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Erasmus von Rotterdam

  Home / Texte / II / Erasmus von Rotterdam

Sigurd Hebenstreit

Erasmus von Rotterdam (1483 bis 1536): „Menschen werden nicht geboren, sondern gebildet“

In einer Zeit wie der unsrigen, die mit vielen Mühen nach Wegen aus der nationalen Enge sucht, mag die Erinnerung an eine Person hilfreich sein, die am Beginn der Neuzeit eine europäische Gestalt verkörpert. Dies gilt schon für die äußerlichen Lebensstationen des Erasmus von Rotterdam: Geboren wird er in Rotterdam, wobei das Geburtsjahr unbekannt ist (1466 wird angegeben, ebenso aber 1468), er studiert in Paris Theologie und stirbt 1536 in Basel, wo er im dortigen Münster begraben liegt. Sein Leben verbringt er in Holland, Frankreich, England, Italien, Deutschland und der Schweiz. Eine europäische Gestalt ist er aber auch auf Grund der breiten Resonanz, die er bereits zu Lebzeiten erfährt: Seine Bücher erreichen in vielen Ländern hohe Auflagezahlen und sein Wort hat unter Gelehrten, Staats- und Kirchenfürsten Gewicht. Zugerechnet wird er einer geistesgeschichtlichen europäischen Bewegung, den „Humanisten“, die sich durch ein „Zurück zu den Quellen“ antiker lateinischer und griechischer Schriftsteller eine Befreiung aus der dogmatischen Enge mittelalterlicher (scholastischer) Lehrsätze versprechen. Doch für Erasmus von Rotterdam ist „Humanismus“ kein Selbstzweck („Wenn du den ganzen Cicero ausdrücken willst, kannst du dich selbst nicht ausdrücken. Tust du das aber nicht, so wird deine Rede ein lügnerisches Abbild sein“ <in: Gail, 1994, S. 116>), sondern unmittelbar verknüpft mit dem christlichen Liebesgebot: Der humanistisch Gebildete soll sein eigenes Leben „richtiger“ leben, indem er sich für Bildung, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit der Menschen einsetzt.

a) Biographisches

Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, in frühkindlichen Erfahrungen die Grundlage für viele der Verhaltensweisen zu sehen, die einen Erwachsenen ausmachen. In diesem Sinne war die überharte Strenge des Vaters für Martin Luther prägend, vielleicht - wie einige meinen - die psychische Komponente, die ihn zu der Frage trieb: „Wie bekomme ich einen gerechten Gott?“ Für Erasmus von Rotterdam ist es der fehlende Vater, der seinen Lebensweg mitbestimmt. Erasmus ist von unehelicher Geburt, sein Vater lässt die schwangere Mutter mit Baby im Bauch und einem kleinen Bruder „sitzen“. Damit sind viele Berufs- und Lebensmöglichkeiten bereits mit der Geburt abgeschnitten, und die Entscheidung des 18jährigen für das Klosterleben erscheint als einziger Ausweg, um trotzdem einen beruflichen Weg zu finden. Nicht die Flucht vor der Welt, dem Vater oder wem auch immer, sondern der Zwang gesellschaftlicher Konventionen und Vorurteile bestimmen den Mönchsweg (Augustiner wie Martin Luther). Im Kloster bietet sich dem Heranwachsenden die Chance des Lernens und - entgegen den klösterlichen Intentionen - des Studiums alter Schriften; aber hier wird auch die Verlogenheit und der Anpassungsdruck an überkommene Frömmigkeitsformen erfahren. In diesem durch den Makel der unehelichen Geburt erzwungenen Lebensbeginn kann man die Ursache sowohl für die lebenslange Furcht des Erasmus sehen, von den anderen nicht anerkannt, sondern eventuell sogar verfolgt zu werden, als auch für sein immerwährendes Streben nach Unabhängigkeit, die - negativ ausgedrückt - ein Bemühen ist, sich nicht festzulegen.

1469 (?)

27. Oktober: Geburt des Erasmus

1487

Klostereintritt in Steyn bei Gouda

1493

Sekretär des Bischofs v. Cambrai

1495 - 1499

Studium in Paris

1499 - 1500

1. Englandaufenthalt

1501 - 1503

Niederlande, Löwen

1505 - 1506

Erneut England

1506 - 1509

Italienreise

1509 - 1514

England

1514

Basel

1517 - 1521

Dreisprachenkolleg in Löwen

1521 - 1529

Basel

1529 - 1535

Freiburg

1535

Rückkehr nach Basel

1536

11./12. Juli: Tod des Erasmus

Doch die frühkindlichen Erfahrungen sind nicht nur Ursache von Problemen, sondern sie ermöglichen auch einen individuellen Lebensweg. Sein Anerkennungsverlangen führt ihn zu schriftstellerischen Leistungen im Ausprobieren neuer literarischer Formen: neben gelehrten Abhandlungen schreibt er das, was später ‘Essay’ genannt werden wird, er gibt kommentierte ‘Sprichwortsammlungen’ heraus und ist Meister der Satire und Ironie. Sein Unabhängigkeitsstreben ermöglicht es ihm, seiner Zeit den Spiegel der Kritik vorzuhalten, ohne dabei dogmatisch festgelegte Rechtgläubigkeit von dem Leser zu verlangen. Gleichzeitig ist sie die psychische Voraussetzung für seinen hauptsächlichen Berufsweg als ‘freier Schriftsteller’, ein Weg der Unabhängigkeit, den er auch dank der Buchdruckmöglichkeiten seiner Zeit gehen kann, weil der Verkauf der massenweise von ihm gedruckten Schriften Geld hereinkommen lässt (die andere Hälfte seines Lebenseinkommens verdient er sich durch freiwillige oder angeforderte Zuwendungen reicher Gönner).

Betrachten wir einige äußere Stationen des Lebensweges: Der 24-jährige kann den Klostermauern zumindest teilweise entfliehen, als er Sekretär eines Bischofs wird. Dieser ermöglicht ihm zwei Jahre später ein Theologiestudium in Paris. Erasmus von Rotterdam ist 30 Jahre alt, als er zum ersten Mal für längere Zeit nach England geht und Bekanntschaft mit einigen bedeutenden Männern macht, u.a. mit dem späteren König Heinrich VIII. Als Begleiter zweier adeliger Jugendlicher erhält er die lang ersehnte Möglichkeit einer Italienreise. Dort promoviert er und arbeitet wissenschaftlich als Entdecker alter Schriften. Danach - als unabhängiger Schriftsteller in der Zwischenzeit etabliert - lebt er zunächst wieder in England, bevor er nach Basel zieht. Dort gibt er 1516 das Neue Testament im griechischen Urtext heraus, um - zurück zu den Quellen - eine textkritische Basis für Übersetzungen der Bibel in die verschiedenen Muttersprachen zu schaffen, will er doch „das Wort Gottes gern in den Händen des Bauern, des Matrosen, des Reisenden und des Türken sehen“ (in: ebenda, S. 59).

Dieses Bestreben, dem einzelnen Menschen das Selbststudium der Bibel zu ermöglichen und ihn damit von der autoritären Bindung an die Kirche zu befreien, verbindet Erasmus von Rotterdam mit Martin Luther. Ebenso kritisieren beide mit scharfen Worten die korrupten Zustände der damaligen Kirche. Trotz dieser Parallelitäten können der Humanist und der Reformator nicht zueinander kommen. Als Vertreter der katholischen Kirche Erasmus von Rotterdam vorwerfen „Luther habe nur das Ei ausgebrütet, das er, Erasmus gelegt habe, antwortet er ... ’Ja, doch das Ei, das ich legte, war ein Huhn, was aber Luther ausbrütete, war ein Kampfhahn.’“ (in: Durant, 1985, Bd. 9, S. 440) Zwei unterschiedliche Temperamente: ausgleichend der eine, kämpferisch der andere; zwei unterschiedliche Vorstellungen des Weges der Veränderung: langsame, ständige Reform durch Bildung der eine, auch mit Hilfe der Fürstenmacht betriebene Reformation der andere; und schließlich zwei gegensätzliche Auffassungen vom Menschen und seiner Beziehung zu Gott: Während Erasmus von Rotterdam in seiner gegen Luther gerichteten Schrift „Über die Freiheit des Willens“ schreibt: „Unter freie Entscheidung ... verstehen wir die Kraft des menschlichen Willens, durch die der Mensch sich zu dem hinzuwenden oder von dem abzuwenden vermag, was zum ewigen Heile führt.“ (in: Gail, 1994, S. 101), antwortet Martin Luther: „So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will ... Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen.“ (in: Aland, 1974, S. 390f)

In Zeiten der Polarisierung haben es unabhängige, dritte Kräfte schwer, sich zu behaupten, und so ergeht es auch Erasmus von Rotterdam. Nachdem sowohl die protestantische wie die katholische Seite zunächst um die Gunst des populären Publizisten gekämpft haben, lassen sie ihn unbeachtet oder bekämpfen ihn in dem Moment, wo er seine Unabhängigkeit zu bewahren versucht. In diesen Zusammenhang gehört auch das schöne Wort, das sich auf Bildungsbeziehungen zwischen Lehrern und Schülern beziehen lässt: „ich will lieber Mitschüler als Schüler“ (in: Gail, 194, S. 76). Erasmus von Rotterdam hat die Korruption der katholischen Kirche schon vor Luther heftig angegriffen, aber von der Spaltung der Kirche befürchtet er - und die Geschichte wird ihm hierin Recht geben - menschenvernichtenden Krieg. Wissenschaft, Bildung, Kultur ist sein Gegenprogramm, um Ausgleich herzustellen. „Ein Friede ist kaum einmal so ‘ungerecht’, daß er nicht auch dem anscheinend ‘gerechtesten’ Krieg vorzuziehen wäre.“ (in: ebenda, S. 70f)

Erasmus von Rotterdam bleibt sich treu: als die bilderstürmenden Kräfte die Reformation in Basel beherrschen, verlässt er die Stadt und zieht in das katholische Freiburg. Ein Jahr vor seinem Tod kehrt er, der der römischen Kirche treu geblieben ist, in das protestantische Basel zurück, wo er in der Nacht vom 11. zum 12. Juli 1536 verstirbt.

b) Erziehung zu guten Umgangsformen

Erasmus von Rotterdam bemerkt einmal, er liebe die „Philosophie der Nichtigkeiten“ (in: ebenda, S. 24), in der oft mehr „Nutzen“ stecke als in hochtrabenden Erörterungen. Ein Stück dieser „Philosophie der Nichtigkeiten“ wollen wir als eine der beiden im engeren Sinne pädagogischen Schriften des Erasmus hier vorstellen. Es trägt die Überschrift „Über die Umgangserziehung der Kinder“ (Erasmus von Rotterdam, 1529a). Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, dass der Repräsentant der gelehrten Bildung am Beginn der Neuzeit sich mit Themen beschäftigt, die heutzutage sich allenfalls in Verlautbarungen des Verbandes der Tanzlehrer wiederfinden. Doch vielleicht wird nach dem Durchgang durch den Text deutlich, dass Erasmus von Rotterdam auch bei diesem oberflächlichen Thema einen Nerv der neuzeitlichen Entwicklung trifft.

·       Äußere Beschreibung

„Greif nicht als erster zu den Speisen, nicht so sehr, weil es Gier verrät, sondern weil es gefährlich sein kann, einen unbekannten heißen Brocken in den Mund zu nehmen. Entweder spuckt man ihn unwillkürlich aus, oder man schluckt ihn hinunter und verbrüht sich die Kehle. Beides wirkt gleich lächerlich und bedauernswert. Man hält sich ein wenig zurück und gewöhnt sich so als junger Mensch daran, seine Affekte zu zügeln“. (S. 99)

Worum geht es in dieser Schrift? Neben und nach der religiösen Erziehung, der geistigen Bildung und der Befähigung zur Lebensbewältigung (Berufsbildung) hat Erziehung auch die Aufgabe, die Kinder zu gute Umgangsformen anzuhalten. Das Kind soll lernen, maßvoll und unaufdringlich zu schauen, ein Taschentuch zu benutzen, dezent zu lachen, sich zu kämmen, aufrecht zu stehen und zu sitzen, den Körper zu pflegen, sich zuchtvoll zu kleiden, beim Essen ein angemessenes Verhalten an den Tag zu legen.

Im großen und ganzen entsprechen die Vorschriften des Erasmus von Rotterdam den Standards, die wir auch heute an anständiges Verhalten anlegen. Manchmal kommen Merkwürdigkeiten vor: etwa der Hinweis, ausgespuckten Schleim mit den Füßen zu verteilen; und manchmal scheint die Verhaltensvorschrift etwas weit zu gehen: beispielsweise die Ermahnung, vor jedem Schluck zu trinken den Becherrand mit der Serviette abzuwischen (vielleicht ergibt sich die Notwendigkeit dieser Regel aus der Tatsache, dass es noch nicht üblich war, für jeden ein eigenes Glas bereitzustellen). Wenn wir heute beim Lesen dieses Textes ein Schmunzeln nicht verbergen können, so liegt dies daran, dass hier banale Selbstverständlichkeiten in einer Fülle zusammengestellt sind, die wir nicht gewohnt sind, schwarz auf weiß zu lesen. Damals müssen diese Verhaltensformen noch nicht so selbstverständlich gewesen sein, sondern etwa Neues dargestellt haben. Weil sie noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen waren, bedurfte es einer bewussten Reflexion, was heute automatisches Wissen jeder Mutter und jedes Vaters ist. Nur, und dies macht den Text des Erasmus von Rotterdam für uns pädagogisch interessant, auch für den Säugling, der heute geboren wird, sind dies alles keine Selbstverständlichkeiten, auch ihm sind die Verhaltensregulierungen noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. In einem langjährigen Lernprozess muss er sich Formen richtigen Körpergebrauchs aneignen, um seine naturtriebhaften Bedürfnisse zugunsten gesellschaftlich geforderten Verhaltens zurückzuhalten.

·       Begründungsargumente und Zielsetzung

Was sind die Begründungsargumente Erasmus von Rotterdams für die Vorschriften an die kindlichen Regulierungen? Verschiedene Ebenen lassen sich unterscheiden. Zunächst einmal sind es negative Tierassoziationen, an die er bei der Verurteilung bestimmter Verhaltensweisen appelliert: ein Wolf, der sich kaum am Tisch angelangt über das Essen hermacht; ein Stier, der seine Stirn kräuselt; ein Hund, der Essensreste mit dem Messer aus den Zähnen entfernt, eine Katze, die Süßigkeiten vom Teller ableckt usw. Der Mensch ist kein Tier, und er hat sich deshalb menschlich und nicht tierisch-triebhaft zu verhalten. Darüber hinaus gibt es auch menschliche Antivorbilder, die als abschreckendes Beispiel herhalten müssen: In die Mütze schnäuzt der Bauer, und der Fischhändler entledigt sich des Auswurfes mit den Ellbogen; Faulenzer halten beide Hände auf dem Rücken, Lügner und Phantasten hüsteln auch ohne Hustenreiz; „Spötter und Hanswürste kräuseln die Nase“ (S. 91), „Heuchler neigen den Kopf nach rechts oder linke“ (S. 93), nur Dummköpfe lachen ständig usw. Vor allem die Bauern dienen des öfteren als ungeeignete Vorbilder: ihr Verhalten erscheint tölpelig und in Gesellschaft ängstlich. Der Mensch soll Mensch werden, nicht Tier oder unmenschlicher Mensch. Dabei nimmt Erasmus von Rotterdam diejenigen Menschen von den Verhaltensregeln aus, die auf Grund gesundheitlicher Probleme den Anforderungen nicht gerecht werden können: „bei Asthmatikern, die Atemnot haben, muß man nachsichtig sein“ (S. 91), schriebt er, als es um das Schnäuzen der Nase geht, und „Altersschwache“ dürfen sich bei Tisch mit den Ellbogen aufstützen. Der Unterschied liegt darin, dass die erstgenannte Gruppe - die Bauerntölpel, Faulenzer und Dummköpfe -  sich gemäß ihres freien Willens anders verhalten könnten, wenn sie es wollten, während dies Kranken und Alten in Teilbereichen nicht möglich ist. Und um die Formung des eigenen Willens als innerer Steuerungsinstanz geht es Erasmus von Rotterdam im wesentlichen.

Zur Begründung der Erziehung zu guten Umgangsformen führt Erasmus von Rotterdam eine umfangreiche Liste von negativen Eigenschaften an, die einen Menschen auszeichnen, der sich nicht gemäß der aufgezeigten Standards verhält: grob, unklug, unbesonnen, argwöhnisch, beschränkt, aufdringlich, grimmig, anmaßend, wütend, ungetüm, unverschämt usw. Hiermit kommen wir schon ein wenig tiefer in die Argumentationslinie Erasmus von Rotterdam hinein: die Art wie jemand sich beim Essen beträgt, wie er hustet und niest, wie er seinen Körper gebraucht und mit seinen Augen schaut, dies alles sind Anzeichen dafür, wie der Charakter eines Menschen beschaffen ist. Das äußere Verhalten ist Spiegel der inneren Seele, und wenn diese nicht in Ordnung ist, dann wirkt sich dies durch ungebührliches Verhalten aus. Inneres und Äußeres eines Menschen, seine Seele und sein Körper, stehen in einem Entsprechungsverhältnis: „in seinem Auftreten und seiner Haltung“ soll der Mensch „aus einem Guß sein“ (S. 90). Pädagogisch ergibt sich daraus, dass der Erzieher durch die Formung des kindlichen Verhaltens auf dessen Inneres einwirkt. Deshalb geht es hier nicht nur um die Bildung guter Umgangsformen, sondern primär um Charaktererziehung.

Was aber ist gebührendes Verhalten? Was ist positiv ausgedrückt die Zielsetzung der Erziehung in dem hier in Rede stehenden Teil? Wiederum lassen sich eine innere und eine äußere Ebene unterscheiden. Zunächst das Wichtigste: das Kind muss lernen, „seine Affekte zu zügeln“ (S. 99). Würde man das Kind nicht erziehen, dann würde es triebhaft sich ausleben und ein Maßstab für sein Verhalten weder nach innen noch nach außen finden. Die Erziehung zu guten Umgangsformen zielt also auf eine Triebeinschränkung des Kindes, durch die es erst wirklich Mensch werden kann. Dies meint bei Erasmus von Rotterdam nicht eine totale Unterdrückung der Natur, vielmehr sind „Natur und Vernunft“ gleichermaßen der Maßstab zur Entscheidung über richtiges Verhalten. So betont Erasmus von Rotterdam an einigen Stellen, dass es unsinnig sei, seine Triebe soweit einzudämmen, daß man der Gesundheit schade. Er empfiehlt deshalb beispielsweise das Furzen, wenn man Blähungen verspüre - wenn auch im Hinblick auf die anderen in rücksichtsvoller Weise. Die Zügelung der Affekte geschieht durch die Formung äußerer Verhaltensweisen. Doch nicht um Dressur durch die Erwachsenen und ein Antrainieren eines blinden Automatismus geht es, sondern es ist vielmehr das Ziel, die Steuerungsinstanz über den eigenen Körper in das Kind selbst hineinzuverlagern. Es soll selbst wollen, sich richtig zu verhalten, und es soll sich entsprechend eigener Einsicht selbst beherrschen. Dann erst werden Körper und Seele in einen Gleichklang kommen, der den Menschen ausmacht.

Warum aber soll das Kind diesen Triebverzicht auf sich nehmen? Diese Frage führt uns wieder zu der äußeren Seite. Wer sich „korrekt verhält, erntet Lob statt Haß und erwirbt sich Freunde“ (S. 105). Der Mensch lebt nicht allein auf dieser Welt, und er muss deshalb seinen Egoismus steuern, um gemeinschaftsfähig zu werden. „Heiterkeit“ ist ein häufig von Erasmus von Rotterdam benutztes Wort, das die positive Zielsetzung beschreibt: Gesichtsmine und Stirn sollen Heiterkeit ausstrahlen, und beim gemeinsamen Essen und Spielen soll der Mensch heiter sein. Diese positive Eigenschaft wird von zwei Extremen abgegrenzt: das Verhalten soll nicht „ausgelassen“ sein, weil dies zu einem triebhaften Sich-gehen-lassen führt, das keine Rücksicht auf den anderen nimmt; aber es soll auch nicht zurückgezogen sein, so soll man beim Essen nicht den eigenen Gedanken nachhängen, sondern sich am Gespräch beteiligen. Ein Mensch der gute Umgangsformen hat, der sich höflich, kultiviert, zivilisiert verhält, wird Freunde gewinnen.

Der Soziologe Norbert Elias hat im 20. Jahrhundert die gerade vorgestellte kleine Schrift des Erasmus von Rotterdam im Rahmen seiner Zivilisationstheorie benutzt (Elias, 1989, Bd. 1 und 2, siehe auch Rumpf 1991). Er beschäftigt sich mit der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit und versucht zu zeigen, wie die stärkere Verhaltenssteuerung des einzelnen Menschen mit der zunehmenden Verflechtung von Menschen in den sich jetzt herausbildenden Staaten zusammenhängt. „Vom Fremdzwang zum Selbstzwang“ - so beschreibt er die wichtige Entwicklungslinie. Die Menschen im Mittelalter wurden durch die unmittelbare und physische Machtausübung anderer Menschen gesteuert: wenn ich stark bin, kann ich den anderen meine Interessen aufzwingen und schwimme auf der Welle oben; wenn ich schwach bin, muß ich mich den Ansprüchen der anderen unterwerfen und befinde mich im Wellental. Mit Beginn der Neuzeit verstärkt sich die Tendenz, die Kontrolle über das eigene Verhalten zunehmend „in das Innere der Person“ zu verlegen. Jeder muss jetzt selbst entscheiden, wann es angemessen ist sich wie zu verhalten; jeder muss die unmittelbare Auslebung der Triebe zurückhalten, indem er sich selbst kontrolliert. Diese grundlegende Veränderung im „Sozialisationstypus“ hat wichtige Auswirkungen für die Erziehung, ja sie macht Pädagogik im engeren Sinne überhaupt erst möglich, weil sie auf das Selbst des einzelnen Kindes zielt. Das Spannende an dem Buch des Erasmus von Rotterdam ist, dass es in einer Übergangszeit geschrieben wurde, in der die neuen Verhaltensweisen noch nicht so selbstverständlich waren, wie sie dies für uns heute sind.

Wie oft hört ein kleines Kind am Tag: „Setz dich gerade hin“, „sprich nicht, wenn andere reden“, „nimm den Löffel zum Essen“, „bohr nicht mit dem Finger in der Nase“, „hol dir ein Taschentuch“? Wahrscheinlich geben sich die meisten Eltern darüber keine Rechenschaft, sie denken wohl auch kaum darüber nach, warum sie dies sagen und zumeist werden derartige Verhaltensmaßregeln unbewusst ablaufen. Doch Erziehung besteht nicht in der abstrakten Vermittlung von „Normen und Werten der Gesellschaft“, sondern in einer Vielzahl sehr banaler Akte, nicht in herausgehobenen  Feiertagsmomenten, sondern in Alltäglichkeiten. Wenn es der Sinn der Pädagogik ist, die erzieherische Praxis der bewussten Reflexion zugänglich zu machen, dann lässt sich die vorgestellte Schrift des Erasmus von Rotterdam nutzen, um uns auf solche Alltäglichkeiten hinzuweisen. Wenn wir sie heute lesen, kann sie uns den Spiegel vorhalten, der uns unser eigenes Verhalten zeigt; und das Lesen des über 450 Jahre alten Textes kann uns dafür sensibilisieren, welch große Mühe es für ein Kind bedeutet, seinen Körper zu modellieren, seine Triebe einzuschränken und die Selbstkontrolle für das eigene Verhalten zu übernehmen. Wir werden dadurch der diesbezüglichen erzieherischen Aufgabe nicht enthoben, aber vielleicht ein wenig rücksichtsvoller dem Kind gegenüber. Gute Umgangsformen: alles andere als Selbstverständlichkeiten, die dem Kind - so wie uns - in Fleisch und Blut übergegangen sind, sondern eine mühevolle Arbeit an dem eigenen Selbst.

c) Erziehungsnotwendigkeit

In Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen gewinnt der Bereich der pädagogischen Reform immer eine herausragende Bedeutung: Indem der Erziehung der Kinder besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, schafft man Qualifikationen, die für die Weiterentwicklung der Gesellschaft wichtig sind. Investitionen in die Bildung sind Investitionen in die Zukunft. Verbunden damit ist häufig die Hoffnung auf ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit: Indem der Erziehung benachteiligter Kinder verstärkte Bedeutung zukommt, schafft man die Voraussetzungen für Chancengleichheit, so dass soziale Positionen nicht durch Geburt vererbt, sondern durch Leistung verdient werden. Dies war Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in der alten Bundesrepublik der Fall: von der quantitativen Ausweitung und inhaltlichen Neugestaltung der Kindergartenerziehung über die Gründung von Gesamtschulen und die Reformen in der Primar- und Sekundarstufe bis hin zur Neuordnung der sozialpädagogischen Hilfen, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz des Jahres 1991 ihr neues Fundament fanden. In immer neuen Variationen tauchen die gleichen Begründungsargumente auf: Kinder können mehr und vor allem früher lernen, wenn die Inhalte richtig ausgewählt und didaktisch-methodisch aufbereitet werden, denn die Lernfähigkeit ist nicht durch die Erbanlagen festgelegt; und Kinder sollen mehr lernen, um den gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern, um als Menschen glücklich zu werden und um Chancengleichheit herzustellen.

·       Erziehungsnotwendigkeit und Erziehungsfähigkeit

Die Zeit des Erasmus von Rotterdam ist - sicherlich noch mehr als die eben angesprochene Epoche - eine Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungen. Es ist deshalb nicht zufällig, dass wir hier Texte finden, die im Lichte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sehr „modern“ klingen. Ein Beispiel dafür ist der jetzt vorzustellende Text „Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung der Kinder“ 1529). Er enthält zunächst einmal die entscheidende anthropologische Prämisse der Erziehungsnotwendigkeit des Menschen: Der Verstand ist es, der den Menschen vor dem Tier auszeichnet, der unsterblich ist und den Menschen der „Gottähnlichkeit“ (S. 110) nahe bringt. Mit Hilfe des Verstandes beherrschen wir unsere „Leidenschaften“, weil wir uns nicht gemäß eines triebhaften Programms instinktmäßig verhalten müssen, sondern unser Handeln durch die bewusste Willensentscheidung steuern können. Tiere haben ein von der Natur gegebenes, genetisch festgelegtes Verhaltensrepertoire, das ihnen ihr Überleben sichert. Der Mensch dagegen kommt „zart, nackt, wehrlos zur Welt“ (S. 112), und er muss sich das Fehlende durch einen bewussten Erziehungsprozess aneignen. In dem neugeborenen Säugling übergibt die Natur „nichts weiter als eine rohe Masse“ (S. 116), so dass den Erwachsenen die Aufgabe obliegt, diese zu formen. Die - wie man es in unserem Jahrhundert genannt hat - „Instinktreduziertheit“ des Menschen ist nicht negativ zu sehen, sondern sie ist vielmehr die Voraussetzung, damit das Wesentliche des Menschen ausgeprägt werden kann: seine autonome, sittliche Entscheidungsfreiheit. Geschieht dies nicht, bleibt der Mensch ungebildet, dann kann die Vernunft die eigenen Handlungen nicht steuern, und es entstehen „Untiere“ (S. 118), schlimmer als „Schweine“ (S. 116).

„Die Natur gibt dir ein Stück Land zu eigen, das zwar noch unbebaut ist, aber einen guten Boden hat; du aber lässest es aus Sorglosigkeit von Disteln und Dornen überwuchern, die in der Folge bei allem Fleiße kaum wieder auszurotten sind. In dem unscheinbaren Samenkorn, welch mächtiger Baum ist darin verborgen, was für Früchte wird er tragen, wenn er groß geworden! Dieser ganze Erfolg aber wird zu nichte, wenn du den Samen nicht in die Erde senkst; wenn du das zarte aufsprießende Keimchen nicht sorgfältig hütest; wenn du es nicht durch Pfropfen gewissermaßen zähmest. Und bei der Veredlung der Pflanzen bist du wachsam, bei der deines Sohnes aber schläfst du“ (S. 122).

Wird so die Erziehungsnotwendigkeit des Menschen grundlegend anthropologisch begründet, so folgt als nächstes der Nachweis seiner Erziehungsfähigkeit. Erasmus von Rotterdam steht noch nicht das Repertoire empirischer Forschung zur Verfügung, aber seine Argumentationsmuster ähneln denen unserer Zeit. Dem kleinen Kind ist ein „Nachahmungstrieb“ (S. 130) eigen, mit dessen Hilfe er seine Persönlichkeit aufbaut. Werden ihm keine geeigneten Vorbilder angeboten, so wird er sich das Falsche aneignen, und im späteren Leben wird es schwer werden, einmal angenommene Fehler wieder zu verlernen. Je kleiner das Kind ist, desto höher ist seine Prägsamkeit, weil die „rohe Masse“ (S. 116) weder in sittlicher und in geistiger Hinsicht noch nicht geformt ist. Dasjenige, was einen Menschen zuerst prägt, geht „in Natur über“ (S. 130), und die Erziehenden haben deshalb eine große Verantwortung. Dabei sieht Erasmus von Rotterdam die Lernfähigkeit des kleinen Kindes in sehr weiten Grenzen: zwar gibt es spezielle Begabungen, die der Erzieher möglichst früh erkennen und fördern soll, aber eigentlich kann jedes Kind jeden Gegenstand erlernen, wenn es nur rechtzeitig gefördert wird. Werden die breiten Prägungsmöglichkeiten der Kinder nicht genutzt, so ist eine wichtige Chance vertan, „denn das, was das Kind sich mit Leichtigkeit aneignen kann, dazu bedarf es im späteren Leben sehr viel Anstrengung“.

Wie gesagt, Erasmus von Rotterdam stehen die Ergebnisse entwicklungspsychologischer Untersuchungen noch nicht zur Verfügung. Er untermauert seine Thesen deshalb durch bildhafte Vergleiche, um durch deren Plausibilität zu überzeugen. Welcher Pferde- oder Hundezüchter würde sein edles Tier nicht in jungen Jahren abrichten, weiß er doch, dass diesbezügliche Versäumnisse sich später nicht mehr aufholen lassen? Und welcher Bauer würde die Veredlung seiner Bäume und Pflanzen nicht zeitig vornehmen, solange das Bäumchen „noch biegsam ist und der Hand des Gärtners nachgibt“ (S. 111)? Den Geist der neugeborenen Kinder vergleicht Erasmus von Rotterdam mit einem Gefäß: Dieses „gibt den Duft der Flüssigkeit, womit man es zuerst angefüllt hat, lange Zeit von sich und verliert ihn nur schwer; aber ein neues und leeres Gefäß kann man für jede beliebige Flüssigkeit aufheben“ (S. 156).

·       Erziehungsauftrag

Aus der Erziehungsnotwendigkeit der menschlichen Natur und der Erziehungsfähigkeit des Kindes ergibt sich der Erziehungsauftrag: Zum Vatersein reicht die Zeugung des Kindes nicht aus, zum Muttersein nicht das Gebären, sondern als Eltern hat man die Verpflichtung, das Kind in sittlicher und geistiger Hinsicht richtig zu erziehen. Dieser Anspruch ergibt sich um der Kinder selbst willen, um der eigenen, erwachsenen Anerkennung und Zukunftsabsicherung willen, aber auch um des Staates und Gottes willen, damit aus dem kleinen Kind ein gesellschaftsfähiger und Gott wohlgefälliger Mensch wird. Die Ausrede, die Eltern hätten nicht genügend Zeit, ihre Kinder selbst zu erziehen, gilt angesichts der Wichtigkeit der Aufgabe nicht, denn sie hätten sehr wohl die Möglichkeit, würden sie ihre Zeit nicht mit „Glücksspielen, Gelagen, Schauspielen und Torheiten“ (S. 134) verplempern. Aber es gilt: „Der hat seinen Sohn wenig lieb, den es verdrießt, ihn zu unterrichten.“ (ebenda) Auch hier benutzt Erasmus von Rotterdam einen drastischen Vergleich: Wer den Erziehungsauftrag gegenüber seinem Kind nicht hinreichend wahrnimmt, ist schlimmer als die Kindesmörderin, denn diese vergeht sich nur an dem Körper, jener aber an dem Bestandteil des Menschen, der seine Menschlichkeit und Gottebenbildlichkeit ausmacht. Selbst wenn man einwenden würde, die Lernfortschritte seien bei den kleinen Kindern gering (was Erasmus nicht glaubt),  so sind doch auch diese in ihrer Bedeutung nicht zu verachten: „Körnchen zu Körnchen fleißig hinzugefügt, macht bald einen großen Haufen aus“ (155). Die Zeit der Menschen auf der Erde ist begrenzt, und sie ist deshalb von Beginn an gut zu nutzen, um an dem unsterblichen Geist zu arbeiten.

Es sind drei Erziehungsfaktoren, die Erasmus von Rotterdam herausdifferenziert: die genetische Ausstattung, die Erfahrung sowie die bewusste geistige und sittliche Erziehung. Die Erbanlagen lassen sich nur wenig beeinflussen, sieht man von den Hinweisen ab, ein Mann solle sich die richtige Frau wählen („brav, von guter Familie, wohlerzogen und körperlich recht gesund“ <S. 126>) und die Eltern sollten während der Zeugung und Schwangerschaft „ein von jeder Schuld freies Gemüt und ein gutes Gewissen haben“ (ebenda). Ebenfalls unzureichend sind die ungeplanten Erfahrungen („Sozialisation“ könnten wir vielleicht sagen, Erasmus von Rotterdam spricht von „Übung“), die ein Kind macht. Erfahrung ohne reflektiertes Wissen ist sehr fehlerbehaftet und gefährlich (denken wir an den Witz: „Man kann alle Pilze essen, einige allerdings nur einmal!“) sowie darüber hinaus sehr zeitintensiv. Damit das Kind Mensch werden kann, muß es vernunftgemäß unterrichtet werden. Zwischen der Entwicklung des menschlichen Geistes als dem Kennzeichen seiner Menschlichkeit und der bewussten, geistvollen, pädagogisch reflektierten Erziehung besteht eine Wechselbeziehung. Dabei gilt der Erziehungsauftrag für alle Kinder: „muß nicht jedem sein eigener Sohn ebenso lieb sein, als wenn er ein Königssohn wäre?“ (S. 146) Gerade die Kinder armer Eltern bedürfen der Erziehung „um sich aus dem Staube erheben zu können“ (ebenda), und die Reichen, der Staat und die Kirche haben eine Verpflichtung, für die Bildung der armen Kinder zu sorgen.

Nach der Begründung der Erziehungsnotwendigkeit, Erziehungsfähigkeit und des Erziehungsauftrages beschäftigt sich der Text mit den Erziehungsgrundsätzen. Dabei kritisiert er die Vernachlässigung der Kinder ebenso wie eine autoritäre Pädagogik. Zu der ersten sagt er, Kinder würden „fast wie Hampelmänner“ behandelt, und solche Eltern sollten sich lieber „Affen und Schoßhündchen“ (S. 120) halten, wenn sie ihre Kinder nur als Spielobjekte benützen. Die autoritären Lehrer kritisiert er, sie seien so unfreundliche Wesen, „daß sie selbst von ihren Frauen nicht geliebt werden können“ (S. 136), und er empfiehlt, sie sollten lieber Metzger oder Henker als Erzieher sein. Nicht körperliche Bestrafung oder permanentes Schimpfen sind die richtigen Erziehungsmittel, sondern loben und lieben. Erasmus weiß, dass kleine Kinder wegen ihrer Anhänglichkeit an die Erzieher lernen, und diese müssen deshalb liebenswerte Menschen sein, die sich darum bemühen, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu dem Kind herzustellen.

Von Beginn des Lebens an ist ein Kind zu Sittlichkeit und Religiosität zu erziehen, und mit Beginn der Sprachfähigkeit ist es „zu wissenschaftlicher Unterweisung geeignet“ (S. 131). Gemeint ist damit die Ausbildung der Sprache (auch der lateinischen), das Erlernens des Lesens und Schreibens und Übungen in der Grammatik. Damit ein Kind in allem richtig unterwiesen werden kann, bedarf es neben der Liebe des Erziehers, von der wir eben gesprochen haben, vor allem der Beachtung eines zentralen pädagogischen Grundsatzes: der Forderung nach Altersgemäßheit der Erziehung. Mit einem schönen Vergleich verdeutlicht Erasmus von Rotterdam dies: Der Erzieher, der sich um die sittliche und geistige Erziehung des Kindes bemüht, soll sich an den guten Müttern und Ammen ein Beispiel nehmen, die dem Kind das Essen vorkauen, damit sie es verdauen können, die „mit stammelnder Zunge“ sich dem „kindlichen Lallen anpassen (S. 147), damit sie mit ihm kommunizieren können, die sich zu ihm hinunterbücken, damit sie mit ihm laufen können. Ebenso soll der Erzieher sich verhalten: er muss sich auf das Niveau des Kindes begeben, darf es nicht mit Wissen überhäufen, sondern muss langsam, Schritt für Schritt vorgehen. Dies wird er erreichen können, wenn er sich des Betätigungsmechanismuses bedient, der Kinder auszeichnet: das Spiel, wobei Erasmus von Rotterdam eine Formulierung benutzt, die durchaus Parallelen zu der Zeit der Vorschulbewegung der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts aufweist, wenn er formuliert, der Erzieher habe „dem Studium den Anschein (Hervorhebung S.H.) des Spiels zu geben“ (S. 154).


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