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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1996 - 3

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Sigurd Hebenstreit

Kind und Welt und Zukunft

Unter dem Titel „Über das Kind, die Welt und die Zukunft – Der Vertreibung von Kindlichkeit entgegensteuern“ in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, 1996, Heft 5, S. 254 bis 258

 

1. Die Fachtagung: "Überleben in der Risikogesellschaft"

Der Fachverband hatte eingeladen, und viele waren gekommen. Diesmal waren die ersten beiden Reihen sogar zur Hälfte mit Männern besetzt, Männer in dunklen Anzügen und mit ernstfaft-wichtigen Mienen. Es fehlte nur das Streichquartett, das einen langsamen Satz einer Brahms-Sonate gespielt hätte, und der traurige Rahmen wäre für das Tagungsthema perfekt gewesen: "Überleben in der Risikogesellschaft". Der Referent fügte sich in all das wunderbar ein. In dem ersten Teil seines Vortrags entwarf er ein düsteres Bild unserer Zukunft: Er sprach hier von der Gefahr des Individualisierungsprozesses moderner Industriegesellschaften, von deren Überforderungen, Vereinzelungen, Standardisierungen und Institutionalisierungen. Sehr viele Stichwörter strömten auf die Zuhörenden ein, und es war nicht einfach, alles so schnell zu verstehen. Nur man spürte die nahezu prophetischen Warnungen: Gefährlich würde das Leben unserer Kinder in der Zukunft schon werden. Der zweite Teil des Vortrags widmete sich der Analyse der Gegenwart. Auch diese war nicht erfreulich: die erdrückende Macht der Konsumwelt, die Verlockungen des Fernsehens, ja der neuen Medien insgesamt, die auseinanderfallende Familie und die ohne soziale Bezüge aufwachsenden Kinder, dazu die allgemeine Sinnkrise. Wäre das Muster nicht bekannt, wären die Zuhörer über den Ausklang des Schlussteils überrascht gewesen: Wie wichtig die richtige Kindererziehung sei, damit all die düsteren Erwartungen nicht einträfen - geradezu ein Erlösungsversprechen.

Unter den Zuhörerrinnen der Fachtagung "Risikogesellschaft" saß auch Gaby, Erzieherin von Beruf und seit gut 30 Jahren Gruppenleiterin in einem Kindergarten. Es war ihre letzte Fachtagung, denn im nächsten Sommer würde sie pensioniert werden, und für die Zeit danach hatte sie sich anderes vorgenommen. In einigen Punkten konnte Gaby dem Vortragenden zustimmen: Auch sie fand, dass die Kinder zu viel fernsähen, vor allem als sie sich selbst einmal die Power Rangers angesehen hatte, war sie erschrocken; mit zunehmendem Alter fiel es ihr auch schwerer, sich auf die lauten, aggressiven Kinder einzulassen, und es gefiel ihr, zu hören, dass dies nicht mit ihrem älter Werden zusammen hing, sondern an der schlimmen Gesellschaft liege, die die Kinder immer verhaltensauffälliger mache. Doch mit dem Grundtenor der Fachtagung konnte Gaby sich nicht einverstanden erklären: "Risikogesellschaft" - sie dachte an die Zeit, in der sie Kind war und vor den Bomben in den Keller fliehen musste; sie dacht an die lange Zeit der Ungewissheit, als sie nicht wusste, wo ihr Vater war, und ob der Krieg ihn getötet hätte; sie dachte an ihre zerstörte Schule, so dass an einen geregelten Unterricht auch nach Kriegsende nicht zu denken war. Wann hatte es eine Zeit gegeben, in der die Zukunft nicht risikoreich erschienen wäre? Und dann das zweite Wort des Tagungs-Themas: "Überleben" - Was waren das für Fünfzigjährige, die jetzt Verantwortung trugen und in solch düsteren Farben von der Zukunft der Kinder redeten, während sie als ältere Frau sich von ihren kommenden Jahren so viel Positives versprach?

Neben Gaby saß an diesem Vormittag Silke, die junge Berufspraktikantin. Auch für sie passte das düster Vorgetragene nicht mit dem persönlichen Erleben zusammen: Sie freute sich auf ihre erste Stelle als selbständige Erzieherin, sie hatte einen Freund, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft ausmalte, und sie fand die kleinen Kinder einfach "toll" - ihre Lebendigkeit, ihre Fröhlichkeit, ihre Spontaneität, ihre Selbstverständlichkeit, ihre Fragen. Janusz Korczak schreibt: "Kinder wollen lachen, herumtollen, ihren Mutwillen treiben. Erzieher, wenn das Leben für dich ein Friedhof ist, so laß doch wenigstens sie es als eine Wiese betrachten." [1]

2. Das kleine Kind und die große Welt

Wenn wir uns Gedanken über die grundsätzliche Konzeption des Kindergartens machen, müssen wir uns verschiedene Fragen stellen:

·       Anthropologische: Was ist der Mensch und was ist Kindheit im Ablauf des menschlichen Lebens?

·       Theologische: Wie ist der Mensch eingebettet und aufgehoben in umfassende Zusammenhänge angesichts der Erfahrung von Geburt und Tod?

·       Entwicklungspsychologische: Was ist das Anderssein des Kindes gegenüber uns Erwachsenen, das wir nicht nur motivationspsychologisch berücksichtigen müssen, sondern das unseren Erziehungsauftrag fundiert?

·       Soziologische: Wie kommt die große Welt in den kleinen Kinderkopf und wie werden dieser Kopf und sein Körper so stark, dass sie in der Gesellschaft handlungs- und genussfähig werden?

Mit diesem letzten Themenkreis wollen wir uns hier beschäftigen und dabei einige Begriffe und Erklärungen benutzen, die der Soziologe Norbert Elias uns anbietet, um gesellschaftliche Entwicklung verstehen zu können. [2] Das aus dem Mutterleib entsprungene Neugeborene bleibt über die Jahrtausende hinweg sich gleich: es kann saugen und strampeln, sehen und hören, schreien und schlafen. Doch das, was dieser Säugling in Zukunft einmal tun, was er denken und fühlen wird, das ist sehr unterschiedlich: von unseren Bären jagenden Vorfahren über die raubenden Ritterhorden bis zu uns Neuzeitmenschen, die über die ganze Welt auf Knopfdruck verfügen; von den durch die Wälder streifenden Indianern über die auf dem Eis lebenden Eskimos bis zu uns Bewohner einer Großstadt. Aus dem relativ gleich bleibenden Anlageprogramm entwickelt sich ein Mensch, der in seine jeweilige Welt hineinpasst und sich aktiv in ihr entwickelt. In dieser wunderbaren Variabilität, in dieser breiten Formungsmöglichkeit können wir eins der Kennzeichen des Menschen entdecken.

Wir haben gelernt, den Prozess vom Säugling zum Erwachsenen als "Sozialisation" zu bezeichnen, und wir meinen damit den Einfluss, den die Gesellschaft auf die Heranwachsenden ausübt, damit sie zu ihrer Welt passen. Nur: was ist "die Gesellschaft", die so viel Einfluß auf das Kind hat, wie haben wir uns das Verhältnis von Gesellschaft und individueller Persönlichkeit vorzustellen? Norbert Elias sagt, dass wir in unserem Denken oft einen folgenschweren Irrtum begehen, wenn wir uns die Gesellschaft als etwas Substantielles vorstellen (so etwas wie einen Tisch oder einen Stuhl), dazu noch als etwas Substantielles, was sich außerhalb von Menschen befindet und sie so beeinflusst wie der Hammer, mit dem ich mir auf die Finger schlage. Norbert Elias illustriert diesen Denkirrtum mit dem Satz: "Der Wind weht". Dieser Satz legt die Vermutung nahe, es gäbe den Gegenstand "Wind" und durch irgend etwas würde dieser Gegenstand in Bewegung versetzt. Nur: es gibt keinen Wind, der nicht weht, sondern: das Wehen ist der Wind. Auf unsere Frage von Gesellschaft und Individuum übertragen bedeutet dies: es gibt nicht "die Gesellschaft", die außerhalb der Individuen bestünde und diese beeinflussen könnte, sondern Gesellschaft ist das Beziehungsgefüge, das Menschen miteinander verbindet. Um diesen Gedanken zu unterstreichen, spricht Norbert Elias von den "Figurationen", den "Menschengeflechten".

Die Art, wie Menschen miteinander leben - ihre Figuration -, prägt die Art, wie ein Mensch denkt, fühlt und handelt. Nehmen wir als Beispiel noch einmal unseren Raubritter. Er war geprägt von einer Schwarz-Weiß-Zeichnung: er war stärker als der Feind, also konnte er sich freuen,, ihn beherrschen, sich Beute einverleiben. Oder er war schwächer, hatte Angst und mußte fliehen. Von dem, was in der weiten Welt vorging, wusste er wenig, und so brachen viele Ereignisse über ihn herein, die er nicht verstehen konnte, und die er sich durch das erklärte, was wir heute "Aberglauben" nennen: Es donnerte, weil Gott oder das Schicksal ihm grollte. Kurz: unser Raubritter dachte, fühlte und handelte ganz anders als wir heute denken, fühlen und handeln.

Die gesellschaftlichen Figurationen bleiben nicht gleich, sondern sie sind in einem ständigen Prozess der Wandlung begriffen. Betrachten wir nicht nur die kurze Zeitspanne der jetzt aktuellen Gesellschaft, sondern überblicken wir die Geschichte einiger Jahrhunderte, dann können wir typische Muster dieses Veränderungsprozesses beobachten. Norbert Elias fasst sie unter dem Stichwort "Prozess der Zivilisation" zusammen. Die Zahl der Verflechtungszusammenhänge, die Menschen miteinander verbinden, nehmen ständig zu, so dass wir in Deutschland unmittelbar spüren, ob in Südamerika die Kaffeeernte durch schlechtes Wetter geringer ausfällt. Wenn Menschen aber in mehr und dichteren Beziehungsgefügen leben, dann müssen sie lernen, die Äußerungen ihrer spontanen Gefühle mehr zurückzuhalten - stellen wir uns beispielsweise bei einem offiziellen Fest, das viele Menschen versammelt, vor, wir hätten das Bedürfnis, laut "Scheiße" zu rufen; unser Peinlichkeitsempfinden würde dies zu verhindern wissen. Wir müssen zunehmend mehr lernen, unsere Triebe zurückzuhalten; wir müssen immer mehr Kompetenzen entwickeln, "vernünftig" zu denken, da wir immer mehr Verbindungspunkte, die uns mit Menschen verbinden, im Auge behalten müssen; und wir müssen vor allem die Fähigkeit aufbauen, uns selbst zu kontrollieren. Wir müssen in der Lage sein, selbst zu entscheiden, in welcher Situation welches Verhalten angemessen ist.

Versuchen wir einen Blick in die gesellschaftliche Zukunft unserer Kinder zu werfen. Es ist wahrscheinlich, dass die weltweiten Abhängigkeiten, in denen Menschen miteinander stehen, rasant zunehmen werden. Damit gewinnt aber auch eine Lebensweise Oberhand, die immer weniger unmittelbar und spontan ist. In Zukunft wird wohl noch stärker werden, was schon unser Leben prägt: immer mehr verstehen, aber immer weniger begreifen; zunehmend mehr individuelle Entscheidung der Angemessenheit des eigenen Verhaltens und gleichzeitig immer mehr Abhängigkeit von anderen; immer mehr Rationalität in unserem Denken, Fühlen und Handeln (wie wollten wir sonst unseren Computer mit Internetanschluss beherrschen - ja selbst unseren schlichten Radioapparat, bei dem im Störungsfalle ein festes Draufhauen nicht mehr hilft), aber immer mehr - wenn auch vielleicht heimlicher - die Frage: Wozu das alles?

3. Pädagogische Konsequenzen: Bewahrung von Kindlichkeit

Fassen wir kurz zusammen. Meine beiden Ausgangsthesen sind:

1.    Die genetische Ausstattung, die der Säugling mit auf die Welt bringt, bleibt über die Zeit hinweg konstant. Und

2.    das von den Erwachsenen verlangte Verhalten ist zunehmend weniger durch Unmittelbarkeit und Spontaneität geprägt und immer mehr durch Rationalität und Selbstkontrolle.

Als dritte These kommt jetzt hinzu: In dem Prozess der Erziehung müssen dieser ständig gleiche Anfangspunkt und der sich davon immer mehr entfernende Endpunkt miteinander verbunden werden. Diese These hat pädagogische Konsequenzen.

Zunächst einmal bedeutet sie, dass die Kluft zwischen unseren Kindern und uns Erwachsenen zunehmend größer wird. Pädagogisch muten wir ihnen deshalb eine immer längere und kompliziertere Wegstrecke zu. Manchmal bis zum dreißigsten Lebensjahr bleiben sie Unmündige, von ihren Kleinkinderschuhen an mit einer Fassade des So-tun-als-ob-sie-alles-wüßten-und-könnten ausgestattet (weshalb sie auch die Dinger mit den drei Streifen als Erstausstattung bekommen), aber doch zurückgestoßen in ihre Kindlichkeit, wenn sie wirklich einmal etwas täten. Wir stecken die Kinder in immer mehr pädagogische Arrangements, damit sie lernen, ihren Gefühlen nicht zu trauen, theoretisch über alles schwätzen zu können, ohne den Hammer in die Hand zu nehmen. Die Reise vom Säugling zum Erwachsenen wird länger, komplizierter, schwieriger, brüchiger.

Eine zweite Konsequenz ergibt sich aus dem zunehmend tieferen Graben zwischen Kindern und Erwachsenen: Kinder stören. Ihre Störung können wir auf zwei Wegen beseitigen: wir schicken die Kinder in ein Getto, wo Kindertanten sich mit ihnen beschäftigen können, wir selbst sie aber nicht mehr bemerken (so wie wir unseren Computer durch ein Codewort vor unbefugter Benutzung schützen). Oder wir vertreiben die Kindlichkeit, "sehen in dem Kind den Mann" (frei nach Jean-Jacques Rousseau), freuen uns, je früher das Kind sitzen, laufen, sprechen, vernünfteln kann (und entwickeln Kindercomputerprogramme, mit denen wir so tun als ob sie keine Kinder mehr seien, denn mit der Maus auf die richtige Stelle des Bildschirms zu klicken und durch Knopfdruck ein phantastisches Ergebnis zu erzeugen, ist in der Tat kinderleicht). Beide Wege erscheinen gegensätzlich, in unserer pädagogischen Wirklichkeit kommen sie parallel vor. Noch nie wurden so viele Kinder und Jugendliche so lange unmündig gehalten, und noch nie wurde so vielen Kindern so früh ihre Kindlichkeit ausgetrieben.

Wenn wir diese erzieherische Wirklichkeit nicht nur zur Kenntnis nehmen und uns in sie fügen, sondern wenn wir als Erwachsene uns verantwortlich unseren Kindern zuwenden wollen, welche pädagogischen Konsequenzen ergeben sich aus dem skizzierten Gedankengang? Nur ein Stichwort möchte ich hier nenne, das mir zunehmend wichtig erscheint: Bewahrt die Kindlichkeit! Lasst ein kleines Kind ein kleines Kind sein!

Wenn wir uns Kindern zuwenden, dann sollten wir den Grundsatz beachten, den Jean-Jacques Rousseau in die Geschichte pädagogischen Denkens eingebracht hat: Die Erziehung ist zuallererst an der jeweiligen Altersstufe des Kindes zu orientieren und nicht an dem, was aus den Kindern in der Zukunft einmal werden soll. Kinder sollen die Lebensphase, in der sie stehen, ganz auskosten können, weil sie sich erst dann ein stabiles Fundament schaffen, um gesund weiter in die Welt vorwärts schreiten zu können. Wir beschäftigen uns hier mit dem Kindergarten und daher treten kleine Kinder in den Mittelpunkt, die erst am Anfang einer langen Wegstrecke zu abstrakten Erwachsenenverhaltensweisen stehen. Gerade weil es einen starken gesellschaftlichen Druck zur Vertreibung von Kindlichkeit gibt, ist pädagogisch ein gegensteuerndes, Kindheit bewahrendes Moment geboten, auch um für die Zukunft Menschen zu bilden, die aktiv und mit Perspektive an der gesellschaftlichen Gestaltung mitarbeiten können.

Kindlichkeit bewahren soll heißen:

·       Verabschieden wir uns von allen Vorstellungen des perfekten Kindes und gestehen wir ihnen das selbstverständliche Recht auf Fehler zu;

·       geben wir ihnen im Kindergarten Räume, in denen sie unmittelbare, handgreifliche Erfahrungen machen können - und dies nach ihrem eigenen Zeitplan;

·       vermitteln wir ihnen absolute Sicherheit, auch wenn wir wissen, dass die Welt - manchmal auch die Welt des Kindes - nicht in Ordnung ist;

·       schenken wir ihnen vorbehaltlose Liebe, die sich nicht an dem orientiert, was wir Erwachsenen wollen, sondern die sich bemüht, die Perspektive des Kindes zu erreichen.

Das Wichtigste, was wir einem kleinen Kind vermitteln können, ist ein stabiles Fundament an Selbstvertrauen, ein Überschuss an Stabilität, damit es mit Zuversicht und Freude auf die Welt wird zugehen können.

Als ich gestern einen Spaziergang durch den Wald machte, sah ich vor dem Rehgatter ein kleinen Mädchen mit einem Stück Brot in der Hand. Sie bricht die Scheibe Brot und legt einige Löwenzahnblätter als Aufschnitt dazwischen. Dann reicht sie es durch den Zaun dem Reh zur Mahlzeit.

 



[1] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 205)

[2] Siehe hierzu: Sigurd Hebenstreit, Kindzentrierte Kindergartenarbeit - Grundlagen und Perspektiven in Konzeption und Planung, Freiburg 1995³; Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1 und 2, Frankfurt a.M. 1989 / 14


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