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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1996 - 4

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Sigurd Hebenstreit

Ein Kind ist ein Kind - Annäherungen an kindliche Sichtweisen

Vortrag in Hannover am 6. 3. 1996

1. Einleitung I: Ein Rückblick auf 30 Jahre Konzeptionsentwicklung im Kindergarten

Marita, 50 Jahre alt, 30 Berufsjahre auf dem Buckel:

Gelernt hat sie ihren Beruf im Kindergärtnerinnenseminar: ein wenig Achtung vor den großen Klassikern der Pädagogik, das Auswendiglernen der Reifungsstufen des Kindes, ein großes Repertoire an Fingerspielen, Liedern, Basteltechniken. „Kindergärtnerin“ war ein schöner Beruf, auch wenn man sich vor der strengen Diakonisse in Acht nehmen musste. Man konnte von ihr lernen, eine große Kinderschar sicher im Griff zu haben, ohne selbst ständig fauchend aus der Puste zu geraten. Wenn Marita nicht heiraten würde, wäre sie in kurzer Zeit Leiterin einer Einrichtung und würde oberhalb des Kindergartens eine kleine, schmucke Dienstwohnung besitzen. Doch Marita wollte heiraten, eigene Kinder haben. Für beides - den passenden Mann zu finden und die eigenen Kinder zu erziehen - bot der gewählte Beruf gute Voraussetzungen.

Doch dann zerschlugen sich die Pläne: die erste große Liebe endete in einer riesigen Enttäuschung, und die später eingegangene Ehe mit dem neuen Freund blieb kinderlos. Marita arbeitet deshalb seit jetzt 30 Jahren ununterbrochen im Kindergarten. Schnell musste sie nach ihrem Berufseinstieg umlernen: Vorschulerziehung stand auf dem Stundenplan. Mit den neuen didaktischen Materialien versehen arbeitete Marita jetzt die Blätter des Schulreifetrainingsprogramms durch. Es machte ihr anfänglich Spaß. Sie hatte einen wichtigen Beruf, ein wenig als Lehrerin fühlte sie sich, die in der Berufsbezeichnung von der Kindergärtnerin zu dem Erzieher gewechselt war und nicht mehr „Tante Marita“, sondern „Frau Schulze“ von den Kindern gerufen wurde. Was die Kinder nicht alles lernen konnten: Farben und Formen, Schwungübungen und Buchstaben, Mengenlehre und physikalische Grundbegriffe. Für Frau Schulze war das alles auch gar nicht schwierig zu lehren, gab es doch für jeden Inhalt ein von Sachverständigen ausgeklügeltes Programm, in dessen Begleitbuch man eine Gebrauchsanweisung fand, wie man was zu machen habe. Es lief gar nicht so schlecht: die Kinder beteiligten sich eifrig an den Programmen, und die Eltern waren zufrieden, lernten ihre Kinder hier doch etwas Wichtiges, was ihnen eine erfolgreiche Schulkarriere ermöglichen würde.

Nur etwas künstlich war es schon, und Marita war deshalb froh, als der Situationsansatz die Vorschulerziehung ablöste. Jetzt sollte sie die Kinder beobachten, ihre Probleme und Fragen heraushören, um situativ mit einer didaktischen Einheit darauf zu antworten. Sie plante jetzt Exkursionen in das Umfeld des Kindergartens - es ging zur Post, zum Zahnarzt und in das Altenheim -, sie lud die Väter ein, damit sie den Kindern ihre Berufsrealität erklärten. Nicht mehr „Erziehung“ oder „Bildung“, sondern die „Sozialisation“ des Kindes stand im Vordergrund. Die situationsorientierten Curricula waren nicht so detailliert und konkret wie die Vorschulmappen, aber sie eröffneten eine neue Welt: das ganze Klein-Klein der erst niedlichen, dann ernsthaften Kinderwelt konnte man verlassen, um sich für die großen gesellschaftspolitischen Fragen zu öffnen.

In diesem Stil ging es weiter. Die Integration der Ausländer stand auf der Tagesordnung. Marita fuhr nicht mehr zur Post und ins Krankenhaus, sondern in die Moschee der türkischen Gemeinde; und eine Gruppe griechischer Väter tanzte einen Syrtaki auf dem multikulturellen Sommerfest. Waren die politischen Ansprüche der Erzieherarbeit einmal entdeckt, lag es nahe, sie auf den eigenen Berufsstand zu beziehen. Marita trat der Gewerkschaft bei, beteiligte sich an einer Demonstration, gestaltete einen öffentlichkeitswirksamen Aktionstag mit. Es ging um die bessere Besoldung sowie tarifliche Höhergruppierung der Erzieherinnen und um günstigere Rahmenbedingungen der Kindergartenarbeit.

Dies war die aktiv-fordernde Phase der gesellschaftspolitischen Wendung. Danach kam die der Außenansprüche: Was Marita jetzt innerhalb der Mauern ihrer Einrichtung tat, war relativ egal, Hauptsache möglichst viele Kinder konnten möglichst lange im Kindergarten verbleiben. Nicht Erziehung, nicht Bildung, nicht Sozialisation, sondern „Betreuung“ war angesagt. Auch Frauen mit kleinen Kindern sollte eine außerhäusliche Berufsarbeit ermöglicht werden. Als Frau, die selbst berufstätig war, akzeptierte Marita diese Zielvorstellung, und engagiert führte sie deshalb die Über-Mittag-Betreuung in ihrer Einrichtung ein, obwohl der entsprechende Ausgleich für diese Mehrarbeit seitens der Politiker und ihres Trägers eher gering ausfiel.

In den letzten Jahren hat die Forderung nach integrativer Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindergarten die gesamte Entwicklung konzeptioneller Vorstellungen, die Marita in ihren 30 Berufsjahren erlebt hat, noch einmal ablaufen lassen: Soll sie ihre Arbeit - wie zu Beginn - wieder in starkem Maße ritualisieren, um den Bedürfnissen der Kinder nach Struktur gerecht zu werden? Welchen Stellenwert soll das Therapieprogramm haben, das an die Zeit der Vorschulbewegung erinnert? Muss der Kindergarten die Gruppen auflösen und sich statt dessen in Funktionsräume gliedern? Wie werden die Rahmenbedingungen für eine verantwortbare integrative Erziehung durchgesetzt?

Zwei Drittel ihrer Berufsjahre hat Marita hinter sich, ein Drittel noch vor sich. Sie bemerkt an sich selbst, dass sie den Berichten der Tagesschau über die Veränderungen in der Vorruhestandsregelung mit eigener Betroffenheit zuhört. In dem Bücherregal ihres Kindergartens befinden sich einige gerade erschienene Veröffentlichungen, die eine grundsätzliche konzeptionelle Neuorientierung versprechen. Muss sie sich entscheiden, ob sie nach dem „situationsorientierten Ansatz in der sozialpädagogischen Praxis“ arbeitet, oder ob sie sich zu dem „offenen Kindergarten“ entschließt, oder ob sie die „kindzentrierte Kindergartenpädagogik“ favorisiert? Ist sie für alles dies nicht viel zu müde? Aber Marita findet es faszinierend, sich „auf ihre alten Tage“ noch einmal neu mit ihrer Beziehung zu Kindern auseinandersetzen zu müssen. Denn das hat ihr ihre 30-jährige Berufstätigkeit auch gegeben: sie ist jung geblieben mit den Kindern, die, egal mit welchen didaktischen Methoden sie sie traktierte, irgendwie gleich geblieben sind: kleine Menschen, die augenblicklich glücklich sein wollen, es aber oft nicht sind, weil die Wunde nach dem letzten Sturz schmerzt, die Dunkelheit der Nacht ängstigt und die Erwachsenen einen nicht verstehen.

Die Geschichte zu Beginn soll auch selbstkritisch darauf hinweisen, nicht alle vorgetragenen Neuerfindungen in der Kindergartenpädagogik so ernst zu nehmen. Vieles, was mit großer Überzeugungskraft präsentiert wird, relativiert sich mit ein wenig Distanz schnell. Dies soll nicht als Beliebigkeit missverstanden werden. Das, was ich Ihnen vortrage, ist meine ehrliche Meinung, keine willkürliche Spielerei, sondern pädagogisches Engagement.

2. Einleitung II: Zum Begriff „Kindergarten“, „Kindzentriert

Vor jetzt 156 Jahren schrieb Friedrich Fröbel seinen Plan „zur Begründung und Ausführung eines KINDER-GARTENS“ mit dem Untertitel: „Anstalt zur Verbreitung allseitiger Beachtung des Lebens der Kinder, besonders durch Pflege  ihres Tätigkeitstriebes“. Die Zielsetzung des Kindergartens fasst er zusammen: „wie in einem Garten unter Gottes Schutz und unter der Sorgfalt erfahrener einsichtiger Gärtner im Einklange mit der Natur die Gewächse gepflegt werden, so sollen hier die edelsten Gewächse, Menschen, Kinder als Keime und Glieder der Menschheit in Übereinstimmung mit sich, mit Gott und Natur erzogen ... werden“ [1] .

Zu der Zeit, als Friedrich Fröbel diese Zeilen notierte, wanderte er oft von Blankenburg, wo er vor einigen Jahren eine „Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes der Kindheit und Jugend“ gegründet und eine Spielzeugfabrikation aufbaut hatte, nach Keilhau, wo er vor 23 Jahren seine „Allgemeine deutsche Erziehungsanstalt“ gegründet hatte. Diese war - wie wir es heute formulieren würden - ein Internat mit angeschlossener Schule, und sie nahm in ihrer Konzeption und Praxis viel vorweg, was zu Beginn unseres Jahrhunderts in den reformpädagogischen Landerziehungsheimen versucht wurde. Dort in Keilhau wohnten noch die Freunde, die Fröbel besuchen wollte. Der Weg führte ihn zuerst bergauf, bevor es in das Seitental nach Keilhau wieder bergab ging. Auf der Höhe hatte er einen phantastischen Blick über die Weite der Landschaft am Rande des Thüringer Waldes, und die Legende erzählt, dass er angesichts dieses Blickes die Idee zu der Namengebung „Kindergarten“ hatte.

Darum ging es ihm: Mensch, Gott und Natur zu einen, damit der Mensch wieder zu sich selbst gelangen könne. Der Säugling hat als Potential diese Einigung in sich, doch es bedarf der rechten „Menschenerziehung“, damit diese Möglichkeit Realität werden kann. Die aufkommende neue Zeit der Industrialisierung zerstörte das natürliche Band zwischen Mutter und Kind und damit die Grundlage aller Erziehung. Der Kindergarten sollte die Aufgabe haben, diesen das Menschenwohl gefährdenden Prozess rückgängig zu machen, so dass das Kind wieder in der Einigung mit den erwachsenen Erziehern leben und sich in ihr entwickeln konnte.

Versuchen wir einmal für einen Moment, uns das Bild, das Friedrich Fröbel zu der Namengebung „Kindergarten“ inspirierte, vor unserem Auge auszumalen: die Weite der Landschaft, in der die eine Hügelkette von der nächsten abgelöst wird, ohne das ein Ende des Blickes erscheint; bewaldete Flecken, die fruchtbare Felder einrahmen; das erste Dorf zum Greifen nahe und bei genauerem Hinsehen weitere Gehöfte in größerer Entfernung; der Himmel strahlend blau, nur einige kleine weiße Wolken ziehen hoch oben; die hell leuchtende Sonne, die uns alles dies in Deutlichkeit zeigt. „Kindergarten“: das sollen nicht miefige pädagogische Mauern sein, nicht gedrückte Kinder, nicht griesgrämige Erzieherinnen, nicht ein Verschließen der Kindheit, sondern das Gegenteil: Perspektive, Fröhlichkeit, Licht, Klarheit.

Die Sache mit dem Kindergarten lief zunächst gar nicht gut: die Aktien, die man zur Förderung des Anliegens ausgab, verkauften sich schlecht, der Staat witterte politisch liberale Umtriebe und die Kirche antichristliche Indoktrination der Kinder. Im Jahr vor Friedrich Fröbels Tod, 1851, verbot der Preußische Staat die Kindergärten im Zuge der Sozialistengesetze, eine Entscheidung, die erst knapp zehn Jahre später revidiert wurde. Der „Kindergarten“ konkurrierte mit anderen Bezeichnungen und Konzepten: Kinderbewahranstalten, Kleinkinderschulen etc. Es dauerte bis zum Beginn der ersten demokratischen Republik in Deutschland, bis sich das Wort „Kindergarten“ als allgemeine Bezeichnung für die institutionelle Erziehung der kleinen Kinder durchsetzte, inzwischen war es als Fremdwort längst in andere Sprachen eingegangen, so ins Englische und auch Japanische.

Am Ende der 60er Jahre hat die bereits erwähnte Vorschulerziehung einen Angriff auf die Namengebung (und die dahinter stehende Konzeption) versucht: Vorklasse, Eingangsstufe, Elementarbereich etc. Heute wissen wir, dass diese Bemühungen gescheitert sind - zum Glück! Jetzt wird das Wort „Kindergarten“ wieder allgemein benutzt, versehen mit diversen Adjektiven, die spezifische Ausrichtungen der Konzeption deutlich machen sollen: situationsorientiert, offen, kindorientiert und kindzentriert. Mit wenigen Bemerkungen möchte ich meine eigene Wortwahl, „kindzentrierte Kindergartenpädagogik“, noch von ähnlich klingenden und teilweise ähnlich meinenden Kindergartenkonzeptionen abheben.

·       Ich spreche nicht von „situationsorientierter Kindergartenarbeit“, weil ich nicht die sozialen Situationen, in denen Kinder leben, in den Mittelpunkt stelle, sondern die Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Kindes. Die didaktische Erschließung von kindlichen Lebenssituationen ist die notwendige „Nahrung“, damit ein Kind zu einer eigenständigen Persönlichkeit werden kann. Sie bildet den Rahmen, nicht das Zentrum der Pädagogik des Kindergartens. Trotz dieser kritischen Relativierung erkenne ich an, dass das Deutsche Jugendinstitut und Jürgen Zimmer sich für die Entwicklung der Kindergartenkonzeption in den 70er und 80er Jahren große historische Verdienste erworben haben.

·       Ich spreche nicht von „offener Kindergartenarbeit“, obwohl mich mit diesem Ansatz das Bemühen um Entritualisierung und für einen freiheitlichen Erziehungsstil verbindet. Doch es reicht meiner Meinung nach nicht aus, „offen“ zu sein, sondern die pädagogisch wichtige Frage ist die: „offen - wofür?“ Hinzu kommen zwei Bedenken: 1. Ich kenne Erzieherinnen, für die die Konzeption des offenen Kindergartens die Rechtfertigung dafür ist, sich die Kinder vom Leib zu halten: Lass den nervigen Jungen bitte schön überall sein Chaos verbreiten - nur nicht unter meinen Augen und in meinen Ohren. 2. Es gibt Kinder, für die ein „offener“ Kindergarten Befreiung von Zwängen und Möglichkeit zur Selbstentdeckung bedeutet. Aber es gibt auch solche, für die er Angst vor dem Chaos, vor dem Lauten, Undurchschaubaren ist, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Konzeptionell kann ein Kindergarten nicht „besser“ sein, je „offener“ er ist, sondern je sensibler die Erzieherin zwischen „Freiheit“ und „Heimat“ nach Maßgabe der jeweils verschiedenen kindlichen Entwicklungsbedürfnisse abwägen kann. Eine Kindergartenkonzeption muß passend sein für die einzelne Erzieherin, die Erzieherinnengruppe, das einzelne Kind und die Kindergruppe.

·       Schließlich spreche ich nicht von „kindorientiert“, weil mir das viel zu unspezifisch ist. Orientiert sein kann ich an ganz vielem, die konzeptionell entscheidende Frage ist, was im Zentrum meiner Pädagogik steht: nicht die Kinder, nicht die Eltern, nicht der Träger, nicht die Erzieherin - auch nicht die Aufarbeitung ihrer Kindheit -, nicht die Schule, nicht die Lebenssituationen, sondern das konkrete, einzelne Kind, für dessen Erziehung ich ein Stück weit Verantwortung übernommen habe. Rainer Maria Rilke hat einmal formuliert: „Ist es möglich, dass man ‘die Frauen’ sagt, ‘die Kinder’, ‘die Knaben’ und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), dass diese Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?“

Der Kindergarten muss m.E. ausgerichtet sein an den grundlegenden Entwicklungsbedürfnissen des einzelnen Kindes. Diese sollen im Kindergarten Raum finden, um sich darstellen, Zeit, um sich ausbreiten, Mitkinder, um sich verständigen, Erzieherinnen, um sich sicher fühlen zu können. Diese Zentrierung der Kindergartenpädagogik um die kraftvolle Entwicklung jedes einzelnen Kindes bedeutet nicht, dass es nicht andere Erwartungen an den Kindergarten gäbe, die legitim sind: Eltern haben das Recht, Entlastung und Unterstützung in ihrer Erziehungsarbeit zu erhalten, der Träger hat das Recht, den Kindergarten in seinem Stellenwert zu den übrigen kirchlichen, diakonischen und sozialen Angeboten zu sehen, die Erzieherinnen haben das Recht auf einen Arbeitsplatz, der ihnen Zufriedenheit vermittelt, die Schule hat das Recht, einen Beitrag zur Schulfähigkeit zu erwarten. Doch alle diese Ansprüche sind pädagogisch nur insoweit legitim, als sie die  Mittelpunktstellung des Rechtes des Kindes auf seinen Kindergarten nicht bestreiten. Die Pädagogik ist, wie man dies früher genannt hat, „Anwalt des Kindes“, und als solcher muss sie im Konfliktfall seine Ansprüche verteidigen.

Nach diesen langen Einleitungen, die fast ein Drittel meiner Vortragszeit in Anspruch nahmen, will ich im Hauptteil vier Fragenkreise berühren, deren Diskussion ich für die Erarbeitung einer Konzeption des Kindergartens für zentral halte:

1.      die Frage nach dem Menschenbild,

2.      die Frage nach der Einstellung zur Kindheit,

3.      die Frage nach der Erziehung,

4.      die Frage nach der Pädagogik des Kindergartens.

Ich hoffe, dass dadurch einige Hintergründe der von mir vertretenen Position „kindzentrierter Kindergartenpädagogik“ deutlich werden, wenngleich damit auch die Fragen der praktischen Umsetzung in den Kindergartenalltag heute weniger Thema sind.

3. Die Frage nach dem Menschenbild: Das gebrochene Gute

Jedes pädagogische System fußt auf bestimmten anthropologischen Grundbestimmungen: Woher kommt der Mensch, wo geht er hin? Was ist das Wesen des Menschen, das ihn von dem Nichtmenschlichen unterscheidet? Worin besteht der Sinn menschlichen Lebens, wo findet es Erfüllung und Ruhe? Ist der Mensch von Natur aus gut, und wird er allenfalls durch die Gesellschaft, eine falsche Politik und Erziehung zum Bösen verführt? Oder ist der Mensch von Natur aus böse, neigt zu rücksichtslosem Egoismus und ausbeutender Gewalt, so dass Politik und Erziehung ihn im Zaum halten müssen?

In der Pädagogik der 70er und 80er Jahre hat man sich solche Fragen wenig gestellt, was nicht bedeutet, dass man keine unformulierten Antworten hatte, die das Programm unbewusst steuerten: Das Kind erschien als nahezu grenzenlos durch den Sozialisationsprozess machbar - seine Intelligenz, seine Psyche, seine sozialen Kompetenzen, seine Autonomie -, wenn man nur die richtige Technik anwandte. In unseren Tagen kann man Kindergartenkonzeptionen lesen, die sich als Gegenbewegung gegen die Machbarkeitsvorstellung verstehen: Das Kind entwickelt sich aus sich selbst heraus, aus seiner Natur, nicht erziehen, sondern allenfalls ein wenig begleiten kann man es.

Gemeinsam ist beiden Positionen, dass sie die Frage nach dem „Bösen“ nicht stellen, allein das Wort ist aus unserem Vokabular gestrichen. Mein Kollege Okko Herlyn hat dies in einem Gedicht unter der Überschrift „Klärung“ angedeutet:

„Die Schlange ist schuld

nein nicht die Schlange

eigentlich ist die Frau schuld

ach was die Frauen sind schuld

die Männer sind schuld

Jürgen ist schuld

deine verdammte Schwägerin ist schuld

das ganze ausländische Gesocks ist das schuld

die Juden sind schuld

die Schlange ist schuld

tja an mir jedenfalls liegt’s nicht.“ [2]

 

Über die angerissenen Fragen sind Bücher geschrieben worden, hier müssen wenige Bemerkungen genügen:

Jean-Jacques Rousseau beginnt seinen Erziehungsroman Emile mit dem Satz: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ [3] So hätten wir es gerne: der Mensch ist von Natur aus gut, und lassen wir die unschuldige Natur sich selbst entfalten - mit möglichst großer Zurückhalten durch die Erziehung -, dann wird der Mensch sich kraftvoll entwickeln, sein Glück genießen, seinen Nebenmenschen achten, für Frieden und Gerechtigkeit sich einsetzen.

Doch betrachten wir Einzelszenen: Noch nicht ganz Zweijährige im Sandkasten. Alles erscheint friedlich: Eimer füllen und umschütten, mit dem Schüppchen Sand anhäufen, mit den Händen graben. Einmal sind sie für sich allein in ihre Tätigkeit versunken, dann lachen sie sich voll Zufriedenheit an und plappern sich etwas zu. Plötzlich der Umschlag: er zertrampelt ihre Burg, wirft Sand auf ihre Haare, bemächtigt sich ihres Eimerchens. Ihr Weinen steigert seine Aktivität; Glanz schwindet aus dem Kindergesicht und macht überlegener Großmannssucht Platz. Je schwächer sie wird, desto mehr wächst seine Aggressivität. Sie läuft schließlich zur Mutter, während er seine Beute ins Gebüsch rettet.

Die andere Seite: Wir leben jetzt in Deutschland seit 50 Jahren in einem Zustand des äußerlichen Friedens. Was Krieg bedeutet, wird durch Fernsehbilder veranschaulicht, für unser eigenes Fühlen und Denken ist es nicht vorstellbar. Und dann die Berichte des Krieges aus einem europäischen Land, das wie wir befriedet schien: menschliche Opfer von Massakern, aber auch deren menschliche Täter, Hunderttausende von Vertriebenen, aber auch deren Vertreiber, im Granatenhagel Ermordete, aber auch die Zünder der Granaten. Es gibt den Satz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Der österreichische Schriftsteller Adolf Muschg hat diesbezüglich geschrieben, dieser Satz sei eine Verleumdung der Wölfe, er müsse heißen „daß der Mensch dem Menschen ein Mensch ist“.

Und schließlich die Selbstreflexion. Ich weiß mich von jeglicher Schuld frei, will in Zufriedenheit mein Leben gestalten, bin bemüht, das eigene Wohl und das meiner Nächsten zu fördern. Dann Vorwürfe gerade in den Beziehungen, in denen ich am meisten zu lieben gedachte. Sicherlich: meine Ungeduld, meine Heftigkeit, aber du musst doch wissen, dass ich gerade dir wohl wollte. Die Verstrickungen nehmen zu, man will - im Gegenteil zu Mephisto in Goethes Faust - das Gute und schafft stets das Böse.

Ich erwähne diese Szenen nicht, um wieder zurückzukehren zu der christlichen Lehre von der Erbsünde, nach der die Natur des Menschen verdorben sei, erlösbar nur durch die Gnade Gottes. Pädagogisch geboten scheint mir der Glaube an das Gute des Menschen, weil Erziehung sonst zu einem Kampffeld gegen das Kind würde. Doch dieser Glaube sollte nicht naiv sein, nicht bruchlos aufgehen, sondern den Menschen in seinen Spannungen sehen. Der Mensch ist ein freies Wesen, und wenn ich frei bin, dann kann ich versuchen herauszufinden, was das Gute und Rechte sei, und ich kann mein Handeln danach ausrichten. Ich kann mich auch frei für das Schlechte und Falsche entscheiden, nur ich bin es, der sich entscheidet. Da helfen dann keine Ausreden: meine angeborene Veranlagung, die Erziehung durch meine Eltern, der gesellschaftliche Druck - der Mensch ist als „sittliches Wesen“ - wie Pestalozzi schreibt - von solchen Zwängen frei, er sagt selbst „ja“ oder „nein“ und gestaltet die Welt und vor allem sich selbst nach seinem eigenen Willen. Pestalozzi formuliert deshalb, wenn er von dem Menschen im sittlichen Zustand spricht, der Mensch sei „Werk seiner selbst“.

Gut 40 Jahre, nachdem Jean-Jacques Rousseau den eben zitierten Satz schrieb - „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen“ -, formulierte Johann Heinrich Pestalozzi: "der Mensch ist gut und will das Gute; er will nur dabey auch wohl seyn, wenn er es thut; und wenn er böse ist, so hat man ihm sicher den Weg verrammelt, auf dem er gut seyn wollte. O es ist ein schrekliches Ding um dieses Wegverrammeln! - und es ist so all­gemein, und der Mensch ist deshalb auch so selten gut! Aber dennoch glaube ich ewig und allgemein an das Menschenherz und gehe jezt in diesem Glauben meine bodenlose Straße, wie wenn sie ein römisch gepflasterter Weg wäre." [4]

Wir benötigen pädagogisch den Glauben an das Gute des Menschen, obwohl wir gleichzeitig wissen, dass dieser Glaube eine „bodenlose Straße“ und nicht empirische Wirklichkeit ist. Der Mensch bedarf auch deshalb der Erziehung, um zu einem freien, sich sittlich entscheidenden Wesen zu werden.


4. Die Frage nach der Einstellung zur Kindheit: Bilder und Konsequenzen

Eng mit der Frage nach dem Menschenbild hängt die Einstellung zu Kindern und zur Kindheit zusammen. Grob vereinfachend gibt es zwei extreme Vorstellungen, wobei die erste in der Gesamtbevölkerung die größte Resonanz hat, während die zweite unter Erzieherinnen sich großer Beliebtheit erfreut.

Kinder sind noch nicht so richtige Menschen, eher kleine Monster, vor denen man sich schützen muss. Gibt man ihnen den kleinen Finger, nehmen sie gleich die ganze Hand, weshalb man vorsichtig sein muss, ihnen zuviel Wohlwollen zu zeigen. Nicht nur, dass sie dumm sind - das alleine wäre nicht so schlimm, dafür gibt es ja die Schule -, sie sind egoistisch und rücksichtslos auf ihren eigenen Vorteil aus. Gut und viel kontrollieren muss man sie. Was das richtige Leben angeht, davon wissen sie nichts, sondern sie leben in einer Traumwelt, aus der man sie bald herausholen muss. Sind sie nicht laut und aggressiv - so die Jungen -, dann nörgeln und plärren sie - vor allem die Mädchen. Und undankbar sind die Kinder, was wir ihnen nicht alles geben, davon hätten wir als Kinder nur geträumt, aber sie könne ihren Hals nicht vollkriegen. Absolut nervig auch ihre Faulheit, sollen sie mal mithelfen - zumindest ihr eigenes Zimmer könnten sie ja aufräumen -, muss man sie mächtig unter Druck setzen. Am liebsten hocken sie vor dem Fernseher und lassen sich mit Chips und Cola abfüllen - doch das hat auch sein Gutes: dann sind sie wenigstens ruhig.

Dieses Bild von Kindern ist bei Erzieherinnen nur selten zu finden, sondern hier herrschen scheinbar positive Vorstellungen vor. Wiederum karikiere ich - vielleicht fällt die Karikatur aber diesmal gar nicht so auf. Welch phantastisch menschliche Wesen Kinder doch sind. Sie sind so frei, verstellen sich nicht, sondern tragen ihr Herz auf dem rechten Fleck. Zwar wissen sie vieles noch nicht, aber neugierig gehen sie auf das Unbekannte zu, um es kennenzulernen. Ihr Wissensdrang ist unerschöpflich, sie sind offen und aufgeschlossen. Ihr Spiel zeigt uns viel von der großen Phantasiekraft, die sie besitzen. Ach, könnten wir Erwachsenen doch auch noch so kreativ sein. Untereinander sind sie oft sehr rücksichtsvoll, und wenn es doch einmal Streit gibt, so werden sie - lassen wir sie nur ungestört - für alle Seiten befriedigende Lösungen finden. Würden die Kinder die Welt regieren, es gäbe keine Kriege, keine Ausbeutung, keine Tränen. Wehmut umfängt mich, wenn ich daran denke, dass ich selbst einmal ein so phantastisches Kind war (oder hätte sein können, wenn meine bösen Eltern ...) Jetzt als Erwachsener spüre ich meine Grenzen und meine Angepasstheit, meine Enttäuschungen und meine Langeweile. Kinder sind nicht nur Menschen, sie sind die besseren Menschen. Doch ein kleiner Wermutstropfen muss in den Wein geschüttet werden: Es gibt heute Kinder, die nicht mehr ganz so sind, ja die Zahl der Verhaltensauffälligkeiten nimmt ständig zu. Dies liegt an unserer schlimmen Gesellschaft: Die vielen Autos und die damit verbundenen Straßen nehmen den Kindern den Platz zum Spielen und vor allem werden sie zu laufendem Fernsehen Gucken gezwungen, zumindest verführt. Ein Kind kann unter diesen schlimmen Bedingungen seine wahre Natur nicht mehr zeigen, wir müssen sie ihm wieder erkämpfen. Früher, ja da konnten wir als Kinder noch so richtig spielen, richtige Kinder sein. (Nur bitte schön: Wann war dieses früher?)

Das zweite Kinderbild hat gegenwärtig unter Pädagogen Konjunktur. Man sonnt sich in einer Vergöttlichung des Kindes und glaubt dadurch besonders kinderfreundlich zu sein. Nur es hat einen Haken bei dieser Geschichte: Der Mensch verträgt es nicht, auf den göttlichen Sockel gehoben zu werden, er stürzt allzu schnell. Peter Graf muss dies jetzt stellvertretend für seine Tochter erfahren, solange Steffi noch unsere Nr. 1 ist. Welche Auswirkungen hat dieses scheinbar positive Kinderbild für die Erzieherinnenarbeit. Betrachten wir dazu zwei Szenen.

Ruth kommt frisch von der Fachschule in ihre erste Stelle als Berufspraktikantin. Zwei Jahre lang haben ihr die Lehrer das positive Kinderbild beigebracht; und Ruth hat dies gerne gelernt, denn sie hat den Beruf der Erzieherin ergriffen, weil sie etwas mit Kindern tun wollte. Jetzt steht sie zum ersten Mal alleine im Gruppenraum und soll das Aufräumen der Kinder begleiten - ihre Gruppenleiterin musste mal gerade schnell telephonieren. Erst scheint es auch ganz gut zu laufen, doch dann beobachtet Ruth die ersten Kinder, die sich ihr verweigern. Im freundlichen Gespräch will sie sie ermuntern, doch es hilft nichts. Sie will aus dem Aufräumen ein Spiel machen, doch die Jungen springen sie lieber von hinten an. Das Tohuwabohu wird stärker, da helfen auch die paar lieben Mädchen nicht weiter. Ruth wird wütend. Am liebsten würde sie die Rabauken schütteln und mit körperlicher Gewalt zum Aufräumen zwingen. Ihr Herzschlag wird schneller, die Hände werden feucht. Mit Mühe hält sie ihre Tränen zurück. Der Gedanke schießt ihr durch den Kopf: Also bin ich eine schlechte Erzieherin, für den Beruf nicht geeignet. Janusz Korczak schreibt: „Ein Erzieher, der von der süßen Illusion ausgeht, er werde eine Miniaturwelt reiner, empfindsamer und aufrichtiger kleiner Seelen betreten, deren Gunst und deren Vertrauen so leicht zu erwerben seien, wird bald enttäuscht sein. Und anstatt denen zu grollen, die ihn irregeführt haben, und seine eigene Gutgläubigkeit zu bedauern, wird er sich gegen die Kinder stellen; denn sie haben nicht gehalten, was er von ihnen glaubte. Aber sind sie denn schuld daran, dass man dir den Reiz deiner Arbeit gezeigt, ihre dornenvolle Seiten aber verschwiegen hat?“ [5]

Die zweite Szene sei in aller Kürze angedeutet: Die 47 jährige Margot nimmt an einem einwöchigen Fortbildungskurs über neue Kindergartenkonzepte teil. Alle Kolleginnen ihres Kindergartens haben stillschweigend gemeint, dass ihr das einmal ganz gut täte, um ihre omahaften Züge abzubauen. Die Stimmung in der Fortbildungsgruppe ist gut, man redet viel, und alles klingt sehr einleuchtend. Im Rollenspiel wird erprobt, was theoretisch gelernt wurde. Margot macht es Spaß, das Kind im Stuhlkreis zu spielen. Nur eins weiß sie auch: Dies ist ein Spiel, die Realität sieht anders aus - meine Rückenschmerzen auf den kleinen Kinderstühlen, der unerträgliche Lärm, das Heulen um jede Kleinigkeit, dies Geschrei und diese hinterhältigen Raufereien. Was weiß der junge Fortbildungsschnösel von der Universität schon davon?

Warum erzähle ich dies alles? Gerade weil ich in meiner Kindergartenkonzeption das einzelne Kind in den Mittelpunkt rücke, liegt mir viel an einer „richtigen“ Sichtweise des Kindes. Ich möchte, diesen Punkt abschließend, sie mit vier Thesen umschreiben:

·       Ein Kind ist ein Mensch, und das heißt, es ist so wie wir: widersprüchlich, zwischen dem Guten, das man will, und dem Bösen, das man tut, schwankend, offen und verschlossen, frei und ängstlich, phantasievoll und kleinkariert und vor allem ganz, ganz banal.

·       Ein Kind ist ein Kind, und das heißt, es ist ganz anders als wir: es denkt anders, weil es noch nicht weiß, dass fünf = fünf ist, es fühlt anders, weil es die Scheidelinie zwischen seiner Innen- und der Außenwelt noch nicht so klar hat, und es handelt anders, weil es zwar vieles will, aber nur wenig kann und darf. Diese Andersartigkeit des Kindes ist weder etwas Phantastisches, an das man sich möglichst lange klammern, noch etwas Unnützes, das möglichst schnell vorübergehen sollte. „Jedes Ding hat seine Zeit“ - heißt es in der Bibel, und die Anfangszeilen des bekannten Gedichtes „Stufen“ von Hermann Hesse lauten:

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.“

·       Ein Kind ist auf dem Wege zu sich selbst, und das heißt, es kann sich nicht finden, indem es zurückschaut, in sich selbst hineinhorcht, sondern indem es vorwärts schreitet, Selbst- und Weltentwürfe ausprobiert, zurückweist und festlegt. Friedrich Nietzsche schreibt: „dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.“ [6]

·       Ein Kind ist ein Mensch in der Entwicklung, und das heißt, es ist Gefahren ausgesetzt, die Angst machen können, es bedarf der Hilfe, um ein Fundament zu finden, auf dem es stehen kann. Erst wenn es Sicherheit gewinnt, wird es kraftvoll den nächsten Schritt wagen können. Es soll selbständig und unabhängig von den Erzieher-Erwachsenen werden, aber jetzt bedarf es ihrer noch.

5. Die Frage nach der Erziehung: Heimat und Freiheit

Neben einem bestimmten Verständnis von „Kindheit“ hat in meiner Konzeption kindzentrierter Kindergartenpädagogik der Begriff der „Erziehung“ große Bedeutung. Ich weiß, er klingt ein wenig altmodisch; Ausgeliefertsein und Daumen-Draufhalten werden damit assoziiert. Davon will man sich freimachen, schließlich ist man ja Kinderfreund, und so wirft man diesen Begriff in die Mottenkiste „Schwarzer Pädagogik“. Nicht „Erziehung“ ist angesagt, sondern „Begleitung“. Wenn das Ganze nicht nur ein Streit um des Kaisers Bart ist, sondern wenn mit der neuen Begriffswahl auch eine andere Sache gemeint ist, dann möchte ich gerne die Sache der Erziehung verteidigen.

Meines Erachtens hat nach dem autoritären Gehabe früherer Zeiten, in denen die Selbstentwicklung des Kindes unterdrückt wurde, weil man den Teufel in dem Kind austreiben wollte, die antipädagogische Haltung im Stile Alice Millers für viel Verwirrung in den Köpfen der Erzieher gesorgt. „Begleitung“ hat im Vergleich zur Erziehung etwas unverbindliches: Ich kann einen Freund bei einem schwierigen Gang begleiten, im Ratschläge geben, ihm mein Ohr leihen; ich kann jemanden auf einem Spaziergang begleiten, ein Stück des Weges mit ihm gehen, und wir beide erfreuen uns an der wärmenden Frühlingssonne. Ich kann dies auch alles nicht tun, weil ich keine Zeit habe oder einfach keine Lust, oder weil mein Kopf selbst so voll ist. Begleitung ist inhaltlich und zeitlich eng umrissen und auf die Freiwilligkeit beider Partner eingeschränkt. In der Begleitung übernehme ich nur sehr begrenzt Verantwortung, und sie ist für beide Seiten weniger existentiell. Deshalb macht es meines Erachtens wenig Sinn, eine Ehebeziehung mit dem Wort „Begleitung“ beschreiben zu wollen, weil es der Intensität der Beziehung nicht hinreichenden Ausdruck geben würde, wenngleich es auch in einer Ehe viele Prozesse wechselseitiger Begleitung gibt.

 

Was ist demgegenüber Erziehung? Zunächst einmal möchte ich mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher rein begriffslogisch argumentieren: Es gibt den faktischen Gegenstandsbereich der Beziehung von unmündigen Kindern und mündigen Erwachsenen, und dieser gestaltet sich anders als alle anderen Beziehungsformen. Hier wird aus einer hierarchischen Beziehung, in dem zu Beginn der eine (der Säugling) von dem anderen (der Mutter) total abhängig ist, in einem langjährigen Prozess eine symmetrische Beziehung (der Säugling wird erwachsen werden und Verantwortung für sich, die Seinigen und die Welt übernehmen). Für diesen besonderen Gegenstandsbereich wird der Begriff der „Erziehung“ reserviert, weshalb es auch unsinnig ist, davon zu sprechen, dass Eheleute sich gegenseitig erzögen.

Dabei kann diese besondere Erziehungs-Beziehung substantiell recht unterschiedlich gestaltet werden. Es gibt die schon erwähnte autoritäre Variante. Wenn jetzt mehr Zeit wäre, ließe sich nachweisen, dass gut pädagogisch zu denken, das Gegenteil von autoritärer Unterdrückung bedeutet. Erziehung ist nicht Verknechtung des Kindes, sondern seine Befreiung, nicht Festlegung auf ein Erwachsenenbild, sondern Perspektiveneröffnung. Die Zeit zur ausführlichen Darstellung ist hier nicht, also begnüge ich mich mit einem Zitat. Herman Nohl bringt den in der Reformpädagogik entwickelten Erziehungsbegriff auf den Punkt, wenn er formuliert: „Die Grundlage der Erziehung ist ... das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und seiner Form komme.“ [7]

In meinem Entwurf kindzentrierter Kindergartenpädagogik spreche ich deshalb davon: „Erziehung ist eine dienende Tätigkeit des Erwachsenen für das Kind, eine Hilfestellung für Kinder, ein etwas und sich selbst zur Verfügung Stellen des Erwachsenen ... In diesem Sinne ist Erziehung kein wechselseitiger, sondern ein einseitiger Prozess, dessen Kern in dem Verfügbarmachen des Körpers, der Gedanken, der Liebe des Erwachsenen für das Kind und nach Maßgabe der kindlichen Entwicklungsbedürfnisse besteht, ohne dass der Erwachsene eine Verfügung über den kindlichen Körper, seinen Geist und seine Liebe“ [8] bekäme.

Ich möchte diesen Gedanken gerne noch für die Erziehungsarbeit der Erzieherinnen konkret machen. Ihr Aufgabenfeld kann in dieser Hinsicht zwischen zwei gleichzeitig wichtigen Polen beschrieben werden:

·       Heimat geben und

·       zur Freiheit herausfordern.

Heimat geben gilt zunächst einmal äußerlich: Das Kind soll sich im Kindergarten wohlfühlen, es soll ihn als seinen Raum ansehen, in dem es Dinge tun kann, die ihm wichtig sind, es soll hier Menschen treffen, auf die es sich freut, es soll vertraut werden mit der Welt des Kindergartens, sie soll Teil seines selbstverständlichen Alltags werden, weil es sich im Kindergarten zugehörig fühlt. Heimat geben aber auch in der unmittelbaren Beziehung der Erzieherin zu dem Kind. Das Kind weiß, wenn ich mit mir selbst oder mit anderen nicht klarkomme, dann kann ich zu der Erzieherin flüchten, mich an ihr festklammern, meinen Kopf in ihren Schoß legen, auf ihren Arm klettern. Da wird nicht groß geredet, nicht mein Konflikt aufgearbeitet, sondern ich habe einen sicheren Hafen des Rückzugs. Hier kann ich mich selbstverständlich geborgen fühlen.

Der andere Pol der Erziehung: zur Freiheit herausfordern. Martin steht am Rande des Schwimmbeckens. Seine Erzieherin ist im Wasser. Er soll zu ihr hinunter springen. Martin geht lieber einen Schritt zurück, dann wieder einen vor. Er breitet die Arme aus, doch dann überwiegt die Angst. Er kauert sich am Beckenrand nieder. Die Erzieherin hat ihren Blick fest auf Martin gerichtet. Die anderen Kinder interessieren sie jetzt nicht. Deutlich fordert sie ihn auf, wieder aufzustehen und zu ihr ins Wasser zu springen. Martin stellt sich wieder an den Beckenrand. Die Erzieherin ruft laut: „Auf die Plätze, fertig, los!“ Martin nimmt allen Mut zusammen. Er springt, kurz taucht er unter, dann hält die Erzieherin ihn im Arm. Er hat ein wenig Wasser geschluckt, Augen und Nase sind noch nicht ganz frei - das ist unangenehm. Aber Martin ist glücklich: Ich habe mich getraut, ich bin gesprungen. Sofort will er diese Mutprobe wiederholen. Selbständig Werden besteht aus vielen solch kleiner Mutproben, und sie werden auch deshalb bestanden, weil da die Erzieherin ist, die Anforderungen für den nächsten Schritt stellt, den dieses Kind tatsächlich wagen kann, und die absolute Sicherheit gibt, weil jedes Kind dieser Krücke bedarf.

6. Die Frage nach der Pädagogik des Kindergartens: Spiel und Annäherung

Meine Vortragszeit ist bald um, und ich habe den letzten Punkt noch nicht berührt - die Frage nach der Gestaltung des pädagogischen Programms im Kindergarten. Deshalb in gebotener Kürze. Die Entwicklung des Kindes kann als Prozess zweier gegengerichteter Bewegungen verstanden werden:

·       Die große Welt soll in den kleinen Kopf des Kindes (und in seine Beine, Hände und sein Herz) hineingelangen, damit es die Welt versteht, in ihr handeln und Verantwortung für sie übernehmen kann. Und:

·       die Gedanken des Kinderkopfes, das Fühlen seines Herzens und die Fähigkeit seiner Hände sollen sich von Innen nach Außen wenden, damit sie Gestalt annehmen können.

Ich habe es oben schon einmal zitiert: „Alles hat seine Zeit“, sagt die Bibel. Die Zeit des Kindergartens ist vor allem die, Innerliches äußerlich zu machen. Friedrich Fröbel schreibt: „das Innere des Menschen ... strebt, sich äußerlich kund zu tun, zu verkünden; er, der Mensch, strebt mit eigener selbsttätiger Kraft sein Inneres äußerlich am Festen und durch Festes außer sich darzustellen und zu gestalten“ [9] . Diese Bewegung des Inneren zum Äußeren drückt sich vornehmlich im freien Spiel der Kinder aus. Fröbel nennt sie „die Herzblätter des gesamten künftigen Lebens“. [10]

Nimmt man diesen Gedanken ernst, dann relativiert sich die Bedeutung der Planung und Durchführung von Projekten - wie im situationsorientierten Ansatz - und der Angebote in der offenen Kindergartenarbeit. Kernpunkt der Pädagogik des Kindergartens ist die Arbeit der Erzieherin, den Kindergarten so zu gestalten, dass alle Kinder zu ihrem freibestimmten Spiel finden. Dies erfordert:

·       die richtige Strukturierung des Tagesablaufes, die die laufende Unterbrechung der kindlichen Aktivität vermeidet;

·       die großzügige Gestaltung der Räume, die grobmotorisch laute Aktivitäten ebenso erlaubt wie das brave Spiel der kleinen Kindergruppe und die unbeobachtbare Isolierung eines einzelnen Kindes;

·       die bunte Auswahl des Materials, die Kinder nicht mit Spielekram abspeist, sondern ihnen handgreifliche Dinge zum Ausdruck ihrer emotionalen Spannungen, Wünsche und Sehnsüchte bietet;

·       die reflektierte Beteiligung der Erzieherin im Spiel, die sich als Erfüllungsgehilfin der Spielideen der Kinder versteht, eigene Impulse aber nur in Ausnahmefällen einbringt.

Janusz Korczak schreibt, und ich möchte mit diesem Zitat wenigstens eine praktische Anregung geben: „Vielleicht ist es nicht angebracht, das Zimmer eines kleinen Kindes mit Linoleum auszulegen; vielleicht sollte man lieber eine Fuhre gesunden gelben Sandes darin verteilen und ein Sortiment von Holzstäben und eine Schubkarre Steine hinzugeben? Vielleicht wären Bretter, Dachpappe, ein Pfund Nägel, Säge, Hammer und eine Hobelbank willkommenere Geschenke als ‘Spielzeug’ ... Dann müßte man aber aus dem Kinderzimmer die Ruhe und die sterile Sauberkeit eines Krankenhauses sowie die Furcht vor zerschundenen Fingern vertreiben.“ [11]

Dies erscheint mir als die erste der beiden zentralen Aufgaben der Pädagogik des Kindergartens: einen Rahmen anzubieten, damit jedes Kind in ihm eine Bühne findet, auf der es frei und sich frei spielen kann. Die andere besteht in der pädagogischen Annäherung der Erzieherin an das einzelne Kind. Für 25 Kinder in der Kindergruppe gilt es nach 25 individuellen Wegen des Beziehungsausdrucks zu suchen, um jedem Kind das anzubieten, was dieses einzelne Kind für seinen Entwicklungsgang benötigt. Für das erste wird dies engagierte Unterstützung bedeuten, für das zweite liebevolle Umarmung, für das dritte distanziertes Beobachten, für das vierte kraftvolles Schranken Setzen, für das fünfte sich als Punchingball zur Verfügung Stellen. Dabei spreche ich nicht von einem „Verstehen“ der Kinder, weil ich davon ausgehe, dass man ein Kind nicht verstehen kann. Die teilweise beliebten Fallbesprechungen, die Runden, in denen Erwachsene zusammensitzen, um ein Kind „durchzusprechen“, sind mir ein Greul, weil hier etwas festgeschrieben wird, was nicht festzuschreiben ist, sondern wo es gilt, eine Perspektive zu eröffnen. Ich kann mir über mein Bild von dem Kind Gedanken machen, doch ich muss mir bewusst sein, dass es mein Bild von diesem Kind ist und nicht dieses Kind selbst. Ich kann versuchen, meinen Beziehungsanteil zu diesem Kind zu verändern, tolerant zu einem Kind zu werden, das auf meinen Nerven herumtrampelt beispielsweise, aber ich kann nicht das Kind anders „machen“, nicht diesen Störenfried in ein Lamm verwandeln. „Birke bleibt Birke, Eiche bleibt Eiche, Ackerrettich bleibt Ackerrettich“ [12] schreibt Janusz Korczak. Und an anderer Stelle heißt es: „Ein Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen, die du nur zum Teil zu entziffern vermagst; manche aber kannst du auslöschen oder nur durchstreichen und mit eigenem Inhalt erfüllen.“ [13]

Der Kindergarten ist eine Veranstaltung für die Kinder, ein Beitrag zu ihrer Selbstwerdung, nicht Darstellungsbühne erzieherischer Professionalität. Jedes Kind hat das Recht, von seiner Erzieherin pädagogisch, d.h. nicht erdrückend geliebt zu werden. Für viele Kinder ist  dies ein notwendiger Schritt der Abnabelung von ihren Eltern, für andere ein existentieller Nachholbedarf, um zu erfahren, dass man Bedeutung hat.



[1] Friedrich Fröbel, Ausgewählte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Erika Hoffmann, Düsseldorf 19642, S. 118

[2] Okko Herlyn, Niederrheinische Gottheit mit zwei Buchstaben, Duisburg 1995, S. 68

[3] Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung, Paderborn 19878, S. 9

[4] in: Sigurd Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi - Leben und Schriften, Freiburg 1996, S. 118

[5] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 213

[6] Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke - kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1988, S. 340f

[7] Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt 19788, S.134

[8] Sigurd Hebenstreit, Kindzentrierte Kindergartenarbeit - Grundlagen und Perspektiven in Konzeption und Planung, Freiburg 19953, S. 78

[9] Friedrich Fröbel, Die Menschenerziehung, Düsseldorf 19683, § 28

[10] Friedrich Fröbel, Die Menschenerziehung, Düsseldorf 19683, § 30

[11] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 90f

[12] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 214

[13] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 5


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