Sigurd
Hebenstreit
Die
Mär vom Montagssyndrom
Unter
dem Titel „Der Mythos vom Montagssyndrom
– Alltagstheorie und ihre Auswirkungen“
in: Kindergarten heute, 1996, Heft
9, S. 20 bis 33
Sich
die Kinder vom Leib zu halten, darin
scheint der Sinn einiger alltagstheoretischer
Sätze zu liegen. Dies gelingt dann
um so besser, wenn die Behauptungen
im allgemeinen von der Erzieherinnengruppe
geteilt werden, so dass sie einer
empirischen Überprüfung nicht mehr
bedürfen: "Man weiß ja, dass
...". Ein Beispiel für einen
solchen alltagstheoretischen Satz:
"Die Zahl der verhaltensauffälligen
Kinder nimmt in unserer Gesellschaft
ständig zu." Erzieherinnen, Psychologen,
Pädagogen, Soziologen, Ärzte, aber
auch Politiker, Eltern und Journalisten
wissen: "Die Zahl der verhaltensauffälligen
Kinder nimmt in unserer Gesellschaft
ständig zu." Dies ist so gewiss,
wie am 24. Dezember der Heilige Abend
beginnt. Wenn alle wissen, dass und
warum die Zahl der verhaltensauffälligen
Kinder in unserer Gesellschaft ständig
zunimmt, warum soll ich mir dann Gedanken
darüber machen, warum ich als
Erzieherin Schwierigkeiten mit dem
Kind Jörg habe. Und noch viel weniger
werde ich überlegen, was ich tun kann,
damit Kind Jörg weniger Schwierigkeiten
mit mir haben wird. "Die Zahl
der verhaltensauffälligen Kinder in
unserer Gesellschaft nimmt ständig
zu" - an mir kann es also wohl
nicht liegen.
Ein
spezieller Satz im Rahmen der Alltagstheorie
von der Zunahme der Zahl der verhaltensauffälligen
Kinder in unserer Gesellschaft ist
der von dem "Montagssyndrom":
Gerade montags scheint die Zahl der
verhaltensauffälligen Kinder, die
eh in unserer Gesellschaft ständig
zunimmt, besonders zu steigen. Die
meisten Erzieherinnen haben das Wort
"Montagssyndrom" gehört,
viele werden aus eigener Erfahrung
die darin enthaltene Behauptung bestätigen
können, und der Wortzusatz "Syndrom"
vermittelt eine geradezu medizinisch-klinische
Beweisführung. Wer wollte also dagegen
etwas sagen?
In
meiner Konzeption kindzentrierter
Kindergartenpädagogik stelle ich
die fundamentalen Entwicklungsbedürfnisse
des einzelnen Kindes in das Zentrum
des Erziehungsgeschehens im Kindergarten.
Erziehung hat es zu tun mit der Beziehungsgestaltung
einer konkreten Erzieherin zu einem
konkreten Kind. Ich bin deshalb vorsichtig
gegenüber Sätzen geworden, die pauschale
Aussagen über Kinder in einem undefinierten
Plural machen, und ich bin noch vorsichtiger
gegenüber pädagogischen Sätzen geworden,
die Kindern etwas zuschreiben, die
Beziehung der Erzieherin zu dem Kind
jedoch außen vorlassen. Der alltagstheoretische
Satz von dem "Montagssyndrom"
macht beides. Erstens stellt er fest:
Kinder sind montags lärmender, unausgeglichener,
hyperaktiver, nerviger ...; und zweitens
diagnostiziert er eindeutige Ursachen
für dieses Verhalten der Kinder: die
Eltern, die auf ihren unkindlichen
Wochenendbeschäftigungen beharren,
das Fernsehen, vor dem die Kinder
ruhig gestellt werden. Ein Fragezeichen
möchte ich hinter
die weitgehend geteilte Zustimmung
zu den zitierten Behauptungen setzen.
Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte.
Anita
am Montag
Als
Anita an diesem Montag in ihr Auto
stieg, ahnte sie schon, dass nichts
Gutes bevorstand. Zwar war das Wochenende
schön gewesen, die warme Spätsommersonne
hatte das ihre dazu beigetragen und
in fröhlicher Runde saß man unter
Freunden lange beieinander. Nur zu
kurz war dieses Wochenende mal wieder
gewesen - und der nächste richtige
Urlaub stand noch in weiter Ferne.
Doch vielleicht war es der sich dadurch
besonders deutlich abzeichnende Kontrast
einer bevorstehenden stressigen Arbeitswoche,
der frohe Laune nicht aufkommen ließ.
Die ersten Erlebnisse im Kindergarten
bestätigten die negativen Erwartungen:
die Kollegin war für eine weitere
Woche krankgeschrieben, und die Leiterin
meckerte über irgendwelche Kinkerlitzchen.
Und dann erste die Kinder. Anita mochte
Kinder, ihre Fröhlichkeit, ihre Lebendigkeit
- deshalb war sie ja Erzieherin geworden.
Doch wenn sie so ungestüm hineingerannt
kamen, wenn jedes einzelne nur seine
Wochenenderlebnisse in ihr Ohr schreien
wollte, wenn Petra - gerade diese
permanent nervige Petra - unbedingt
ihr frisch erstandenes Puppenungeheuer
mit seinem Geblöke vorführen musste,
wenn jeder meinte an Anita herumzerren
zu müssen -, dann spürte Anita die
Kinder wie eine riesige Welle, die
sie zu überspülen drohte. Schnell
wurde sie orientierungslos, hörte
diesem Kind nur mit halbem Ohr zu,
gab Anweisungen an die da hinten,
setzte sich an den Maltisch, stand
wieder auf, um irgendwohin zu gehen
(wohin wusste sie eigentlich selbst
nicht). Eine einzige Arbeitsstunde
der Woche war erst vorüber, noch 37
1/2 standen
bevor, und Anita war bereits das erste
Mal heftig durchgeschwitzt.
Anita
war eine erfahrene Kindergärtnerin,
nicht so ein junger Spunt, den gleich
die erste Enttäuschung aus der Bahn
wirft. So legte sie sich in ihrem
Kopf zurecht, was sie damals als Berufsanfängerin
von ihrer Anleiterin gelernt hatte:
Kinder sind gerade montags wild und
ungebändigt, sie können dann weniger
schön zusammenspielen und streiten
häufiger. Dies liegt daran, dass sie
am Wochenende schön angekleidet mit
ihren Eltern in Reih und Glied spazieren
gehen müssen, nicht herumrennen und
sich schmutzig machen dürfen. Und
dann noch die unkindgemäße Sonntagstafel
mit Oma und Opa, Tante und Onkel.
Oder sie sitzen den ganzen Tag und
die halb Nacht vor dem Fernseher,
weil niemand sich um sie kümmert und
die Eltern ausschlafen wollen. Ob
Fernsehgucken oder Spazieren gehen
- der Grund für die montäglich erhöhte
Unruhe der Kinder ist der gleiche:
der natürliche Bewegungs- und Spieltrieb
der Kinder wird unterdrückt, ihre
Aggression wird aufgestaut und bricht
sich am Montag im Kindergarten Bahn.
"Montagssyndrom", so hat
Anita gelernt, nennt man diese Erscheinung,
und in all ihren Gesprächen mit Kolleginnen
hat sich bestätigt, dass 90 % der
Erzieherinnen "dies" kennen
und darunter leiden - nur die paar
Kolleginnen, die immer perfekt erscheinen
wollen, oder die, denen gar nichts
gelingt machen hier eine Ausnahme.
Anita
hat damals von ihrer Anleiterin auch
gelernt - und viele eigene Erfahrungen
haben ihr dies seither bestätigt -,
dass gegen dieses Montagssyndrom nur
eins hilft: den Kindern gerade dann
ausgiebig Bewegungsmöglichkeiten verschaffen
- bei gutem Wetter auf dem Außengelände,
bei schlechtem in der Turnhalle. Wenn
die Kinder ihre angestaute Bewegungsenergie
erst mal so richtig rausgelassen haben,
dann kann man pädagogisch mit ihnen
auch wieder etwas anfangen.
Doch
an diesem Montag ging das nicht: Kai
hatte Geburtstag, und es war ein wichtiger
Bestandteil der Geburtstagszeremonie
in Anitas Kindergarten, dass dann
gemeinsam gefrühstückt wurde. So mußte
Anita durchhalten, um für 25 Kinder
den Frühstückstisch vorzubereiten.
Dies war schon an normalen Tagen mit
Stress verbunden, doch an diesem Montag
schien es besonders anstrengend. Die
Kinder wollten es so, und Kai wäre
riesig enttäuscht gewesen, wenn gerade
bei seinem Geburtstag dieser Bestandteil
der Feier ausgefallen wäre. Anita
gab sich deshalb alle Mühe, Kai einen
schönen Tag zu schenken, obwohl ihr
auffiel, dass selbst die Mithilfen
der Kinder bei der Vorbereitung nicht
so reibungslos liefen wie sonst. Die
Kinder saßen am Tisch, die Geburtstagslieder
wurden gesungen, das Essen begann.
Nur die Hauptrabauken zeichneten sich
durch Rumzappeln aus. Schließlich
war das Essen vorüber, Anita schickte
alle Kinder auf den Spielplatz, die
Kolleginnen könnten sich dort um sie
kümmern, und entgegen ihrer sonstigen
Gewohnheit meisterte sie Aufräumen
und Abwasch alleine. Bei diesen mechanischen
Tätigkeiten war sie wenigstens jetzt
ungestört, und sie konnte ein wenig
Luft holen.
Als
die Kinder mittags entlassen waren,
traf sich eine etwas angeschlagene
Kolleginnengruppe im Mitarbeiterraum.
Wenig wurde gesagt, jede verzehrte
für sich die Reste des Geburtstagskuchens
und trank den Kaffee. Nur Silke, die
junge Vorpraktikantin, schien die
Situation nicht richtig begriffen
zu haben. In das Schweigen hinein
- vielleicht auch weil das Schweigen
der anderen ihr endlich eine gute
Gelegenheit bot - redete sie voll
Begeisterung, wie sehr es ihr gerade
heute Spaß gemacht habe, mit den Kindern
zu spielen. "Montagssyndrom"
- Silke schien das noch nicht zu kennen.
Aber sie würde sich ihre Hörner auch
noch abschleifen.
Als
Anita an diesem Nachmittag nach Hause
fuhr, beschäftigte sie eine Widersprüchlichkeit
in ihrem Kopf: Sie spürte eine große
Müdigkeit und Abgeschlafftheit, die
- wie immer - an Montagen intensiver
empfunden wurde, aber sie erinnerte
sich auch, dass sie vor vielen Jahren
die gleiche Unbekümmertheit wie Silke
gehabt hatte, zu jener Zeit, als "Montagssyndrom"
noch nicht zu ihrem Wortschatz gehörte.
Als an jenem Abend ihr Freund nach
Hause kam, lachte er über diesen komischen
Begriff und meinte, dann müssten seine
Computer dies - das "Montagssyndrom"
- auch haben, denn sie spielten zu
Wochenbeginn geradezu verrückt, nervten
ihn so, dass er am liebsten mit dem
Hammer draufschlagen würde.
Der
Konstruktivismus
Paul
Watzlawick ist Kommunikationswissenschaftler
und Psychotherapeut. 1921 wurde er
in Österreich geboren, und später
wanderte er in die USA aus. Seine
als "Konstruktivismus" bezeichneten
Theorie erregt gegenwärtig viel Aufmerksamkeit
in Psychologie, Soziologie und Pädagogik.
Sein Buch "Anleitung zum Unglücklichsein"
ist ein viel gelesener und häufig
verschenkter Bestseller geworden.
Eine weitere Veröffentlichung von
ihm trägt den Titel: "Die erfundene
Wirklichkeit" und ein anderes
stellt die Frage: "Wie wirklich
ist die Wirklichkeit?". Watzlawick
sagt, dass wir zwei Arten von Wirklichkeit
deutlich unterscheiden müssen: die
Wirklichkeit I. Ordnung - unsere physische
Umgebung - und die Wirklichkeit II.
Ordnung - die soziale Bedeutung, die
wir den physischen Objekten beimessen.
Der Klumpen Gold (so ein oft von ihm
illustriertes Beispiel) ist wirklich
wirklich, er hat eine bestimmte Farbe,
Form, Beschaffenheit. Dass dieser
Klumpen Gold jedoch als wertvoll erachtet
wird, gehört nicht dem gleichen Wirklichkeitsbereich
an, denn dieser Wert steckt nicht
in dem Material selbst, sondern er
wird von Menschen in dieses Material
hineingelegt. Wir haben uns darauf
geeinigt, dass ein Goldklumpen von
einem bestimmten Gewicht einem Wert
von vielen DM entspricht. Der ganze
große Bereich der sozialen Wirklichkeit
ist nicht physisch wirklich, sondern
wir konstruieren (daher "Konstruktivismus")
in unserem Kopf Bilder, Vorstellungen,
Bedeutungen, Sinnzuschreibungen von
ihm. Diese Bilder sind in unserem
Kopf "wirklich", aber das
heißt nicht, dass sie der Wirklichkeit
außen entsprechen (gerne zitiert Watzlawick
den Witz von dem Schizophrenen, der
mit Genuss die Speisekarte statt der
Speise isst). Nehmen wir ein Beispiel:
ein Junge stampft mit seinen Beinen
feste auf den Boden, während sich
sein Gesicht rot verfärbt. Dass dieser
Junge "wütend" ist, ist
eine Zuschreibung, die ich in meinem
Kopf treffe - in dem Kopf des Jungen
muss sie gar nicht oder zumindest
nicht so wie in meinem Kopf vorhanden
sein. Alle Phänomene, mit denen wir
es in der Pädagogik zu tun haben -
behinderte Kinder, Verhaltensauffälligkeit,
Begabung etc. - gehören diesem Bereich
der Wirklichkeit zweiter Ordnung an,
dass bedeutet, sie existieren nicht
wirklich wirklich, sondern werden
in unseren Köpfen konstruiert.
Zu
diesem Gedanken der "Konstruktion"
kommt ein zweiter hinzu. Mit allem,
womit wir es in der Pädagogik zu tun
haben, beschäftigen wir uns nicht
mit einseitigen Zuschreibungen, sondern
mit wechselseitigen Beziehungen. Ich
kann nicht das Kind als isolierte
Einheit betrachten, sondern immer
nur in den Beziehungsgefügen, in denen
es lebt und sich entwickelt. Dies
bedingt allerdings auch, dass ich
mich als Erzieherin immer als Teil
des Beziehungsgefüges sehen muss,
in dem das Kind steht. Nicht das Kind
ist nervig, zappelig, aggressiv, verhaltensgestört,
sondern meine Beziehung zu dem Kind
vermittelt mir in meinem Kopf (oder
Bauch), dass ich das Kind als nervig,
zappelig, aggressiv, verhaltensgestört
empfinde.
Dieser
Gedanke hat wichtige pädagogische
Konsequenzen. Wie bei Ehestreitigkeiten
jeder Partner denken mag: "Ja,
wenn der andere nur nicht so und so
wäre, wenn er sich nur in dieser Hinsicht
anders verhielte, ja, dann würde ich
herzlich gerne ...", so erwarten
wir meistens, dass der andere sein
unnormales Verhalten ablegen solle,
wir würden dann schon gerne helfen
(schließlich sind wir ja guten Willens).
Im Kindergarten können wir so voraussetzen,
dass das Kind (oder dessen Eltern)
sein störendes Verhalten einstellen
solle, damit wir selbst uns ihm anders
zuwenden können (wir sind ja schließlich
nicht Schuld an der Verhaltensstörung
des Kindes oder der Familie). Nur:
in pädagogischen Beziehungen ist es
oft ähnlich wie bei Ehestreitigkeiten:
die Hoffnung auf die Änderung des
anderen gleicht einem "Warten
auf Godot". Auch in der Erziehung
gilt vielmehr der Satz: Ich kann keinen
Menschen (auch kein Kind) anders machen
als er ist, sonder der einzige, den
ich verändern kann, bin ich selbst.
Kehren
wir noch einmal zurück zu der Wirklichkeitsauffassung
des Konstruktivismus. Wir haben bereits
gehört, dass Wirklichkeit nicht etwas
ist, was in der Außenwelt wirklich
wirklich ist, sondern dass wir in
unserem Kopf Bilder konstruieren,
die so etwas wie die Speisekarte,
aber nicht die Speise selbst sind.
Diese Bilder in meinem Kopf sind jedoch
alles andere als belanglose, unverbindliche,
willkürliche Spielereien, sie sind
vielmehr von einer ungeheuren Wirksamkeit.
Wir Menschen sind als soziale Wesen
darauf angewiesen, Bestätigungen unserer
Bilder von der Wirklichkeit und von
uns selbst zu erhalten, anderenfalls
würden wir verrückt werden. Wir einigen
uns mit Personen, deren Beziehungen
für uns wichtig sind, darauf, wie
wir was und uns selbst zu sehen haben,
was als normal und was als unnormal
gilt. Wir sind auf Eindeutigkeit aus,
weil uns dies Sicherheit und Zuverlässigkeit
gibt.
Ein
Anwendungsfall für das eben Ausgeführte
ist das, was in der Sozialpsychologie
als "sich selbst erfüllende Prophezeiung"
bezeichnet wird. Wenn wir das Ergebnis
eines Fußballspiels richtig voraussagen,
ist dies eine "Prophezeiung".
Wenn ein Fußballspiel aber so ausgeht,
weil wir es in bestimmter Weise
vorausgesagt haben, dann ist es eine
"sich selbst erfüllende Prophezeiung".
Bei Fußballspielen ist dies vielleicht
nicht so wahrscheinlich (es sei denn
wir wären der Trainer der Mannschaft,
oder wir hätten das Ergebnis manipuliert),
im Bereich menschlicher Beziehungen
aber schon. Ein Beispiel: Lehrern
wurde die eine Hälfte der Schulklasse
mit der Bemerkung gegeben, diese bestünde
aus besonders intelligenten Kindern,
während von der anderen Hälfte gesagt
wurde, deren Kinder seien nicht so
intelligent. Nachdem die beiden Kindergruppen
daraufhin eine zeitlang unterrichtet
wurden, zeigte die erste Gruppe bessere
Ergebnisse im Intelligenztest als
die zweite - und dies, obwohl die
den Lehrern als Eingangsvermutung
mitgeteilte Äußerung "in Wirklichkeit"
nicht stimmte.
Kinder
sind Menschen in der Entwicklung,
und sie sind deshalb in noch stärkerem
Maße als wir Erwachsenen abhängig
von den Beziehungsurteilen, die wir
ihnen anbieten. Man gebe einem Kind
verbal oder auch nur durch Blicke,
Gesten und Körperhaltung zu verstehen,
dass man ihm etwas nicht zutraue,
und die Wahrscheinlichkeit wird groß,
dass es "wirklich" nicht
schafft, über den Zaun zu klettern.
Oder wir vermitteln ihm seine Tollpatschigkeit,
und es wird das Wasserglas verschütten.
Verständnis:
"Montagssyndrom"
Wenden
wir den vorgetragenen Gedanken auf
das "Montagssyndrom" an,
und beginnen wir mit einem kleinen
Experiment: Stellen Sie sich bitte
das nächste Mal, wenn Sie im Stuhlkreis
sitzen, vor, dass auf Ihrem Schoß
sitzende Kind habe Läuse. Vielleicht
werden sie sich schon beim Lesen dieser
Zeilen am Kopf kratzen.
Wenn
wir das Wirklichkeitsbild des Montagssyndroms
in unserem Kopf haben, dann wird uns
jedes störende, laute, aggressive
Verhalten eines Kindes als Bestätigung
unserer Vorstellungen erscheinen,
während wir andere (liebe) Verhaltensweisen
einfach übersehen. Das gleiche laute,
aggressive Verhalten am Dienstag stört
uns sicherlich ebenso, aber wir messen
ihm eine andere Bedeutung zu, schreiben
es vielleicht der Wesenheit des hyperaktiven
Kindes (genau so ein Phantom) zu,
aber nicht der Dienstagssituation
von Kindern im Plural (es sei denn,
wir glaubten zusätzlich auch an ein
"Dienstagssyndrom")
Machen
wir ein weiteres Experiment: Sprechen
wir von dem "Freitagssyndrom"
und meinen damit die entgegengesetzte
Geschichte vom Montagssyndrom: Kinder
sind dann an Freitagen im Kindergarten
eher ausgeglichen, spielen schöner
miteinander, vertragen sich besser.
Als Erzieherin macht es einem deshalb
auch mehr Spaß, an Freitagen zu arbeiten.
Dies liegt daran, dass das Donnerstagsfernsehprogramm
dürftig ist, so dass die Kinder weniger
vor dem Fernseher hocken, und außerdem
machen die Mütter dann den Hausputz,
so dass ihre Kinder eher unbeaufsichtigt
sich ausspielen können. Glauben wir
nur feste an dieses Freitagssyndrom,
und bestätigen wir uns diesen Glauben
in diversen Erzieherinnenrunden gegenseitig,
dann werden uns die lieben Verhaltensweisen
auffallen, und die aggressiven sind
eher "Ausrutscher". Wir
werden, halten wir uns nur fest genug
an dieses "Freitagssyndrom",
ausgeglichener in den Kindergarten
gehen und deshalb das erzeugen, was
wir vorausgesagt haben. Jetzt lesen
wir noch drei Zeitschriftenartikel
zu diesem Thema, und wir wissen jetzt
schwarz auf weiß, was wir schon immer
ahnten: Kinder sind freitags weniger
aggressiv als montags, weil Fernsehen,
Eltern, Spielmöglichkeiten ...etc.
Außerdem können wir aus diesen Freitagen
dann eine Bestätigung unseres Erfolges
als Kindergartenerzieher während der
gesamten Woche ziehen. Uns kommt gar
nicht mehr der Gedanke, dass wir die
Kinder als friedvoller erleben, weil
wir uns auf das bevorstehende
Wochenende freuen, weil wir freitags
früher Dienstschluss haben.
Was
fangen wir mit alledem an? Noch einmal
ein kleines Experiment. Stellen Sie
sich vor, sie liegen nachts im Bett
neben Ihrem schnarchenden Ehemann.
Sie können nicht einschlafen, weil
das Geräusch sie stört. Sie wecken
Ihren Mann auf, das Schnarchen hört
kurzzeitig auf, aber dann dreht er
sich um, und es beginnt von vorne.
Jetzt halten Sie ihm die Nase zu,
wiederum nur mit kurzzeitigem Erfolg.
Eine längere Schnarchpause tritt ein,
doch jetzt liegen sie angespannt im
Bett und warten auf das Wiedereinsetzen
des Schnarchens. Was immer Sie tun,
das Ergebnis ist, dass Sie hellwach
und wütend aufgeregt sind, während
Ihr Mann tief schläft. Falls das Schnarchen
Ihres Mannes keine vorübergehende
Erscheinung ist und falls Sie nicht
aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausziehen
wollen, dann haben Sie nur eine hilfreiche
Wahl: Sie müssen die Gedanken in Ihrem
Kopf so steuern, dass Ihnen das Schnarchen
gleichgültig wird. Soll er schnarchen
oder nicht schnarchen, für Ihr Ohr
ist das ohne Bedeutung, denn Sie wollen
und werden ja schlafen.
Dieses
Experiment lässt sich auf unser Thema
übertragen. Wenn Sie zu den Erzieherinnen
gehören sollten, die unter dem Montagssyndrom
leiden (oder auch zu denen, die den
Druck des Satzes in sich spüren: "Die
Zahl der verhaltensauffälligen Kinder
nimmt ständig zu."), dann sollten
Sie den ganzen Kram in die Mottenkiste
antiquierter, überholter pädagogischer
Sätze werfen (denn die wissenschaftliche
Forschung hat sie längst widerlegt)
und sich nicht mehr daran stören.
Falls Sie ein schönes Wochenende hatten,
sollten Sie nicht dessen rasches Ende
bedauern, sondern sich an die schönen
Erlebnisse gerne erinnern und sich
auf das nächste Wochenende freuen.
Falls Sie kein schönes Wochenende
hatten, begrüßen Sie die Kinder mit
um so mehr Vorfreude. Sicherlich:
es gibt nervige Kinder (von montags
bis freitags), aber die werden Sie
nicht ändern. Die einzige, die Sie
ändern können, sind Sie selbst. Richten
Sie Ihre Gedanken und Gefühle weniger
auf die nervigen Anteile, und entdecken
Sie in jedem Kind dessen unverwechselbare
Individualität. Diese macht jedes
Kind und jeden Menschen liebenswert
und zu einem einmaligen Ereignis.