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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
2000 - 1

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Sigurd Hebenstreit

Konzeptionelle Fragen am Beginn des 21. Jahrhunderts 

Qualität, Qualitätssicherung, Kindzentrierung

Vortrag am 23. Februar 2000 in Sigmaringen und am 16. 3. 2000 in Bielefeld

Der große Dirigent Wilhelm Furtwängler hat einmal auf die Frage, was denn im Konzert am Abend gespielt würde, geantwortet: Ich weiß nicht, was das Orchester spielt, ich dirigiere Beethovens Fünfte.  So geht es auch mir: Ich weiß nicht, was in Ihren Köpfen vorgeht, ich trage Ihnen meinen Text vor, den ich für Sie geschrieben habe. Dies ist nichts besonderes, es ist die gleiche Situation wie bei jedem Vortrag über ein beliebiges Thema; und auch Ihnen ergeht es nicht anders, wenn Sie im Kindergarten bewusst etwas zu einem Kind sagen: Sie schauen nicht in seinen Kopf hinein. Es ist gut, dass es so ist, denn darin drückt sich die Freiheit und Selbstverantwortung des Zuhörers aus. Und die Nichtplanbarkeit Ihrer Reaktion auf meinen Vortrag ist auch deshalb geboten, weil es auf Ihrer Tagung um den Weg zur eigenen  Konzeption gehen soll, also um persönliche Antworten auf grundlegende pädagogische Fragen. Und dies für heute Vormittag in einem Rahmen, der über 100 Menschen in einem Raum vereint. Ich muss Sie also geradezu auffordern, mit Ihren eigenen Gedanken abzuschweifen, dem nachzugehen, was in Ihrem Kopf an Bildern, Ideen, Phantasien, Ängsten, Hoffnungen herumschwirrt.

1. Wie gut sind unsere Kindergärten? 

Es ist noch keine zwei Jahre her, als in den bundesdeutschen Zeitungen die Nachricht die Runde machte, noch nicht einmal jeder dritte Kindergarten weise eine gute Qualität auf, vielmehr bestimme Mittelmäßigkeit die Landschaft. Und noch etwas konnte man der Presse entnehmen: In den neuen Bundesländern sei die Situation noch dramatischer. So gut wie keine Einrichtung erreichte dort eine gute Qualität. Nachrichtenredakteure sind an sensationellen Neuigkeiten oder der Bestätigung alter Vorurteile ausgerichtet. Die Differenziertheit der Ergebnisse ist eine Sache für Fachleute, die Allgemeinheit ist an einer einprägsamen Schwarz-Weiß-Zeichnung interessiert. Für uns Kindergartenpädagogen ist dies nicht anders: Soweit es nicht erzieherische Fragen betrifft, lesen wir die Schlagzeilen: der Wald stirbt, Milosevi ist ein Verbrecher, Helmut Kohl stellt sein persönliches Ehrenwort über Gesetz und Verfassung und Borussia Dortmund ist auf dem absteigenden Ast (leider). Doch zumindest so weit es Kindergartenfragen angeht, sollten wir genauer hinschauen. Was steckt hinter der Nachricht von den mittelmäßigen Kindergärten?

a) Untersuchungserwartungen

Wolfgang Tietze u.a. haben eine empirische Untersuchung in 103 bundesdeutschen Kindergartengruppen durchgeführt. [1] Einbezogen waren sowohl Kindergärten mit traditionellen Öffnungszeiten in den westlichen Bundesländern wie auch Kindertagesstätten in Ost und West. Der schlagkräftige Titel der Veröffentlichung lautet: Wie gut sind unsere Kindergärten?  Die Autoren differenzieren den Begriff der Qualität  in drei Bereiche aus:

-          Die Orientierungsqualität , die nach den pädagogischen Vorstellungen und Zielen von Müttern und Erzieherinnen fragt,

-          die Strukturqualität , in der es um die Rahmenbedingungen des Kindergartens geht, und

-          die Prozessqualität , in der das faktische Erzieherhandeln im Vordergrund steht.

Zu erwarten ist nun, dass Erzieherinnen, die die richtigen  Einstellungen zur Erziehung haben (also beispielsweise nicht meinen Regeln und Disziplin einüben  sei die wichtigste Aufgabe des Kindergartens, während das Selbstwertgefühl fördern  unwichtig sei) und die unter günstigen Rahmenbedingungen handeln (also einen besseren Schlüssel Erzieher-Kind und mehr Vorbereitungszeit haben), dass diese Erzieherinnen eine bessere Kindergartenarbeit realisieren als die Kolleginnen mit den falschen  Vorstellungen und den schlechteren Rahmenbedingungen. Dass die Ergebnisse nicht ganz diesen Vermutungen entsprechen, werden wir gleich sehen. Vorher lässt sich noch eine andere Erwartung äußern: Kinder, die das Glück haben, in einem guten Kindergarten gefördert zu werden, sind auch in ihrer Entwicklung besser dran, sei es sprachlich oder in ihrem Sozialverhalten. Betrachten wir drei Ergebnisse der Studie von Tietze :

b) Ergebnisse

·         Pädagogische Orientierung und Qualität

Die pädagogischen Orientierungen der Erzieherinnen haben keinen Einfluss auf die Qualität des Kindergartens, so wie die Kinder ihn tagtäglich erleben. Also, für die Art und Weise, wie die Erzieherin ihr Angebot strukturiert, wie sie die Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen fördert, welche Anregungen sie den Kindern gibt, wie sie sie als Person respektiert oder nicht respektiert ist es gleichgültig, was sie in Interviews für pädagogische Vorstellungen äußert, welche Ziele sie für wichtig hält, welche Bedeutung sie der Erziehung gegenüber den Erbanlagen einräumt. Für unsere Zwecke heute vereinfache ich das Ergebnis: Das, was Erzieherinnen pädagogisch glauben, hat keinen Einfluss auf das, was sie faktisch tun. Auf unser Thema gewendet: Erzieherinnen mit der richtigen  Konzeption sind in ihrem Handeln nicht besser als Kolleginnen mit der überholten . Ich werde gleich auf diesen Punkt zu sprechen kommen, fahre jetzt aber mit dem Referat der Ergebnisse von Tietze fort.

·         Rahmenbedingungen und Qualität

Die Rahmenbedingungen haben einen Einfluss auf die von den Kindern erfahrene Prozessqualität, d.h. Kindergärten mit mehr Vorbereitungszeit für die Erzieherinnen, mit einem günstigeren Erzieher-Kind-Schlüssel, mit geringeren Öffnungszeiten sind besser . Was das Alter der Erzieherinnen angeht, zeigt sich, dass Berufserfahrung über fünf Jahre hinaus zu abnehmender Qualität führt. Dieses letzte Ergebnis erwähne ich nur, vielleicht haben Sie Lust, es ausführlicher später zu diskutieren, wofür ich als älterer Kollege dankbar wäre.

Tietze stellt fest: Es gibt einen Einfluss verschiedener Rahmenbedingungen auf die Qualität des Kindergartens (je nach eingesetztem Messinstrument liegt er bei einem knappen Drittel bzw. der Hälfte), doch die Rahmenbedingungen sind nicht alles: Es gibt auch gut ausgestattete Kindergärten, die schlecht arbeiten, und umgekehrt gute Kindergärten, die schlecht ausgestattet sind. Auch dieses Ergebnis lässt sich vereinfachend darstellen: Wer an einer guten Kindergartenarbeit interessiert ist, wird sich auf der politischen Ebene für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen einsetzen, aber er wird sich nicht der Täuschung hingeben, damit sei die gesamte Arbeit schon erledigt.

·         Qualität und Erfolg

Das dritte Ergebnis, das ich Ihnen heute vortragen möchte, lautet: Die Qualität des Kindergartens hat einen nennenswerten Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Hans-Günther Rossbach, einer der Mitautoren der Studie, formuliert griffig: Ein Kindergarten mit einer sehr hohen pädagogischen Qualität bewirkt denselben Entwicklungsstand, der für ein um ein Jahr älteres Kind in einem Kindergarten mit sehr schlechter pädagogischer Qualität wahrscheinlich ist.  [2] .

Das klingt überzeugend; man kann es als Argument im öffentlichen Bereich gebrauchen: Wollt ihr glückliche und gut entwickelte Kinder, dann investiert in die Qualität des Kindergartens.  Ein Jahr Entwicklungsvorsprung   das ist bei einem vierjährigen Kind ein Viertel seiner Lebenszeit. Ich werde in diesem Jahr 50. Ein Viertel meiner Lebenszeit mehr, und ich wäre 62 ½ - kurz vor der Rente. Der letzte Satz war Polemik; vergessen Sie ihn bitte. Vielleicht will ich nicht mehr sagen, als dass die Suche nach Entwicklungsfortschritt als Zielpunkt der Pädagogik etwas Absurdes ist. Wann tritt dann der Zeitpunkt ein, an dem man Zeit nicht einsparen, sondern anhalten und ausdehnen möchte?

c) Kritische Anfragen

Doch bevor wir uns solchen pädagogischen Ideen zuwenden, möchte ich zurück zu der vorgestellten empirischen Untersuchung zur Qualität des Kindergartens, indem ich drei Fragen berühre:

·         Maßstab Entwicklungsfortschritt

Die erste bezieht sich auf das eben vorgestellte Ergebnis von dem einen Jahr Entwicklungsfortschritt. Ich will Sie nicht langweilen, und werde es relativ grob darstellen: Wenn man die Zahlen betrachtet, dann ergibt sich ein nennenswerter Einfluss der Qualität von Kindergärten auf die selbständige Bewältigung von Alltagssituationen und die sozialen Fähigkeiten der Kinder nur für die Bereiche, die in der Umgebung Kindergarten vorkommen, nicht dagegen für Kompetenzen außerhalb. Polemisch gewendet: Eine Studie zur Resozialisierung, die nachwiese, dass die Gefängnisinsassen erfolgreicher in der Bewältigung von Gefängnissituationen seien, aber nicht in dem Leben außerhalb, wäre nicht gerade überzeugend.

Und weiter: In der Studie von Tietze zeigt sich ein messbarer Einfluss der Kindergartenqualität auf die Sprachentwicklung, das ist richtig. Richtig ist auch, dass dieser Einfluss vergleichbar zu der Größe des Lebensalters und Geschlechts des Kindes ist. Nicht erwähnt wird aber, dass dieser Einfluss bei 5 % liegt und dass sein Effekt nicht einmal ein Drittel der Qualität der Familienerziehung ausmacht. Was ich Ihnen damit sagen möchte, ist vor allem eins: Lesen Sie kritisch. Dies gilt für empirische Studien wie der hier vorgestellten, aber auch für Kindergartenkonzeptionen. Glauben Sie nicht an etwas, nur weil es Schwarz-auf-Weiß dasteht, sondern setzen Sie hinter jeden Satz ein Fragezeichen.

·         Ausgezeichnete Kindergartenqualität

Vielleicht haben Sie sich bei meinem Referat der Studie von Tietze u.a. schon des öfteren gefragt, was denn gemeint sei, wenn von guter  oder unzureichender  Kindergartenqualität geredet wird. Wenn wir an die Rahmenbedingungen, also die Strukturqualität, denken, ist dies scheinbar einfach: Zwei Vollzeitkräfte pro Gruppe sind besser als eineinhalb, zwanzig Kinder besser als fünfundzwanzig. Doch wie sieht es mit der Prozessqualität aus? Betrachten wir es sehr pauschal, so werden wir uns schnell einigen können: Eine Erzieherin, die ein Viertel ihrer Zeit Kaffe trinkend und Zigaretten rauchend im Mitarbeiterraum verbringt, und dann, wenn sie mit Kindern zusammen ist, diese anschnauzt, Befehle erteilt, abwertend mit Dritten über sie redet, aber alles versäumt, um liebevoll auf die Kinder zuzugehen, ihnen altersgemäße Anregungen zu geben usw. ist eine schlechtere Erzieherin als die, die den Kindern zuhört, geduldig auf sie eingeht, die richtigen Entwicklungsanstöße zur richtigen Zeit gibt.

Tietze hat zur Beantwortung der Frage nach guter  Kindergartenarbeit ein US-amerikanisches Beobachtungsinstrument für deutsche Verhältnisse eingerichtet. Es ist unter dem Titel Kindergarten-Einschätzskala  [3] erschienen und wird zur Zeit in einigen Einrichtungen diskutiert und eingesetzt. Schaut man sich die 37 einzelnen Beobachtungsaspekte an, dann wird schnell deutlich, dass sich am negativen Ende ein Pol herausbildet, der wahrscheinlich von niemandem bestritten wird - so wie bei meiner Karikatur der schlechten Erzieherin gerade oben. Doch dieses Negativbild beantwortet noch nicht die Frage, was gute  Kindergartenarbeit sei. Ich vermute, dass ich mit meinem Bild von kindzentrierter Kindergartenarbeit nicht die Note 7, d.h. ausgezeichnet  erreichen würde. Gute  und noch mehr ausgezeichnete  Kindergartenarbeit aber lässt sich nicht mit einem Messinstrument messen, das für alle Kindergärten gültig sein soll, sondern dies zu bestimmen, bedarf es zunächst einmal begründeter konzeptioneller Überlegungen.

·         Einfluss des Konzepts

Gestatten Sie mir noch eine letzte Bemerkung zu der Untersuchung. Wie berichtet kann mit diesem Untersuchungsmaterial keine Bestätigung für die These gefunden werden, dass die pädagogischen Orientierungen der Erzieherinnen einen Einfluss auf die gemessene pädagogische Qualität hat. Überspitzt gesagt: Wir könnten eigentlich gleich nach Hause gehen, wenn es richtig wäre, dass die erzieherische Praxis gänzlich unabhängig von dem ist, was Sie in Ihre Konzeption hineinschreiben. Doch schaut man sich die Ergebnisse genauer an, so ist es nicht so einfach. Die Fragen der Untersuchung sind so pauschal gestellt, dass sich nur schwerlich ein Dissens ergeben kann. Wer würde auf die Frage, ob die kindliche Entwicklung durch Vererbung, Erziehung oder Vererbung und Erziehung gemeinsam bedingt sei, antworten: ausschließlich Vererbung . Die Fragen pädagogischer Orientierung, die Sie in Ihrer Konzeption zu beantworten haben, liegen jedoch jenseits solcher Allgemeinplätze.

Ich möchte dies nur an einem Beispiel andeuten: Wenn Sie sich im Rahmen Ihrer Konzeptionsarbeit mit verhaltensauffälligen Kindern beschäftigen, dann machen Sie sich Gedanken darüber, wie weit Sie als Erzieherin in der Lage sind, jedes Kind  auch das Sie völlig nervende  so zu akzeptieren, wie es ist; und dies nicht im reisignativen Sinne, sondern in dem Bewusstsein, dass man nur ein klein wenig - sagen wir 5 % - in der Lage ist, die Kinder zu verändern. Auch dies letzte ist wiederum nicht reisignativ gemeint, sondern zu begrüßen als die Freiheit des Kindes zu seiner Selbstwerdung. Man könnte so zu der These kommen, mehr als 5 % Veränderungsfähigkeit der Erzieherin wäre die große Gefahr, dass Erziehung in Manipulation umschlüge. Nehmen Sie diese letzte These einmal in die Diskussion eines Mitarbeiterteams. Ich bin sicher, unterschiedliche Einstellungen würden sichtbar, und diese unterschiedlichen Einstellungen würden zu unterschiedlichen Erziehungspraktiken führen (die Art, wie Sie ein Kind anschauen, wie Sie es anfassen, wie viel Geduld Sie entwickeln usw.) Wenn ich jetzt noch die Macht hätte, durchzusetzen, dass meine eigene Position als die richtige anerkannt würde, dann würde es mir nicht schwer fallen, nachzuweisen, dass Erzieherinnen, die meine Position teilen, bessere Kindergartenarbeit machten als die, die gegenteiliger Auffassung wären.

Sicherlich haben Sie schon bemerkt, dass manchmal die Pferde mit mir durchgehen. Ich will mich also bemühen und verspreche, mich im folgenden an die selbstgewählte Gliederung zu halten. Ohne weitere Kommentare gehe ich jetzt zu meinem zweiten Hauptpunkt über.

2. Die Debatte um Qualitätssicherung

Kommt man in dieser Zeit mit einem leitenden Mitarbeiter der Jugend- oder Behindertenhilfe ins Gespräch, so dauert es im allgemeinen nicht lange, bis die Rede auf das Thema Qualitätssicherung  kommt. Auch auf den Kindergartenbereich kommt dieses Thema zu, als angstauslösendes Schreckgespenst oder als begierig erwartete Hoffnung einer grundlegenden Reform. Es gibt zwei extreme Positionen zu dieser Frage:

·              Die einen glauben, jetzt endlich würde das Rad neu erfunden, begeistert nehmen Sie ein neues Vokabular an, das einer technisch-administrativen Sprache entstammt. Mit DIN EN ISO 9000ff  mit Total Quality Management  und mit Neue Steuerungsmodelle  ist man auf der Höhe der Zeit.

·              Bei den etwas länger im Geschäft befindlichen Kollegen herrscht dagegen Skepsis vor: Im Westen nichts Neues . Man hat schon viele Wellen erlebt, und auch diese wird einen nicht umwerfen, man wird sie aussitzen wie die anderen. Für viele praktizierende Gruppenerzieher kommt die Angst hinzu: Man fühlt sich in die Schulzeit zurück versetzt, die externen Prüfer kommen und verteilen Noten wie früher der Lehrer in der Schule

Zwischen diesen Polen von Begeisterung und Ablehnung gibt es jede Menge Zwischentöne, etwa den: Man will das nicht, das mit der Evaluation und Qualitätssicherung, aber man spürt den Druck von oben. Und weil man sich nicht entziehen kann, arbeitet man notgedrungen in Qualitätszirkeln mit, um sich zumindest den kleinen Rest an Mitbestimmung zu sichern.

Es ist nicht meine Absicht, die Debatte um die Qualitätssicherung hier breit darzustellen, doch da es viele Berührungspunkte zwischen ihr und dem Thema gibt, das heute auf der Tagesordnung Ihrer Tagung steht, muss ich einige Anmerkungen machen. Vielleicht nähern wir uns dem angesprochenen Zusammenhang am ehesten, wenn wir die Diskussion um Qualitätssicherung auf ihre positiven und kritischen Aspekte abklopfen.

a) Positive Aspekte

·         Leistungen transparent machen

Vorgegebenes Ziel der Qualitätssicherung ist es, die Leistungen der jeweiligen Institution transparent zu machen. Im Gegensatz zur Familie steht die Kindergartenerziehung im öffentlichen Raum, von dort her erhält sie ihren Auftrag, und sie wird aus Steuermitteln und Eigenanteilen der Kindergartenträger finanziert, und sie unterliegt gesetzlichen Regelungen. So sehr die einzelne Erzieherin ihre individuellen Beziehungen zu den einzelnen Kindern auch als Privatangelegenheit empfinden mag, so sehr ist die gesellschaftliche Vermittlung zu sehen.

Im Vergleich zu allen anderen Jugendhilfebereichen ist der Kindergarten dabei eine Massenveranstaltung. Ich möchte dies an ein paar Zahlen aus dem Jahr 1994 aufweisen. Am Ende dieses Jahres gab es in ca. 46.000 Einrichtungen ungefähr 3 Millionen Plätze für Kinder, für die etwas mehr als 360.000 Mitarbeiter eingestellt waren. [4] Staatliche Stellen gaben in diesem Jahr ca. 33 Mrd. DM für den Bereich der Jugendhilfe insgesamt aus, von denen ca. 20 Mrd. DM auf die Tageseinrichtungen und die Tagespflege entfielen. 6 von 10 DM in der Jugendhilfe wurden also allein für den Bereich Tageseinrichtungen für Kinder und Tagespflege ausgegeben.  [5] Die tatsächlichen Kosten für den Kindergartenbereich sind noch höher, da die Ausgaben der freien Träger in der öffentlichen Finanzstatistik nicht enthalten sind.

Wie andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung und Dienstleistung steht auch der Kindergarten vor der Verpflichtung, seine Leistungen transparent zu machen und auch unter Kostengesichtspunkten nachzuweisen, dass die Investitionen in diesem Bereich notwendig sind und dass Mitteleinsatz und Ertrag in einem richtigen Verhältnis stehen. In dem Prozess der Qualitätssicherung soll deshalb nachgewiesen werden, was in den Kindergärten geschieht, welche Leistungen von ihnen erbracht werden und in welchem Verhältnis Aufwand und Ertrag stehen.

·         Angebote flexibilisieren

Auf Grund des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz, der durch die lange Geschichte der Reform des § 218 in das Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz eingeführt wurde, wurden die Kapazitäten im Kindergartenbereich in den 90er Jahren erneut ausgedehnt. Ende 1994 haben wir in Baden-Württemberg bezogen auf die 3 bis 6 ½ jährigen Kinder eine Versorgungsquote von 92,4 % gehabt. [6] Damit nahm Ihr Bundesland, das traditionell eine gute Kindergartenversorgung hatte, die Spitzenposition aller westlichen Bundesländer ein. Gleichzeitig gehört Baden-Württemberg aber auch zu den Schlusslichtern, wenn es um institutionelle Betreuung anderer Altersgruppen geht. Ende 1994 gab es hier für 1,2 % aller 0- bis 3-jährigen einen Platz in einer Tageseinrichtung für Kinder, und bei den 6- bis 12-jährigen lautete der Prozentsatz 1,9 % [7] .

Qualitätssicherung will die Einrichtungen vorbereiten auf die Situation eines kommenden Wettbewerbs. In Zeiten einer sehr defizitären Ausstattung mit Kindergartenplätzen wurde jede Einrichtung, ob gut oder weniger gut, nachgefragt; in den absehbaren Zeiten der Konkurrenz wird dies anders aussehen. Die Machtposition der Eltern steigt. In dieser Situation sind die Einrichtungen im Vorteil, die relativ rasch in der Lage sind, auf konkrete Veränderungen der Nachfrage seitens der Eltern zu reagieren. Dies betrifft unterschiedliche Öffnungszeiten für Kindergartenkinder und auch die Schaffung von Plätzen für jüngere und ältere Kinder. M.E. kommt es hier darauf an, relativ rasch, also binnen Jahresfrist, flexibel reagieren zu können, und es ist wichtig, außerhalb starrer institutioneller Gleise des Alles (Krippen- bzw. Hortplatz) oder Nichts (kein entsprechender Platz) denken zu können.

·         Rollen klären

Ich möchte Ihnen gern noch knapp einen dritten Vorteil des Prozesses der Qualitätssicherung nennen, der mir gerade für die Kindergärten als wichtig erscheint. Diese sind normalerweise  und zum Glück  kleine Einheiten, in denen sich, was die Erwachsenenebene angeht, nicht eine anonyme Masse begegnet, sondern in denen eine überschaubare Gruppe von Menschen relativ dicht miteinander kommuniziert. Dies gilt für die sechs oder zehn Kolleginnen, die sich in ihren Arbeitshandlungen gegenseitig häufig beobachten; dies gilt für die Beziehung zum Träger, der beispielsweise als Pfarrer seine Wohnung auf dem gleichen Gelände hat, auf dem auch der Kindergarten sich befindet; und dies gilt häufig auch für die Eltern, auf die man auch beim Einkaufen oder im Sportverein wieder stößt.

Diese dichte Kommunikationssituation schafft Vorteile, aber sie stellt insbesondere für die Erzieherinnen auch einen immensen Stressfaktor da. Dieser bewirkt, dass Störungen auf der Beziehungsebene der Erwachsenen in den meisten Einrichtungen sicherlich ein größeres Problem als die pädagogisch-konzeptionellen Fragen im Umgang mit den Kindern darstellen. Durch einen Prozess der Qualitätssicherung kann es nun gelingen, ein wenig mehr Klarheit in die Rechte und Pflichten der jeweiligen Erwachsenengruppe zu bekommen. Wechselseitige Erwartungen werden dann auf ein realistisches Maß zurückgeschraubt, und die Aufgaben- und Verantwortungsbereiche werden spezifiziert. Wenn Sie Glück haben, kann durch diese Bewusstwerdung der Rollen ein wenig Sprengkraft aus den schwelenden gruppendynamischen Konflikten genommen werden.

b) Kritische Aspekte

Ich habe Ihnen  ohne Anspruch auf Vollständigkeit  Vorteile der gegenwärtigen Debatte um Qualitätssicherung genannt, doch ich will auch meine Bedenken nicht zurückhalten. Diese beziehen sich auf ein allgemeines Unbehagen: Durch den Zusammenbruch des Kommunismus in den osteuropäischen Staaten herrscht ein ungebremster Kapitalismus, der sich auf zunehmend mehr Bereiche des Lebens bezieht und auch die Jugendhilfe erfasst hat. Alles wird in Begriffen von Angebot und Nachfrage, von zahlungskräftigen Kunden und Gewinnmaximierung von Anbietern gedacht, und ich finde, dass der Einzug dieses kapitalistischen Denkens im Bereich der Erziehung viele Verlierer und Nachteile mit sich bringt. Doch dieses grundlegende Missbehagen will ich hier nicht näher ausbreiten, sondern ich will Ihre Aufmerksamkeit auf drei konkretere Aspekte des Prozesses der Qualitätssicherung lenken.

·         Qualität und Wirtschaftlichkeit

Der erste bezieht sich auf die irreführende Bezeichnung des Begriffes Qualität . Schaut man sich die Berichte an, so stößt man gleich zu Beginn auf die Zielsetzung Wirtschaftlichkeit . Die desolate Situation der öffentlichen Haushalte zwingt zu Einsparungen, hinzu kommt die politisch gewollte Notwendigkeit, Spielräume für Steuersenkungen zu schaffen. Lässt sich Wirtschaftlichkeit  aber mit einem mehr an Qualität  vereinbaren? Kann man weniger Geld für den Kindergarten ausgeben und gleichzeitig dessen Leistungen steigern?

Dies würde bedeuten, dass bislang unnötig Geld verpulvert worden sei, das sich nun problemlos einsparen ließe. Sicherlich gibt es solche unproduktiven Nischen in jedem Arbeitsfeld, doch ich bezweifle für den Kindergartenbereich, dass sich auf diese Weise nennenswerte Summen auffinden lassen. Einsparungen werden zwangsläufig mit einer Minderung der Qualität einhergehen. Darüber hinaus geht das implizite Menschenbild der Qualitätssicherungsmodelle an der Realität vorbei: nämlich zu glauben, durch ein Mehr an Kontrolle und verwaltungsmäßigem Handeln die Leistungsfähigkeit von Menschen verbessern zu können. Es gibt engagierte, kompetente Erzieherinnen ebenso wie faule und unfähige. Dies ist kein Spezifikum der Erzieherberufe, sondern es gilt ebenso für Bäcker, Frisösen und auch Politiker. Und: dies war in der Vergangenheit so, und es wird auch in der Zukunft so sein. Keine Erzieherin wird begeisterter für ihren Beruf und sensibler im Umgang mit Kindern, nur weil Qualitätssicherung auf der Tagesordnung steht.

·         Rettungsring aus Beton

Qualitätssicherungsmodelle unterliegen einem fatalen Zirkelschluss: Qualität ist das, was die Qualitätssicherung misst. In einer Diplomarbeit habe ich das Gedankenexperiment gelesen, jemand entwickele, konstruiere, produziere und vertreibe einen Rettungsring aus Beton. Wenn er diesen Prozess entsprechend seiner Zielvorgaben realisiert, dann kann er sich dies schließlich auch durch den TÜV zertifizieren lassen. Nur: was ist die Qualität eines Rettungsrings aus Beton. In einem anderen Beispiel [8] habe ich gelesen, ein Staubsaugerunternehmer könne sich die Entwicklung eines Produktes zum Ziel setzen, das genau nach zwei Jahren zu Bruch geht. Qualität wäre dann der Staubsauger, der nach diesem kurzen Zeitraum seinen Geist aufgibt  bescheinigt durch ein Zertifikat.

Sie mögen diese Beispiele für abwegige Spielereien halten, doch vielleicht drückt sich in ihnen eine berechtigte Sorge aus. Vielleicht werden wir in der Zukunft Kindergärten mit hoher Qualität bekommen  bestätigt von den engagierten Eltern, die diesem Kindergarten ebenso gute Noten geben wie die scheinbar unabhängigen Prüfer. Doch wer sind die Verlierer? Sicherlich gerade die sozial benachteiligten Familien, die sich im Konzert der Kunden  nicht hinreichend zu Wort melden können! Wenn ich unter den Bedingungen von Qualitätssicherung in einem Kindergarten arbeiten müsste, würde ich mich auch um die bewertungsrelevanten guten Bürger bemühen. Was zählen da die Stimmen einer kurdischen Asylantenfamilie oder einer Mutter aus der Obdachlosensiedlung?

·         Einheitsbrei

Mein dritter kritischer Punkt betrifft die Vereinheitlichung von Kindergärten durch den Prozess der Zertifizierung. Wenn Sie den Anstoß der Qualitätssicherung zu Ende denken, ist es konsequent, der Forderung nach unabhängigen Bewertern zuzustimmen. M.E. zeichnet es gute Kindergartenqualität aus, dass die Einrichtungen eine große Bandbreite unterschiedlicher Konzepte realisieren. Die jeweiligen Persönlichkeiten der Erzieherinnen, die Unterschiedlichkeit der Kinder und die spezifischen Situationen ihrer Familien sollten es mit sich bringen, dass Kindergärten sehr unterschiedlich sind. Die Forderungen nach Qualitätssicherung bedingen dagegen den Zwang einer stärkeren Normierung. Wenn ich weiß, dass ich die Note ausgezeichnet  bekomme, wenn ich mich so und so verhalte, dann entspreche ich dieser Norm, zumindest dann, wenn außenstehende Bewerter kommen.

Aber wird dadurch Qualität gemessen? Dass ich nichts anderes, als wenn Sie eine Kerze unter das Thermometer halten, und sich erfreuen, dass es ansteigt. Nur frieren werden Sie trotzdem, auch wenn das Thermometer Ihnen eine angenehme Wärme verspricht. Dies entspricht der Situation bei der Zertifizierung: Wenn Sie sich bei Anwesenheit des Prüfers entsprechend den vorgegebenen Normen verhalten  Ihre Fachberaterin oder Ihr Fachberater werden Ihnen gern dabei behilflich sein  dann können Sie anschließend sich geben, wie Sie wollen, eine gute Qualität ist Ihnen sicher.

Lassen Sie mich diesen Punkt abschließend noch eine Geschichte erzählen: Ich habe vor einiger Zeit die Konzeption einer Kindergarteneinrichtung über ihr Total Quality Management  bekommen. [9] Der beiliegende Brief berichtete von dem letzten Audit , also der außenstehenden Beurteilung. Er war in einer Sprache abgefasst, die mich an die biblischen Geschichten erinnerte, als der Heilige Geist über die Jünger Jesu kam. Stolz konnte eine Urkunde präsentiert werden. Doch schon der erste Blick auf die Konzeption verriet, dass hier längst überholte Standards der pädagogischen Arbeit zu Grunde gelegt waren: Wie in einem strengen Stundenplan war der Tagesablauf der Kinder mit irgend welchen Aktivitäten verplant. Die Prüfer haben eher einen Rettungsring aus Beton bewertet, aber nicht eine lebendige Kindergartenarbeit, die den Kindern gut tut.

c) Vorrang der Konzeption

Ich habe Ihnen einige meiner Gedanken zur aktuellen Debatte um Qualitätssicherung vorgetragen, um Sie für einen Punkt zu sensibilisieren. Wenn Sie derartige Verfahren einsetzen wollen oder einsetzen müssen, so bedarf es vorher einer ausführlichen Debatte um konzeptionelle Fragen. Sie müssen wissen, was Sie wollen, um nicht in nutzlosen organisatorischen Spielereien unterzugehen oder Ihre Einrichtung in einer Weise zu verändern, wie Sie es nicht wollen und wie es auch der Aufgabenstellung des Kindergartens nicht angemessen ist.

Die Debatte um Qualitätssicherung mag Sie veranlassen, sich um konzeptionelle Fragen zu kümmern  dann finde ich sie hilfreich. Aber Sie müssen einen Standort in diesen Punkten haben, wenn Sie nicht eine Einrichtung haben wollen, die zwar zertifiziert, aber an den pädagogischen Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien vorbeigeht. Ich werde Ihnen im dritten Teil meines Vortrags deshalb meine kindzentrierte Kindergartenarbeit als eine Konzeption darstellen, von der ich glaube, dass sie auf wichtige pädagogische Fragen eine Antwort gibt. Die Thesen seien der Diskussion in Ihrem Kreis anheim gegeben.

3. Kindergartenkonzepte

a) Der gegenwärtige Konzeptionsdschungel

Die Konzeptionslandschaft der Kindergartenpädagogik ist bunt. Nennen wir einige Stichworte;

·         Genannt werden muss zu erst der Situationsansatz, die wohl verbreiteste und am stärksten propagierte Konzeption, ernst zu nehmen, wenn sie nicht gerade in ihrer verwässerten Form des Situationsorientierten Ansatzes in der sozialpädagogischen Praxis  daherkommt. In gesellschaftlich bestimmten Situationen ihres gegenwärtigen Lebens sollen Kinder hier lernen, um ein Mehr an Autonomie, Solidarität und Kompetenz zu erwerben.

·         In der Praxis erfreut sich teilweise der offene Kindergarten großer Beliebtheit. In ihm wird das traditionelle Gruppenprinzip zu Gunsten von Stammgruppen sehr weit aufgelöst, und die Räumlichkeiten werden in Angebotszonen für die Aktivitäten des Bauens und Rollenspiels, der Bewegung und Kreativität umgewandelt.

·         Erwähnt sei auch der spielzeugfreie Kindergarten, der von dem Gedanken der Suchtprävention ausgehend das normierte Spielzeug aus den Kindergärten verbannen will, um im Umgang mit natürlichen Materialien der Kreativität wieder Raum zu geben.

·          Der Wald- oder Naturkindergarten verlässt vollständig das Gemäuer des Kindergartens und findet in der freien Natur, ergänzt durch eine Waldarbeiterbaracke, sein zu Hause.

·         Schließlich sei noch der Bewegungskindergarten genannt, der von der Psychomotorik ausgehend den Sitzkindergarten  aufheben will, um dem natürlichen Bewegungsbedürfnis der Kinder Ausdrucksmöglichkeiten zu geben.

Zu diesen Ansätzen kommen noch die aus der Reformpädagogik stammenden Konzeptionen, also vor allem die Montessori- und Waldorfkindergärten. In gewissem Sinne kann man auch die Reggio-Pädagogik hinzu zählen.

·         Positives

Für die Veranstalter Ihrer Tagung soll es ein Ziel des heutigen Tages sein, den konzeptionellen Dschungel ein wenig zu lichten, um Wege zur eigenen Konzeption zu finden. Die oben skizzierten Ansätze zeichnen sich durch jeweils unterschiedliche Gedanken aus, deren Sinn m.E. nach nicht zu bestreiten ist.

·         Kinderleben wird in unserer Zeit durch einen rasanten gesellschaftlichen Wandel bestimmt (nehmen Sie nur die Überfülle von Fernsehprogrammen, den Computer, das Internet), auf die der Kindergarten reagieren muss.

·         Es macht keinen Sinn, Kinder in Gruppenräume einzusperren und die Fiktion einer 25-Kinder-Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, und konzeptionell ist es auch meiner Meinung nach für den Kindergarten richtig, nicht die einzelne Gruppe als Ausgangspunkt zu wählen, sondern das gesamte Kindergartengebäude und das Außengelände als jederzeit frei wählbaren Spielort zu betrachten.

·         Für viele Kinder ist das Spielzimmer zu Hause überladen und auch für den Kindergarten gilt, dass viele Spielgegenstände, die wir dort finden, überflüssig sind und einen Spielzugang der Kinder eher verhindern.

·         Der Wald ist ein herrlicher Spiel- und Erfahrungsort für Kinder. Er lässt Aktivitäten zu, die in den verbauten Einrichtungen verhindert werden, und jeder Kindergarten sollte möglichst viel Zeit einplanen, um in die freie Natur zu gelangen.

·         Bewegung ist ein Grundbedürfnis von Kindern im Kindergartenalter. Wir können sie nicht mit Papier-und-Bleistift-Aktivitäten wie in der Schule abspeisen. Das wusste vor der Psychomotorik schon Maria Montessori: Um denken und fühlen zu können, muss das Kind seinen Körper, seine Beine und Arme, Füße und Hände gebrauchen können.

·         Kritisches

Die Sinnhaftigkeit der einzelnen Ansätze will ich nicht bestreiten, wohl aber ihre Berechtigung, für das Ganze des Kindergartens zu stehen. Ich möchte Ihnen diesen Gedanken an einem extremen Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir an, Sie wären der Meinung, dass unsere gewöhnliche Art der Ernährung umweltzerstörerisch und noch mehr gesundheitsgefährdend sei. Vernünftige Argumente dafür lassen sich viele finden, also halten wir uns damit nicht auf. Als Ziel ihrer Kindergartenkonzeption legen Sie deshalb fest, das Gesundheitsbewusstsein der Kinder zu fördern. Auch dagegen ließe sich nichts einwenden. Jetzt planen Sie entsprechend Ihrer Zielsetzung die dringend notwendigen Reformmaßnahmen: vom Zähneputzen nach jeder Mahlzeit über das gesunde Frühstück und das Verbot von Süßigkeiten als Geburtstagsmitbringsel bis zur Reduzierung der Giftbelastung durch falsches Baumaterial und Putzutensilien. Sicherlich gibt es auch noch Bilderbücher, Geschichten und Lieder zu dem Thema, und der religionspädagogische Bezug sollte kein Problem darstellen. Wenn Sie nun Ihr Konzept fertig haben und entsprechende Werbung machen  wichtig ist heut zu Tage die eigene Homepage im Internet -, garantiere ich Ihnen einen belobigenden Beitrag im Gesundheitsmagazin Praxis  des ZDF.

Ich will das jetzt nicht weiter karikieren. Mir geht es um das Prinzip: Irgend eine, sicherlich richtige, Idee wird für das Gesamt der Kindergartenpädagogik genommen, und dadurch wird auch der ursprünglich richtige Gedanke in Misskredit gebracht. Stellen Sie sich vor, Sie liefen als Gesundheitsapostel durch den Kindergarten; durch Ihre Brille würden Sie überall nur Gifte sehen, und in Ihren Alpträumen erschiene Thomas Gottschalk, der Ihnen ein Gummibärchen in den Mund zwingt.

Noch etwas weiteres stört mich an vielen Konzeptionen. Sie tun so, als hätten sie das Rad des Kindergartens neu erfunden. Jede kleine Veränderung muss, um Gehör zu finden, mit einem Neuigkeitsversprechen aufwarten, das faktisch nicht erfüllt werden kann. Es wäre nicht schwer, für alle angedeuteten Kindergartenkonzeptionen nachzuweisen, dass viele ihrer Ideen bereits der alte Friedrich Fröbel vorgedacht hat.

In meinen Augen muss eine übergreifende Kindergartenkonzeption zwei Bezugspunkte gleichzeitig aufweisen: Einerseits hat sie an die Realität gegenwärtiger Kindergartenpraxis in den fast 50-Tausend Einrichtungen mit ihren bald 400-Tausend Mitarbeiterinnen anzuknüpfen, und sie muss zum anderen eine wünschenswerte Veränderungsperspektive aufzeigen. Dieser doppelte Anspruch (Berücksichtigung der gegenwärtigen Praxis und Aufzeigen zukünftiger Veränderungsperspektiven) gilt auch für meinen Vortrag: Wenn ich nicht anknüpfen würde an Ihre tagtägliche Praxis, dann würden Sie sich in dem Gesagten nicht wiederfinden; wenn ich andererseits alles so sagte, wie Sie es kennen, dann würden Sie vor Langeweile einschlafen. Und dieser doppelte Anspruch gilt auch für die Erstellung einer Konzeption für Ihre eigene Einrichtung. Diese muss anknüpfen an das, was gegenwärtige Praxis ist, um für alle Beteiligten einen gemeinsamen Bezugspunkt herzustellen, aber sie muss auch darüber hinaus gehen, um aufzuweisen, welche Aspekte wie und mit welcher Begründung einer Veränderung unterzogen werden sollen.

b) Kindzentrierte Kindergartenarbeit

Damit käme ich nun zu meiner eigenen Position. Diese kann ich heute nicht darstellen, und ich verweise deshalb auf mein Kindergartenbuch [10] und auf eine Reihe von Aufsätzen, die ich zu dem Thema geschrieben habe [11] .

·         Mittelpunkt: Das Kind

Ich gehe davon aus, dass jede Kindergartenkonzeption einen (und nur einen) zentralen Bezugspunkt hat. Er ist der Kerngedanke, aus dem die Vielfalt der pädagogischen Ideen und praktischen Ratschläge kommen. Für meine Konzeption ist dieser Mittelpunkt: das Kind, und deshalb nenne ich sie kindzentrierte Kindergartenarbeit .

Nun werden Sie einwenden, dies sei nichts besonders, jede Pädagogik habe es schließlich mit dem Kind zu tun. Dass es in jeder Konzeption irgendwie um das Kind geht, das glaube ich wohl. Doch zumeist erscheint es als eine Randbedingung, schließlich will man sein Programm an das Kind bringen. Im Mittelpunkt steht dann etwas anderes: der Wald, die Suchtprävention, die Offenheit (für was eigentlich?), die gesellschaftlich vermittelte Situation. Im Übereifer der weitergehenden Zielvorstellungen gerät das Kind häufig aus dem Blickfeld. Lesen Sie die diversen didaktischen Einheiten und Materialien, und fragen Sie sich: Wo ist da dies konkrete Kind, das ich Tag für Tag vor mir habe; warum ist für dieses Kind ausgerechnet dieses didaktische Ansinnen lebenswichtig, wo bleiben die Fröhlichkeit und die Spontaneität, die Traurigkeit und die Banalität dieses Kindes?

Ich will noch eine weitere Erklärung einschieben. Im Mittelpunkt meiner Konzeption stehen nicht die Kinder und nicht die Kindheit. Kinder im Plural lassen sich durch entwicklungspsychologische Konstrukte einfangen, so wie sich die Kindheit mit Hilfe der Sozialisationstheorie genauer beschreiben lässt. Beide, Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie, halte ich für ausgesprochen wichtig, um sich der Realität von Kindern anzunähern. Aber in beiden liegt für mich nicht der zentrale Bezugspunkt. Pädagogisch gesehen erscheint mir vordringlich der Blick auf das einzelne Kind. In der Erziehung geht es um das Leben des konkreten Kindes, das ein Anrecht darauf hat, eine Perspektive für sein werdendes Ich zu bekommen. Jedes einzelne Kind, so wie es ist und so wie es sein kann, bildet für mich den Mittelpunkt des Kindergartens.

So wie ich die Individualität des einzelnen Kindes betone, so ist mir die individuelle Beziehungsgestaltung jeder Erzieherin zu jedem ihrer Kinder wichtig. Wenn Sie 25 Kinder in Ihrer Gruppe haben, so benötigt jedes dieser Kinder etwas anderes von Ihnen, aber jedes ist angewiesen auf ein Stück Ihrer Lebendigkeit, und Sie werden dafür bezahlt, ihm das von Ihnen zu geben, dessen es bedarf. Maria Montessori spricht von der Erzieherin als Material , das das Kind nimmt, solange es seiner bedarf, und das es wieder zurück stellt, wenn es etwas anderes benötigt. [12] Sie sollen Ihre Liebe dem Kind nicht andienen, sondern sie ihm selbstverständlich geben, wenn das Kind sie will.

Ich komme noch einmal auf den Begriff Kindergartenqualität  zurück. Ein Kindergarten ist dann ein guter Kindergarten, wenn jedes Kind in ihm zumindest eine Mitarbeiterin findet, die sich auf eine einmalige Beziehungsgestaltung mit ihm einlassen kann, eine Erzieherin, die das Kind liebt, wie es ist und nicht wie es sein soll, und die sich ihm so zur Verfügung stellt, wie das Kind es benötigt. Bei 25 Kindern sind dies 25 verschiedene Wege der Beziehung: 25 verschiedene Händedrucke, 25 verschiedene Blicke, 25 verschiedene Körperhaltungen und 25 verschiedene Sprechweisen. Neben der Individualität der einzelnen Kinder betone ich deshalb die Individualität der einzelnen Erzieherin. Diese soll den Kindern nicht als normierte Rollenvertreterin begegnen, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, mit Kopf, Herz und Hand. Deshalb ist mir die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit der Kindergärten wichtig. Die kindzentrierte Kindergartenarbeit soll die Konzeption und Praxis der Einrichtungen nicht vor- und festschreiben, sondern deren Buntheit befördern.

·         Drei Aspekte

Jede pädagogische Konzeption enthält bewusst oder unbewusst ein Bild von dem Kind. Dies gilt erst recht, wenn ich von einer kindzentrierten Kindergartenarbeit  spreche. Mit Bezug auf die Geschichte der Pädagogik möchte ich Ihnen drei Aspekte des Kinderbildes vorstellen, die für mich wichtig sind.

1.      Das Kind ist ein Mensch in der Entwicklung. In der Bibel steht: Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.  [13] . Und von Jean Jacques Rousseau können wir den Gedanken der Entwicklungspädagogik lernen: Jedes erzieherische Handeln hat seinen Bezugspunkt in der qualitativen Andersartigkeit der einzelnen Entwicklungsstufen. Für das Kindergartenkind heißt dies: Es muss sicheren Boden unter seinen wackeligen Füßen erfahren können. Dies gilt in kognitiver wie in gefühlsmäßiger Hinsicht gleichermaßen. Die Dreijährigen, die zu Ihnen in den Kindergarten kommen, sind so zerbrechlich, die Welt ist so riesig, dass sie ihren Kopf sprengen könnte, und die Ungewissheit, was in ihren verbleibenden 80 Lebensjahren auf sie zukommen mag, ist so groß. Ein Kind kann im Kindergarten lernen, fest auf den eigenen Füssen zu stehen; und wenn es Glück hat, wird es einen Vorrat an Optimismus, an Lachen und Fröhlichkeit mitnehmen. Den wird es brauchen, weil die Zukunft noch viele Enttäuschungen bereit haben wird.

2.      Das Kindergartenkind ist ein Spielkind. Friedrich Fröbel, der Begründer des Kindergartens, sagt, dass es in diesem Alter vorwiegend nicht darum geht, die Welt von Außen in den Kinderkopf zu holen  dies war bei dem Säugling so, und es wird bei dem Schulkind wieder so sein. Vorwaltend muss im Kindergartenalter Inneres Äußerlich gemacht werden. [14] Der kleine Kinderkopf ist angefüllt mit ersten Entwürfen des eigenen Selbst und mit Vorstellungen von der nahen und weiten Welt. Diese müssen nach außen dargestellt werden  in Bildern, in Liedern, im Sprechen und vor allem im freien Symbolspiel -, damit sie dem Kind langsam bewusst werden, damit sie zu Vorstellungen über das eigene Selbst, die Familie und die Umwelt werden, auf die sich die weitere Entwicklung aufbauen lässt. Das Symbolspiel ist die Sprache des Kindes, nicht die der Erwachsenen oder der Umwelt, und es ist vordringlich, dass das Kindergartenkind sprachfähig wird, damit sein Kopf nicht überquillt vor unaussprechbaren Phantasien. Kindergartenpädagogik ist deshalb vor allem Spielpädagogik. Sie fragt nach den materiellen, räumlichen, zeitlichen und persönlichen Hilfestellungen, die eine Erzieherin im Kindergarten geben kann, damit jedes Kind zu seinem Spiel findet.

3.      Das Kind ist ein konzentrierter Arbeiter, beschäftigt mit dem Aufbau seiner eigenen Person: Diesen Gedanken können wir von Maria Montessori lernen. [15] Kinder müssen nicht mit irgend etwas beschäftigt, mit unnutzem Spielkram bei Laune gehalten, vor dem Fernseher ruhig gestellt werden. Sie haben nicht ihre Zeit totzuschlagen, sondern sie brauchen jede Minute ihrer Aktivität, um Wichtiges zu vollbringen: das eigene Selbst aufzubauen. Kinder müssen nicht motiviert werden, sondern sie haben eine starke Entwicklungskraft in sich selbst. Wir müssen uns hüten, diese zu zerstören, indem wir meinen, durch Erziehung etwas schaffen, aufbauen zu können, was nur das Kind selbst vollbringen kann. Wir Erwachsenen, und dies betont Maria Montessori immer wieder, sind zu unsensibel, wir sehen nicht das Wunder  der Entwicklung, das nur das Kind selbst tun kann, und wir versuchen deshalb, uns an die Stelle der kindlichen Entwicklungskraft zu setzen und zerstören diese dadurch. Eine wichtige pädagogische Schlussfolgerung aus diesem Kinderbild lautet: Das erste, was ein Kind benötigt, ist Freiheit, die Freiheit zu seiner ihm möglichen Entwicklung. Und die Erzieherin muss Vertrauen lernen, Vertrauen in das Kind.

4. Abschluss

Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer! Ihre Geduld wird erschöpft sein, und ich muss zum Schluss meines Vortrags kommen. Ich tue dies, indem ich Ihnen eine Passage einer Konzeption für das Kindergartenalter vorlese, die der wichtigste Pädagoge, Johann Heinrich Pestalozzi, vor jetzt bald 200 Jahren geschrieben hat. Er richtete sie noch nicht an die Erzieherin im Kindergarten, den gab es damals noch nicht, sondern er schrieb sie für die Mutter.

Mutter! wenn dir dein Kind lieb ist, so hüte seinem Lachen und der heiligen Quelle desselben - seinem Frohsinn! Ach, du kannst ihn ihm so leicht, du kannst ihn ihm hundertmal, ohne dass du daran denkst, untergraben und zu Grunde richten, du kannst ihn ihm mit Zucker und Kaffee, mit Flaumfedern, mit Stillsitzen, mit Schulmeisterelendigkeiten und mit tausend dummen Treibhauskünsten des Kopfes und des Herzens untergraben und unwiederbringlich zu Grunde richten. Frische Luft, Milch und Habermus, Springen, Laufen, Arbeiten, seine Kräfte brauchen, aber alle, alle mit einander, alle vernünftig, und keine zuviel, - das ist, Mutter! was deinem Kinde das Lachen und den frohen Muth erhalten, das ist, was ihm seine rothen Backen sichern und machen kann, dass es diese im zwanzigsten Jahre noch hat, wie im fünften, und im zwanzigsten Jahre gerade, aufrecht, unverkrüppelt, ungebogen, mit gleichen Augen, mit gleichem Munde und mit gleicher Stirne vor dir stehen kann, wie es jetzt im fünften, sechsten vor dir steht und dir lacht. ...

Erhalte dieses heilige Lachen! Alles Gute, was in seiner Natur sich entwickeln, reifen, sich vollenden und unter sich selbst in Harmonie kommen soll, wird bey der Erhaltung und Pflege desselben weit eher sich entwickeln, weit eher reifen und durch Harmonie unter sich selbst weit eher einer reinen menschlichen Vollendung sich nähern. ...

Gute Mutter! vergiß es nie: keine, auch noch so gebildete Vernunft kann deinem Kinde das Lachen seiner Unschuld wiedergeben, wenn es dasselbe einmal verlohren. Aber das volle Leben seines Frohsinns kann seine Vernunft dahin erheben, dass sich das Lachen seiner Unschuld immer erhält, dass es sich noch höher hebt und in ein Lachen der Weisheit umwandelt. Mutter! Mutter! es ist das Salz des Lebens.  [16]

Dem Kind das Lachen erhalten  vielleicht stellen Sie die Konzeption Ihres Kindergartens unter dieses Motto.



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[1] Wolfgang Tietze u.a.: Wie gut sind unsere Kindergärten?  Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten, Neuwied (Luchterhand Verlag) 1998

[2] Hans-Günther Rossbach: Erziehung und Betreuung im Kindergartenalter, in: Wassilio E. Fthenakis u.a. (Hrsg.): Erziehungsqualität im Kindergarten, Freiburg (Lambertus Verlag) 1998, S. 109

[3] Wolfgang Tietze u.a.: Kindergarten-Einschätz-Skala, Neuwied (Luchterhand Verlag) 1997

[4] Karin Beher: Tageseinrichtungen für Kinder  Perspektiven einer reformierten Statistik; in: Thomas Rauschenbach u.a. (Hrsg.): Die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Statistik, Bd. II, Neuwied (Luchterhand Verlag), S. 329

[5] ebenda, S. 360

[6] ebenda, S. S. 336

[7] ebenda

[8] Jürgen Burmeister u.a.: Qualitätsmanagement in der Jugendverbandsarbeit, in: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe, Bd. 4, Bonn 19962, S. 39

[9] Ingrid Mader-Stefanek: Total Quality Management in Kindertagesstätten  am Beispiel der BMW Strolche, München (BMW AG) 1998

[10] Sigurd Hebenstreit: Kindzentrierte Kindergartenarbeit  Grundlagen und Perspektiven in Konzeption und Planung, Freiburg (Herder Verlag) 19995

[11] Sigurd Hebenstreit: Einige Beiträge zur kindzentrierten Kindergartenpädagogik, Witten o.J.

[12] Sigurd Hebenstreit: Maria Montessori  Eine Einführung in ihr Leben und Werk, Freiburg (Herder Verlag) 1999, S. 114ff

[13] Prediger 3, Vers 1

[14] Friedrich Fröbel: Die Menschenerziehung, Stuttgart (Klett Verlag) 19824, § 28ff

[15] Sigurd Hebenstreit: Maria Montessori  Eine Einführung in ihr Leben und Werk, Freiburg (Herder Verlag) 1999

[16] in: Sigurd Hebenstreit: Johann Heinrich Pestalozzi  Leben und Schriften, Freiburg (Herder Verlag) 1996, S. 133f


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