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Vermischte Texte

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Sigurd Hebenstreit

Zur Einführung in den Konstruktivismus

von Paul Watzlawick

Ihr beginnt euer Studium der Heil- oder Sozialpädagogik, und ich vermute, dass eine Erwartung, die ihr daran habt, die ist, durch ein Mehr an Wissen über die Wirklichkeit heilpädagogischen Handelns kompetenter zu werden, damit ihr später in der Praxis er­folgreich handeln könnt. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen sollen euch Theo­rien und empirische Erkenntnisse liefern, aus denen sich ein Verstehen und eine Hand­lungstechnik ergibt. In der Medizin lernt ihr, was das ist, ein Kind mit Down-Syndrom, in der Psychologie erfahrt ihr etwas über die Entwicklungsmöglichkeiten solcher Kinder, und in der Didaktik und Methodik der Heilpädagogik bekommt ihr ein Wissen darüber, wie mit diesen Kindern heilpädagogisch umgegangen werden kann, damit sie sich möglichst gut entwickeln. Mit anderen Worten: Es gibt die Wirklichkeit des Down-Syn­droms, die wissenschaftlich mehr oder weniger gut erforscht ist, und die Aneignung dieses Wissens wird euch helfen, mit Menschen umzugehen, die "das" haben - ein Down-Syndrom.

Was passiert nun, wenn ich behaupten würde, dass es in der Wirklichkeit - Kindergar­tenkinder pflegen "in echt" dazu zu sagen - ein Down-Syndrom gar nicht gibt, sondern dass das Ganze auf menschlichen Meinungen, die wie alle Meinungen wahr oder falsch sein können, beruht. Aber, so ließe sich einwenden, unter dem Mikroskop lässt sich ein zusätzliches Chromosom sehen, und alle Menschen, die Augen im Kopf haben, können das sehen, und diese Abweichung bedingt ein spezifisches Aussehen, eine In­telligenzminderung etc. Das lässt sich nicht bestreiten, es gibt da ein zusätzliches Chro­mosom, nur wenn es "zusätzlich" ist, so steht es in einer Beziehung zu dem, was als nor­mal gilt. Nehmen wir an, zugegeben das klingt jetzt etwas phantastisch, es gäbe eine menschliche Gesellschaft, in der alle Mitglieder dieses zusätzliche Chromosom haben. Es wäre dann sehr unwahrscheinlich, dass sie sagen würden: "Wir haben ein zusätzliches Chromosom"; dass sie von sich meinen würden, sie sähen merkwürdig aus; dass sie von einer Intelligenzminderung ausgingen, die einer heilpädagogischen Handlung bedürf­tig wäre. Wahrscheinlich wäre es, dass würde in einer solchen Gesellschaft ein Mensch geboren, dem das zusätzliche Chromosom fehlte, man diagnostizieren würde: "ihm fehlt ein Chromosom, und er sieht deshalb merkwürdig aus und behauptet komische Dinge, weshalb wir ihn besonders erziehen müssen, denn er ist nicht so ganz normal".

Ich möchte die "Einführung in die Pädagogik" so mit einer Enttäuschung einer möglicherweise bei euch vorhandenen Erwartung beginnen: wenn es die Wirklichkeit - an dem Beispiel durch das Down-Syndrom angedeutet - nicht gibt, kann die Wissenschaft kein gesichertes Wissen über die nichtfassbare Realität vermitteln, und dann kann ein Studium der Wissenschaft keine Aneignung eines nicht-vorhandenen Wissens über eine nicht-fassbare Realität sein. Ich wäre nicht Dozent an dieser Fachhochschule, wenn ich der Meinung wäre, damit sei die ganze Veranstaltung hier überflüssig, so dass sich die Frage ergibt, was denn dann Wissenschaft und wissenschaftliches Lernen sei. Doch bis wir dabei sind, bitte ich noch um viel Geduld.

Widmen möchte ich mich heute dem ersten Teil der angedeuteten Frage: Was ist das "Wirklichkeit", in der wir leben und auf die hin wir Kinder erziehen? Zu diesem Zweck stelle ich euch eine sozialwissenschaftliche Theorie vor, die gegenwärtig viel diskutiert wird und mit dem Stichwort "Konstruktivismus" ihre Bezeichnung gefunden hat. Der Au­tor, auf den ich mich dabei beziehe, ist Paul Watzlawick, der 1921 in Österreich gebo­ren wurde und später in die USA auswanderte. Paul Watzlawick ist Kommunikationswis­senschaftler - viele werden vielleicht den von ihm geprägten Satz gehört haben: "Man kann nicht nicht kommunizieren" - und Psychotherapeut. Auch wenn Watzlawick dies meines Wissens nicht explizit beschreibt, hat der Konstruktivismus Auswirkungen auch für das pädagogische Denken, weshalb ich ihn in dieser Veranstaltung vorstelle.

1. Rückbezüglichkeit

Beginnen wir mit einigen scheinbar abwegigen Spielereien.

a) Es gibt einen Barbier, der alle Menschen rasiert, die dies nicht selber tun. Klar: er würde mich rasieren, wenn ich jemand wäre, der sich nicht selbst rasiert. Nur: wie ist es mit diesem Barbier selbst. Nehmen wir an, er entschließe sich, sich nicht selber zu rasie­ren, dann muss er sich aber rasieren, weil er ja alle Menschen rasiert, die sich nicht sel­ber rasieren. Beschließe er also nun anders herum, sich selber zu rasieren, dann dürfte er es nicht tun, denn er rasiert ja nur Menschen, die sich nicht rasieren. Wie soll er sich also entschließen, wenn jede Entscheidung sofort zu ihrem Gegenteil führt?

b) Die gleiche Frage wurde auch religiös gewendet: Der Teufel, die Allmächtigkeit Gottes in Frage stellend, fordert diesen auf, einen Stein zu erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht mehr aufheben kann. Kann Gott diesen Stein schaffen, dann ist er nicht Allmächtig, weil er ihn nicht tragen kann; kann er ihn andererseits tragen, dann ist er nicht allmächtig, weil er einen so schweren Stein nicht schaffen kann.

c) Das gleiche lässt sich auch mathematisch ausdrücken: Wir suchen nach der Menge, die alle Mengen enthält, die sich selbst nicht als Element enthalten. Und in der Tat soll für Mathematiker dieses Problem der "Rückbezüglichkeit" zu Beginn unseres Jahrhun­derts ein brennend diskutiertes Problem gewesen sein.

d) Etwas einfacher können wir noch den Satz des Witzbolden erwähnen, den Watzlawick zitiert: "Wie froh bin ich, dass ich Spinat nicht leiden kann; denn schmeckte er mir, dann würde ich ihn essen - und ich hasse das Zeug!" (MZ 180)

Mögen dies noch abwegige Spielereien sein, die unseren gesunden Menschenver­stand nicht berühren, dann zeigt Watzlawick deren Bedeutsamkeit auch für unser All­tagsverhalten auf. Im politischen Bereich mag sich so die Frage ergeben: "Muss die Toleranz Intoleranz tolerieren?" (MZ 179) Oder für den Bereich der Wissenschaft: Die Unterstellung des Rationalismus, dass es vernünftige Erklärungen gibt, ist selbst ein irra­tionaler Glaube an die Vernunft, eine Entscheidung, die selbst nicht vernünftig bewie­sen werden kann.

Verallgemeinernd gesagt: Um die Wahrheit eines Systems zu beweisen, kann ich nicht innerhalb des Systems verbleiben, sondern muss dies transzendieren; um dies Metasy­stem zu beweisen, kann ich wiederum nicht innerhalb seiner Grenzen verbleiben, son­dern muss es erneut transzendieren, ein Prozess, der ständig so weiter geht, ohne dass es einen Punkt gäbe, von dem aus ich mit Gewissheit sagen könnte, dies sei der letz­tendlich wirkliche Beweis. Und auf die Frage von Paul Watzlawick - "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" - bezogen: Um den Beweis zu bringen, diese Wirklichkeit sei wirklich wirk­lich, müßte ich mich außerhalb von ihr stellen können, damit ich wie die Kugel als Ver­treterin des Landes der drei Dimensionen Flächenland überblicken kann. Nur: einen solchen Standpunkt kann ich nicht einnehmen, weil ich immer selbst Teil dessen bin, was meine Wirklichkeit ist, so dass ich in alle Fallen der Rückbezüglichkeit hineingerate. Ich bin in einer Gesellschaft erzogen, durch die ich bestimmte Sichtweisen gelernt habe, die mir zur zweiten Natur geworden sind, und ich spreche eine bestimmte Spra­che und kann das, was ich von der Wirklichkeit aussage, nur durch sie aussagen. Ver­schiedene Sprachen aber, so zitiert Watzlawick Wilhelm von Humboldt sind "nicht ebenso viele Bezeichnungen einer Sache, es sind verschiedene Ansichten derselben" (WW 20).

2. Wirklichkeit

Nach diesem Einstieg nun die zentrale These Watzlawicks. An einer Stelle fasst er sie so zusammen:

"Ganz allgemein ... vermischen wir meist zwei sehr verschiedene Begriffe der Wirklich­keit, ohne uns dessen genügend Rechenschaft zu geben. Der erste bezieht sich auf die rein physischen und daher weitgehend objektiv feststellbaren Eigenschaften von Dingen und damit entweder auf Fragen des sogenannten gesunden Menschenver­standes oder des objektiven wissenschaftlichen Vorgehens. Der zweite beruht aus­schließlich auf der Zuschreibung von Sinn und Wert an diesen Dingen und daher auf Kommunikation." (142f)

"Wir wollen ... jene Wirklichkeitsaspekte, die sich auf den Konsensus der Wahrnehmung und vor allem auf experimentelle, wiederholbare und daher verifizierbare Nachweise beziehen, der Wirklichkeit erster Ordnung zuteilen. Im Bereich dieser Wirklichkeit ist aber nichts darüber ausgesagt, was diese Tatsachen bedeuten oder welchen Wert ... sie haben. ... Im Bereich dieser Wirklichkeit zweiter Ordnung ist es ... absurd, darüber zu streiten, was 'wirklich' wirklich ist." (143)

"Wie gesagt, verlieren wir diesen Unterschied nur zu leicht aus den Augen oder sind uns des Bestehens dieser zwei verschiedenen Wirklichkeiten überhaupt nicht bewusst. Wir leben dann unter der naiven Annahme, die Wirklichkeit sei natürlich so, wie wir sie sehen, und jeder, der sie anders sieht, müsse böswillig oder verrückt sein. ... Der eigentliche Wahn liegt in der Annahme, dass es eine 'wirkliche' Wirklichkeit zweiter Ord­nung gibt und dass 'Normale' sich in ihr besser auskennen als 'Geistesgestörte'." (144)

Aussagen über die Wirklichkeit erster Ordnung beziehen sich auf Gegenstände, die für sich, unabhängig von anderen existieren. Ich kann so messen, dass dieser Gegen­stand 30 cm lang ist, und wenn wir uns auf die Meßmethode und die dazu notwendige Definition geeinigt haben, und wenn ich die Messung korrekt durchgeführt habe, dann wird jede erneute Messung- unabhängig von mir - 30 cm ergeben, und die Behaup­tung, in Wirklichkeit sei dieser Gegenstand 50 cm groß ist einfach falsch. Gehen wir jetzt zu der Aussage über: "Dieser Gegenstand ist länger als jener", dann können wir auch "in Wirklichkeit" feststellen, ob eine Aussage richtig oder falsch ist, doch im Ge­gensatz zu dem Satz: "Dieser Gegenstand ist 30 cm lang", haben wir hier keine festste­hende "wirkliche" Aussage über den Gegenstand getroffen, sondern eine Bezie­hungsaussage. Denn der Satz: "Dieser Gegenstand ist länger" macht keinen Sinn, weil das "länger Sein" kein Sein ist, nicht in dem Gegenstand selbst liegt, sondern in einer Beziehungsherstellung, bei der der gleiche Gegenstand sowohl länger als auch kürzer sein kann. (Man denke an den Witz: "Nachts ist es kälter als draußen.") Für Beziehungs­urteile brauchen wir also immer gleichzeitig drei Gegebenheiten: eine Situation A (die Länge des ersten Gegenstandes), eine Situation B (die Länge des zweiten Gegen­standes) und jemanden, der die Beziehung zwischen A und B herstellt (zu der Aussage gelangt, dass A größer als B ist).

Im Bereich der Sozialwissenschaften - und zu ihnen gehören die Erziehungswissenschaft und die Heilpädagogik -, im Bereich des sozialen Handelns - und zu ihm gehört auch Erziehung - haben wir es immer mit Beziehungsaussagen zu tun, in denen wir selbst mi­tenthalten sind. Auch der Wissenschaftler hat nicht die Position eines Wesens von ei­nem fremden Stern, der sich die sozialen Prozesse wie von Außen betrachten kann.

Jemanden als "behindert" zu betrachten, ist keine Wesenheit, die ich an diesem Men­schen festmachen kann, sondern ein Beziehungsurteil zwischen verschiedenen Grup­pen von Menschen. Dieses Beziehungsurteil wird aus einem ganz bestimmten Interesse heraus formuliert (um eine Außenseitergruppe zu schaffen, die die eigene Normalität bestätigt, aus therapeutisch-heilpädagogischen Gründen, um eine Fallgruppe für pro­fessionelles Handeln zu definieren), aber es läßt sich nicht auf der Ebene von richtig oder falsch, wirklich oder unwirklich beweisen.

Ein anderer Vertreter des Konstruktivismus - Ernst von Glasersfeld - hat diesen Zusam­menhang einmal durch die Einführung der Wörter "stimmen" und "passen" zu verdeutli­chen versucht. Von einer Abbildung können wir sagen sie "stimme", weil sie in irgend­einer Weise das Abzubildende wiedergibt.

"Sagen wir andererseits von etwas, dass es 'passt', so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als dass es den Dienst leistet, den wir uns von ihm erhofften. Ein Schlüssel 'passt', wenn er das Schloss aufsperrt. Das Passen beschreibt die Fähigkeit des Schlüs­sels, nicht aber das Schloss. ... Vom Gesichtspunkt des radikalen Konstruktivismus aus stehen wir alle - Wissenschaftler, Philosophen, Laien, Schulkinder, Tiere, ja Lebewesen aller Art - unserer Umwelt gegenüber wie ein Einbrecher dem Schloss, das er aufsper­ren muss, um Beute zu machen." (EW,20)

Fassen wir also vorläufig zusammen: Es gibt nicht die Wirklichkeit, sondern Bilder der Wirklichkeit, über die kommunikativ hergestellte Einigkeit oder Uneinigkeit herrscht. Das, was wir an "Wirklichkeit" in unserem Kopf haben, ist nicht ein Abbild dessen, was es da draußen, außerhalb unseres Kopfes wirklich gibt, sondern es sind Konstruktionen, mithin etwas Gemachtes. Heinrich Böll hat einmal geschrieben:

"Die Wirklichkeit wird uns nie geschenkt. Sie erfordert unsere aktive, nicht unsere pas­sive Aufmerksamkeit. Geliefert werden uns Schlüssel, Ziffern, ein Code - es gibt keinen Passepartout für die Wirklichkeit: Bücher, Tatsachen, sie sind immer nur - sind es besten­falls - Teile von oder Schlüssel zu Wirklichkeiten, sie öffnen Wirklichkeiten, wie man Türen zu Gebäuden öffnet, damit der Eintretende sich darin umsehe. Und man muss eintreten in den noch unbekannten Raum und sich darin umsehen. Das Wirkliche liegt immer ein wenig weiter als das Aktuelle: Um einen fliehenden Vogel zu treffen, muss man vor ihn schießen."

3. Selbsterfüllende Prophezeiungen

Das mag alles noch recht abstrakt klingen, deshalb aus der Fülle von Watzlawicks Überlegungen zur Konkretisierung ein Gedanke. Eine Prophezeiung ist die Voraussage einer Wirklichkeitsbeschreibung in der Zukunft, egal ob sie falsch oder richtig ist. Was aber, wenn die Wirklichkeit nicht so ist wie die Prophezeiung vorausgesagt hat, son­dern wenn sie so wird, weil sie so vorausgesagt wurde. Mithin das Bild bildet die zu­künftige Wirklichkeit nicht ab, sondern es erschafft diese. In der Sozialpsychologie hat sich dafür der Begriff "Sich Selbsterfüllende Prophezeiung" eingebürgert. Dazu eine von Watzlawick zitierte Anekdote vorweg:

"In einem österreichischen Landeskrankenhaus liegt ein schwerkranker Mann im Ster­ben. Die behandelnden Ärzte haben ihm wahrheitsgemäß mitgeteilt, dass sie seine Krankheit nicht diagnostizieren können, ihm aber wahrscheinlich helfen könnten, wenn sie die Diagnose wüssten. Sie haben ihm ferner gesagt, dass ein berühmter Diagnosti­ker das Spital in den nächsten Tagen besuchen und vielleicht imstande sein wird, die Krankheit zu erkennen. Ein paar Tage später kommt der Spezialist wirklich an und macht seine Runde. Am Bett des Kranken angekommen, wirft er nur einen flüchtigen Blick auf ihn, murmelt 'moribundus' und geht weiter. Einige Jahre später sucht der Mann den Spezialisten auf und sagt ihm: 'Ich wollten Ihnen schon längst für Ihre Diagnose danken. Die Ärzte sagten mir, dass ich Aussicht hätte, mit dem Leben davonzukommen, wenn Sie meine Krankheit diagnostizieren könnten, und im Augenblick, da Sie 'moribundus' sagten, wusste ich, dass ich es schaffen werde.'" (EW, 104)

Ein Beleg ist dies sicherlich noch nicht, eher eine Illustration des Gemeinten. Für die Pädagogik aufschlussreicher ist eine Untersuchung, die Rosenthal u.a. in den 60er Jah­ren durchgeführt haben. In der Zusammenfassung nach Tausch und Tausch wird sie so beschrieben:

"Schüler aus achtzehn 1. - 6. Schuljahren wurden mit einem nicht-verbalen, nur in gerin­gem Ausmaß mit den Schulleistungen korrelierenden Intelligenztest untersucht. 20% der Schüler jeder Klasse - zufällig, ohne Berücksichtigung ihrer Leistungen im Intelligenztest ausgewählt - wurden den Klassenlehrern von den Psychologen als Schüler bezeichnet, von denen der größte intellektuelle Gewinn zu erwarten sei (experimentelle Gruppe). Nach 8 Monaten wurden alle Schüler wiederum mit dem gleichen Intelligenztest unter­sucht. Ergebnis: Die Schüler der experimentellen Gruppe, von denen ihre Klassenlehrer einen großen intellektuellen Gewinn zu erwarten hatten, zeigten - im Vergleich zu den übrigen Schülern der Klasse (Kontroll Vpn) - einen signifikant größeren Gewinn im Intel­ligenztest (12 vs. 8 IQ-Punkte). ... Man kann vermuten, dass Lehrer mit positiven Erwar­tungseinstellungen hinsichtlich des Intelligenzgewinnes ihrer Schüler eher positive Be­kräftigungen für intelligentes Schülerverhalten geben, dass sie den Schülern mehr posi­tive Affekte kommunizieren und fehlerhafte Äußerungen seltener und in geringerem Ausmaß kritisieren. Wahrscheinlich spüren die Schüler auch den Optimismus und die Ak­zeptierung ihrer Lehrer, sie empfinden weniger Angst, nehmen mehr am Unterricht teil und werden intellektuell funktionstüchtiger." (T&T, Erziehungspsychologie 19716, S. 129f)

Watzlawick berichtet sogar von einem vergleichbaren Ergebnis in Tierversuchen: "Zwölf Teilnehmer an einem Praktikum in Experimentalpsychologie erhielten eine Vorlesung über Untersuchungen, die (angeblich) bewiesen, dass gute, beziehungsweise schlechte Testleistungen von Ratten ... durch selektive Züchtung der Tiere angeboren werden können. Sechs der Studenten erhielten dann 30 Ratten, deren genetische Veranlagung sie angeblich zu besonders guten, intelligenten Versuchstieren machte, während den anderen sechs Studenten 30 Ratten zugewiesen wurden, von denen ih­nen das Gegenteil gesagt wurde - nämlich dass es sich um Tiere handele, die sich ihrer Erbanlage nach schlecht für Experimente eigneten. In Tat und Wahrheit waren alle 60 Ratten von derselben Art, wie sie seit eh und je zu derartigen Zwecken verwendet werden. Alle 60 Tiere wurden dann auf ein und dasselbe Lernexperiment hin trainiert. Die Ratten, deren Versuchsleiter glaubten, es handele sich um besonders intelligente Tiere, schnitten in den Versuchen nicht nur von vornherein besser ab, sondern steiger­ten ihre Leistungen weit über die der 'unintelligenten' Tiere hinaus. Am Ende des fünf­tägigen Versuchs wurden die Versuchsleiter aufgefordert, ihre Versuchstiere zusätzlich zu den ihnen bekannten Versuchsergebnissen auch subjektiv zu beurteilen. Die Studen­ten, die 'wussten', dass sie mit unintelligenten Tieren arbeiteten, drückten sich in ihren Berichten dementsprechend negativ aus, während ihre Kollegen, die mit den ver­meintlich überdurchschnittlich begabten Ratten experimentiert hatten, ihre Schützlinge als freundlich, intelligent, findig und ähnlich beurteilten und ferner erwähnten, dass sie die Tiere häufig berührt, gestreichelt und sogar mit ihnen gespielt hatten." (98f)

Dieser Mechanismus ist gerade für die Behindertenpädagogik bedeutsam, die es mit Menschen zu tun hat, die qua Definition einer negativen Bewertung unterliegen. Ein Kind in einer Behinderteneinrichtung ist behindert, weil es in einer Behinderteneinrich­tung ist, und auch wenn es "in Wirklichkeit" nicht behindert war, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit so werden. Autistische Kinder werden sich von der Kommunikation mit anderen absondern, weil sie Autisten sind, und diese Definition schafft in den Köp­fen der Betreuer eine Wirklichkeit, die das hervorbringt, was sie vorab gesetzt hat. Er­staunen mag es dann hervorrufen, wenn ein scheinbar neutraler Außenstehender zu einem solchen Kind schnell Kontakt aufnimmt. Doch dann gilt meist der Satz von Hegel, den Watzlawick gerne zitiert: "Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstim­men - um so schlimmer für die Tatsachen." (EW, 217)

Wir finden diesen Mechanismus sich selbsterfüllender Prophezeiungen in allen Berei­chen des sozialen Lebens. Wirksam sind sie insbesondere in den öffentlichen Medien: Eine Nachricht muss nicht gemeldet werden, weil sie sich ereignet hat, sondern sie wird gemeldet, weil sie sich ereignen soll und dann auch ereignen wird. Denken wir bei­spielsweise an die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen in der letzten Zeit, die zum Ziel haben, das Grundgesetz so zu ändern, dass deutsche Soldaten in Zukunft auch in Nicht-NATO-Ländern kämpfen sollen. Oder denken wir an die letzten olympi­schen Spiele, von denen nicht so im Fernsehen berichtet wurde, weil sie so stattgefun­den haben, sondern die so stattgefunden haben, wie sie in Wirklichkeit stattgefunden haben, weil über sie berichtet wurde. (Ich habe von einem Studenten gehört, kann dies aber nicht belegen, die USA hätten als Ausrichter der nächsten Fußballweltmei­sterschaft vorgeschlagen, die Spiele nicht in zwei Halbzeiten, sondern in vier Vierteln auszutragen, um mehr Werbemöglichkeiten zu bekommen. Mithin - auch jetzt bei der Fußballbundesliga feststellbar: die Werbung nicht als Einnahmequelle, um über ein Er­eignis berichten zu können, sondern das Ereignis, damit Werbeeinnahmen erzielt wer­den können.)

Eine Prophezeiung muss sich dabei nicht so erfüllen, wie sie es vorhergesagt hat, son­dern sie kann eine Wirklichkeit erschaffen, die gerade das Gegenteil des vorherge­sagten hervorbringt, die aber auch noch in ihrem Gegenteil dadurch Wirklichkeit wurde, weil sie an die Prophezeiung gebunden war. Ich denke an meinen Sportlehrer, der mir als Jugendlicher sagte, ich würde mich als Erwachsener nie freiwillig bewegen - und durch diese Voraussage auch sein mangelhaft auf dem Schulzeugnis für gerecht­fertigt hielt. In "Wirklichkeit" bin ich in diesen Sommerferien über 1000 km mit dem Rad durch Holland gefahren. Oder um Max Frisch zu zitieren:

"Irgendeine fixe Meinung unserer Freunde, unserer Eltern, unsrer Erzieher, auch sie la­stet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirne gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muss es sich durchaus nicht im geraden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluss, darin, dass man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den andern. Eine Lehrerin sagte einmal zu meiner Mutter, niemals in ihrem Leben werde sie stricken lernen. Meine Mutter erzählte uns je­nen Ausspruch sehr oft; sie hat ihn nie vergessen, nie verziehen; sie ist eine leiden­schaftliche und ungewöhnliche Strickerin geworden, und alle die Strümpfe und Mützen, die Handschuhe, die Pullover, die ich jemals bekommen habe, am Ende verdanke ich sie allein jenem ärgerlichen Orakel!" (Bd. II.2, 370f)

Oder schließlich ein Beispiel aus diesem Seminar: Ich gehe davon aus, dass einige von euch mit der Selbsterwartung hier sitzen, für das Erlernen komplizierter Theorien seien sie zu dumm. Die Entscheidungen, Pädagogik und nicht Mathematik zu studieren, an die Fachhochschule und nicht an die Universität zu gehen, mögen durch diese Selbst­bewertung, zu deren Aufbau die Schule viel gute Arbeit geleistet hat, mitbeeinflusst gewesen sein. (Es gibt übrigens m.E. gute Gründe für ein Fachhochschulstudium, aber das ist jetzt nicht mein Thema.) Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Kommilitone sich an schwierige Texte nicht herantraut, ist groß; vermutlich wird der Seminarvortrag mit mehr als drei ungebräuchlichen Fremdwörtern und einer Satzlänge, die schwer zu überblicken ist, bestätigen, man sei für ein solches Theoretisieren nicht geschaffen, vielleicht kann man diese auch noch als Spinnerei und überflüssig zu entwerten versu­chen, ein Rest an negativem Selbstbild bleibt und wird sich selbst bestätigen.

Aber zurück zu unserem Thema, dessen Zusammenhang aus dem Blick zu geraten scheint. Deshalb wiederholend: Das, was wir im sozialen, kommunikativen Bereich "Wirklichkeit" nennen, ist nicht die eine, unabhängig von uns existierende wirkliche Wirk­lichkeit, sondern es sind Bilder der Wirklichkeit, über die wir uns verständigen, die wir - wie different sie zwischen verschiedenen Menschen auch immer sein mögen - nicht als wahr oder falsch beurteilen können. Die Bilder sind nicht die Wirklichkeit, sondern in vielen Fällen schaffen sie diese erst.

4. Interpunktion

Wie geschieht es nun, dass unterschiedliche Personen, die eigentlich alle "die" Wirklich­keit sehen könnten, statt dessen aber sehr verschiedene Wirklichkeiten erschaffen? Watzlawick zitiert dazu einen bekannten Witz, den wir in folgender Karikatur abgebildet sehen. Der Versuchsleiter wird sagen, die Ratte sei so konditioniert, dass sie lernt, den Hebel zu drücken, damit sie als Belohnung Futter erhält. Die Ratte aber sagt, der Ver­suchsleiter sei so konditioniert, dass er Futter gebe, wenn sie den Hebel drückt. Die gleiche Ereignisabfolge, doch die Einschnitte werden jeweils unterschiedlich gesetzt. Watzlawick nennt dies "Interpunktion", wodurch aus einem unendlichen Fluss des Geschehens Anfangs- und Endpunkte festgelegt, Ursache- und Folgebeziehungen her­ausgehoben und so in das Chaos eine Ordnung gebracht wird.

Wir alle kennen dies aus unserer alltäglichen Kommunikation: Jemand ist immer in mei­ner Gegenwart muffelig, und deshalb fühle ich mich angegriffen und reagiere verletzt; aus der anderen Perspektive: du reagierst immer so mimosenhaft und gereizt, da kann ich mich nur zurückziehen. Gemeinsam ist beiden Partnern, dass sie ihr Verhalten als Folge des Verhaltens des anderen auffassen, so dass sie an dem Problem unschuldig sind: wenn der andere sich anders verhielte, dann ...

Doch es geht jetzt noch nicht um Beziehungsprobleme, sondern um den Mechanismus des Interpunktierens. Wiederholend gesagt: Er wird notwendig, um das Chaos der Wirklichkeit zu ordnen, und er funktioniert, indem er in den unendlichen Fluß des Ab­laufs Einschnitte setzt und damit Ursache-Wirkungs-Beziehungen konstituiert.

Unser Wirklichkeitsbild ist dabei beherrscht von einem Kausalitätsdenken, das für be­stimmte Bereiche auch sehr wirksam ist: Weil der Regen fällt, wird die Erde feucht, und nicht: Weil die Erde feucht wird, regnet es. Weil ich den Schalter betätige, geht das Licht an, und nicht: Weil das Licht angeht, betätige ich den Schalter. Diese Möglichkei­ten eindeutiger Kausalität passen jedoch nicht auf kommunikative Formen der Wirk­lichkeit. Hier gilt vielmehr, wie Watzlawick schreibt: "Es besteht aber guter Grund zur An­nahme, dass die Kausalität von Beziehungen zwischen Organismen ... kreisförmig ist und dass genauso, wie jede Ursache eine Wirkung bedingt, jede Wirkung ihrerseits zu einer Ursache wird und damit auf ihre eigene Ursache zurückwirkt." (WW, 74)

Aus dieser Kreisförmigkeit menschlicher Kommunikation ergibt sich für den Konstrukti­vismus, dass ich Wirklichkeit nicht bei einem Individuum suchen kann - die Behinderung bei dem Kind mit Down Syndrom -, sondern nur durch die Erhellung der Kommunikati­onsstruktur zwischen Menschen - also ist das Kind mit Down-Syndrom nicht behindert, sondern die Interaktion zwischen dem Kind mit Down-Syndrom und seiner relevanten Umgebung (Eltern, Ärzte, Heilpädagogen etc.) legen die Behinderung fest. In diesem Sinne schreibt Watzlawick, dass es gilt

"die Trias Sender - Zeichen - Empfänger als kleinste Einheit jeder pragmatischen Unter­suchung aufzufassen und sie als unteilbar zu behandeln. ... Wir glauben, dass es ... müßig ist, die Beziehung zwischen Sender und Zeichen ohne Mitberücksichtigung des Empfängers und dessen Reaktion oder die zwischen Empfänger und Zeichen unter Au­ßerachtlassung des Senders zu untersuchen - genau wie es kaum der Mühe wert wäre, das Spielverhalten (die Züge) eines Schachspielers ohne Bezug auf die Züge seines Partners zu studieren. ... Unser Blickwinkel verschiebt sich vom Individuum auf die Be­ziehung zwischen Individuen" (MZ, 12).

5. Eindeutigkeit

Existieren so kommunikative Wirklichkeiten nicht im objektiven Sinne "da draußen", so dass sie im Innern des Kopfes möglichst genau abgebildet werden könnten, sondern sind Wirklichkeiten Konstruktionen, so sind diese Konstruktionen nicht willkürlich, sondern ergeben sich auf Grund von Kommunikation mit relevanten anderen. Wir bedürfen aus existentieller Notwendigkeit heraus einer Übereinkunft mit anderen, damit wir nicht im Wahn untergehen, sondern uns wirklich erschaffen und die Wirklichkeit wirklich wer­den lassen können. Watzlawick nennt dies "ratifizieren" "unserer Beziehungsdefinitionen zu den Schlüsselpersonen unserer Umwelt" (MZ, 54f). "Wir hängen auf Gedeih und Ver­derb von den Ratifizierungen unserer Wirklichkeit durch die anderen ab, die ihrerseits ihre eigene Wirklichkeitserklärung von uns fordern." (MZ, 56) Dieses Bemühungen um Ratifizierung der Wirklichkeitsbilder, um Eindeutigkeit, geht sehr weit und kann manchmal seltsame Blüten treiben. Watzlawick referiert hierzu verschiedene psycho­logische Untersuchungen zur "Nichtkontingenz", d.h. Untersuchungen, in denen zwi­schen der Leistung und der Bewertung der Versuchsperson keinerlei Beziehung be­steht. Referieren wir ein Beispiel:

Der Versuchsperson wird "eine lange Reihe von Zahlenpaaren vorgelesen ... Nach Nennung jedes Zahlenpaares hat die Versuchsperson anzugeben, ob diese beiden Zahlen 'zusammenpassen' oder nicht. Auf die nie ausbleibende, verblüffte Frage, in welchem Sinne denn diese Zahlen 'passen' sollen, antwortet der Versuchsleiter nur, dass die Aufgabe eben im Entdecken der Regeln dieses Zusammenpassens liegt. Da­mit wird der Eindruck erweckt, es handele sich um eines der üblichen 'Versuch und Irr­tum'-Experimente. Die Versuchsperson beginnt also zunächst mit wahllos gegebenen 'passt' - oder 'passt nicht'-Antworten und erhält vom Versuchsleiter ... zunächst fast aus­schließlich 'falsch' als Bewertung der Antworten. Langsam aber bessert sich die Lei­stung der Versuchsperson, und die Richtigkeitserklärungen ihrer Antworten nehmen zu. Es kommt so zur Ausbildung einer Hypothese, die sich im weiteren Verlaufe als zwar nicht vollkommen richtig, aber doch immer verlässlicher erweist.

Was die Versuchsperson ... nicht weiß, ist, dass zwischen ihren Antworten und den Re­aktionen des Versuchsleiters keinerlei unmittelbarer Zusammenhang besteht. Der Ver­suchsleiter gibt die Richtigerklärungen der Antworten vielmehr auf Grund der anstei­genden Hälfte einer Gaußschen Kurve, d.h. zuerst sehr selten und dann mit immer größerer Häufigkeit. Dies aber erschafft in der Versuchsperson eine Auffassung von der 'Wirklichkeit' der den Zahlenpaaren zugrundeliegenden Ordnung, die so hartnäckig sein kann, dass an ihr auch dann festgehalten wird, wenn der Versuchsleiter ihr schließ­lich erklärt, dass seine Reaktionen nichtkontingent waren. Gelegentlich nimmt die Ver­suchsperson sogar an, eine Regelmäßigkeit entdeckt zu haben, die dem Versuchslei­ter entgangen ist." (EW, 13f)

Dieses Erfinden von geordneten Wirklichkeiten durch Entdeckung scheinbarer Kausali­täten lässt sich nicht nur bei Menschen feststellen, sondern auch bei Tieren. Watzlawick referiert eine Untersuchung, bei der Ratten lernen mussten, einen Futternapf genau nach 20 Sekunden zu erreichen, um Futter als Belohnung zu bekommen, obwohl der gerade Weg zum Futternapf nur 8 Sekunden dauern würde. Die in den verbleibenden 12 Sekunden von der Ratte durchgeführten Bewegungen - bestimmte Sprünge, Pirou­etten u.ä. - werden für sie jetzt zur scheinbar wirksamen Ursache der Belohnung, ob­wohl in der Wirklichkeit des Versuchsaufbaus diese Beziehung nicht bestand.

Noch eine letzte Untersuchung möchte ich erwähnen, weil sie bestimmte Aspekte un­seres Alltagshandelns gut beleuchtet.

"In einem ... Experiment sitzen zwei Versuchspersonen, A und B, vor einem Projektions­schirm. Zwischen ihnen ist eine Trennwand, so dass sie sich gegenseitig nicht sehen können, und es wird ihnen außerdem zur Auflage gemacht, nicht miteinander zu spre­chen. Beide haben vor sich je zwei Drucktasten mit der Bezeichnung 'gesund' und 'krank' sowie zwei Signallämpchen mit der Aufschrift 'richtig' beziehungsweise 'falsch'. Der Versuchsleiter projiziert nun eine Reihe von Mikrodiapositiven von Gewebezellen, und es ist die Aufgabe der Versuchspersonen, durch Versuch und Irrtum die gesunden von den kranken Zellen unterscheiden zu lernen. Sie werden aufgefordert, zu jedem Bild durch Drücken des betreffenden Knopfes ihre (individuelle) Diagnose bekannt zugeben, worauf sofort das Lämpchen 'richtig' oder 'falsch' aufleuchtet.

Diese scheinbar sehr einfache Versuchsanordnung hat aber ihre geheimen Tücken: A erhält jedes Mal die zutreffende Antwort auf seine Diagnose ... Für ihn besteht das Ex­periment also im verhältnismäßig einfachen Erlernen einer ihm bisher unbekannten Un­terscheidung durch Versuch und Irrtum; und im Verlauf des Versuchs erlernen die mei­sten A-Personen bald, gesunde von kranken Zellen mit einer Verlässlichkeit von etwa 80 % zu unterscheiden.

B's Situation dagegen ist eine ganz andere. Die Antworten, die er erhält, beruhen nicht auf seinen eigenen Diagnosen, sondern auf denen A's. Es ist daher völlig gleichgültig, wie er ein bestimmtes Diapositiv einschätzt. Er erhält die Antwort 'richtig', wenn A den Gesundheitszustand der betreffenden Zelle richtig erriet; wenn A dagegen sich irrte, erhält auch B die Antwort 'falsch', ungeachtet der Diagnose, die er selbst stellte. B weiß das aber nicht; er lebt daher in einer 'Welt', von der er annimmt, dass sie eine be­stimmte Ordnung hat und dass er diese Ordnung entdecken muss, indem er Vermutun­gen anstellt und dann jeweils erfährt, ob diese richtig oder falsch waren. ... Er sucht also nach einer Ordnung, die zwar besteht, ihm aber nicht zugänglich ist.

A und B werden nun ersucht, gemeinsam zu besprechen, welche Grundsätze für die Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Zellen sie entdeckt haben. A's Erklä­rungen sind meist einfach und konkret. B's Annahmen dagegen sind subtil und kom­plex - schließlich gelangt er zu ihnen ja auf Grund sehr dürftiger und widersprüchlicher Mutmaßungen.

Das Erstaunliche ist nun, dass A die Erklärungen B's nicht einfach als unnötig kompliziert oder geradezu absurd ablehnt, sondern von ihrer detaillierten Brillanz beeindruckt ist. Beide wissen nicht, dass sie buchstäblich über zwei verschiedene Wirklichkeiten spre­chen, und A kommt daher zur Ansicht, dass die banale Einfachheit seiner Erklärungs­prinzipien der Subtilität von B's Diagnosen unterlegen ist. Das bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger, als dass B's Ideen für A um so überzeugender klingen, je absurder sie sind ...

Bevor sich A und B einem zweiten, identischen Test unterziehen, werden beide ersucht, anzugeben, ob A oder B bei diesem Test besser abschneiden wird als bei seinem er­sten. Alle B's und die meisten A's vermuten, dass es B sein wird. Dies ist tatsächlich der Fall, da A nun zumindest einige von B's abstrusesten Ideen übernommen hat und seine Vermutungen daher absurder und dementsprechend unrichtiger sind als beim ersten Mal." (WW, 61ff)

Menschen sind auf der Suche nach Eindeutigkeit, die ihnen hilft, das unendliche Chaos zu ordnen, und damit Kausalität herstellen, wo eigentlich Zufall herrscht. Die Eindeutig­keit vermittelt Sinn, gibt der Mannigfaltigkeit Bedeutung, reduziert unerträgliche Willkür­lichkeit. Mit einem Wort Nietzsches, das Watzlawick einige male zitiert: "Wer ein warum zu leben hat, fast jedes Wie erträgt." (EW, 28)

Was passiert nun, wenn Menschen sich in einer Situation befinden, in der sie sich ei­gentlich 100 % sicher sind, dass sie mit einer Meinung recht haben, aber eine Gruppe anderer eine gegenteilige Meinung äußert. Es gibt eine Untersuchung von Asch, die Watzlawick in diesem Zusammenhang referiert. Einer Gruppe von Studenten wird ein Bild mit einem senkrechten Strich gezeigt und dann ein zweites, das drei unterschiedlich lange Striche aufweist. Die Versuchspersonen sollen jeweils angeben, welcher der drei Striche genau so lang ist wie der auf dem letzten Bild, sie glauben also, an einer Untersuchung zur "visuellen Diskriminierung" teilzunehmen. Asch beschreibt den Unter­suchungsverlauf:

"'Das Experiment beginnt ganz normal. Die Versuchspersonen geben ihre Antworten in der Reihenfolge der ihnen zugewiesenen Plätze, und in der ersten Runde geben alle dieselbe Linie an. Ein zweites Tafelpaar wird exponiert, und wiederum ist die Antwort der Gruppe einstimmig. Die Teilnehmer scheinen sich mit der Aussicht auf weitere langweilige Experimente abgefunden zu haben. Beim dritten Versuch kommt es zu ei­ner unerwarteten Störung. Ein Teilnehmer wählt eine Linie, die im Widerspruch zur Wahl der anderen Versuchspersonen steht. Er scheint erstaunt, ja sogar ungläubig über diese Meinungsverschiedenheit. Beim nächsten Durchgang ist er wiederum anderer Meinung, während die Wahl der anderen einstimmig bleibt. Der Dissident ist immer bestürzter und unschlüssiger, da sich die Meinungsverschiedenheiten auch in den folgen­den Versuchen fortsetzt; er zögert, bevor er seine Antwort gibt, spricht mit leiser Stimme oder zwingt sich zu einem peinlichen Lächeln.'

Was er nämlich nicht weiß, ist, dass Asch alle übrigen Studenten vor dem Experiment sorgfältig instruierte, von einem bestimmten Punkt an einstimmig dieselbe falsche Ant­wort zu geben. Er ist somit die einzige wirkliche Versuchsperson und befindet sich in ei­ner höchst ungewöhnlichen und beunruhigenden Lage: Entweder muss er der noncha­lant und einstimmig abgegebenen Meinung der anderen widersprechen und ihnen daher in seiner Wirklichkeitsauffassung merkwürdig gestört vorkommen, oder er muss der Evidenz seiner eigenen Wahrnehmungen misstrauen. Wie unglaublich es auch scheinen mag, verfielen 36,8 % der Versuchspersonen dieser zweiten Alternative und unterwarfen sich dem ihnen selbst so offensichtlich falschen Urteil der Gruppe. ... Die Versuchspersonen, die nach dem Experiment alle über seine wahre Natur aufgeklärt wurden, berichteten über Gefühlsreaktionen, die die ganze Skala von mäßiger Angst bis zu ausgesprochenen Depersonalisationserlebnissen umfassten. Selbst jene, die sich nicht der Gruppenmeinung unterwarfen, taten dies fast ohne Ausnahme mit nagen­den Zweifeln darüber, ob sie nicht doch vielleicht Unrecht hatten." (92ff)

Watzlawick bezieht dies auf den Umgang von Familien Schizophrener:

"Fast unweigerlich besteht in diesen Familien der Mythos, dass sie keinerlei Probleme haben und niemand über etwas unglücklich ist, außer über die bedauerliche Tatsa­che, dass einer von ihnen geisteskrank ist. Doch schon ein kurzes Gespräch mit der ganzen Familie kann krasse Ungereimtheiten in der Wirklichkeitsauffassung der Familie als ganzes ... ans Licht bringen. ... Der Patient, nicht selten das sensibelste und klarse­hendste Familienmitglied, lebt auf diese Weise in einer Welt, deren Verschrobenheit ihm dauernd als normal hingestellt wird. Es wäre für ihn eine fast übermenschliche Lei­stung, diesem Druck erfolgreich zu widerstehen und den Familienmythus bloßzulegen. Und selbst wenn ihm das gelänge, würden seine Angehörigen darin nicht nur einen weiteren Beweis seiner Verrücktheit sehen, sondern er würde damit auch riskieren, von ihnen verworfen zu werden und die einzige Sicherheit zu verlieren, die er im Leben zu haben glaubt." (WW,95f)

Das Gesagte hat auch Bedeutung für die Heilpädagogik: Ein verhaltensgestörtes Kind ist verhaltensgestört, ein autistisches Kind ist autistisch, und jede Interaktion mit den re­levanten anderen Personen wird dies bestätigen, jeder erneute "objektive" Test ist ein weiterer Baustein dieser wirklichkeitserschaffenden Zuschreibung, gegen die die Kinder sich nicht wehren können, jede in guter Absicht durchgeführte pädagogische Hand­lung, die von diesem Bild geleitet wird, kann so leicht in das Gegenteil umschlagen. Nun lässt sich sagen, es gibt aber noch objektive Faktoren, das, was in der Heilpäd­agogik als "Schädigung" bezeichnet wird, und die lassen sich nicht wegdiskutieren. Ein Kind das blind ist, kann nicht sehen, und es nicht nur meine Meinung, dass es nicht se­hen kann. Dies lässt sich nicht bestreiten: Blind ist blind. Nur: für die Wirklichkeit des Blin­den ist von entscheidender Bedeutung, welcher Sinn dieser Tatsache kommunikativ von den anderen zugesprochen wird: ist es ein Mangel, der heilpädagogischen Be­handlung bedürftig, oder ist es im Gegenteil eine besondere Voraussetzung, um ein "Seher" zu werden. Wie der Fuchs in dem Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry sagt: "Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." (72) Das Kind, das blind geboren ist, kann beiden Fremdzuschreibungen nur wenig entgegensetzen. Es wird ein hilfebedürftiger Fall werden, wenn es als hilfebedürftiger Fall von den anderen gesehen wird; es wird ein Seher werden, wenn die anderen es mit Ehrfurcht und Aberglaube als Seher be­trachten. Jede Gesellschaft hat Vorstellungen, was als normal gilt, und Außenseiter, also auch Behinderte, haben die wichtige Funktion, durch ihr Anderssein die Normalität der anderen zu bestätigen, zu "ratifizieren".

6. Kommunikation, Kommunikationsstörung, Therapie

Der Grundbegriff zum Verständnis der Thesen Watzlawicks ist der der "Kommunikation". Menschen stehen in Beziehungen zueinander, und ihre Wirklichkeit lässt sich nicht da­durch ermitteln, dass sie als einzelne, als Individuen losgelöst von ihren Beziehungen betrachtet werden, sondern nur die Tatsache ihrer Kommunikation kann Grundlage der Betrachtung sein. Ähnlich werden wir später noch von dem Soziologen Norbert Elias hören, es gäbe nicht den Menschen als "Monade", der dann zu anderen Indivi­duen in Beziehung gestellt würde, sondern es gäbe nur "Menschen in Beziehungen". Anthropologische Grundlage des Menschen ist sein Austausch mit anderen, so dass es nicht den behinderten, verrückten, normalen Einzelnen gibt, der auf Grund seines Soseins eine bestimmte Welt- und Eigensicht hat. Wir könnten, wie Watzlawick schreibt, "weder körperlich noch seelisch das gänzliche Fehlen von Kommunikation mit anderen überleben" (MZ, 22), und diese Kommunikation ist nicht etwas Nachträgliches, dass zu dem Individuellen hinzukäme, sondern Kommunikation schafft eine Eigenwelt, die mehr ist als die Summe der einzelnen Teile.

Jegliches Verhalten eines einzelnen Menschen ist geprägt durch eine Geschichte von Beziehungen, und es hat in einer konkreten Situation immer einen Mitteilungscharakter, so dass Watzlawick schreiben kann: "Da es kein Nicht-Verhalten gibt, kann man auch nicht nicht kommunizieren." (MZ, 20) In einer schwierigen Beziehungssituation kann man manchmal den Wunsch haben, man möchte am liebsten gar nichts tun, sich eingra­ben, eine Pause der Auseinandersetzung vereinbaren, nichts selber sagen, damit der andere etwas sagt. Wie auch immer, auch dieses scheinbare Nichtverhalten sendet dem Partner eine Information, die er als Friedensangebot deuten kann, wie ein unter­legener Hund dem anderen seinen Hals als die verletzbare Stelle anbietet, oder er kann wütend werden, weil er immer in ein Schweigen hineinredet, und das fehlende Echo als bewussten Angriff interpretiert.

Jede Kommunikation - so lautet ein weiteres Theorem Watzlawicks - weist dabei zwei Aspekte auf: "Zunächst einmal vermittelt jede Kommunikation ... eine bestimmte Infor­mation, die ihren Inhalt darstellt. Darüber hinaus aber hat sie auch einen metakommunikativen Aspekt, d.h. eine Kommunikation darüber, wie diese Kommunikation vom Empfänger aufzufassen ist ... (der) Beziehungsaspekt." (MZ, 21) Nehmen wir die einfa­che Situation eines Paares beim Frühstück, wo sie zu ihm sagt: "In der Zeitung steht, dass ...". Der Inhalt dieser Situation ist einfach zu ermitteln, er besteht in der wahren oder falschen Wiedergabe eines gelesenen Artikels. Schwieriger ist es schon mit dem Bezie­hungsaspekt: Es mag sein, dass sie mitteilt: "Lass uns nur nicht über irgend etwas von uns selbst reden", oder: "Es ist schön, mit dir einfach entspannt Belanglosigkeiten austau­schen zu können", oder: "Ich bin wie immer besser (informiert) als du", oder: "Ich möchte dir helfen, dass du auf andere Gedanken kommst", oder: "Wenn es schon so schwierig mit uns ist, kannst du wenigstens dazu etwas sagen", oder, oder, oder.

Nehmen wir als anderes Beispiel die Situation in diesem Seminar selbst. Der Inhalt, den ich euch übermittele, besteht in der Darstellung einer sozialwissenschaftlichen Theorie. Gleichzeitig werden aber auch jetzt Beziehungsdefinitionen vermittelt, z.B.: "Dies ist eine Lehrer-Schüler-Situation, der Lehrer weiß etwas, der Schüler lernt etwas." Diese Lehrer-Schüler Definition der Beziehung bestimmt die Entfernung zwischen mir und euch, ver­mittelt, wer wie viel Macht hat, etwas zum Thema zu machen und anderes nicht. Mit dem, was ich euch vortrage, mag es sein, dass ich euch vermittle: "Ich will kein Lehrer sein", oder: "Wenn das so langweilig verläuft, muss ich allein reden", oder, oder, oder. Und ihr mögt denken: "Auch das geht vorüber", oder: "Das alles muss ich nur für die Prü­fung tun", oder: "Der weiß so viel und ich so wenig", oder, oder, oder. Meine Art der Beziehungsdefinition ist dabei nicht unabhängig von eurer, sondern in jeder Situation handeln wir mehr oder weniger bewusst unsere Sichtweisen aus, bis wir zu einer unge­fähren Übereinstimmung über unsere gegenseitigen Erwartungen kommen. - Nur in Klammern formuliert: Eure Situation als Neulinge in der "Einführung in die Pädagogik" ist etwas komplizierter, für euch und für uns, weil Neulinge - obwohl langjährige Schuler­fahrung uns hier schon viel vorgearbeitet hat - noch nicht so genau wissen, wie sie sich zu verhalten, was sie zu sagen und was sie zu schweigen haben. So werden zu Beginn, meist unbewusst, Beziehungsdefinitionen wechselseitig erarbeitet, gegen die später selbst bei bewusstem Wunsch nach Veränderung nur schwer anzugehen ist. Z-B.: Je­mand, der sich selbst als der Passive, Schweigende, Zurückziehende definiert und von den anderen entsprechend gesehen und behandelt wird, wird nur mit Anstrengung in dem gleichen Rahmen Fachhochschule zu dem Aktiven, Redenden werden. Bezie­hungsdefinitionen werden wechselseitig bestätigt und schaffen so einen Kreislauf, der wie eine sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung funktioniert.

Es wird nicht überraschend sein zu hören, dass Watzlawick dem Beziehungsaspekt eine größere Bedeutung beilegt als dem Inhaltsaspekt. "Von einem anderen verstanden zu sein bedeutet, dass der andere unsere eigene Sicht der zwischenmenschlichen Wirk­lichkeit mit uns teilt" (MZ, 23f), und weil wir geistig und emotional ohne Kommunikation nicht überleben könnten, sind wir auf die "Ratifizierung" der Beziehungsdefinition le­bensnotwendig angewiesen.

Dies zeigt sich beispielsweise auch in Arbeitsbeziehungen. Beispiel: Wenn immer ich Fortbildungsveranstaltungen für Erzieherinnen aus Kindergärten mache und wir uns ein wenig kennengelernt haben, äußert der überwiegende Teil der Teilnehmerinnen, das eigentliche Problem bestünde im Umgang der Kolleginnen untereinander. Wie man mit Kindern umzugehen habe, wie man ein einzelnes Kind verstehen könne, all dies bereite keine großen, allenfalls technische Schwierigkeiten, aber wie eine bestimmte Kollegin sich verhielte oder wie alle gemeinsam gegeneinander kämpften oder schwiegen verhindere die Umsetzung auch noch so guter Ideen. Oder ein anderes Beispiel: Ulli Stein, der Torwart von Eintracht Frankfurt, behauptet, ohne Andi Möller wäre sein Verein statt des VfB Stuttgart in diesem Jahr deutscher Fußballmeister ge­worden, eine Behauptung, die merkwürdig erscheint, weiß man, dass besagter Andi Möller einer der genialsten Fußballspieler in Deutschland ist, eine Behauptung, die je­doch auch für einen außenstehenden Zeitungsleser an Plausibilität gewinnt, wenn man von den diversen Kommunikationsstörungen lesen konnte.

Womit wir schon den nächsten Punkt berühren: So existentiell notwendig die Kommunikation so universell verbreitet scheinen die Kommunikationsstörungen. Halten wir dabei wiederholend als das Zentrale fest: Sie sind nicht Ausdruck der Krankheit eines Mitglie­des, des Behinderten, des Verhaltensgestörten, sondern zwischenmenschliche Erschei­nungen, die zur Folge haben, dass eine Beziehungssituation nicht so funktioniert, dass alle dabei gleichberechtigt zum Zuge kämen. Dass dabei häufig einer in der sozialen Situation von allen anderen zum Sündenbock erklärt wird, dass an ihm Merkmale seines Soseins gefunden werden, die Grund für alle Probleme zu sein scheinen, dass eigent­lich alles in Ordnung sei, wenn er oder sie in Ordnung wäre, mag dabei Ausdruck einer pathologischen Beziehungsdefinition sein: Der Außenseiter, der Behinderte, das verhaltensgestörte Kind wird benötigt, damit die Kommunikationsstörungen einen Ausfluss haben und alle anderen sich in ihrer Normalität bestätigen können.

In jedem kommunikativen System - von der Paar- und Eltern-Kind-Beziehung über die Hochschule bis zu professionellen Arbeitsbeziehungen - gibt es Regeln, die den Aus­tausch von Beziehungsdefinitionen steuern. Da ein solches "System" nicht als starr und überpersönlich gedacht werden kann, sondern weil es der ständigen Veränderung unterliegt, müssen die Regeln so flexibel sein, dass sie sich den ergebenden Verände­rungen anpassen können, sozusagen ein System von Regeln für Regeln - "Metaregeln" -, die bei Störungen des Kommunikationsprozesses eine metakommunikative Verstän­digung erlauben. Watzlawick schreibt:

"gut funktionierende Systeme (zeichnen sich) offenbar durch größere Flexibilität und ein größeres Repertoire von Regeln aus, während 'kranke', d.h. konfliktreiche Systeme über wenige und starre Regeln verfügen. ... Pathologische Systeme verfügen über keine hinlänglichen Metaregeln, d.h. Regeln für die Änderung ihrer Regeln." (MZ,32) Und formuliert von dorther den Auftrag von Therapie: "Wenn es zutrifft, dass ein System in dem Grade pathologisch ist, als es nicht aus sich selbst Regeln für die Änderung sei­ner Regeln hervorbringen kann, so ist es die offensichtliche Aufgabe einer wirksamen Therapie, diese Regeln von außen in das System einzuführen." (MZ, 35) Und an ande­rer Stelle: "Wer seelisch leidet, leidet eben nicht an der 'wirklichen' Wirklichkeit, sondern an seinem Bild der Wirklichkeit. Dieses Bild ist aber für ihn die Wirklichkeit, und sein Sinn ist der wahre Sinn des Lebens. ... Die Leidenden ... sind in ihrem eigenen Weltbild ge­fangen; sie spielen, was wir in der Kommunikationsforschung ein Spiel ohne Ende nen­nen, d.h. ein Spiel, das keine Regel für die Änderung seiner eigenen Regeln oder für seine Beendigung hat; ein Spiel, dessen erste Regel ... lautet: Dies ist kein Spiel, dies ist todernst. Es ist ein selbstrückbezügliches Universum, das sich in seinem In-sich-selbst-gekehrt-Sein ununterbrochen leidvoll in der alten Weise erneuert." (MZ, 170)

Es ist hier nicht der Ort, die therapeutische Konzeption des Konstruktivismus darzustellen, und deshalb diese hier nur andeutend zwei Geschichten, die Watzlawick zitiert:

1. Die orientalische Parabel:

"Ein Vater hat angeordnet, dass die Hälfte seiner Hinterlassenschaft an den ältesten Sohn gehe, ein Drittel an den zweiten und ein Neuntel an den jüngsten. Die Erbmasse besteht aber aus 17 Kamelen, und wie die Söhne nach seinem Tode das Problem auch drehen und wenden, sie finden keine Lösung, außer der Zerstückelung einiger Tiere. Ein mullah, ein Wanderprediger, kommt dahergeritten, und sie fragen ihn um seinen Rat. Dieser sagt: 'Hier - ich gebe mein Kamel zu den euren dazu; das macht 18. Du, der Älteste, bekommst die Hälfte, also neun. - Du, der Zweitälteste, bekommst ein Drittel, das macht sechs. - Auf dich, den Jüngsten, fällt ein Neuntel, also zwei Kamele. Das macht zusammen 17 Kamele und läßt eines übrig, nämlich meines.'" (134) Psycho­therapeutische Behandlung meint "im Sinne der Kamelgeschichte das eine Kamel, das eine Minute lang verwendet und dann nicht mehr benötigt wird". (135)

2. Ein Abenteuer des Barons von Münchhausen:

"Ein anderes Mal ... wollte ich über einen Morast setzen, der mir anfänglich nicht so breit vorkam, als ich ihn fand, da ich mitten im Sprunge war. Schwebend in der Luft wendete ich daher wieder um, wo ich hergekommen war, um einen größeren Anlauf zu nehmen. Gleichwohl sprang ich auch zum zweytenmale noch zu kurz, und fiel nicht weit vom anderen Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich unfehlbar um­kommen müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Armes mich an meinem eige­nen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Kniee schloß, wie­der herausgezogen hätte." (166)

Die Geschichte von Archimedes, der "nach dem festen Punkt sucht, von dem aus er die Welt aus den Angeln heben könnte" (166f), und ein Zitat von Peter Weiss: "Es kommt darauf an/sich am eigenen Haar in die Höhe ziehen/sich selbst von innnen nach außen zu stülpen/und alles mit neuen Augen zu sehen." (167) "die Idee eines Festpunktes, von dem aus die Welt sich in ihrer Gesamtheit überblicken und verändern ließe; die Frage, wie es möglich ist, die Grenzen eines scheinbar allumfassenden Rah­mens zu verlassen ... wie - und besonders ob - es möglich ist, sich in der leider unleug­baren Ermangelung eines archimedischen Punktes doch am eigenen Schopfe aus dem Rahmen der Welt im weitesten Sinne zu ziehen und sie dann von außen 'mit neuen Augen' zu sehen." (167)

Und in Fortführung der weiter oben zitierten Stelle schreibt Watzlawick: "Wenn immer es dem Leidenden gelingt - sei es spontan oder durch Therapie -, den scheinbar allum­fassenden Rahmen seiner Wirklichkeit zu verlassen, so ist das die Folge eines merkwür­digen und schwer zu beschreibenden Sprungs aus diesem Rahmen heraus, eines Sich-Hochziehens-an-sich-selbst, das dem Kunststück des Barons Münchhausen in nichts nachsteht. Und ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass das Wesen wirksa­mer Therapie im Herbeiführen dieses Kunststückes liegt" (170).


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