Sigurd
Hebenstreit
Die
Konzeption kindzentrierter Kindergartenarbeit
Vortrag
am 24. 9. 1999 in Osnabrück, 12. 11.
1999 in Schwäbisch Hall und am 19.
11. 1999 in Klagenfurt
I.
Einleitungen: Kindergartenentwicklung
in den letzten 30 Jahren
1.
Persönliches und Berufliches
Konzeptionen
fallen nicht vom Himmel, sondern sie
sind das vorläufige Ergebnis eines
Prozesses der Erfahrungsgewinnung
und deren gedankliche Verarbeitung.
Ich möchte Ihnen einleitend gerne
knapp berichten, wie sich für mich
persönlich meine kindzentrierte Position
der Kindergartenarbeit entwickelt
hat. Sie erfahren dadurch ein wenig
über meinen beruflichen Werdegang,
aber auch etwas über die bewegte Geschichte
der Pädagogik des Kindergartens in
den letzten Jahrzehnten. Es ist jetzt
bald 30 Jahre her, dass ich als junger
Student der Erziehungswissenschaft
auf der Suche nach einem Praktikumsplatz
mehr zufällig in den Kindergarten
kam. Damals war die Zeit der Vorschulbewegung,
in der kleine Kinder durch eine Vielfalt
neuer Materialien fit für die Schule
und für das spätere Leben in der Gesellschaft
gemacht werden sollten. Der Bildungsanspruch
drei- bis sechsjähriger Kinder wurde
gegenüber einer Aufbewahrungseinrichtung
hervorgehoben. Mein Kindergarten war
eine ganz traditionelle Einrichtung
im Stile der 50er und frühen 60er
Jahre, und ich war stolz, mein geringes,
auf der Pädagogischen Hochschule frisch
erworbenes Wissen wie einen riesigen
Veränderungshammer den Kindergärtnerinnen
und –pflegerinnen entgegen schleudern
zu können. Ein Intensivraum wurde
gebaut, aber weil die äußeren Rahmenbedingungen
mehr als katastrophal waren, stand
ich auch schon einmal alleine einer
33 Köpfe zählenden Menge fünfjähriger
Kinder gegenüber, die ich aufforderte,
an geeigneten Stellen Striche auf
ein bereitliegendes Arbeitsblatt zu
machen. Die Eltern konnten so kontrollieren,
dass in unserem Kindergarten „Vogelnest“
nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen
gearbeitet wurde. Ich habe die Arbeit
damals sehr gerne gemacht, doch irgend
etwas stimmte an der Konzeption nicht:
Das Herausfinden links- und rechtsseitiger
Vogelschnäbel biß sich mit dem fröhlich-munteren,
aber auch traurig-ernsten Kinderleben,
das vor, nach und zwischen den Übungseinheiten
immer wieder durchschimmerte.
Nach
gut einem Jahr Kindergarten erhielt
ich von der Kirchengemeinde die Gelegenheit,
einen nachmittäglichen Spielkreis
für 12 Kinder aus Obdachlosensiedlungen
aufzubauen, und diese Erfahrung hat
mich in mehrfacher Hinsicht geprägt.
Der ganze organisatorische Rahmen,
den das „Vogelnest“ geboten hatte,
fiel weg. Alles nusste selbst hergestellt
werden: der Raum, die Materialien,
die zeitliche Einteilung, die Spielregeln,
die für die Kinder und die Erwachsenen
gelten sollten. Dies war ungeheuer
anstrengend, und die Erfahrung hat
mich gelehrt, wie energiesparend institutionelle
Vorgaben sind. Aber es war auch eine
ungeheuer spannende Zeit. Mit Hilfe
eines Polizeicomputers könnte ich
auch heute noch die Gesichter vieler
der zwölf Kinder zeichnen, und so
hat mich diese Erfahrung zum anderen
auch gelehrt, wie institutionelle
Vorgaben den Blick auf die Lebendigkeit
von Kindern verstellen. Zwischen diesen
beiden Polen muss die Kindergartenkonzeption
eine Balance herstellen: der institutionellen
Normierung einerseits, die für die
Erzieherin Entlastung schafft, aber
auch Emotionalität ausklammert, und
dem Raum für Unmittelbarkeit andererseits,
der die Erzieherin das einzelne Kind
sehen lässt, aber auf Dauer auch zu
einer Überforderung werden kann.
Nach
meinem Diplomabschluß hatte ich dann
das Glück, als Assistent an einer
Universität arbeiten zu können. Da
war damals nicht mehr die Unruhe der
Zeit der Studentenbewegung, die durch
die antiautoritäre Erziehung auf den
Kindergarten gewirkt hat, aber kritisch
wollte man doch sein: die Universität
als erste Stufe auf dem langen Marsch
durch die Institutionen. In der Kindergartenpädagogik
begann zu diesem Zeitpunkt der Siegeszug
des Situationsansatzes. Auf meinen
ersten Fortbildungen hatte ich Gelegenheit,
diesen an Praktiker zu vermitteln.
Ich kam dadurch mit einer größeren
Gruppe von Erzieherinnen ins Gespräch,
und ich musste feststellen, dass irgend
etwas auch mit dem Situationsansatz
nicht stimmte. Denn unabhängig davon,
ob Schulvorbereitung oder Situationsbezug
auf der konzeptionellen Tagesordnung
stand, blieben die Kindergärten sich
sehr ähnlich.
Es
geisterte damals das Stichwort vom
„Hidden Curriculum“ durch den Raum,
also die Frage danach, was ein Kind
tatsächlich in einer Einrichtung lernt,
unabhängig davon, wie die offiziellen
Verlautbarungen des Programms aussehen.
Was mich seit dem interessiert hat,
waren nicht die 10% des Kindergartengeschehens,
die aufwendig geplant didaktische
Höhepunkte in den tristen Alltag bringen,
sondern es war der 90 % Sockel, der
Kindergärten unabhängig von der spezifischen
Ausrichtung untereinander sehr ähnlich
macht. Ich war damals jung und habe
in meiner „Einführung in die Kindergartenpädagogik“
eine heftige Kritik geschrieben.
Ordnung, so schien mir, ist nicht
nur das halbe, sondern fast schon
das ganze Kindergartenleben.
Wenn
man jung ist, hat man das Recht zur
Kritik. Wenn man erst keine Hörner
entwickelt, wie will man sie sich
abschleifen, wenn man älter wird.
Ich habe mir meine Hörner abgeschliffen,
wenngleich ich die Blickrichtung von
damals unverändert für wichtig und
richtig halte – nämlich zu fragen,
was faktisch in Kopf, Herz und Hand
bei den einzelnen Kindern ankommt,
und sich nicht zu verlassen auf die
schönen, glatten, auf Hochglanzpapier
gebannten Wörter der Konzeption. Doch
einzustürzen ist leicht, aufzubauen
dagegen mühselig. Um mich selbigen
zu unterziehen, habe ich mich nach
Empfang aller akademischen Weihen
entschlossen, die Erzieherprüfung
nachzuholen, um konkret im Kindergarten
arbeiten zu können. Ich habe dies
dann gut vier Jahre getan, und es
hat mir Spaß gemacht, mit vielen Kindern
in munteren Kontakt zu kommen. Und
es hat mir auch Spaß gemacht, an der
Verbesserung alltäglicher Kindergartenarbeit
mitzuwirken. Die Summe meiner theoretischen
und praktischen Beschäftigungen ist
dann meine Position kindzentirerter
Kindergartenarbeit,
von der ich Ihnen heute einige Aspekte
nahebringen möchte.
Seit
jetzt fast zehn Jahren bin ich Professor
für Allgemeine Pädagogik an der Evangelischen
Fachhochschule in Bochum, und diese
Tätigkeit gibt mir Gelegenheit, meine
Beschäftigung mit dem Kindergarten
in die Tiefe zu treiben. Vor allem
durch die Auseinandersetzung mit den
Klassikern der Pädagogik – von Johann
Amos Comenius über Jean-Jacques Rousseau,
Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich
Fröbel bis zu Maria Montessori und
Janusz Korczak – habe ich intensiver
erfahren können, dass Kinder keine
zu belehrenden Lernkörper sind, sondern
eigenständige Persönlichkeiten, die
auf der Suche nach sich selbst, der
Welt und Gott sind; und dass Erziehung
keine äußerliche Tätigkeit ist, kein
Zimmern an einer Kindermasse, aber
auch kein unbeteiligtes Abwarten,
sondern ein engagiertes, höchst widerspruchsvolles
und vielschichtiges, aber auch persönlich
sehr befriedigendes Geschäft.
2.
Abgrenzung zum Situationsansatz
Der
von Jürgen Zimmer heraus gearbeitete
Situationsansatz hat sich in der bundesrepublikanischen
Kindergartenlandschaft auf breiter
Front durchgesetzt. Von ihm sind eine
Menge an Anregungen ausgegangen, die
die Enge sowohl der traditionellen
Beschäftigungspädagogik wie der Vorschulbewegung
aufgebrochen haben. Das Klein-Klein
der Tantenpädagogik wie die Kleinkariertheit
Didaktik-Methodik geschulter Pseudolehrerinnen
konnte zugunsten eines Einbezugs weitergehender
gesellschaftlicher Fragestellungen
überwunden werden, und eine sozialpädagogische
Plattform für die Kindergartenarbeit
wurde gefunden. Unter anderem darin
scheinen mir Verdienste dieser Konzeption
zu liegen, und auch wenn sie nicht
mein Ansatz ist, glaube ich, dass
unverändert Lernenswertes in ihr liegt.
Doch
obwohl sicherlich die Mehrzahl der
Erzieherinnen vorgibt, nach dem Situationsansatz
zu arbeiten, sieht die Praxis deutlich
anders aus. Nach einer Untersuchung,
die von Jürgen Zimmer u.a. selbst
durchgeführt worden ist, lässt sich
nur von 2 von 39 Kindergärten sagen,
dass „der Bezug zu Lebenssituationen
in erheblichem Umfang bewußt und reflektiert
in die konzeptionelle Gestaltung der
Arbeit aufgenommen und weiterentwickelt
worden“
ist. Und dabei handelte es sich bei
der Untersuchungsgruppe nicht um eine
Zufallstichprobe bundesrepublikanischer
Kindergärten, sondern um ausgesuchte
Einrichtungen, die an einem landesweiten
Modellprojekt teilgenommen hatten.
Dieses
traurige Ergebnis ließe sich nun auf
die dummen Erzieherinnen beziehen,
die den Situationsansatz immer noch
nicht richtig verstanden hätten, oder
auf die schlechten Rahmenbedingungen,
die eine entsprechende Arbeitsweise
nicht zuließen, oder auf die Ausbildung,
die den Zug der Zeit noch nicht verstanden
hätte. Doch m.E. wäre es auch an der
Zeit, dass die Vertreter des Situationsansatzes
die Kritik auch auf ihre eigene Konzeption
bezögen, denn an fehlender öffentlicher
und verbandlicher Unterstützung, an
Bereitstellung von Forschungsmitteln
und Modellprojekten hat es sicherlich
nicht gelegen. Der alte Friedrich
Fröbel, der für den Verkauf seiner
Kindergartenaktien noch selbst bettelnd
durch die Lande zog, hätte sich gefreut,
eine solche Infrastruktur geboten
zu bekommen.
Ich
will mich heute nicht ausführlich
mit dem Situationsansatz auseinandersetzen,
sondern nur einen Punkt hervorheben,
der für meine eigene Konzeption wichtig
ist: Dem Situationsansatz sind die
Kinder verloren gegangen, bzw. in
seiner ursprünglichen Konstruktion
hat man sie vergessen. Indem man gesellschaftlich
vermittelte Situationen in den Mittelpunkt
rückt, geraten die Kinder an den Rand,
sie werden nur noch durch die Brille
der Situationswahrnehmung und -auswahl
als Betroffene und Akteure in einem
Curriculum gesehen (anstatt anders
herum: Situationen und Curricula nur
durch die Brille der Kinder wahrzunehmen).
Das Programm mag sich dann phantastisch
ausnehmen, es erscheint pfiffig, kreativ,
modern, politisch korrekt - nur die
Kinder sind etwas zu klein dafür oder
sie sind einfach zu banal.
Und
ein weiteres kommt hinzu, das ich
an dem Wort „Orientierungen“ aufhängen
möchte. In einer Broschüre, die den
Situationsansatz mit dem neuen Stichwort
der Qualitätsentwicklung in Verbindung
bringen möchte, wird in sieben Qualitätsdimensionen
für 37 Qualitätsbereiche mit 114 Qualitätsfragen
und schließlich 469 Qualitätsmerkmalen
Kriterien für eine gute Kindertagesstättenarbeit
angegeben.
Vielen Punkten, die dort aufgeführt
sind, kann ich zustimmen, einige finde
ich fragwürdig, wenige falsch, und
wiederum andere würde ich gerne ergänzen.
Doch mein Haupteinwand ist: wer soll
sich die tausend Einzelheiten merken
und für wen und warum hat man sich
die Arbeit ihrer Auflistung gemacht?
Der Untertitel der Broschüre lautet:
„Wie Kindertageseinrichtungen besser
werden“. Und genau diese löbliche
Absicht wird so nicht erreicht.
Orientierungen
mag es viele geben – für den privaten
und beruflichen Bereich, für sonntags
und alltags, für den Spaziergang im
Wald und die Fahrt mit dem Auto, für
Essen, Schlafen, Arbeiten und Spielen.
Worauf es in einer Konzeption aber
ankommt ist: die Beliebigkeit von
allem, was möglich und unter bestimmten
Voraussetzungen auch sinnvoll ist,
zu reduzieren, indem ein klarer Bezugspunkt
begründet wird, von dem aus sich die
Überfülle ordnet. Wenn eine Erzieherin
nachmittags von ihrer Arbeit nach
Hause fährt, mögen ihr Hunderte von
Eindrücken durch den Kopf schwirren,
die ihr, wollte sie alle festhalten,
Kopfschmerzen verursachen würden.
Diese Überfülle durch die Konzeptionsarbeit
zu verdoppeln, wäre unsinnig, der
Kopfschmerz würde nur steigen. Konzeptionen
sollen nicht neue Bäume in den verwirrenden
Eindruckswald pflanzen, sondern –
bleiben wir im Bild – Schneisen schlagen,
damit der Wald vor lauter Bäumen wieder
sichtbar wird. Ich spreche deshalb
in meiner Kindergartenkonzeption nicht
von „Orientierungen“ (im Plural),
sondern von „Zentrierung“ (im Singular),
um das hervorzuheben, was m.E. im
Zentrum der Pädagogik stehen sollte,
angesichts einer Menge sonstiger Gedanken,
Ansprüche und Aktivitäten allerdings
leicht hintangestellt wird: das Kind.
II.
Bezugspunkt: Kinder – Kindheit – Kind
Zur
Charakterisierung der Grundlage meiner
Konzeption der kindzentrierten Kindergartenarbeit
sind zwei Begriffe wichtig: „Kind“
und „Erziehung“. Weil ich Ihnen heute
aber auch noch einige mehr praktische
Konsequenzen vorführen möchte, beschränke
ich mich jetzt auf den ersten Aspekt,
den ich in drei ähnlich klingende
Wörter ausdifferenzieren möchte, mit
denen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte
verbunden sind: Kinder, Kindheit,
Kind.
1.
Kinder
Mit
„Kinder“ wird die Dimension der Entwicklungspsychologie
und pädagogischen Anthropologie ins
Spiel gebracht. Ich möchte Ihnen jetzt
einiges von dem darstellen, das ich
für die Altersgruppe der Drei- bis
Sechsjährigen für wichtig halte.
Ein
Kind ist nicht die verkleinerte Ausgabe
eines Erwachsenen, sondern ein Mensch,
der auf einer qualitativ anderen Stufe
steht. Ein Kind denkt, fühlt und handelt
nicht weniger als ein Erwachsener,
sondern es denkt, fühlt und handelt
anders. Dazu heute nur ein kleines
Beispiel: Für uns Erwachsene ist klar,
dass wir unterschiedliche Dinge zählen
können und dass fünf gleich fünf ist.
Mit dieser Vorstellung unseres Kopfes
können wir gedankliche Schneisen in
die große Welt schlagen und so das
Chaos bannen. Fünf bleibt fünf: dessen
sind wir uns sicher, und auf diese
Gewißheit können wir unsere Handlungen
aufbauen. Für das kleine Kind ist
fünf nicht gleich fünf, ja zunächst
einmal ist für seinen Kopf die Schneise:
„Wir können einzelne Gegenstände zählen“,
noch nicht einmal vorhanden, und statt
des Wortes „fünf“ könnten Sie dem
Kind genauso gut „Hypotenusenquadrat“
beibringen. Irgendwann später wird
es dann begreifen, dass „fünf“ etwas
damit zu tun hat, dass man die Dinge
der Welt zählen kann. Aber immer noch
weiß es nicht, dass fünf gleich fünf
ist, sondern für seinen Kopf kann
„fünf“ auch mehr oder weniger als
fünf sein.
Denken
wir uns für einen kurzen Moment nur
einmal unsere Fähigkeit weg, fünf
immer als fünf zu betrachten: Wir
würden auf sehr schwankendem Boden
mit wackeligen Füßen stehen. Und auf
solch schwankendem Grund befindet
sich das Kind: nicht nur, dass fünf
gleich fünf ist, macht ihm Schwierigkeiten,
sondern auch uns so sichere Begriffe
wie „vorher“ und „nachher“, „rechts“
und „links“, „oben“ und „unten“ strukturieren
noch nicht seinen Kopf. Stellen Sie
sich eine rasante Achterbahnfahrt
vor, wo Ihnen vielleicht auch „oben“
und „unten“ durcheinandergeraten.
Auf solch einer Achterbahnfahrt befindet
sich das kleine Kind. Ihm müßte immer
schlecht werden, so wie Ihnen vielleicht
schon bei der Vorstellung, Sie würden
Achterbahn fahren, wenn es nur über
das Fehlen zentraler Begriffsmöglichkeiten
gekennzeichnet wäre. Das ist Gott
sei Dank nicht so. Dem Kind fehlt
nicht nur im Vergleich zu uns Erwachsenen
etwas, sondern es hat eine qualitativ
andere Denkweise als wir, eine Denkweise,
über die wir kaum mehr verfügen: Es
deutet die Welt in symbolischer Weise
um.
Eine
Hexe ist zu fürchten, ein Ritter drückt
Stärke aus, der Kasper ist gut und
das Krokodil böse, der Osterhase hält
Überraschungen bereit, und der Stock,
neben das Bett des Kindes gelegt schützt
vor Einbrechern. Immer ist der Kopf
der kleinen Kinder bereit, die Welt
symbolisch umzudeuten, sie sich so
zurechtzulegen, wie es den eigenen
Bedürfnissen gerade paßt. Die Drei-
bis Sechsjährigen haben noch nicht
ein sicheres Fundament in ihren Köpfen,
das ihnen die weite Welt so zeigt,
wie sie ist, sondern auf schwankendem
Grund stehen sie, und sie brauchen
ihr Symbolspiel als eine Krücke, um
angesichts des ganzen Unverstanden
nicht unterzugehen.
Es
ließe sich noch viel berichten über
die Andersartigkeit der Kinder: beispielsweise
über ihr Bemühen, gut sein zu wollen,
herauszufinden, was dies ist, und
den sie liebenden Erwachsenen ein
Vielfaches von dem zurückzugeben,
was sie von ihnen erhalten; oder über
das ständige Bestreben, es den Großen
nachzumachen, um die Ängste vor der
weiten Welt und dem Brodeln im eigenen
Inneren zu bewältigen. Doch dies ausführen,
würde es eines eigenen Vortrags bedürfen.
Aus der Andersartigkeit der Kinder
im Vergleich zu uns Erwachsenen ziehe
ich die pädagogische Schlußfolgerung:
Kinder bedürfen einer Welt, in der
sie entsprechend ihren Möglichkeiten
leben können. Der Kindergarten ist
dieser Ort kindlichen Lebens, der
so gestaltet ist, dass ihre Formen
des Denkens, Fühlens und Handelns
zum Ausdruck kommen, damit sie vorsichtige
und selbstsichere Schritte ihrer Entwicklung
tun können.
2.
Kindheit
Unter
dem Stichwort „Kindheit“ trägt die
Sozialisationsforschung viele Ergebnisse
zusammen, die sich mit dem Leben von
Kindern in einer bestimmten Gesellschaft
befassen. Unter gewissen Gesichtspunkten
betrachtet bleiben Kinder einer Altersstufe
sich ständig gleich, egal ob sie unter
den Neandertalern oder in der virtuellen
Welt von morgen groß werden. Ihr unablässiges
Bestreben, sich durch eigene Tätigkeit
selbst zu entwickeln, ihr Bemühen,
herauszufinden, wer sie sind und wer
sie werden können, was die große Welt
ist und welche Stellung sie in ihr
einnehmen können – sind solch gleichbleibende
Aspekte. Doch wer ein Kind werden
kann, dies ist abhängig von der konkreten
Gesellschaftsetappe, in die es hinein
geboren wird.
Dabei
wird Kindheit in den westeuropäischen
Staaten unserer Zeit meist in düsteren
Farben geschildert: der Fernsehkonsum,
der Computer, die Verinselung, die
Gettoisierung von Kindern, die Alleinerziehenden,
die Scheidungswaisen, die Stiefelternfamilien
usw. Vielleicht ist nichts so konstant,
wie die pädagogische Klage darüber,
dass die gesellschaftliche Entwicklung
das Aufwachsen der Kinder zunehmend
erschwere, verbunden mit der romantischen
Verklärung der Vergangenheit, dass
früher alles besser war. Ich möchte
in dieses Lied von der bösen Gesellschaft
nicht einstimmen und finde es ratsamer,
konkret nach den Risiken, aber auch
nach den Chancen unserer Zeit für
Kinder zu fragen. Man hat keine Alternative,
man lebt sich in die Zeit hinein,
in der man geboren wurde, die Gesellschaft
prägt die Gedanken, die der Kopf denkt,
die Gefühle, die das Herz empfindet,
und die Handlungen, für die der Körper
geformt ist.
Auch
diesen Themenkreis kann ich heute
nicht konkret behandeln, sondern ich
will Ihnen nur einen allgemeinen Gedanken
vorführen. Je weiter die zivilisatorische
Entwicklung der Gesellschaft voranschreitet,
desto größer wird die Kluft zwischen
den Erwachsenen und den Kindern, und
desto schärfer wird der Konflikt zwischen
diesen beiden Welten. Die genetische
Basis, die Reflexausstattung bleiben
zwischen einem Steinzeitneugeborenen
und dem Baby, das in diesen Minuten
in Schwäbisch Hall auf die Welt kommt,
relativ gleich. Würden Sie den Steinzeitneugeborenen
in eine Schwäbisch Haller Familie
geben, er würde sich zu einem kompetenten
Bürger der Europäischen Union entwickeln,
und umgekehrt würde das Schwäbisch
Haller Neugeborene zu einem Steinzeitmenschen,
wenn Sie es beizeiten an einen derartigen
Ort geben würden. Ist die Ausgangslage
so identisch, so ist der Zielpunkt
– das Leben in einer Steinzeitkultur
einerseits und in der virtuellen Welt
von morgen andererseits – doch sehr
unterschiedlich. Diese Diskrepanz
zwischen dem gleichen Ausgangs- und
dem unterschiedlichen Zielpunkt –
hat Konsequenzen für das Handeln der
Erzieherin, die die Aufgabe hat, ein
Stück des Weges zwischen beiden Polen
zu gestalten.
Kinder
sind Fremde in der Welt der Erwachsenen.
Nur noch in Ausnahmefällen bietet
unsere Gesellschaft den Kindern Chancen,
gemäß ihren Möglichkeiten leben zu
können. Zumeist sind Kinder Störenfriede,
die ein reibungsloses Funktionieren
belasten. Ich meine dies nicht moralisch
disqualifizierend. Stellen Sie sich
nur vor, hier im Raum befänden sich
zwanzig kleine Kinder, die Sie hätten
mitbringen müssen, weil sie sonst
nicht versorgt wären. Ich könnte meinen
Vortrag nicht halten, und Sie könnten
nicht zuhören. Wenn es anders nicht
ginge, hätten die Veranstalter eine
Kinderbetreuung organisieren müssen,
einen separaten Raum, in dem die Kinder
unter Aufsicht spielen könnten, damit
unsere Veranstaltung hier kindersicher
bliebe.
Aber
dies gilt nicht nur für die Arbeitswelt,
auch in der Familie wird der kindertümliche
Raum immer knapper. Für viele Schichten
gilt, dass die Einkommensstruktur
so gestaltet ist, dass beide Elternteile
arbeiten müssen, um den Lebensstandard
der Familie zu sichern. Und wenn dann
der Feierabend und das Wochenende
kommen, dann benötigt man seine Ruhe,
die Kinder nur zu leicht stören. Es
ist oft nicht böse Absicht, aber viele
Eltern wissen mit ihren Kindern nichts
rechtes anzufangen, selbst wenn sie
freie Zeit haben. Ich kann mich noch
an Situationen als Leiter eines Kindergartens
erinnern, als Eltern mit ihren noch
nicht einmal Zweijährigen zur Anmeldung
kamen und völlig entnervt waren, weil
sie es allein zu Hause mit dem kleinen
Kind nicht aushielten.
Der
Kindergarten ist ein Getto, eingerichtet,
damit die Kinder die Erwachsenen nicht
bei ihren Verrichtungen stören. Ich
sage dies nicht in beleidigter Weise,
sondern ziehe daraus eine notwendige
pädagogische Schlußfolgerung: Richten
wir dieses Getto so ein, damit wenigstens
hier die kindlichen Handlungsweisen,
ihre Gefühls- und Denkwelt zur Geltung
kommen. Wieder kann ich nur andeuten,
was ich hiermit meine: ihre Lust zum
Spiel, ihr Sinn für Quatsch, die Unmittelbarkeit
ihrer Fröhlichkeit und Traurigkeit,
ihr großes Bewegungsbedürfnis, ihr
Versuch, Spuren in der Welt zu hinterlassen,
ihr Umgang mit Wasser, Matsch und
Feuer.
3.
Kind
Viel
zu verstehen über Kinder und Kindheit
in unserer Gesellschaft ist eine wichtige
Voraussetzung für erfolgreiche Kindergartenarbeit.
Aber m.E. ist damit noch nicht der
entscheidende Schritt getan, denn
in der Erziehung haben wir es nicht
mit Kindern im Plural zu tun, sondern
mit dem konkreten, einzelnen Kind.
Gestatten Sie es mir, dass ich dazu
auch noch weniges ausführe. Ich erzähle
Ihnen dazu einleitend eine Geschichte.
Der Junge hat einen ganzen Korb voll
mit Steinen geschenkt bekommen: gewöhnliche,
unscheinbare, aber auch bunte und
glänzend schimmernde. Er schüttet
die Steine aus, legt sie in eine Reihe,
packt sie auf einen Haufen, ordnet
sie seinen Stofftieren zu, räumt sie
alle wieder in den Korb. Manchmal
schenkt der Junge seinen Eltern so
einen Stein. Über den ersten freuen
sie sich, doch dann werden es mit
der Zeit zwei, drei, vier, fünf Steine.
Die Freude nimmt mit jedem Geschenk
ab - ein Stein ist eben ein Stein
-, und unbeachtet bleiben sie auf
dem Küchentisch liegen. Die Steine
von Mutter und Vater vermischen sich
auf einem Haufen, sie stören beim
Aufräumen. Man wartet auf den richtigen
Zeitpunkt, um sie in den Steinkorb
des Jungen zurückzuwerfen. Ein Stein
ist ein Stein, doch der Junge will
die Steine nicht zurück in seinen
Korb, und er kann auch noch wenige
Tage später genau angeben, welcher
für die Mutter und welcher für den
Vater war. Der Junge hat - nach welchen
Kriterien auch immer - gerade diesen
als Geschenk ausgewählt, und er hat
für den Schenkenden dadurch eine Individualität
gewonnen. Für die Beschenkten ist
dies nicht so einfach.
Eine
Erzieherin, die dreißig Jahre im Beruf
tätig ist und durchschnittlich zu
jedem Kindergartenjahr zehn neue Kinder
in ihre Gruppe bekommen hat, besitzt
eine Erfahrung von 300 Kindern. Dies
sind 300 unterschiedliche Geschichten,
300 unterschiedliche Zukunftsentwürfe
und 300 unterschiedliche Ängste und
Freuden. Hätte sie sich eine Datei
mit den Fingerabdrücken angelegt,
so hätte sie 300 verschiedene Muster.
Ebenso 300 unterschiedliche Frisuren,
Gesichtsformen, Körperhaltungen und
300 verschiedene Lachen und 300 verschiedene
Tränen.
Für
den oberflächlichen Betrachter sind
Tränen gleich Tränen, so wie für die
uninteressierten Eltern Steine gleich
Steine sind, für unsere Erzieherin
mit ihren 30 Berufsjahren aber sind
die Tränen eines Kindes ebenso unverwechselbar
wie für den Jungen die Steine, denen
er seine Liebe geschenkt hat. Jedes
Kind ist anders als die anderen, es
hat seine unverwechselbare Individualität,
und für die Erzieherin ist das einzelne
Kind nicht der Anwendungsfall der
allgemeinen Kategorie Kinder. Ein
gewisser Schlendrian mag uns dazu
verführen, Kinder einzuteilen wie
die Steine: es gibt runde, die sich
der Hand bequem anpassen, es gibt
glänzend schimmernde, die die Aufmerksamkeit
erregen, es gibt kantige, die besonderes
Engagement herausfordern, und es gibt
unscheinbare, die unbeachtet liegen
bleiben. Solche Einteilungen - in
Bezug auf den Charakter, die Intelligenz,
das Sozialverhalten, die Kreativität
- helfen nicht weiter. Sie sind viel
zu grob, als dass sie etwas über das
einzelne Kind aussagten. Pädagogisch
erscheint mir eins vor allem geboten:
sich radikal auf die Einmaligkeit
dieses Kindes einzulassen. Dieses
Kind ist, wie es ist, ich mag ihm
einige Hilfestellungen geben, aber
ich werde es nicht anders machen als
es ist. Das einzige, was ich tun kann,
ist, mich selbst offenzuhalten für
die Individualität des Kindes, das
konkret vor mir steht.
Im
Mittelpunkt des erzieherischen Geschehens
stehen nicht die Kinder, nicht die
Fiktion einer Gruppe, sondern das
konkrete einzelne Kind. Damit eine
Erzieherin sich auf dessen Individualität
einlassen kann, muss sie sich zunächst
einmal von dem Wahn des Verstehens
befreien. Kinder einer bestimmten
Altersstufe lassen sich (psychologisch)
verstehen, das einzelne Kind lässt
sich nicht verstehen. Wir sollten
Achtung vor seinen Geheimnissen haben.
Ein
Stein lässt sich zersägen und kaputtschlagen,
um festzustellen, ob er innen die
gleiche Farbe wie außen hat. Doch
er ist damit zerstört. Wir sollten
viel über Kinder, ihre Entwicklungsgesetze
und sozialen Bedingungen wissen, doch
wir sollten nicht glauben, damit das
konkrete Kind verstanden zu haben.
„Mutter ... baue beizeiten einen Zaun
um die Seele deines Kindes“,
schreibt Jean-Jacques Rousseau, und
dieser Zaun soll vor allem vor der
falschen Neugierde von Erwachsenen
schützen, die meinen alles verstehen
und alles modellieren zu können. In
der behutsamen Annäherung an die Möglichkeiten
des einzelnen Kindes - darin scheint
mir das Wichtigste des Erziehungsgeschäfts
zu liegen. Gelingt dieser Prozeß,
dann wird das Kind der Erzieherin
ein klein wenig von seinen Entwicklungs-Chancen
offenbaren, und die Erzieherin kann
dann staunend wie vor einem Wunder
stehen. Verstehen wird sie im günstigen
Fall vor allem etwas von sich selbst.
III.
Konkretisierungen: Indirekte und direkte
Aufgaben der Erzieherin
Ich
habe Ihnen ein wenig über meinen pädagogischen
Hintergrund berichtet; die zweite
Vortragshälfte möchte ich nun zur
Diskussion mehr praktischer Fragen
nutzen. Von Maria Montessori
lässt sich der didaktisch-methodische
Grundsatz lernen, dass die Vorbereitung
der Umgebung die zentrale Aufgabe
der Erzieherarbeit ist. Wenn die Kinder
morgens in die Einrichtung kommen
und sie dann eine Umgebung vorfinden,
in der sie konzentriert und selbständig
an sie interessierenden Aufgaben arbeiten
können, dann hat die Erzieherin schon
einen gut Teil ihrer Arbeit hinter
sich, und sie hat Zeit zum Rückzug
gewonnen, um die einzelnen Kinder
beobachten zu können. Auch wenn man
nicht in allen Punkten der Montessoripädagogik
zustimmt, so ist die Heraushebung
der indirekten Erziehertätigkeit doch
sinnvoll. In vielen Kindergärten scheinen
Raum-, Material- und Zeitgestaltung
als so selbstverständlich, dass sich
darüber zu wenig Rechenschaft abgelegt
wird. Für den nächsten Teil meines
Vortrags teile ich deshalb die indirekten
von den direkten Erziehertätigkeiten.
1.
Raum, Material, Zeit
Zu
der ersten Gruppe zähle ich all das,
was eine Erzieherin tut, damit jedes
Kind ihrer Gruppe zu dem ihm eigenen
Spiel findet. Die Erzieherin strukturiert
den Raum, sie wählt Material aus,
sie gliedert den Tagesablauf, sie
stellt Einstiegshilfen zur Verfügung,
sie hilft über Frustrationsphasen
hinweg usw. Ich möchte dies nur kurz
andeuten:
Der
Raum
sollte so konzipiert sein, dass er
ruhige Aktivitäten und lärmende Bewegung
ermöglicht, er sollte so gegliedert
sein, dass er einer kleinen Kindergruppe
ein gemeinsames Spiel erleichtert,
aber gleichzeitig die Möglichkeit
eines unbeobachtbaren Rückzugs eines
Kindes erlaubt. Ich halte dabei wenig
von der modernen Aufgliederung des
Kindergartens in Funktionsräume: Im
Bewegungsraum wird sich bewegt, im
kreativen gemalt, gebastelt, gebaut,
im Rollenspielraum mit Puppen gespielt
usw. M.E. ist eine solche Aufgliederung
von dem Erwachsenendenken aus konzipiert,
der kindliche Aktivitäten in verschiedene
Bereiche aufgliedert. Vom Kind aus
gesehen gehen diese Tätigkeitsfelder
ineinander über: Im Familienspiel
gehen die Väter ihrer Aufgabe als
Bauarbeiter nach, die Mütter malen
ein Bild zur Verschönerung der Wohnung,
die Babys plantschen mit Wasser usw.
Wollen Sie einer wild schießenden
Jungenbande, die gerade mit Holzklötzen
ein Fort aufgebaut hat, in den Bewegungsraum
verbannen?
Zum
Stichwort Material
heute nur zwei Hinweise: Reduzieren
Sie die störende Überfülle aus dem
Kindergarten. Ich kenne die Einrichtungen
in Schwäbisch Hall nicht, aber ich
möchte blind behaupten, dass 60 %
der Spielkästen und sonstigen Materialien
im Keller verstauen werden können,
ohne den Spielwert einer Einrichtung
zu verschlechtern. Im Gegenteil würden
Sie, wenn Sie hier nach dem Motto
„weniger ist mehr“ verfahren, für
das Kind eine übersichtlichere Spielwelt
schaffen, die ihm hilft, zu seinem
Spiel zu finden. Und mein zweiter
Hinweis: Bringen Sie reale Gegenstände
in die Einrichtung. Ein Puppenkinderwagen
kostet viel Geld, hält aber kein in
ihm sitzendes Kind aus. Einen richtiger
Kinderwagen bekommen Sie gebraucht
für weniger Geld, und er hat einen
ungleich höheren Spielwert. Und dann
die echten Boxhandschuhe. Kein Kindergarten
sollte auf sie verzichten, denn mit
ihnen kann man lernen, „in echt“ zuzuschlagen,
ohne zu verletzen. Im fairen Kampf
zu bestehen, modelliert die Aggressivität,
und dies scheint mir eine nicht unwichtige
Aufgabe.
Was
die zeitliche
Strukturierung angeht, kann ich
Ihnen nur raten: geben Sie dem Spiel
der Kinder viel Zeit, dieses zu entwickeln,
denn diese benötigen sie, um nach
einer oberflächlichen, einsteigenden
Mal- oder Puzzle-Aktivität zu intensiverem
Spiel zu kommen. Nicht „Beschäftigung“,
sondern „Spiel“ ist die Intention
des Kindergartens. Neben einer kurzen
Aufräum- und einer ebenso kurzen Stuhlkreisphase
sollte der gesamte Vormittag in dem
Freispiel bestehen, in das all das
integriert wird, was im Kindergartengeschehen
vorkommt. Zurecht werden vielleicht
einige von Ihnen einwenden, dass eine
solch ausgedehnte Freispielphase für
einige Kinder eine Überforderung darstelle,
da sie einen Zeitraum von drei bis
vier Stunden nicht überblicken könnten.
Nur gerade darin scheint mir die schwierige
Aufgabe der Erzieherin zu bestehen:
die unterschiedlichen Zeitbedürfnisse
verschiedener Kinder wahrzunehmen,
um individuell darauf reagieren zu
können. Ein kleines, dreijähriges
Kind, das neu in den Kindergarten
kommt, mag lange an Ihrem Rockzipfel
hängen, bevor es sich selbständig
in die große Kindergartenwelt hinauswagt.
Diesem Kind müssen Sie helfen, Sie
müssen für dieses Kind eine Brücke
sein, über die es sich trauen kann
zu gehen, um zu dem eigenen Spiel
und dem seiner Mitkinder zu gelangen.
Nur, warum sollten deshalb alle 25
Kinder, für die Sie stundenweise verantwortlich
sind, ihr Spiel unterbrechen, um auf
Ihr Kommando hin zu essen oder nach
draußen zu gehen?
Die
Erzieherin wird indirekt aktiv, und
sie ist dann erfolgreich, wenn sie
sich in der Freispielphase auf ihre
passive, beobachtende Rolle zurückziehen
kann. Es ist nicht ihre Aufgabe, mit
den Kinder zu spielen, denn je aktiver
die Erzieherin ist, desto passiver
werden die Kinder, es träte das Gegenteil
von dem ein, was pädagogisch wünschenswert
ist. Die Spielwelt der Kinder ist
nicht unsere Erwachsenenwelt. Wir
verstehen sie meist nicht richtig,
und wir sind zu egozentrisch.
2.
Einrichtungsbezug
Neben
der Raum-, Material- und Zeitgestaltung
möchte ich heute noch gerne einen
Punkt zu den indirekten Erzieheraufgaben
hinzufügen: Wählen Sie als Bezugsgröße
der entsprechenden Planung nicht die
einzelne Gruppe, sondern das Gesamt
Ihrer Einrichtung. Aus verschiedenen
Gründen bin ich gegen die heutzutage
in einigen Einrichtungen beliebte
Auflösung der Gruppenstruktur bzw.
deren Reduzierung auf Stammgruppen
– nicht zuletzt weil ich darin eine
dauerhafte Überforderung vieler Erzieherinnen
sehe. Trotzdem halte ich es für erforderlich,
dass Sie – unabhängig davon, in welcher
Funktion Sie in der Einrichtung arbeiten
– Ihre Aufmerksamkeit auf den Kindergarten
insgesamt richten sollten und nicht
auf die Gruppe, in der Sie arbeiten.
Ich
selbst habe sehr gute Erfahrungen
damit gemacht, allen Kindern ein selbstverständliche
Recht einzuräumen: Während der Freispielphase,
die – wie berichtet – 90% des Kindergartenvormittages
ausmacht, kann jedes Kind jederzeit
selbst entscheiden, an welchem Ort
im Kindergartengebäude oder auf dem
Außengelände es spielen möchte. Sollen
von dieser Regel Ausnahmen gemacht
werden, so bedürfen sie einer für
jedermann nachvollziehbaren Begründung.
Diese Vereinbarung hat sich praktisch
bewährt, weil die Aktionen der Vielzahl
der Kinder deutlich entzerrt und so
die Spielmöglichkeiten um ein vielfaches
differenziert werden. Ich bin aber
auch aus pädagogischen Überlegungen
für diese Regelung: Kindergärten sind
keine Gefängnisse, die Kinder in Räume
zwingen, sondern ein Übungsfeld für
Freiheit und Selbstbestimmung. Und
noch eine letzte Bemerkung: Ich spreche
von einem Recht des Kindes, nicht
von der Gewährung einer Gnade. Alle
Spielchen von Besuchsregelungen, alle
Prozeduren von Ab- und Anmelden, von
Fragen um Erlaubnis an die Erzieherin
haben hier nichts zu suchen.
In
einer Einrichtung, für die das gerade
ausgeführte Gesetz gilt, kann auch
die Erzieherin sich nicht auf ihre
Gruppe zurückziehen, sondern sie nuss
das Gesamt der Einrichtung im Blick
haben. Stellen Sie sich vor, die Mehrzahl
der Kinder verlagert ihren Spielort
trotz schlechten Wetters nach draußen
oder umgekehrt trotz strahlender Sonne
nach Innen, dann müssen auch die Erzieherinnen
hier flexibel reagieren. Es macht
keinen Sinn, wenn die Kinder sich
frei bewegen können und die Erzieherin
an ihrem Stuhl kleben bleibt. Ich
habe Kindergärten gesehen, die vorgaben,
„offen“ zu arbeiten, und in denen
sich die Erzieherinnen mit wenigen
Kindern im Gruppenraum aufhielten,
während die Mehrzahl der Kinder sich
auf den Fluren, in der Eingangshalle,
in den Waschräumen und draußen befanden.
Wird dies so praktiziert, dann hat
die Konzeption „offene Arbeit“ nur
den Sinn, sich die Kinder vom Leib
zu halten.
Wenn
Sie Ihre Aufmerksamkeit bezüglich
der Gestaltung von Raum, Material
und Zeit nicht bei der einzelnen Gruppe,
sondern der gesamten Einrichtung beginnen,
dann gewinnen Sie eine Reihe von Vorteilen,
von denen ich Ihnen jetzt nur drei
nennen möchte:
Zum
ersten können Sie für die einzelnen
Gruppenräume unterschiedliche Schwerpunkte
setzen. Zwar bin ich dafür, in jedem
Gruppenraum ein konstantes Angebot
für Spielmöglichkeiten bereitzuhalten,
Gelegenheiten zum Bauen und Malen
etwa, doch nicht jedes Spiel nuss
in jedem Raum vorkommen.
Zum
zweiten gewinnen Sie durch den Blick
über den Gruppenraum hinaus Platz
durch den Einbezug von Flächen, die
bislang nur Verkehrswege waren oder
zu seltenen Gelegenheiten benutzt
wurden. Vielleicht können Sie dadurch
einen Raum der Stille in Ihrer Einrichtung
schaffen. Ich habe zu meiner aktiven
Kindergartenzeit daran noch nicht
gedacht, aber die Beschäftigung mit
Maria Montessori hat mich gelehrt,
dass neben Bewegung und Tätigkeit
Stille ein Grundbedürfnis von Kindern
ist, die die Vielfalt ihrer Erlebnisse
und Eindrücke verarbeiten müssen.
Nur um Mißverständnissen vorzubeugen:
Gemeint ist nicht der traditionelle
Ruheraum, sondern ein von der Meditation
aus gedachter Raum der Stille.
Und
drittens schließlich kann die erwähnte
Regel die Gruppendynamik der Mitarbeiterinnen
untereinander verbessern. In den Streitigkeiten
sogenannter Teams scheint nach meinen
Beobachtungen das Haupthindernis für
eine Verbesserung der Kindergartenarbeit
zu liegen. Vielleicht hilft es da
ja, statt sich in skurrilen persönlichen
Aversionen zu ergehen, sich um sachliche
und begründbare Themen zu streiten.
Vielleicht wird das Spieglein-Spiel
der bösen Stiefmutter – „Spieglein,
Spieglein an der Wand, wer ist die
beste Erzieherin im ganzen Land“ –
aufgebrochen, und man konzentriert
sich darauf, gemeinsam besser zu werden.
3.
Professionelle Liebe
Die
soeben angedeuteten indirekten Tätigkeiten
nehmen quantitativ den Hauptteil der
Erzieherarbeit in Anspruch, und es
sind solche, die sich relativ leicht
erwerben lassen: Wie ein Innenarchitekt
kann man lernen, unter pädagogischen
Gesichtspunkten einen Raum zu gliedern,
mit Überlegung lässt sich die Auswahl
des geeigneten Materials bewerkstelligen,
und mit ein wenig Erfahrung kann die
Erzieherin ein Händchen dafür entwickeln,
wann und wie sie einem Kind helfen
kann, um zu seinem Spiel zu finden.
Das, was ich Ihnen jetzt als den zweiten
Aufgabenbereich der Erzieherin gegenüber
den Kindern vorstellen möchte, ist
viel schwieriger zu erlernen als das,
worüber ich gerade gesprochen habe:
Ich meine die direkte Beziehungsgestaltung
der Erzieherin gegenüber jedem einzelnen
Kind. Da die Tätigkeiten, die hier
verlangt werden, tief in die Persönlichkeitsbildung
jeder einzelnen Erzieherin hineinreichen,
sind sie schwerer normierbar und komplizierter
zu verändern.
Ich
möchte das, was die Erzieherin in
der direkten Beziehung zu jedem einzelnen
Kind leisten muss, unter das Stichwort
der „passiven Liebe“ stellen. Das
klingt vielleicht widersprüchlich
und pathetisch. Wir werden sehen.
Ein Kind bedarf, um gesund groß werden
zu können, eines intensiven Raumes,
in dem es eigenaktiv tätig werden
kann. Aber es bedarf noch mehr: Es
bedarf der Sicherheit, dass sich das
kleine Leben in der großen Welt lohnt,
dass diese Sinn macht, dass es in
der Lage sein wird, an ihr aktiv mitarbeiten
zu können. Jedes menschliche Leben
kann nur Bedeutung gewinnen, wenn
es sich auf eine über es selbst hinaus
reichende Welt bezogen weiß: der Kampf
um soziale Gerechtigkeit, das sich
Einsetzen für eine friedliche Welt,
religiöse Gewißheit angesichts der
Erfahrung des Todes und der Unendlichkeit
gehören dazu. All dies erwirbt das
kleine Kind nicht durch philosophische,
verbale Auseinandersetzung, sondern
durch die Unmittelbarkeit der Beziehung
zu großen Menschen, die für das ganze
Unverstandene stehen.
Ein
Kind braucht Sicherheit, Vertrauen,
Hoffnung, Heimat, und dies nicht durch
große Worte abstrakt im Kopf, sondern
indem es bei für ihn bedeutsamen Erwachsenen
dies alles augenblicklich spürt. Nur
wenn ein Kind diese selbstsichere
Erfahrung von Heimat hat, dann kann
es gesund sich entwickeln und sichere
Schritte auf die weite Welt zumachen.
Es wird sich von all dem, was ihm
als Kind angeboten wurde, distanzieren,
es wird zerstören müssen, um seine
eigene Welt und seine religiösen,
sittlichen und politischen Werte aufbauen
zu können. Aber jetzt ist es noch
klein, es bedarf der Sicherheit des
Hafens, von dem es sich nur ein Stück
weit entfernen kann.
Die
Eltern sind die ersten Ansprechpartner,
wenn es darum geht, dem Kind Heimat
zu vermitteln. Das ist wahr. Aber
mit diesem Verweis lässt sich die
Forderung nach Liebe durch die Erzieherin
im Kindergarten nicht zurückweisen
und zwar aus zwei Gründen heraus nicht:
Wir haben in unseren Kindergärten
viele Kinder, denen in ihrem Elternhaus
ein gutes Stück Heimat fehlt. Dies
gilt für versagende, mißhandelnde
Familien, aber manchmal auch für die,
bei denen jenseits der Oberfläche
materieller Versorgung und sogar Überfülle
vieles fehlt, was einem Kind Geborgenheit,
Verläßlichkeit und Bedeutsamkeit vermitteln
würde. Und zweitens auch im Falle
gelingender Familienerziehung: Das
kleine Kind verlässt den sicheren
Hafen seiner Familie, es wird ein
Stück weit selbständiger, es nabelt
sich von der Mutter ab, aber es ist
immer noch abhängig von der persönlichen
Beziehung zu einem lebendigen Erwachsenen.
„Liebe“
ist zu einem Wort geworden, das manchmal
einen so pathetischen Klang angenommen
hat, dass es nur noch für den deutsch
sprachigen Schlager taugt. Oder es
dient als Bemäntelung für Egoismus,
Gewalt und Eindringung, die genau
das Gegenteil davon sind, was mit
„Liebe“ gemeint ist. Ich versuche
also mich konkreter auszudrücken:
Erzieherische
Liebe äußert sich in der Fähigkeit
der Hand, ein Kind so anfassen zu
können, dass es weder auf Grund der
Heftigkeit des Druckes entfliehen
möchte, noch so labberig, dass nur
Ungewissheit vermittelt würde. Man
muss ein Kind so anfassen, dass es
Sicherheit und Geborgenheit spürt,
von denen aus es selbst die schützende
Hand loslassen will.
Erzieherische
Liebe äußert sich in dem Blick, der
ein Kind gefangen nimmt, weil hier
Fröhlichkeit, Lebendigkeit und Ausgelassenheit
durchscheinen. Es gibt Gesichter,
in die sich gerne schauen lässt, weil
sie Optimismus versprühen. Man muss
ein Kind so anschauen, dass es in
dem Bruchteil einer Sekunde spürt:
diese Lebendigkeit der Erzieherin
gehört mir.
Erzieherische
Liebe äußert sich in der Fähigkeit,
ein trauriges Kind in den Arm nehmen
zu können, damit es wortlos seine
Tränen in den Schoß vergießen kann,
es so zu umhüllen, dass das Kind spürt,
dass nichts als der Körper der Erzieherin
es bemänteln, und für eine Zeitlang
sie die Welt von ihm fernhält. Man
muss ein Kind so lange in den Arm
nehmen können, bis es sich ausgeweint
hat, ohne dass man auch nur eins dieser
überflüssigen Wörter sagt, die zur
Täuschung rascher Tröstung führen,
und man muss es so in den Arm nehmen
können, dass es sich nachher nicht
wird schämen müssen.
Erzieherische
Liebe äußert sich in der Sprache,
die lieber lange überlegt, welches
Wort sie einem unruhigen Kind sagt,
anstatt ihn mit einem Wortschwall
zu überdecken. Und nicht nur das unruhige
Kind, sondern auch das bedrückte,
das zickige, das schweigende und das
lärmende. Man muss die Stimme so modellieren,
dass mit wenigen Worten Gewißheit
und Verständnis, Beständigkeit und
Freundlichkeit gleichzeitig ausgedrückt
werden.
Ich
sprach vorhin davon, dass die Fähigkeit
zur „passiven Liebe“ das Entscheidende
in der direkten Beziehungsgestaltung
zwischen Ihnen und den Kindern sei.
Zu dem Wörtchen „Liebe“ habe ich einiges
gesagt, zu dem es begleitenden Adjektiv
„passiv“ noch eine knappe Bemerkung.
Eine Erzieherin soll ihren Körper
und ihre Persönlichkeit in die Situation
versetzen, damit sie jederzeit jedes
Kind, für das sie stundenweise Verantwortung
trägt, lieben kann. Aber die Erzieherin
soll diese Liebe den Kindern nicht
andienen. Es mag Kinder geben, die
kein oder nur ein kleines Stückchen
dieser Liebe benötigen. Dann soll
man diese gewähren lassen. Es gibt
andere, die sehnsüchtig oder auch
durch aggressives Aufmerksamkeit Erregen
sehr viel von ihrer Erzieherin verlangen.
Dann muss sie ihnen dieses Viele geben.
Maria Montessori sagt an einer Stelle,
dass die Erzieherin wie das Material
sein soll, das die Kinder zu ihrer
Entwicklung benötigen. Sie nehmen
es sich, wann und solange sie es gebrauchen.
Es steht ihnen zur freien Verfügung.
Dies gilt auch für die Liebe der Erzieherin.
Sie steht einem Kind zur freien Verfügung,
wann und solange es sie braucht.
IV.
Schlußbemerkungen: Kindergartenpraxis
und Ausbildung
Alle,
die Sie zur Feier des 25jährigen Jubiläums
der evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik
in Schwäbisch Hall gekommen sind,
stehen in einer Verbindung zur Ausbildung
junger Frauen und vielleicht auch
einiger Männer zu Erzieherinnen: als
Schülerin, Lehrerin oder Lehrer, als
Anleiterin in der Praxis oder als
ehemalige Absolventin dieser Schule.
Sicherlich werden Kolleginnen anwesend
sein, die im Gründungsjahr der evangelischen
Fachschule den ersten Jahrgang besuchten;
und vielleicht gibt es auch Lehrerinnen
und Lehrer, die das ganze Vierteljahrhundert
an der Schule tätig waren. Sie haben
dann an der eigenen Haut erleben können,
wie vielfältig nicht nur die Veränderungen
in der sozialpädagogischen Praxis
waren, sondern wie sich auch die Zielvorgaben
und die Didaktik des Unterrichtens
gewandelt haben.
Vielleicht
hat es in der Vergangenheit auch bei
Ihnen in Schwäbisch Hall wechselseitige
Vorwürfe gegeben, und es gibt sie
eventuell auch in der Gegenwart: Die
Mitarbeiter in den Einrichtungen beklagen
sich über die Rückständigkeit der
Schule, die immer noch auf ein Kindergartenbild
vorbereite, das längst der Vergangenheit
angehöre; und die Schule kritisiert
die Praxis, die nicht schnell und
umfassend genug sich auf die neuen
konzeptionellen Stichworte einstelle.
Neben den gruppendynamischen Ursachen
derartiger Vorwürfe, die störend und
menschlich belastend sein können,
aber wohl immer dazu gehören, wo Menschen
miteinander in Beziehung treten, gibt
es m.E. sachliche Notwendigkeiten
für die Diskrepanz von Praxis und
Ausbildung.
Die
Praxis ist ständig angefüllt mit augenblicklichen
Herausforderungen: dies gilt für die
Praxis des Kindergartens ebenso wie
für die Praxis des Unterrichts. Doch
die Ansprechpartner sind andere: kleine
Kinder auf der einen Seite, junge
Erwachsene, die sich von der Jugendrolle
verabschieden und in eine neue Lebensphase
hinein wachsen, auf der anderen. Aus
dieser Unterschiedlichkeit resultieren
unterschiedliche Methodiken, aber
ebenso verschiedene Zielsetzungen.
Schülerinnen einer Fachschule sind
nicht Objekte, die zielstrebig auf
die nahtlose Übernahme der Berufsrolle
vorbereitet werden, sondern die Pädagogik
der Berufsausbildung muss mit der
Subjektivität, Emotionalität, Widersprüchlichkeit
ebenso rechnen, wie es die sozialpädagogische
Arbeit für ihre Klientel als Bezugsgröße
fordert. Die Loslösung vom Elternhaus,
die Abkehr von der Schülerrolle, das
Hineinfinden in die Vorstellung einer
Berufstätigkeit, die eigene Standpunktentwicklung
gegenüber der Vielfältigkeit der Konsumwelt,
die Festigkeit des Beziehungsaufbaus
bis hin zur Vorstellung zukünftiger
Mutterschaft – dies alles sind notwendige
und wichtige Entwicklungsschritte,
die weit mehr als die Hälfte der Lebenszeit
in diesem Alter in Anspruch nehmen.
Doch
beschränken wir uns nur auf den kleineren
Teil, die Vorbereitung auf den Beruf
als Erzieherin. In meiner Kindergartenkonzeption
formuliere ich an mehreren Stellen,
dass die Persönlichkeit der Erzieherin
ihr wichtigstes Handwerkszeug sei.
Dies gibt der Ausbildung eine große
Verantwortung, weil sie von den sachlichen
Anforderungen her nicht nur auf die
Vermittlung von Grundlagenkenntnissen
in Pädagogik, Psychologie, Soziologie
und Ethik sowie die Erarbeitung eines
didaktisch-methodischen Handwerkskasten
beschränkt ist, sondern die Persönlichkeitsbildung
insgesamt in die Ausbildung einbezogen
werden muss. Dies setzt eine breite
und tiefe Reflexionsfähigkeit voraus,
die nach der Bedeutung von Kindern
für das erwachsene Leben fragt, also
sowohl die eigene Kindheit wie die
Vorstellung zukünftiger Elternschaft
mit einschließt.
Mit
dem eben Gesagten scheint die Meßlatte
sehr hoch zu liegen, und vielleicht
wünschen wir uns angehende Erzieherinnen,
die reflektiert und abgeklärt wie
60jährige und gleichzeitig dynamisch
und fern aller Resignation wie Jugendliche
sind. Eine Schülerin, die gerade die
Fachschule verlässt, steht aber erst
am Anfangspunkt ihrer beruflichen
Entwicklung. Sie weiß vieles noch
nicht, hat vieles noch nicht erlebt,
das Reservoir ihrer Erfahrungen im
Positiven wie vor allem im Negativen
ist begrenzter. Dies bringt die ältere
Erzieherin in Vorteil. Aber es gibt
auch die Stärken der jüngeren: ihre
Beweglichkeit, ihr (hoffentlich) noch
ungebrochener Optimismus, ihre Spontaneität.
Die Ausbildung zur Erzieherin ist
bezogen auf die Situation der Berufsanfängerin;
vermittelt wird die Fahrkarte, mit
der man eine lange Reise der Berufstätigkeit
antreten kann, die noch viele Überraschungen
und viele Lernanforderungen bereithält,
auf die die Fachschule nicht vorbereiten
kann, weil niemand sie vorauszusagen
in der Lage ist.
Ich
habe in meinem Kindergartenbuch von
einer jungen Vorpraktikantin Barbara
erzählt, die wild schreiend mit einer
Horde Kinder über das Außengelände
rannte. Leider hat es bei ihr keine
zwei Wochen gedauert, bis sie gelernt
hatte, dass „man“ so etwas als Betreuerin
im Kindergarten nicht macht. Leider,
denn für viele Kinder war Barbaras
anfängliches Verhalten eine Bereicherung.
Vierzigjährige, die so tun, als wären
sie zwanzig und deshalb die wild rennende
Barbara spielen, sind komisch, und
der Kindergarten braucht deshalb die
jüngeren Kolleginnen. Erfolgreiche
Kindergartenarbeit hängt m.E. nicht
unwesentlich von der richtigen Altersmischung
der Kolleginnenschaft ab. In ihr haben
diejenigen, die noch dabei sind, den
Wechsel von der einen zur anderen
Seite des pädagogischen Tisches zu
vollziehen, ebenso ihren Platz, wie
Kolleginnen, die im Alter eigener
Familienplanung sind, und solche,
für die Großelternschaft auf der Tagesordnung
steht. Eine solche Altersheterogenität
der Kolleginnenschaft mag manchmal
zu komplizierten gruppendynamischen
Konstellationen führen, aber sie wird
dann zu einer Bereicherung des Kindergartenangebots,
wenn die jeweiligen Stärken der einzelnen
Mitarbeiterinnen in den Mittelpunkt
gerückt werden.