[ newsletter ]
Newsletter
Jetzt kostenlos
hier abonnieren:



*

netnovate.de - innovate the internet


 
 
Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1995 - 1

  Home / Texte / I / 1995 / 1

Sigurd Hebenstreit

Rituale von Kindern -

Ritualisierung in der pädagogischen Praxis

unter dem Titel „Der rote Kochlöffel und die Geburtstagsfeier – Über Kinder- und Erziehungsrituale“ in: Evangelische Aspekte, 1995, Heft 2, S. 21 bis 23

Kinderszenen

Das Neugeborene. Die Eltern legen es in sein Körbchen, dessen Oberseite sie mit einer Windel auspolstern. Es ist ihr erstes. Sie sind unsicher und liebevoll. Deshalb halten sie, als sie es im Körbchen platzieren, noch einen Sicherheitsabstand von wenigen Zentimetern zur Oberkante ein. Doch beim Aufwachen liegt es, das weder krabbel- noch kriechfähig ist, mit dem Kopf fest gegen die Stoffwindelpolsterung gerückt am oberen Körbchenrand. Dies wiederholt sich bei jeder Schlafensperiode. Ein erstes Ritual - Ausdruck eines Bedürfnisses von Sicherheit und Geborgenheit!

Der Weißbrotbeutelverschluss. In einigen holländischen Bäckereien gibt es den praktischen, wiederverwendbaren Weißbrotbeutelverschluss, ein kleines, rechteckiges Plastikding mit einer herzähnlichen Einkerbung, in die der zusammengerollte Weißbrotbeutel hineingeklemmt werden kann. Die Dreijährige, erstmalig in Holland, bemächtigt sich dieses unscheinbaren Gegenstandes, der jetzt bei allen häuslichen Spielarrangements mit anwesend ist. Er wird auch benutzt - als Löffel, als Medizin, aber seine herausgehobene Position ist, daß er dabei ist, auch wenn sichtbar nichts mit ihm geschieht. Er, der für das Weißbrotbeuteleinklemmen praktische, ansonsten unscheinbare Gegenstand, wird gehütet wie ein kostbarer Schatz, besser: wie ein wertvoller Schlüssel. Mit ihm schließt die Dreijährige die Welt da draußen zu, um in den Raum des Eigentlichen, Wichtigen, Bedeutsamen gelangen zu können: den Raum der symbolischen Umgestaltung von Welt und der Selbstdarstellung des Ich. Die Vierjährige, nach Holland zurückgekehrt, scheint sich an diesen Schlüssel zu erinnern: sie sammelt jetzt Weißbrotverschlüsse, wie Ältere Briefmarken oder Bücher sammeln. Rituale - Ausdruck der rumpelstilzschen Kraft der kleinen Kinder aus Stroh Gold spinnen zu können!

Baumeln. Die Neunjährige, Pferdenarrin auf dem Rücken der Pferde, beim Füttern, Striegeln, Auf- und Absatteln, aber auch bei der Anlage diverser Pferdebildersammlungen. Eine eigene Welt unter dem Bett: Arrangements von Pferden - wie Soziogramme der Sozialpsychologen. Und dann das Baumeln: ein blaues Schuhband wird angefeuchtet mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand an der einen Seite festgehalten und über den Pferdebildern gebaumelt, gependelt, geschaukelt. Dabei ein Gesichtsausdruck von meditativer Entspannung oder aber krampfhafter Anstrengung. Dieses Baumeln wird über Jahre praktiziert - immer in der Stille, zumeist in der Stille unter dem eigenen Bett. Nie verrät sie, was sie dabei denkt und fühlt. Nur zu sehen ist, dass das Schuhband durch Hunderte von Anfeuchtungen hart geworden ist und dass die Endungen langsam ausfransen. Rituale - der Kern des Selbst, Schutz vor dem Eindringen in die eigene Welt durch Fremde!

Der rote Kochlöffel. Zwölf Jahre alt, von der bisherigen Lebenszeit zwei Drittel im Heim verbracht, geistig behindert, fast blind, mit einer Spastik in den Beinen, so dass die Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, der Gang schwankend ist, der Wörterschatz reduziert auf wenige Wörter. Sein Oberkiefer ragt weit hervor. Er benutzt ihn zum Abreißen der Tapeten und Anknabbern der Wände. Überhaupt das Essen: auch Windeln, Pullover usw. werden verspeist, und die wenigen sprechbaren Wörter beziehen sich auf die Lieblingsgerichte: „Tortellini“, „Käsesuppe“ und eben „Kochlöffel“. Niemand im Heim weiß, wann das mit dem roten Kochlöffel angefangen hat, woher der erste aufgetaucht ist. Oft kniet er auf dem Teppich und schlägt mit dem Kochlöffel auf den Boden oder auf seine Hand, dabei hat das Schlagen etwas Musikalisches, so wie in seiner Stimme bei den wenigen sprechbaren Wörtern Musik liegt. Neben dem Schlagen das Betrachten vor den fast blinden Augen. Da lässt er sich nicht täuschen. Wenn ihm die Erzieherinnen einen weißen Kochlöffel unterschieben wollen, weil sein roter von einer Mitbewohnerin mal wieder versteckt wurde, läuft sein gesamtes Frustrationsprogramm ab, das beim Fehlen des roten Kochlöffeln überhaupt sich ereignet: den eigenen Kopf feste auf den Boden schlagen, schreien, sich selbst und andere Kinder beißen. Damit ein neuer roter Kochlöffel - auf jeden Fall ohne Einkerbung! - seinen Zweck erfüllt, muss er (sowohl der Kochlöffel wie der Junge) in einem längeren Übungsprozess auf das Schlagen und Schauen eingerichtet werden. In der Akte steht: „Spielt mit Haushaltsgegenständen (Quirl, Staubwedel, Kochlöffel).“ Rituale - Festhalten der Einmaligkeit in einer verschwimmenden Welt, in der ich unterzugehen drohe.

Zusammenfassung 1. Die geschilderten Beispiele ließen sich psycho-analytisch sezieren: Was ist was, was steht wofür, was ist warum, was folgt aus wem? Doch lassen wir sie lieber einfach stehen, respektieren wir die Grenze des erzieherischen Eingreifens, die im Erwachsenenkopf schon dann überschritten wird, wenn man glaubt, man könne ein Kind verstehen, man könne in ihm lesen wie in einem Buch ohne sieben Siegel. Ich kann und sollte den Prozess der Erziehung als Prozess des Versuches gegenseitigen Verstehens begreifen, doch ich werde mich einem solch schwierigen Unterfangen erzieherisch verantwortlich nur nähern können, wenn ich die Grenzziehung zwischen mir und dem Kind respektiere: Es gibt etwas, das ich liebevoll beobachten, aber das ich nicht verstehen kann. „Pädagogischen Takt“ hat das die Vorvorgängergeneration der heutigen Erziehungswissenschaftler genannt.

Erziehungsrituale

Eine Kindheitserinnerung. Das alltägliche Mittagessen im Wohnzimmer mit seinen Ritualen: die Sitzordnung mit dem Vater vor Kopf, dem Sohn links neben ihm, die Mutter schräg gegenüber mit raschem Zugang zur Küchentür, die beiden Schwestern; die von einer Tante handgewebten Serviettentaschen; das Bittgebet vor Essbeginn, die Reihenfolge beim Verteilen der Speisen, die Gesprächsordnung, das Dankgebet als Abschluss. Dann die Andacht: die Bibeln werden verteilt. Der Sohn hat seine eigene, Menge-Ausgabe, schon der im Krieg gefallene Vorbildonkel hielt sie in den Händen. Der tägliche Bibeltext wird der Reihe nach vorgelesen, jeder einen Vers. Der Sohn hat Glück, kommt erst als vierter an die Reihe. Das gibt Gelegenheit auszurechnen, bei welchem Vers er dran ist. Schon mal sein Stück leise Probelesen, denn er ist ein schlechter Leser, es macht ihm Angst. Jetzt ist der Vater an der Reihe - des Sohnes Stück ist auf schwierige Worte durchgeprobt -, und da passiert es: der Vater liest nicht nur seinen Vers, sondern den des Sohnes gleich noch mit. Das Üben war umsonst, die Aufregung steigt, auf den nächsten Vers ist er nicht vorbereitet. Er kommt stotternd heraus. Aber alle wissen ja, der Sohn ist ein schlechter Leser.

Geburtstagsfeier. Im Kindergarten fünf Jahre alt werden, das heißt, nicht mehr zu den Babys zu gehören, noch nicht ganz zu der Schulkindbande, aber doch bald. Der Junge hat die kindergärtliche Geburtstagszeremonie häufig beobachtet: die Reihenfolge des Hereintretens, des Reigens, der Lieder, des Gratulierens, des Geschenkeauspackens, des Verteilens der Mitbringsel. Oft hat er es zu Hause mit seinen Puppen geübt. Er fiebert dem eigenen Ereignis entgegen, in wörtlichem Sinne verstanden, ergab die Fiebermessung der besorgten Mutter am Vormittag einen Temperaturanstieg. Doch heute muss er gehen. Aufregung, Freude, Spannung: Alles dreht sich um mich; ich kann, ich darf. Und dabei die Erzieherin, zwanzig Jahre im Beruf, das heißt 20 X 25 = 500 Mal der gleiche Ablauf. Sie ertappt sich dabei, die Sprüche ein wenig herunterzuleiern, bei der gestellten Frage nach den Geburtstagsgeschenken die Antwort nicht mehr so recht zu hören, den roten Kopf des Jungen nicht mehr zu sehen, seine Hektik mehr als störend denn freudig zu spüren. Bei diesem Ritual prallen zusammen: höchste Anspannung und Routine, starke Emotionen und Langeweile, Einmaligkeit und Alltäglichkeit, das Erlebnis der Besonderheit und organisatorisches Geschick.

Stuhlkreisspiele. Ginge es nach dem Wunsch der Mehrzahl der Kinder in der Kindergruppe, so spielten sie jeden Tag im mittäglichen Abschlusskreis „Hilfe, Hilfe, ich bin in den Brunnen gefallen!“ Für den Dreijährigen ist es eine echte Herausforderung, auf den Stuhl zu klettern und in einem Satz in die Mitte zu springen. Der Vierjährige spürt die ritualisierte Angst, wenn er mit geschlossenen Augen den Chor der anderen Kinder: „wie tief denn?“ rufen hört. Der Fünfjährige erfreut sich seiner Macht, alle, auch die Großen, nach seinem Wort hüpfen, singen oder die Luft anhalten zu lassen, damit er aus dem Brunnen befreit werden kann. Der Sechsjährige ist hier König: mit ganzer Umdrehung vom Stuhl springen, komische, verbotene Wünsche zur Befreiung äußern zu können, der Souverän zu sein, der die Spielreihenfolge bestimmt. Und wieder ein Blick auf die Erzieherin: Wie lange noch bis das Schlusslied ansetzen muss? Ein hektischer Vormittag, gut das gleich Pause ist. Es ist kindisch sich schon wieder im Spiel die Zähne putzen zu müssen. Das Geschrei ist auszuhalten. Sie kann die Aufregung nicht verstehen, sie spürt nicht das Kribbeln im Bauch, die Angst bei dem gewagten Sprung. Mit der Ritualisierung der pädagogischen Arbeit schafft die Erzieherin sich emotionale Erleichterung, lenkt sie ihre Aktivitäten in Bahnen, mindert sie die Ansprüche auf ein erträgliches Maß. Aber sie schafft, lenkt und mindert oft so weit, dass sie von der Individualität des Augenblickes im Zusammentreffen dieses Kindes mit dieser ihrer Stunde nicht mehr ergriffen wird. Der Schutz vor dem Kind geht zu weit, sie spürt nicht mehr sich selbst mit dem Kind.

Die Heulsuse. Es gibt schwierige Kinder, die von der Erzieherin geliebt werden, weil sie eine echte Herausforderung darstellen. Die fröhlichen, kreativen, pfiffigen eh. Und es gibt die Martinas. Nörgelig, quengelig, weder Fisch noch Fleisch. Wenn irgend ein Pech passiert: Martina. Auch sie hat ausgeprägte Rituale. Jeden Morgen, wenn sie in den Kindergarten kommt, das gleiche Schauspiel. Sie versteckt sich hinter ihrem Mantel, will die Mutter nicht gehen lassen (und das seit jetzt über einem Jahr!), die Erzieherin nimmt sie an die Hand, Tränchen laufen Martina über die Backen. Sie wird am Maltisch platziert, ein anderes Kind macht einen schwarzen Strich auf ihr Blatt, Tränchen kommen ihr, sie geht zur Erzieherin usw. Den ganzen Tag über Tränchen, Krokodilstränen. Wenn sie so richtig schluchzen würde, ja dann. Aber eigentlich ist dies nur Schau. Sie ist ja nicht wirklich traurig, sondern sie setzt ihre Tränen nur ein. „Alle Tränen sind salzig, wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, kann sie nicht erziehen“, schreibt Janusz Korczak in einem Aufsatz unter der Überschrift: „Wer kann Erzieher werden?“

Zusammenfassung 2. Kinder schaffen sich ihre Rituale. Sie haben eine wichtige Bedeutung für ihr Leben: vermitteln Geborgenheit angesichts des schwankenden Grundes, auf dem die Entwicklung geschehen muss, schaffen Begrenzung angesichts der Unendlichkeit des Noch-nicht-Gewussten, bieten Ordnung angesichts des Chaos sowohl der eigenen Gefühle wie der Welt außen, ermöglichen Individualität angesichts der Gefahren des Sichauflösens und Verschwimmens. Eine erzieherische Praxis, die dem Kind Möglichkeiten zur Ritualbildung anbietet, indem sie ein Klima  von Gewissheit, Begrenzung, Ordnung, Individualität schafft, ist hilfreich, weil sie das Kind bindet, zu sich selbst und über sich hinaus zu kommen. Eine erzieherische Praxis, die durch Ritualisierung dem Alltag Schablonen aufpresst, erreicht das Gegenteil, weil sie Emotionalität ausgrenzt und die Individualität dieses Kindes und dieser Erzieherin verhindert. Die Grenzziehung zwischen positiver Bildung von Kinderritualen und negativer Ritualisierung des Erziehungsalltags lässt sich durch die Fröbelsche Definition des Spiels kennzeichnen: „freitätige Darstellung des Inneren durch ein Äußeres“. Ich kann Rituale nicht aufzwingen, denn ein inneres Gefühl und eine innere Erkenntnis müssen ihm entgegenkommen; ich kann anbieten, anregen, anstoßen - und dann liebevoll beobachten.


 drucken  zu favouriten hinzufügen  email