdrucks­fähigkeit, die soziale Handlungsmöglichkeit der Kinder verbessert; oder eine solche, die die Bedürfnisse der Eltern weitgehend be­friedigt; oder eine solche, die die Ansprüche des Trägers entscheidend berücksich­tigt; oder eine solche, die für die Erzieherinnen eine größtmögliche Berufszufrieden­heit verschafft. Pragmatisch ließe sich antworten, erfolgreiche Kindergartenerzie­hung zeichne sich dadurch aus, dass sie die Bedürfnisse aller Beteiligten befriedige. Doch was, wenn die unterschiedlichen Aspekte zueinander in Konflikt stünden, wenn die Bedürfnisse von Kindern sich mit denen von Eltern nicht decken oder die An­sprüche des Trägers mit denen von Erziehrinnen nicht identisch sind? Was macht den Kern des Kindergartengeschehens aus, von dem aus sich ergibt, ob die Erziehung erfolgreich ist oder nicht?

Und noch eine letzte Frage: Was ist der Maßstab, mit dem der Er­folg zu messen ist? Ist es der der "großen Zahl", die dann von Er­folg redet, wenn die überwiegende Mehrheit oder doch die meisten der Kinder, Eltern, Erzieherinnen, Träger zufrieden sind? Oder ist es der der "gleichen Verteilung", d.h. wenn alle ein wenig bedient werden. Ist es der des "geringsten Widerstandes", nach dem er­folgreich Sein be­deu­tet, es herrsche "Ruhe an der Front", kein of­fenes Auftreten von Konflikten? Oder ist es der der "aktuellen Zu­stimmung", die auf das Hier und Jetzt schaut, ohne sich um die längerfristige Bewertung zu scheren? Der Fragen sei genug, versu­chen wir ei­nige Antworten.

Aspekte

Eltern stellen folgende Fragen: Hat der Kindergarten über Mittag geöffnet, so dass ich mir wieder eine Halbtagsbeschäftigung suchen kann? Wird mein schwieriger To­bias auch im Kindergarten bleiben können, wenn er ganz frech ist? Lernen die Kin­der dort schön ba­steln? Werden auch Feste nur für Erwachsene gefeiert? Wer­den sie mir helfen, dass sich die Sprachschwierigkeiten meines Jungen verlieren? Kann meine Tochter ausnahmsweise ein wenig länger bleiben, wenn ich mich aus der Stadt verspäte? Werde ich andere Eltern kennen lernen, mit denen ich auch au­ßer­halb des Kin­dergartens etwas unternehmen kann? Im Vordergrund solcher und ähnlicher Fragen stehen einerseits Erwartungen der Eltern in Bezug auf die Normalität ihrer Kinder, die sie im Kindergarten erstmals mit anderen, gleichaltrigen Kindern verglichen sehen und für die sie sich Lernprozesse wünschen, die eine erfolgreiche (Schul-)Laufbahn ebnen. Andererseits geht es um  eigene Erwachsenenan­sprüche: die Ermöglichung der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf genau so wie die Erschließung eigener sozialer Kon­takte.

Trägervertreter werden folgende Fragen stellen: Wie viel kostet mich der Kindergar­ten? Wird sich die neue Erzieherin in das Team integrieren? Wird der Osterfamilien­gottesdienst gut klappen? Wer­den Eltern sich nicht beschweren? Was bringt der Kindergarten für die religiöse Erziehung des Kindes? Wird die neue Leiterin die ver­krusteten Strukturen aufbrechen können? Steht meine persönliche Inanspruchnahme in richtigem Verhältnis zum Ertrag? Im Vorder­grund steht einerseits der Kindergarten als Institution, die Geld und Zeit kostet, und andererseits die Chance, Zielgruppen für das über­greifende weltanschauliche Angebot zu erreichen.

Erzieherinnen fragen: Werden wir uns im Team zusammenrau­fen, so dass ich ohne Magenschmerzen morgens zur Arbeit gehen kann? Werde ich den Ansprüchen der immer schwierigeren Kinder gerecht? Werden die Eltern mir meine Unsicherheit auf dem Eltern­abend anmerken? Werde ich morgen nicht mehr so aufbrausend rea­gie­ren, wenn Sven mich mal wieder nervt? Habe ich Spaß an der Arbeit, oder über­wiegt das Gefühl, sie fresse mich auf? Wer­den die einzelnen Elemente der geplan­ten didaktischen Einheit gut klappen? Im Vordergrund stehen hier einerseits die Dienstlei­stungsaufgaben für die einzelnen Nutznießer der Veranstaltung Kindergar­ten und andererseits die Frage nach der eigenen Berufs­zufriedenheit.

Jede der am Kindergarten beteiligten Erwachsenengruppen weist gleichsam zwei Seiten auf: die eine ist der Vertretung der jeweils eigenen Interessen zugewandt, während die andere sich auf das Kind bezieht. Zu der ersten ist an dieser Stelle nichts zu sagen, denn der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen von Er­wachsenengruppen ist keine pädagogische Frage, sondern eine politische. Die zweite, auf das Kind gerichtete Seite gilt es dagegen ein wenig näher zu beleuch­ten, da sie in Bezug auf den pädagogi­schen Erfolg von Erziehung die zentrale ist.

Meine These lautet: Alle drei am Kindergartengeschehen beteiligten Erwachsenen­gruppen instrumentalisieren das Kind, wenn sie die jeweils eigenen Bedürfnisse hin­ter der spezifischen Sichtweise ihres Zugangs zum Kind verschwinden lassen. Nichts ist im Kin­dergarten konzeptionell schwieriger, als dass Erzieherinnen, Eltern und Träger ihre Erwachsenenbrillen ablegen und den Kindergarten aus der Perspektive des Kindes, seines Anspruchs auf Befriedi­gung seiner Entwicklungsbedürfnisse betrach­ten. Wenn aber nach Erfolg oder Misserfolg in der Kindergartenerziehung gefragt wird, ist dieser Schritt notwendig: Wir müssen uns von unserem Er­wachsenenblick di­stanzieren, um danach fragen zu können, was für dieses Kind erzieherisch geboten ist. Wir müssen Ziele, In­halte, Methoden, Medien unserer Erziehung aus der Perspek­tive von Kindern betrachten, um Kriterien dafür entwickeln zu können, ob sie erfolg­reich ist oder nicht. Nicht ob ein von uns gesetztes Ziel durch den Erziehungsprozess erreicht ist, ist dann die Frage, son­dern ob wir Hilfe haben geben können, damit das Kind zu seinem Ziel kommt.

Erziehung

Ein Blick in die Geschichte pädagogischen Denkens zeigt, dass die Vorstellungen von Erziehung um zwei extreme Positionen kreisen:

     Das Kind kann gesehen werden als von Natur aus gut, als von Gott mit einem eigenen Schöpfungsplan bedacht, den es im Verlaufe seiner Entwicklung reali­sieren muss. Alles Wesentliche trägt es in sich, seine Begabungen, seine Sittlich­keit, seine Re­ligiosität, den Kern seiner Persönlichkeit; und die Aufgabe von Er­ziehung besteht darin, Raum und Zeit zu schaffen, Material und die eigene Per­son anzubieten, damit der angelegte Entwick­lungsplan sich gestalten kann.

     Das Kind ist kognitiv, emotional, religiös betrachtet noch ein Niemand, es bringt nur seine "Weltoffenheit" mit sich, die Be­reitschaft, die Spuren der Welt in sich aufzunehmen. Erziehung hat die Aufgabe, gemäß den Vorgaben der Gesell­schaft das Kind zu prägen, zu formen, festzulegen, zu schaffen.

Das sind die beiden Grundfragen, die das jeweilige Erziehungs­verständnis prägen: Liegt der Ausgangspunkt und das Movens der Entwicklung in dem Kind selbst, oder wird sie von Außen ange­stoßen; und ist das Ziel der Erziehung das "zu-sich-selber-Kommen" des Kindes, oder besteht es in dem Aufbau von Qualifikationen, damit das Kind in der Gesellschaft handlungsfähig wird? Der nicht enden wollende Streit darüber, was Erziehung sei und welchen Zielen sie sich verpflichten müsse, um erfolg­reich zu sein, hat darin seinen Grund, dass die Widersprüchlichkeit der beiden Posi­tionen in der Wirklichkeit selbst (dem Großwerden von Kin­dern in der Welt) ange­legt ist. Wenn ich im Kindergarten erziehe oder wenn ich über Kindergartenerzie­hung nachdenke, muss ich immer zwei Pole zur gleichen Zeit berücksichtigen, die beide glei­chermaßen "Recht" haben:

     Ich kann aus einem Kind nicht machen, was ich will, sondern ich muss seine Per­sönlichkeit, die mit der Geburt auf der Welt erscheint, respektieren; gleichzeitig aber: ein Kind wird verkümmern und seelisch verkrüppeln, wenn ihm bestimmte Er­wachsene keine Vorbilder anbieten, keinen Widerstand gegen einen hem­mungslosen Egoismus leisten, keine Variationsbreite möglicher Erwachsenenent­würfe präsentieren.

     Das Ziel der Erziehung ist die Herausbildung einer eigenständi­gen Persönlichkeit, die Darstellung einer einmaligen Individualität; gleichzeitig aber: ein Kind muss kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen erwerben, damit es später ei­nen Ar­beitsplatz finden, am sozialen und politischen Leben teilneh­men, eine Familie gründen, eine stabile Wertebasis entwickeln kann.

     Das Kindergartenkind lebt im Hier und Jetzt, und es hat ein Anrecht darauf, dass es Hilfen bekommt, in dieser Gegenwart glücklich leben zu können; gleichzeitig aber: was wir heute pädagogisch tun, hat auch einen Blick auf die Zukunft der Kin­der. Wenn wir uns ausschließlich auf die Gegenwart beziehen würden, ver­bauten wir dem Kind Chancen und würden damit verantwortungslos handeln.

Gegenwart

Werfen wir nach diesen grundsätzlichen Bestimmungen noch einen Blick auf die Gegenwart unserer Kinder, die wir an zwei Beispie­len andeuten. Noch nie wurden so viele Kinder so früh, so lange und so umfassend in speziellen Kinderinstitutionen betreut wie heute - von der Krippe über den Kindergarten bis zur Schule und den begleitenden Hort verbringen viele Kinder einen großen Zeit­abschnitt ihres Tages und Kinderlebens in speziell für sie geschaf­fenen Einrichtungen. Nach der Durchset­zung des privaten Fernse­hens und der Ausdehnung von immer mehr Programmen über die gesamte Tages- und Nachtzeit wird gegenwärtig die Einführung spezieller Kinderkanäle erwogen, sowohl privat wie öffentlich-rechtlich organisiert.

Kinder werden zunehmend in spezialisierte Kinderräume einge­schlossen und aus dem normalen gesellschaftlichen Verkehr aus­gegrenzt, weil Kindheit für die Funktio­nalität unseres Erwachse­nenlebens etwas Störendes ist. Erfolgreich ist die institutiona­lisierte Erziehung dann, wenn sie den Erwachsenen die Kinder vom Leibe hält und wenn sie didaktisches Geschick entwickelt, den immer größer werdenden Sprung von kindlichen Erlebens- und Hand­lungsweisen zu denen von Erwachsenen mög­lichst schnell, voll­ständig und effektiv zu schaffen.

Pädagogisch lässt sich diese zunehmende gesellschaftliche Tendenz der Vertreibung von Kindlichkeit beklagen, aber nicht aufhalten. Vielleicht ist es ein Weg, die Get­toisierung von Kindern zu nutzen, um Räume, Zeit und Material so zu gestalten, dass Kindlichkeit von Kindern dort gelebt werden kann. Erfolgreich wäre Erziehung dann, wenn sie der vorherrschenden Tendenz des Blickens auf die Zukunft ein retardierendes Moment entgegensetzte: nicht "ent­wickle dich möglichst schnell und effek­tiv zu einem Kinder­garten- und Schulkind, zu einem Jugendlichen und Erwachsenen", sondern "bleibe möglichst lange und intensiv, was du jetzt bist". Eine so ver­standene Erziehung wäre erfolgreicher, wenn sie didaktisch schlechter würde und statt dessen einen pädagogi­schen Blick dafür entwickelte, die Welt und uns selbst mit den Au­gen der Kinder zu betrachten. Sie wäre erfolgreicher, wenn sie weniger perfekt wäre - von den Gebäuden über die Raumgestal­tung und das Material bis zu dem einstudierten Erziehungsstil - und statt dessen mehr Schmuddeligkeit zuließe (weil un­sere pädago­gische Welt so ist, wie sie ist, muß wahrscheinlich auch diese Schmud­deligkeit erst wieder didaktisch kreiert werden).

Friedrich Fröbel überschrieb seinen Aufruf zur Gründung des Kindergartens mit den Worten: "Kommt, laßt uns unsern Kindern leben!"


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