Sigurd
Hebenstreit
Ein
Kind ist ein Kind - Annäherungen an
kindliche Sichtweisen
Vortrag
in Hannover am 6. 3. 1996
1.
Einleitung I: Ein Rückblick auf 30
Jahre Konzeptionsentwicklung im Kindergarten
Marita,
50 Jahre alt, 30 Berufsjahre auf dem
Buckel:
Gelernt
hat sie ihren Beruf im Kindergärtnerinnenseminar:
ein wenig Achtung vor den großen Klassikern
der Pädagogik, das Auswendiglernen
der Reifungsstufen des Kindes, ein
großes Repertoire an Fingerspielen,
Liedern, Basteltechniken. „Kindergärtnerin“
war ein schöner Beruf, auch wenn man
sich vor der strengen Diakonisse in
Acht nehmen musste. Man konnte von
ihr lernen, eine große Kinderschar
sicher im Griff zu haben, ohne selbst
ständig fauchend aus der Puste zu
geraten. Wenn Marita nicht heiraten
würde, wäre sie in kurzer Zeit Leiterin
einer Einrichtung und würde oberhalb
des Kindergartens eine kleine, schmucke
Dienstwohnung besitzen. Doch Marita
wollte heiraten, eigene Kinder haben.
Für beides - den passenden Mann zu
finden und die eigenen Kinder zu erziehen
- bot der gewählte Beruf gute Voraussetzungen.
Doch
dann zerschlugen sich die Pläne: die
erste große Liebe endete in einer
riesigen Enttäuschung, und die später
eingegangene Ehe mit dem neuen Freund
blieb kinderlos. Marita arbeitet deshalb
seit jetzt 30 Jahren ununterbrochen
im Kindergarten. Schnell musste sie
nach ihrem Berufseinstieg umlernen:
Vorschulerziehung stand auf dem Stundenplan.
Mit den neuen didaktischen Materialien
versehen arbeitete Marita jetzt die
Blätter des Schulreifetrainingsprogramms
durch. Es machte ihr anfänglich Spaß.
Sie hatte einen wichtigen Beruf, ein
wenig als Lehrerin fühlte sie sich,
die in der Berufsbezeichnung von der
Kindergärtnerin zu dem Erzieher gewechselt
war und nicht mehr „Tante Marita“,
sondern „Frau Schulze“ von den Kindern
gerufen wurde. Was die Kinder nicht
alles lernen konnten: Farben und Formen,
Schwungübungen und Buchstaben, Mengenlehre
und physikalische Grundbegriffe. Für
Frau Schulze war das alles auch gar
nicht schwierig zu lehren, gab es
doch für jeden Inhalt ein von Sachverständigen
ausgeklügeltes Programm, in dessen
Begleitbuch man eine Gebrauchsanweisung
fand, wie man was zu machen habe.
Es lief gar nicht so schlecht: die
Kinder beteiligten sich eifrig an
den Programmen, und die Eltern waren
zufrieden, lernten ihre Kinder hier
doch etwas Wichtiges, was ihnen eine
erfolgreiche Schulkarriere ermöglichen
würde.
Nur
etwas künstlich war es schon, und
Marita war deshalb froh, als der Situationsansatz
die Vorschulerziehung ablöste. Jetzt
sollte sie die Kinder beobachten,
ihre Probleme und Fragen heraushören,
um situativ mit einer didaktischen
Einheit darauf zu antworten. Sie plante
jetzt Exkursionen in das Umfeld des
Kindergartens - es ging zur Post,
zum Zahnarzt und in das Altenheim
-, sie lud die Väter ein, damit sie
den Kindern ihre Berufsrealität erklärten.
Nicht mehr „Erziehung“ oder „Bildung“,
sondern die „Sozialisation“ des Kindes
stand im Vordergrund. Die situationsorientierten
Curricula waren nicht so detailliert
und konkret wie die Vorschulmappen,
aber sie eröffneten eine neue Welt:
das ganze Klein-Klein der erst niedlichen,
dann ernsthaften Kinderwelt konnte
man verlassen, um sich für die großen
gesellschaftspolitischen Fragen zu
öffnen.
In
diesem Stil ging es weiter. Die Integration
der Ausländer stand auf der Tagesordnung.
Marita fuhr nicht mehr zur Post und
ins Krankenhaus, sondern in die Moschee
der türkischen Gemeinde; und eine
Gruppe griechischer Väter tanzte einen
Syrtaki auf dem multikulturellen Sommerfest.
Waren die politischen Ansprüche der
Erzieherarbeit einmal entdeckt, lag
es nahe, sie auf den eigenen Berufsstand
zu beziehen. Marita trat der Gewerkschaft
bei, beteiligte sich an einer Demonstration,
gestaltete einen öffentlichkeitswirksamen
Aktionstag mit. Es ging um die bessere
Besoldung sowie tarifliche Höhergruppierung
der Erzieherinnen und um günstigere
Rahmenbedingungen der Kindergartenarbeit.
Dies
war die aktiv-fordernde Phase der
gesellschaftspolitischen Wendung.
Danach kam die der Außenansprüche:
Was Marita jetzt innerhalb der Mauern
ihrer Einrichtung tat, war relativ
egal, Hauptsache möglichst viele Kinder
konnten möglichst lange im Kindergarten
verbleiben. Nicht Erziehung, nicht
Bildung, nicht Sozialisation, sondern
„Betreuung“ war angesagt. Auch Frauen
mit kleinen Kindern sollte eine außerhäusliche
Berufsarbeit ermöglicht werden. Als
Frau, die selbst berufstätig war,
akzeptierte Marita diese Zielvorstellung,
und engagiert führte sie deshalb die
Über-Mittag-Betreuung in ihrer Einrichtung
ein, obwohl der entsprechende Ausgleich
für diese Mehrarbeit seitens der Politiker
und ihres Trägers eher gering ausfiel.
In
den letzten Jahren hat die Forderung
nach integrativer Erziehung behinderter
und nichtbehinderter Kinder im Kindergarten
die gesamte Entwicklung konzeptioneller
Vorstellungen, die Marita in ihren
30 Berufsjahren erlebt hat, noch einmal
ablaufen lassen: Soll sie ihre Arbeit
- wie zu Beginn - wieder in starkem
Maße ritualisieren, um den Bedürfnissen
der Kinder nach Struktur gerecht zu
werden? Welchen Stellenwert soll das
Therapieprogramm haben, das an die
Zeit der Vorschulbewegung erinnert?
Muss der Kindergarten die Gruppen
auflösen und sich statt dessen in
Funktionsräume gliedern? Wie werden
die Rahmenbedingungen für eine verantwortbare
integrative Erziehung durchgesetzt?
Zwei
Drittel ihrer Berufsjahre hat Marita
hinter sich, ein Drittel noch vor
sich. Sie bemerkt an sich selbst,
dass sie den Berichten der Tagesschau
über die Veränderungen in der Vorruhestandsregelung
mit eigener Betroffenheit zuhört.
In dem Bücherregal ihres Kindergartens
befinden sich einige gerade erschienene
Veröffentlichungen, die eine grundsätzliche
konzeptionelle Neuorientierung versprechen.
Muss sie sich entscheiden, ob sie
nach dem „situationsorientierten Ansatz
in der sozialpädagogischen Praxis“
arbeitet, oder ob sie sich zu dem
„offenen Kindergarten“ entschließt,
oder ob sie die „kindzentrierte Kindergartenpädagogik“
favorisiert? Ist sie für alles dies
nicht viel zu müde? Aber Marita findet
es faszinierend, sich „auf ihre alten
Tage“ noch einmal neu mit ihrer Beziehung
zu Kindern auseinandersetzen zu müssen.
Denn das hat ihr ihre 30-jährige Berufstätigkeit
auch gegeben: sie ist jung geblieben
mit den Kindern, die, egal mit welchen
didaktischen Methoden sie sie traktierte,
irgendwie gleich geblieben sind: kleine
Menschen, die augenblicklich glücklich
sein wollen, es aber oft nicht sind,
weil die Wunde nach dem letzten Sturz
schmerzt, die Dunkelheit der Nacht
ängstigt und die Erwachsenen einen
nicht verstehen.
Die
Geschichte zu Beginn soll auch selbstkritisch
darauf hinweisen, nicht alle vorgetragenen
Neuerfindungen in der Kindergartenpädagogik
so ernst zu nehmen. Vieles, was mit
großer Überzeugungskraft präsentiert
wird, relativiert sich mit ein wenig
Distanz schnell. Dies soll nicht als
Beliebigkeit missverstanden werden.
Das, was ich Ihnen vortrage, ist meine
ehrliche Meinung, keine willkürliche
Spielerei, sondern pädagogisches Engagement.
2.
Einleitung II: Zum Begriff „Kindergarten“,
„Kindzentriert
Vor
jetzt 156 Jahren schrieb Friedrich
Fröbel seinen Plan „zur Begründung
und Ausführung eines KINDER-GARTENS“
mit dem Untertitel: „Anstalt zur Verbreitung
allseitiger Beachtung des Lebens der
Kinder, besonders durch Pflege
ihres Tätigkeitstriebes“. Die
Zielsetzung des Kindergartens fasst
er zusammen: „wie in einem Garten
unter Gottes Schutz und unter der
Sorgfalt erfahrener einsichtiger Gärtner
im Einklange mit der Natur die Gewächse
gepflegt werden, so sollen hier die
edelsten Gewächse, Menschen, Kinder
als Keime und Glieder der Menschheit
in Übereinstimmung mit sich, mit Gott
und Natur erzogen ... werden“.
Zu
der Zeit, als Friedrich Fröbel diese
Zeilen notierte, wanderte er oft von
Blankenburg, wo er vor einigen Jahren
eine „Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes
der Kindheit und Jugend“ gegründet
und eine Spielzeugfabrikation aufbaut
hatte, nach Keilhau, wo er vor 23
Jahren seine „Allgemeine deutsche
Erziehungsanstalt“ gegründet hatte.
Diese war - wie wir es heute formulieren
würden - ein Internat mit angeschlossener
Schule, und sie nahm in ihrer Konzeption
und Praxis viel vorweg, was zu Beginn
unseres Jahrhunderts in den reformpädagogischen
Landerziehungsheimen versucht wurde.
Dort in Keilhau wohnten noch die Freunde,
die Fröbel besuchen wollte. Der Weg
führte ihn zuerst bergauf, bevor es
in das Seitental nach Keilhau wieder
bergab ging. Auf der Höhe hatte er
einen phantastischen Blick über die
Weite der Landschaft am Rande des
Thüringer Waldes, und die Legende
erzählt, dass er angesichts dieses
Blickes die Idee zu der Namengebung
„Kindergarten“ hatte.
Darum
ging es ihm: Mensch, Gott und Natur
zu einen, damit der Mensch wieder
zu sich selbst gelangen könne. Der
Säugling hat als Potential diese Einigung
in sich, doch es bedarf der rechten
„Menschenerziehung“, damit diese Möglichkeit
Realität werden kann. Die aufkommende
neue Zeit der Industrialisierung zerstörte
das natürliche Band zwischen Mutter
und Kind und damit die Grundlage aller
Erziehung. Der Kindergarten sollte
die Aufgabe haben, diesen das Menschenwohl
gefährdenden Prozess rückgängig zu
machen, so dass das Kind wieder in
der Einigung mit den erwachsenen Erziehern
leben und sich in ihr entwickeln konnte.
Versuchen
wir einmal für einen Moment, uns das
Bild, das Friedrich Fröbel zu der
Namengebung „Kindergarten“ inspirierte,
vor unserem Auge auszumalen: die Weite
der Landschaft, in der die eine Hügelkette
von der nächsten abgelöst wird, ohne
das ein Ende des Blickes erscheint;
bewaldete Flecken, die fruchtbare
Felder einrahmen; das erste Dorf zum
Greifen nahe und bei genauerem Hinsehen
weitere Gehöfte in größerer Entfernung;
der Himmel strahlend blau, nur einige
kleine weiße Wolken ziehen hoch oben;
die hell leuchtende Sonne, die uns
alles dies in Deutlichkeit zeigt.
„Kindergarten“: das sollen nicht miefige
pädagogische Mauern sein, nicht gedrückte
Kinder, nicht griesgrämige Erzieherinnen,
nicht ein Verschließen der Kindheit,
sondern das Gegenteil: Perspektive,
Fröhlichkeit, Licht, Klarheit.
Die
Sache mit dem Kindergarten lief zunächst
gar nicht gut: die Aktien, die man
zur Förderung des Anliegens ausgab,
verkauften sich schlecht, der Staat
witterte politisch liberale Umtriebe
und die Kirche antichristliche Indoktrination
der Kinder. Im Jahr vor Friedrich
Fröbels Tod, 1851, verbot der Preußische
Staat die Kindergärten im Zuge der
Sozialistengesetze, eine Entscheidung,
die erst knapp zehn Jahre später revidiert
wurde. Der „Kindergarten“ konkurrierte
mit anderen Bezeichnungen und Konzepten:
Kinderbewahranstalten, Kleinkinderschulen
etc. Es dauerte bis zum Beginn der
ersten demokratischen Republik in
Deutschland, bis sich das Wort „Kindergarten“
als allgemeine Bezeichnung für die
institutionelle Erziehung der kleinen
Kinder durchsetzte, inzwischen war
es als Fremdwort längst in andere
Sprachen eingegangen, so ins Englische
und auch Japanische.
Am
Ende der 60er Jahre hat die bereits
erwähnte Vorschulerziehung einen Angriff
auf die Namengebung (und die dahinter
stehende Konzeption) versucht: Vorklasse,
Eingangsstufe, Elementarbereich etc.
Heute wissen wir, dass diese Bemühungen
gescheitert sind - zum Glück! Jetzt
wird das Wort „Kindergarten“ wieder
allgemein benutzt, versehen mit diversen
Adjektiven, die spezifische Ausrichtungen
der Konzeption deutlich machen sollen:
situationsorientiert, offen, kindorientiert
und kindzentriert. Mit wenigen Bemerkungen
möchte ich meine eigene Wortwahl,
„kindzentrierte Kindergartenpädagogik“,
noch von ähnlich klingenden und teilweise
ähnlich meinenden Kindergartenkonzeptionen
abheben.
· Ich
spreche nicht von „situationsorientierter
Kindergartenarbeit“, weil ich nicht
die sozialen Situationen, in denen
Kinder leben, in den Mittelpunkt stelle,
sondern die Entwicklungsbedürfnisse
des einzelnen Kindes. Die didaktische
Erschließung von kindlichen Lebenssituationen
ist die notwendige „Nahrung“, damit
ein Kind zu einer eigenständigen Persönlichkeit
werden kann. Sie bildet den Rahmen,
nicht das Zentrum der Pädagogik des
Kindergartens. Trotz dieser kritischen
Relativierung erkenne ich an, dass
das Deutsche Jugendinstitut und Jürgen
Zimmer sich für die Entwicklung der
Kindergartenkonzeption in den 70er
und 80er Jahren große historische
Verdienste erworben haben.
· Ich
spreche nicht von „offener Kindergartenarbeit“,
obwohl mich mit diesem Ansatz das
Bemühen um Entritualisierung und für
einen freiheitlichen Erziehungsstil
verbindet. Doch es reicht meiner Meinung
nach nicht aus, „offen“ zu sein, sondern
die pädagogisch wichtige Frage ist
die: „offen - wofür?“ Hinzu kommen
zwei Bedenken: 1. Ich kenne Erzieherinnen,
für die die Konzeption des offenen
Kindergartens die Rechtfertigung dafür
ist, sich die Kinder vom Leib zu halten:
Lass den nervigen Jungen bitte schön
überall sein Chaos verbreiten - nur
nicht unter meinen Augen und in meinen
Ohren. 2. Es gibt Kinder, für die
ein „offener“ Kindergarten Befreiung
von Zwängen und Möglichkeit zur Selbstentdeckung
bedeutet. Aber es gibt auch solche,
für die er Angst vor dem Chaos, vor
dem Lauten, Undurchschaubaren ist,
in dem das Recht des Stärkeren gilt.
Konzeptionell kann ein Kindergarten
nicht „besser“ sein, je „offener“
er ist, sondern je sensibler die Erzieherin
zwischen „Freiheit“ und „Heimat“ nach
Maßgabe der jeweils verschiedenen
kindlichen Entwicklungsbedürfnisse
abwägen kann. Eine Kindergartenkonzeption
muß passend sein für die einzelne
Erzieherin, die Erzieherinnengruppe,
das einzelne Kind und die Kindergruppe.
· Schließlich
spreche ich nicht von „kindorientiert“,
weil mir das viel zu unspezifisch
ist. Orientiert sein kann ich an ganz
vielem, die konzeptionell entscheidende
Frage ist, was im Zentrum meiner Pädagogik
steht: nicht die Kinder, nicht die
Eltern, nicht der Träger, nicht die
Erzieherin - auch nicht die Aufarbeitung
ihrer Kindheit -, nicht die Schule,
nicht die Lebenssituationen, sondern
das konkrete, einzelne Kind, für dessen
Erziehung ich ein Stück weit Verantwortung
übernommen habe. Rainer Maria Rilke
hat einmal formuliert: „Ist es möglich,
dass man ‘die Frauen’ sagt, ‘die Kinder’,
‘die Knaben’ und nicht ahnt (bei aller
Bildung nicht ahnt), dass diese Worte
längst keine Mehrzahl mehr haben,
sondern nur unzählige Einzahlen?“
Der
Kindergarten muss m.E. ausgerichtet
sein an den grundlegenden Entwicklungsbedürfnissen
des einzelnen Kindes. Diese sollen
im Kindergarten Raum finden, um sich
darstellen, Zeit, um sich ausbreiten,
Mitkinder, um sich verständigen, Erzieherinnen,
um sich sicher fühlen zu können. Diese
Zentrierung der Kindergartenpädagogik
um die kraftvolle Entwicklung jedes
einzelnen Kindes bedeutet nicht, dass
es nicht andere Erwartungen an den
Kindergarten gäbe, die legitim sind:
Eltern haben das Recht, Entlastung
und Unterstützung in ihrer Erziehungsarbeit
zu erhalten, der Träger hat das Recht,
den Kindergarten in seinem Stellenwert
zu den übrigen kirchlichen, diakonischen
und sozialen Angeboten zu sehen, die
Erzieherinnen haben das Recht auf
einen Arbeitsplatz, der ihnen Zufriedenheit
vermittelt, die Schule hat das Recht,
einen Beitrag zur Schulfähigkeit zu
erwarten. Doch alle diese Ansprüche
sind pädagogisch nur insoweit legitim,
als sie die
Mittelpunktstellung des Rechtes
des Kindes auf seinen Kindergarten
nicht bestreiten. Die Pädagogik ist,
wie man dies früher genannt hat, „Anwalt
des Kindes“, und als solcher muss
sie im Konfliktfall seine Ansprüche
verteidigen.
Nach
diesen langen Einleitungen, die fast
ein Drittel meiner Vortragszeit in
Anspruch nahmen, will ich im Hauptteil
vier Fragenkreise berühren, deren
Diskussion ich für die Erarbeitung
einer Konzeption des Kindergartens
für zentral halte:
1.
die Frage nach dem Menschenbild,
2.
die Frage nach der Einstellung
zur Kindheit,
3.
die Frage nach der Erziehung,
4.
die Frage nach der Pädagogik
des Kindergartens.
Ich
hoffe, dass dadurch einige Hintergründe
der von mir vertretenen Position „kindzentrierter
Kindergartenpädagogik“ deutlich werden,
wenngleich damit auch die Fragen der
praktischen Umsetzung in den Kindergartenalltag
heute weniger Thema sind.
3.
Die Frage nach dem Menschenbild: Das
gebrochene Gute
Jedes
pädagogische System fußt auf bestimmten
anthropologischen Grundbestimmungen:
Woher kommt der Mensch, wo geht er
hin? Was ist das Wesen des Menschen,
das ihn von dem Nichtmenschlichen
unterscheidet? Worin besteht der Sinn
menschlichen Lebens, wo findet es
Erfüllung und Ruhe? Ist der Mensch
von Natur aus gut, und wird er allenfalls
durch die Gesellschaft, eine falsche
Politik und Erziehung zum Bösen verführt?
Oder ist der Mensch von Natur aus
böse, neigt zu rücksichtslosem Egoismus
und ausbeutender Gewalt, so dass Politik
und Erziehung ihn im Zaum halten müssen?
In
der Pädagogik der 70er und 80er Jahre
hat man sich solche Fragen wenig gestellt,
was nicht bedeutet, dass man keine
unformulierten Antworten hatte, die
das Programm unbewusst steuerten:
Das Kind erschien als nahezu grenzenlos
durch den Sozialisationsprozess machbar
- seine Intelligenz, seine Psyche,
seine sozialen Kompetenzen, seine
Autonomie -, wenn man nur die richtige
Technik anwandte. In unseren Tagen
kann man Kindergartenkonzeptionen
lesen, die sich als Gegenbewegung
gegen die Machbarkeitsvorstellung
verstehen: Das Kind entwickelt sich
aus sich selbst heraus, aus seiner
Natur, nicht erziehen, sondern allenfalls
ein wenig begleiten kann man es.
Gemeinsam
ist beiden Positionen, dass sie die
Frage nach dem „Bösen“ nicht stellen,
allein das Wort ist aus unserem Vokabular
gestrichen. Mein Kollege Okko Herlyn
hat dies in einem Gedicht unter der
Überschrift „Klärung“ angedeutet:
„Die
Schlange ist schuld
nein
nicht die Schlange
eigentlich
ist die Frau schuld
ach
was die Frauen sind schuld
die
Männer sind schuld
Jürgen
ist schuld
deine
verdammte Schwägerin ist schuld
das
ganze ausländische Gesocks ist das
schuld
die
Juden sind schuld
die
Schlange ist schuld
tja
an mir jedenfalls liegt’s nicht.“
Über
die angerissenen Fragen sind Bücher
geschrieben worden, hier müssen wenige
Bemerkungen genügen:
Jean-Jacques
Rousseau beginnt seinen Erziehungsroman
Emile mit dem Satz: „Alles ist gut,
wie es aus den Händen des Schöpfers
kommt; alles entartet unter den Händen
des Menschen.“ So hätten
wir es gerne: der Mensch ist von Natur
aus gut, und lassen wir die unschuldige
Natur sich selbst entfalten - mit
möglichst großer Zurückhalten durch
die Erziehung -, dann wird der Mensch
sich kraftvoll entwickeln, sein Glück
genießen, seinen Nebenmenschen achten,
für Frieden und Gerechtigkeit sich
einsetzen.
Doch
betrachten wir Einzelszenen: Noch
nicht ganz Zweijährige im Sandkasten.
Alles erscheint friedlich: Eimer füllen
und umschütten, mit dem Schüppchen
Sand anhäufen, mit den Händen graben.
Einmal sind sie für sich allein in
ihre Tätigkeit versunken, dann lachen
sie sich voll Zufriedenheit an und
plappern sich etwas zu. Plötzlich
der Umschlag: er zertrampelt ihre
Burg, wirft Sand auf ihre Haare, bemächtigt
sich ihres Eimerchens. Ihr Weinen
steigert seine Aktivität; Glanz schwindet
aus dem Kindergesicht und macht überlegener
Großmannssucht Platz. Je schwächer
sie wird, desto mehr wächst seine
Aggressivität. Sie läuft schließlich
zur Mutter, während er seine Beute
ins Gebüsch rettet.
Die
andere Seite: Wir leben jetzt in Deutschland
seit 50 Jahren in einem Zustand des
äußerlichen Friedens. Was Krieg bedeutet,
wird durch Fernsehbilder veranschaulicht,
für unser eigenes Fühlen und Denken
ist es nicht vorstellbar. Und dann
die Berichte des Krieges aus einem
europäischen Land, das wie wir befriedet
schien: menschliche Opfer von Massakern,
aber auch deren menschliche Täter,
Hunderttausende von Vertriebenen,
aber auch deren Vertreiber, im Granatenhagel
Ermordete, aber auch die Zünder der
Granaten. Es gibt den Satz: „Der Mensch
ist dem Menschen ein Wolf“. Der österreichische
Schriftsteller Adolf Muschg hat diesbezüglich
geschrieben, dieser Satz sei eine
Verleumdung der Wölfe, er müsse heißen
„daß der Mensch dem Menschen ein Mensch
ist“.
Und
schließlich die Selbstreflexion. Ich
weiß mich von jeglicher Schuld frei,
will in Zufriedenheit mein Leben gestalten,
bin bemüht, das eigene Wohl und das
meiner Nächsten zu fördern. Dann Vorwürfe
gerade in den Beziehungen, in denen
ich am meisten zu lieben gedachte.
Sicherlich: meine Ungeduld, meine
Heftigkeit, aber du musst doch wissen,
dass ich gerade dir wohl wollte. Die
Verstrickungen nehmen zu, man will
- im Gegenteil zu Mephisto in Goethes
Faust - das Gute und schafft stets
das Böse.
Ich
erwähne diese Szenen nicht, um wieder
zurückzukehren zu der christlichen
Lehre von der Erbsünde, nach der die
Natur des Menschen verdorben sei,
erlösbar nur durch die Gnade Gottes.
Pädagogisch geboten scheint mir der
Glaube an das Gute des Menschen, weil
Erziehung sonst zu einem Kampffeld
gegen das Kind würde. Doch dieser
Glaube sollte nicht naiv sein, nicht
bruchlos aufgehen, sondern den Menschen
in seinen Spannungen sehen. Der Mensch
ist ein freies Wesen, und wenn ich
frei bin, dann kann ich versuchen
herauszufinden, was das Gute und Rechte
sei, und ich kann mein Handeln danach
ausrichten. Ich kann mich auch frei
für das Schlechte und Falsche entscheiden,
nur ich bin es, der sich entscheidet.
Da helfen dann keine Ausreden: meine
angeborene Veranlagung, die Erziehung
durch meine Eltern, der gesellschaftliche
Druck - der Mensch ist als „sittliches
Wesen“ - wie Pestalozzi schreibt -
von solchen Zwängen frei, er sagt
selbst „ja“ oder „nein“ und gestaltet
die Welt und vor allem sich selbst
nach seinem eigenen Willen. Pestalozzi
formuliert deshalb, wenn er von dem
Menschen im sittlichen Zustand spricht,
der Mensch sei „Werk seiner selbst“.
Gut
40 Jahre, nachdem Jean-Jacques Rousseau
den eben zitierten Satz schrieb -
„Alles ist gut, wie es aus den Händen
des Schöpfers kommt; alles entartet
unter den Händen des Menschen“ -,
formulierte Johann Heinrich Pestalozzi:
"der Mensch ist gut und will
das Gute; er will nur dabey auch wohl
seyn, wenn er es thut; und wenn er
böse ist, so hat man ihm sicher den
Weg verrammelt, auf dem er gut seyn
wollte. O es ist ein schrekliches
Ding um dieses Wegverrammeln! - und
es ist so allgemein, und der Mensch
ist deshalb auch so selten gut! Aber
dennoch glaube ich ewig und allgemein
an das Menschenherz und gehe jezt
in diesem Glauben meine bodenlose
Straße, wie wenn sie ein römisch gepflasterter
Weg wäre."
Wir
benötigen pädagogisch den Glauben
an das Gute des Menschen, obwohl wir
gleichzeitig wissen, dass dieser Glaube
eine „bodenlose Straße“ und nicht
empirische Wirklichkeit ist. Der Mensch
bedarf auch deshalb der Erziehung,
um zu einem freien, sich sittlich
entscheidenden Wesen zu werden.
4.
Die Frage nach der Einstellung zur
Kindheit: Bilder und Konsequenzen
Eng
mit der Frage nach dem Menschenbild
hängt die Einstellung zu Kindern und
zur Kindheit zusammen. Grob vereinfachend
gibt es zwei extreme Vorstellungen,
wobei die erste in der Gesamtbevölkerung
die größte Resonanz hat, während die
zweite unter Erzieherinnen sich großer
Beliebtheit erfreut.
Kinder
sind noch nicht so richtige Menschen,
eher kleine Monster, vor denen man
sich schützen muss. Gibt man ihnen
den kleinen Finger, nehmen sie gleich
die ganze Hand, weshalb man vorsichtig
sein muss, ihnen zuviel Wohlwollen
zu zeigen. Nicht nur, dass sie dumm
sind - das alleine wäre nicht so schlimm,
dafür gibt es ja die Schule -, sie
sind egoistisch und rücksichtslos
auf ihren eigenen Vorteil aus. Gut
und viel kontrollieren muss man sie.
Was das richtige Leben angeht, davon
wissen sie nichts, sondern sie leben
in einer Traumwelt, aus der man sie
bald herausholen muss. Sind sie nicht
laut und aggressiv - so die Jungen
-, dann nörgeln und plärren sie -
vor allem die Mädchen. Und undankbar
sind die Kinder, was wir ihnen nicht
alles geben, davon hätten wir als
Kinder nur geträumt, aber sie könne
ihren Hals nicht vollkriegen. Absolut
nervig auch ihre Faulheit, sollen
sie mal mithelfen - zumindest ihr
eigenes Zimmer könnten sie ja aufräumen
-, muss man sie mächtig unter Druck
setzen. Am liebsten hocken sie vor
dem Fernseher und lassen sich mit
Chips und Cola abfüllen - doch das
hat auch sein Gutes: dann sind sie
wenigstens ruhig.
Dieses
Bild von Kindern ist bei Erzieherinnen
nur selten zu finden, sondern hier
herrschen scheinbar positive Vorstellungen
vor. Wiederum karikiere ich - vielleicht
fällt die Karikatur aber diesmal gar
nicht so auf. Welch phantastisch menschliche
Wesen Kinder doch sind. Sie sind so
frei, verstellen sich nicht, sondern
tragen ihr Herz auf dem rechten Fleck.
Zwar wissen sie vieles noch nicht,
aber neugierig gehen sie auf das Unbekannte
zu, um es kennenzulernen. Ihr Wissensdrang
ist unerschöpflich, sie sind offen
und aufgeschlossen. Ihr Spiel zeigt
uns viel von der großen Phantasiekraft,
die sie besitzen. Ach, könnten wir
Erwachsenen doch auch noch so kreativ
sein. Untereinander sind sie oft sehr
rücksichtsvoll, und wenn es doch einmal
Streit gibt, so werden sie - lassen
wir sie nur ungestört - für alle Seiten
befriedigende Lösungen finden. Würden
die Kinder die Welt regieren, es gäbe
keine Kriege, keine Ausbeutung, keine
Tränen. Wehmut umfängt mich, wenn
ich daran denke, dass ich selbst einmal
ein so phantastisches Kind war (oder
hätte sein können, wenn meine bösen
Eltern ...) Jetzt als Erwachsener
spüre ich meine Grenzen und meine
Angepasstheit, meine Enttäuschungen
und meine Langeweile. Kinder sind
nicht nur Menschen, sie sind die besseren
Menschen. Doch ein kleiner Wermutstropfen
muss in den Wein geschüttet werden:
Es gibt heute Kinder, die nicht mehr
ganz so sind, ja die Zahl der Verhaltensauffälligkeiten
nimmt ständig zu. Dies liegt an unserer
schlimmen Gesellschaft: Die vielen
Autos und die damit verbundenen Straßen
nehmen den Kindern den Platz zum Spielen
und vor allem werden sie zu laufendem
Fernsehen Gucken gezwungen, zumindest
verführt. Ein Kind kann unter diesen
schlimmen Bedingungen seine wahre
Natur nicht mehr zeigen, wir müssen
sie ihm wieder erkämpfen. Früher,
ja da konnten wir als Kinder noch
so richtig spielen, richtige Kinder
sein. (Nur bitte schön: Wann war dieses
früher?)
Das
zweite Kinderbild hat gegenwärtig
unter Pädagogen Konjunktur. Man sonnt
sich in einer Vergöttlichung des Kindes
und glaubt dadurch besonders kinderfreundlich
zu sein. Nur es hat einen Haken bei
dieser Geschichte: Der Mensch verträgt
es nicht, auf den göttlichen Sockel
gehoben zu werden, er stürzt allzu
schnell. Peter Graf muss dies jetzt
stellvertretend für seine Tochter
erfahren, solange Steffi noch unsere
Nr. 1 ist. Welche Auswirkungen hat
dieses scheinbar positive Kinderbild
für die Erzieherinnenarbeit. Betrachten
wir dazu zwei Szenen.
Ruth
kommt frisch von der Fachschule in
ihre erste Stelle als Berufspraktikantin.
Zwei Jahre lang haben ihr die Lehrer
das positive Kinderbild beigebracht;
und Ruth hat dies gerne gelernt, denn
sie hat den Beruf der Erzieherin ergriffen,
weil sie etwas mit Kindern tun wollte.
Jetzt steht sie zum ersten Mal alleine
im Gruppenraum und soll das Aufräumen
der Kinder begleiten - ihre Gruppenleiterin
musste mal gerade schnell telephonieren.
Erst scheint es auch ganz gut zu laufen,
doch dann beobachtet Ruth die ersten
Kinder, die sich ihr verweigern. Im
freundlichen Gespräch will sie sie
ermuntern, doch es hilft nichts. Sie
will aus dem Aufräumen ein Spiel machen,
doch die Jungen springen sie lieber
von hinten an. Das Tohuwabohu wird
stärker, da helfen auch die paar lieben
Mädchen nicht weiter. Ruth wird wütend.
Am liebsten würde sie die Rabauken
schütteln und mit körperlicher Gewalt
zum Aufräumen zwingen. Ihr Herzschlag
wird schneller, die Hände werden feucht.
Mit Mühe hält sie ihre Tränen zurück.
Der Gedanke schießt ihr durch den
Kopf: Also bin ich eine schlechte
Erzieherin, für den Beruf nicht geeignet.
Janusz Korczak schreibt: „Ein Erzieher,
der von der süßen Illusion ausgeht,
er werde eine Miniaturwelt reiner,
empfindsamer und aufrichtiger kleiner
Seelen betreten, deren Gunst und deren
Vertrauen so leicht zu erwerben seien,
wird bald enttäuscht sein. Und anstatt
denen zu grollen, die ihn irregeführt
haben, und seine eigene Gutgläubigkeit
zu bedauern, wird er sich gegen die
Kinder stellen; denn sie haben nicht
gehalten, was er von ihnen glaubte.
Aber sind sie denn schuld daran, dass
man dir den Reiz deiner Arbeit gezeigt,
ihre dornenvolle Seiten aber verschwiegen
hat?“
Die
zweite Szene sei in aller Kürze angedeutet:
Die 47 jährige Margot nimmt an einem
einwöchigen Fortbildungskurs über
neue Kindergartenkonzepte teil. Alle
Kolleginnen ihres Kindergartens haben
stillschweigend gemeint, dass ihr
das einmal ganz gut täte, um ihre
omahaften Züge abzubauen. Die Stimmung
in der Fortbildungsgruppe ist gut,
man redet viel, und alles klingt sehr
einleuchtend. Im Rollenspiel wird
erprobt, was theoretisch gelernt wurde.
Margot macht es Spaß, das Kind im
Stuhlkreis zu spielen. Nur eins weiß
sie auch: Dies ist ein Spiel, die
Realität sieht anders aus - meine
Rückenschmerzen auf den kleinen Kinderstühlen,
der unerträgliche Lärm, das Heulen
um jede Kleinigkeit, dies Geschrei
und diese hinterhältigen Raufereien.
Was weiß der junge Fortbildungsschnösel
von der Universität schon davon?
Warum
erzähle ich dies alles? Gerade weil
ich in meiner Kindergartenkonzeption
das einzelne Kind in den Mittelpunkt
rücke, liegt mir viel an einer „richtigen“
Sichtweise des Kindes. Ich möchte,
diesen Punkt abschließend, sie mit
vier Thesen umschreiben:
· Ein
Kind ist ein Mensch, und das heißt,
es ist so wie wir: widersprüchlich,
zwischen dem Guten, das man will,
und dem Bösen, das man tut, schwankend,
offen und verschlossen, frei und ängstlich,
phantasievoll und kleinkariert und
vor allem ganz, ganz banal.
· Ein
Kind ist ein Kind, und das heißt,
es ist ganz anders als wir: es denkt
anders, weil es noch nicht weiß, dass
fünf = fünf ist, es fühlt anders,
weil es die Scheidelinie zwischen
seiner Innen- und der Außenwelt noch
nicht so klar hat, und es handelt
anders, weil es zwar vieles will,
aber nur wenig kann und darf. Diese
Andersartigkeit des Kindes ist weder
etwas Phantastisches, an das man sich
möglichst lange klammern, noch etwas
Unnützes, das möglichst schnell vorübergehen
sollte. „Jedes Ding hat seine Zeit“
- heißt es in der Bibel, und die Anfangszeilen
des bekannten Gedichtes „Stufen“ von
Hermann Hesse lauten:
„Wie
jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem
Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht
jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu
ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.“
· Ein
Kind ist auf dem Wege zu sich selbst,
und das heißt, es kann sich nicht
finden, indem es zurückschaut, in
sich selbst hineinhorcht, sondern
indem es vorwärts schreitet, Selbst-
und Weltentwürfe ausprobiert, zurückweist
und festlegt. Friedrich Nietzsche
schreibt: „dein wahres Wesen liegt
nicht tief verborgen in dir, sondern
unermesslich hoch über dir oder wenigstens
über dem, was du gewöhnlich als dein
Ich nimmst.“
· Ein
Kind ist ein Mensch in der Entwicklung,
und das heißt, es ist Gefahren ausgesetzt,
die Angst machen können, es bedarf
der Hilfe, um ein Fundament zu finden,
auf dem es stehen kann. Erst wenn
es Sicherheit gewinnt, wird es kraftvoll
den nächsten Schritt wagen können.
Es soll selbständig und unabhängig
von den Erzieher-Erwachsenen werden,
aber jetzt bedarf es ihrer noch.
5.
Die Frage nach der Erziehung: Heimat
und Freiheit
Neben
einem bestimmten Verständnis von „Kindheit“
hat in meiner Konzeption kindzentrierter
Kindergartenpädagogik der Begriff
der „Erziehung“ große Bedeutung. Ich
weiß, er klingt ein wenig altmodisch;
Ausgeliefertsein und Daumen-Draufhalten
werden damit assoziiert. Davon will
man sich freimachen, schließlich ist
man ja Kinderfreund, und so wirft
man diesen Begriff in die Mottenkiste
„Schwarzer Pädagogik“. Nicht „Erziehung“
ist angesagt, sondern „Begleitung“.
Wenn das Ganze nicht nur ein Streit
um des Kaisers Bart ist, sondern wenn
mit der neuen Begriffswahl auch eine
andere Sache gemeint ist, dann möchte
ich gerne die Sache der Erziehung
verteidigen.
Meines
Erachtens hat nach dem autoritären
Gehabe früherer Zeiten, in denen die
Selbstentwicklung des Kindes unterdrückt
wurde, weil man den Teufel in dem
Kind austreiben wollte, die antipädagogische
Haltung im Stile Alice Millers für
viel Verwirrung in den Köpfen der
Erzieher gesorgt. „Begleitung“ hat
im Vergleich zur Erziehung etwas unverbindliches:
Ich kann einen Freund bei einem schwierigen
Gang begleiten, im Ratschläge geben,
ihm mein Ohr leihen; ich kann jemanden
auf einem Spaziergang begleiten, ein
Stück des Weges mit ihm gehen, und
wir beide erfreuen uns an der wärmenden
Frühlingssonne. Ich kann dies auch
alles nicht tun, weil ich keine Zeit
habe oder einfach keine Lust, oder
weil mein Kopf selbst so voll ist.
Begleitung ist inhaltlich und zeitlich
eng umrissen und auf die Freiwilligkeit
beider Partner eingeschränkt. In der
Begleitung übernehme ich nur sehr
begrenzt Verantwortung, und sie ist
für beide Seiten weniger existentiell.
Deshalb macht es meines Erachtens
wenig Sinn, eine Ehebeziehung mit
dem Wort „Begleitung“ beschreiben
zu wollen, weil es der Intensität
der Beziehung nicht hinreichenden
Ausdruck geben würde, wenngleich es
auch in einer Ehe viele Prozesse wechselseitiger
Begleitung gibt.
Was
ist demgegenüber Erziehung? Zunächst
einmal möchte ich mit Friedrich Daniel
Ernst Schleiermacher rein begriffslogisch
argumentieren: Es gibt den faktischen
Gegenstandsbereich der Beziehung von
unmündigen Kindern und mündigen Erwachsenen,
und dieser gestaltet sich anders als
alle anderen Beziehungsformen. Hier
wird aus einer hierarchischen Beziehung,
in dem zu Beginn der eine (der Säugling)
von dem anderen (der Mutter) total
abhängig ist, in einem langjährigen
Prozess eine symmetrische Beziehung
(der Säugling wird erwachsen werden
und Verantwortung für sich, die Seinigen
und die Welt übernehmen). Für diesen
besonderen Gegenstandsbereich wird
der Begriff der „Erziehung“ reserviert,
weshalb es auch unsinnig ist, davon
zu sprechen, dass Eheleute sich gegenseitig
erzögen.
Dabei
kann diese besondere Erziehungs-Beziehung
substantiell recht unterschiedlich
gestaltet werden. Es gibt die schon
erwähnte autoritäre Variante. Wenn
jetzt mehr Zeit wäre, ließe sich nachweisen,
dass gut pädagogisch zu denken, das
Gegenteil von autoritärer Unterdrückung
bedeutet. Erziehung ist nicht Verknechtung
des Kindes, sondern seine Befreiung,
nicht Festlegung auf ein Erwachsenenbild,
sondern Perspektiveneröffnung. Die
Zeit zur ausführlichen Darstellung
ist hier nicht, also begnüge ich mich
mit einem Zitat. Herman Nohl bringt
den in der Reformpädagogik entwickelten
Erziehungsbegriff auf den Punkt, wenn
er formuliert: „Die Grundlage der
Erziehung ist ... das leidenschaftliche
Verhältnis eines reifen Menschen zu
einem werdenden Menschen, und zwar
um seiner selbst willen, daß er zu
seinem Leben und seiner Form komme.“
In
meinem Entwurf kindzentrierter Kindergartenpädagogik
spreche ich deshalb davon: „Erziehung
ist eine dienende Tätigkeit des Erwachsenen
für das Kind, eine Hilfestellung für
Kinder, ein etwas und sich selbst
zur Verfügung Stellen des Erwachsenen
... In diesem Sinne ist Erziehung
kein wechselseitiger, sondern ein
einseitiger Prozess, dessen Kern in
dem Verfügbarmachen des Körpers, der
Gedanken, der Liebe des Erwachsenen
für das Kind und nach Maßgabe der
kindlichen Entwicklungsbedürfnisse
besteht, ohne dass der Erwachsene
eine Verfügung über den kindlichen
Körper, seinen Geist und seine Liebe“ bekäme.
Ich
möchte diesen Gedanken gerne noch
für die Erziehungsarbeit der Erzieherinnen
konkret machen. Ihr Aufgabenfeld kann
in dieser Hinsicht zwischen zwei gleichzeitig
wichtigen Polen beschrieben werden:
· Heimat
geben und
· zur
Freiheit herausfordern.
Heimat
geben gilt zunächst einmal äußerlich:
Das Kind soll sich im Kindergarten
wohlfühlen, es soll ihn als seinen
Raum ansehen, in dem es Dinge tun
kann, die ihm wichtig sind, es soll
hier Menschen treffen, auf die es
sich freut, es soll vertraut werden
mit der Welt des Kindergartens, sie
soll Teil seines selbstverständlichen
Alltags werden, weil es sich im Kindergarten
zugehörig fühlt. Heimat geben aber
auch in der unmittelbaren Beziehung
der Erzieherin zu dem Kind. Das Kind
weiß, wenn ich mit mir selbst oder
mit anderen nicht klarkomme, dann
kann ich zu der Erzieherin flüchten,
mich an ihr festklammern, meinen Kopf
in ihren Schoß legen, auf ihren Arm
klettern. Da wird nicht groß geredet,
nicht mein Konflikt aufgearbeitet,
sondern ich habe einen sicheren Hafen
des Rückzugs. Hier kann ich mich selbstverständlich
geborgen fühlen.
Der
andere Pol der Erziehung: zur Freiheit
herausfordern. Martin steht am Rande
des Schwimmbeckens. Seine Erzieherin
ist im Wasser. Er soll zu ihr hinunter
springen. Martin geht lieber einen
Schritt zurück, dann wieder einen
vor. Er breitet die Arme aus, doch
dann überwiegt die Angst. Er kauert
sich am Beckenrand nieder. Die Erzieherin
hat ihren Blick fest auf Martin gerichtet.
Die anderen Kinder interessieren sie
jetzt nicht. Deutlich fordert sie
ihn auf, wieder aufzustehen und zu
ihr ins Wasser zu springen. Martin
stellt sich wieder an den Beckenrand.
Die Erzieherin ruft laut: „Auf die
Plätze, fertig, los!“ Martin nimmt
allen Mut zusammen. Er springt, kurz
taucht er unter, dann hält die Erzieherin
ihn im Arm. Er hat ein wenig Wasser
geschluckt, Augen und Nase sind noch
nicht ganz frei - das ist unangenehm.
Aber Martin ist glücklich: Ich
habe mich getraut, ich
bin gesprungen. Sofort will er diese
Mutprobe wiederholen. Selbständig
Werden besteht aus vielen solch kleiner
Mutproben, und sie werden auch deshalb
bestanden, weil da die Erzieherin
ist, die Anforderungen für den nächsten
Schritt stellt, den dieses Kind tatsächlich
wagen kann, und die absolute Sicherheit
gibt, weil jedes Kind dieser Krücke
bedarf.
6.
Die Frage nach der Pädagogik des Kindergartens:
Spiel und Annäherung
Meine
Vortragszeit ist bald um, und ich
habe den letzten Punkt noch nicht
berührt - die Frage nach der Gestaltung
des pädagogischen Programms im Kindergarten.
Deshalb in gebotener Kürze. Die Entwicklung
des Kindes kann als Prozess zweier
gegengerichteter Bewegungen verstanden
werden:
· Die
große Welt soll in den kleinen Kopf
des Kindes (und in seine Beine, Hände
und sein Herz) hineingelangen, damit
es die Welt versteht, in ihr handeln
und Verantwortung für sie übernehmen
kann. Und:
· die
Gedanken des Kinderkopfes, das Fühlen
seines Herzens und die Fähigkeit seiner
Hände sollen sich von Innen nach Außen
wenden, damit sie Gestalt annehmen
können.
Ich
habe es oben schon einmal zitiert:
„Alles hat seine Zeit“, sagt die Bibel.
Die Zeit des Kindergartens ist vor
allem die, Innerliches äußerlich zu
machen. Friedrich Fröbel schreibt:
„das Innere des Menschen ... strebt,
sich äußerlich kund zu tun, zu verkünden;
er, der Mensch, strebt mit eigener
selbsttätiger Kraft sein Inneres äußerlich
am Festen und durch Festes außer sich
darzustellen und zu gestalten“. Diese Bewegung
des Inneren zum Äußeren drückt sich
vornehmlich im freien Spiel der Kinder
aus. Fröbel nennt sie „die Herzblätter
des gesamten künftigen Lebens“.
Nimmt
man diesen Gedanken ernst, dann relativiert
sich die Bedeutung der Planung und
Durchführung von Projekten - wie im
situationsorientierten Ansatz - und
der Angebote in der offenen Kindergartenarbeit.
Kernpunkt der Pädagogik des Kindergartens
ist die Arbeit der Erzieherin, den
Kindergarten so zu gestalten, dass
alle Kinder zu ihrem freibestimmten
Spiel finden. Dies erfordert:
· die
richtige Strukturierung des Tagesablaufes,
die die laufende Unterbrechung der
kindlichen Aktivität vermeidet;
· die
großzügige Gestaltung der Räume, die
grobmotorisch laute Aktivitäten ebenso
erlaubt wie das brave Spiel der kleinen
Kindergruppe und die unbeobachtbare
Isolierung eines einzelnen Kindes;
· die
bunte Auswahl des Materials, die Kinder
nicht mit Spielekram abspeist, sondern
ihnen handgreifliche Dinge zum Ausdruck
ihrer emotionalen Spannungen, Wünsche
und Sehnsüchte bietet;
· die
reflektierte Beteiligung der Erzieherin
im Spiel, die sich als Erfüllungsgehilfin
der Spielideen der Kinder versteht,
eigene Impulse aber nur in Ausnahmefällen
einbringt.
Janusz
Korczak schreibt, und ich möchte mit
diesem Zitat wenigstens eine praktische
Anregung geben: „Vielleicht ist es
nicht angebracht, das Zimmer eines
kleinen Kindes mit Linoleum auszulegen;
vielleicht sollte man lieber eine
Fuhre gesunden gelben Sandes darin
verteilen und ein Sortiment von Holzstäben
und eine Schubkarre Steine hinzugeben?
Vielleicht wären Bretter, Dachpappe,
ein Pfund Nägel, Säge, Hammer und
eine Hobelbank willkommenere Geschenke
als ‘Spielzeug’ ... Dann müßte man
aber aus dem Kinderzimmer die Ruhe
und die sterile Sauberkeit eines Krankenhauses
sowie die Furcht vor zerschundenen
Fingern vertreiben.“
Dies
erscheint mir als die erste der beiden
zentralen Aufgaben der Pädagogik des
Kindergartens: einen Rahmen anzubieten,
damit jedes Kind in ihm eine Bühne
findet, auf der es frei und sich frei
spielen kann. Die andere besteht in
der pädagogischen Annäherung der Erzieherin
an das einzelne Kind. Für 25 Kinder
in der Kindergruppe gilt es nach 25
individuellen Wegen des Beziehungsausdrucks
zu suchen, um jedem Kind das anzubieten,
was dieses einzelne Kind für seinen
Entwicklungsgang benötigt. Für das
erste wird dies engagierte Unterstützung
bedeuten, für das zweite liebevolle
Umarmung, für das dritte distanziertes
Beobachten, für das vierte kraftvolles
Schranken Setzen, für das fünfte sich
als Punchingball zur Verfügung Stellen.
Dabei spreche ich nicht von einem
„Verstehen“ der Kinder, weil ich davon
ausgehe, dass man ein Kind nicht verstehen
kann. Die teilweise beliebten Fallbesprechungen,
die Runden, in denen Erwachsene zusammensitzen,
um ein Kind „durchzusprechen“, sind
mir ein Greul, weil hier etwas festgeschrieben
wird, was nicht festzuschreiben ist,
sondern wo es gilt, eine Perspektive
zu eröffnen. Ich kann mir über mein
Bild von dem Kind Gedanken machen,
doch ich muss mir bewusst sein, dass
es mein Bild von diesem Kind ist und nicht dieses Kind selbst. Ich kann
versuchen, meinen Beziehungsanteil
zu diesem Kind zu verändern, tolerant
zu einem Kind zu werden, das auf meinen
Nerven herumtrampelt beispielsweise,
aber ich kann nicht das Kind anders
„machen“, nicht diesen Störenfried
in ein Lamm verwandeln. „Birke bleibt
Birke, Eiche bleibt Eiche, Ackerrettich
bleibt Ackerrettich“ schreibt
Janusz Korczak. Und an anderer Stelle
heißt es: „Ein Kind ist wie ein Pergament,
dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen,
die du nur zum Teil zu entziffern
vermagst; manche aber kannst du auslöschen
oder nur durchstreichen und mit eigenem
Inhalt erfüllen.“
Der
Kindergarten ist eine Veranstaltung
für die Kinder, ein Beitrag zu ihrer
Selbstwerdung, nicht Darstellungsbühne
erzieherischer Professionalität. Jedes
Kind hat das Recht, von seiner Erzieherin
pädagogisch, d.h. nicht erdrückend
geliebt zu werden. Für viele Kinder
ist dies ein notwendiger Schritt der Abnabelung
von ihren Eltern, für andere ein existentieller
Nachholbedarf, um zu erfahren, dass
man Bedeutung hat.