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Sigurd
Hebenstreit
Erzieherinnenzentrierte
Kindergartenarbeit
Unter
dem Titel „Was brauchen Erzieherinnen
– Ein anderer Blick auf die Kindergartenarbeit“
in: Kindergarten heute, 1997, Heft 5,
S. 16 bis 21
Marion
geht es nicht schlecht. Im Gegenteil:
der beginnende Frühling gibt ihr sichtlich
Aufschwung - die ersten Arbeiten im
Garten, die sie als Ausgleich zu ihrem
Beruf so schätzt, einige wärmere Tage,
die ein Versprechen auf den Sommer sind.
Privat stimmt vieles in ihrem Leben:
die Beziehung zu dem Ehemann ist befriedigend,
die eigenen Kinder, obwohl altersmäßig
jetzt in der Epoche, die „Pubertät“
genannt wird, machen Freude, der Kontakt
zu den Freundinnen ist ausgeglichen
und außerordentlich spaßvoll. Auch beruflich
kann Marion sich nicht beschweren: die
25 Kinder, die sie zu betreuen hat,
haben sich zu einer munteren Gruppe
entwickelt, zwischen den Kolleginnen
gibt es nur wenig nervigen Streit, und
die Kontakte zu den Eltern und dem Träger
sind zwar gering, weisen aber auch nur
wenige Konfliktpunkte auf.
Marion
fühlt sich im Gleichgewicht mit ihrem
persönlichen und beruflichen Umfeld
und vor allem auch mit sich selbst.
Eigentlich ist es nur ein störender
Gedanke, der sie in der letzten Zeit
nicht loslässt, über den sie nachgrübelt,
und der sie manchmal so empfindlich
macht, dass sie trotz positiver Grundstimmung
unsicher und ungehalten werden kann.
Am plastischsten lässt sich dieser kritische
Punkt mit der Frage ausdrücken: Dürfen
Kinder alles, während wir Erzieherinnen
immer die Sündenböcke sind? Die Wörter
dieser Frage dürfen nicht als Ausdruck
eines rational zu umreißenden Problems
verstanden werden, denn dann wäre alles
ganz einfach, ist Marion doch eine geübte
Rednerin, die in jeder öffentlichen
Diskussion gut ihr Wort machen kann.
Aber es ist komplizierter: Hinter der
Frage steckt mehr ein diffuses Gefühl,
ein Gefühl der Hilflosigkeit und der
Ohnmacht.
Marions
Stimmung macht sich an einer ganzen
Reihe von kleinen, oft unbedeutenden
Einzelsituationen fest, und jede neue
Begebenheit, die in die gleiche Kerbe
haut, ist eine Bestätigung für die Dringlichkeit
der Frage. Erwähnen wir hier nur zwei
Beispiele: An einem Nachmittag der letzten
Woche kam ein kleines Besucherkind auf
Marion zu und kniff sie heftig in den
Arm. Das war nicht die Aggression eines
unsicheren Kindes, das nicht weiß, wie
es Kontakt aufbauen kann; vielmehr schien
es Marion so, als ob ein breites Grinsen
das Gesicht des Dreijährigen zierte,
der sein Kneifen auch dann noch ohne
Bedenken wiederholte, als Marion mit
guten Worten auf ihn einzureden versuchte.
Ja, als sie ihm erklärte, er würde ihr
wehtun, schien es ihr, als ob die Breite
seines Grinsens eher zunähme. Und dann
die Geschichte mit Jasmine, die bei
den gelegentlichen Ausflügen immer wieder
auf die Straße laufen will, so dass
Marion heftige Angst
bekommt. Auch hier haben die
guten Worte von Marion keinen Erfolg,
und als sie letztens Jasmine mit Gewalt
zurückhielt, die unbedacht sich wieder
in Gefahr zu bringen drohte, stürzte
diese dabei zu Boden, so dass die Strumpfhose
ein Loch aufwies und das Knie ein wenig
Blut verlor. Hinterher schimpfe die
Mutter nicht mit ihrem Kind, sondern
mit der Erzieherin, der sie geradezu
körperliche Misshandlung vorwarf.
Dürfen
die Kinder alles, und sind die Erzieherinnen
nur noch Erfüllungsgehilfen ihrer ständig
zunehmenden Bedürfnisse? Was sollen
wir tun, wenn alle Strafen verpönt sind
und viele Kinder sich durch gute Worte
nicht mehr erreichen lassen? Solche
Fragen beschäftigen Marion seit einiger
Zeit, und die diesbezüglichen Gedanken
verdichten sich in ihrem Kopf, als sie
mit dem Auto zu einer mehrtägigen Fortbildungsveranstaltung
fährt. „Kindzentrierte Kindergartenpädagogik“
ist ausgerechnet das Thema, als wenn
die Kinder nicht ohnehin schon
die Könige und die Erzieherinnen
die Diener wären. Nur wer sorgt sich
um die Erzieherinnen, die um so weniger
Beachtung erfahren, je mehr das Kind
im Mittelpunkt steht.
Von
der Fortbildung, die Marion besucht,
muss hier nicht die Rede sein. Sie läuft
ab, wie eine Veranstaltung mit diesem
Titel nur ablaufen kann. Einen Traum
aber, den Marion in der ersten Nacht
der Fortbildungswoche hat, wollen wir.
erwähnen Die Traumfortbildnerin, fatalerweise
trägt sie die Gesichtszüge von Marions
Mutter in früheren Tagen, erhebt sich
und hält eine Ansprache an die Gruppe.
Das ganze Gerede um kindzentrierte,
offene Kindergartenarbeit sei Unsinn,
denn im Mittelpunkt aller Bemühungen
müsse die Erzieherin selbst stehen.
Nur wenn es ihr gut gehe, können sie
für die Kinder sorgen. Es sei geradezu
ein Gesetz: je besser es der Erzieherin
gehe, desto besser ginge es auch den
Kindern. Also: jede Erzieherin muss
zuerst für sich sorgen, damit sie die
beste Kindergartenarbeit machen könne.
Die Gruppe der Erzieherinnen begleitet
den Vortrag mit lauten Beifallsstürmen,
und sie tragen die Fortbildungsreferentin
auf einer Sänfte durch den Raum. Je
mehr sich Marion in das Traumgesicht
vertieft, desto mehr verschwinden in
ihm die Gesichtszüge der Mutter und
desto stärker wird sie es selbst, die
in der Sänfte getragen wird, und in
den Gesichtern der Träger erkennt sie
einige Kindergartenkinder, den Pastor,
Eltern, auch ihren eigenen Mann.
Der
Traum verwirrt Marion, vor allem weil
er so realistische Züge angenommen hat.
Mochte die echte Fortbildungsgruppe
für den Rest der Tagung über „kindzentrierte
Kindergartenpädagogik“ reden, für Marion
stellte sich ein anderes Thema: „Erzieherinnen-zentrierte
Kindergartenpädagogik“ schreibt sie
in Gedanken als Überschrift auf ein
großes Blatt Papier. Sie sammelte ihre
ersten Assoziationen zu dem Thema: Umgestaltung
des Mitarbeiterraumes in ein Zimmer,
in dem man sich als Erwachsener wohlfühlen
kann; kinderfreie Zonen (Küche, Büro
und auch ein Stück des Gartens); Sitzmöbel
in den Gruppenräumen, die den ergonomischen
Bedürfnissen der Erwachsenen angepasst
sind; lärmdämmende Maßnahmen, die den
Geräuschpegel auf Zimmerlautstärke senken;
weniger Arbeitszeit bei besserer Entlohnung;
Eltern die begierig die Ratschläge der
Erzieherinnen aufnehmen; mehr Vorbereitungszeit
und weniger unmittelbare Arbeit mit
den Kinder; überhaupt „pflegeleichte“
Kinder, die freundlich mit der Erzieherin
umgehen, auf ihr Wort Acht geben, dankbar
für ihre Zuwendung sind und ansonsten
friedlich miteinander spielen.
Während
die reale Fortbildungsgruppe sich in
immer neue „Rechte des Kindes“ versteigt,
und die beteiligten Kolleginnen mit
Beifall in die Reduzierung ihres eigenen
Waffenarsenals einstimmen, denkt Marion
über ihre Forderungsliste „Erzieherinnen-zentrierte
Kindergartenarbeit“ nach. Sie gefällt
ihr, und vor allem der Kontrast zwischen
ihrer Stillarbeit und den Wortbeiträgen
der anderen lässt sie lächeln. Dieses
Lächeln ist das Einzige, was von ihr
nach außen dringt, denn sie hält es
für nicht opportun, ihre Gedanken in
die Fortbildung einzubringen. Die anderen
würden sie zerreißen, gilt hier doch
die dick aufgetragene Moral: Es muss
wachsen, ich aber muss abnehmen. Die
Erzieherinnen-zentrierte Kindergartenarbeit
findet Marions Beifall - vor allem die
Ohr- und Rückenschonung und das gemütliche
Sofa im Mitarbeiterraum. Nur ein kleines
Problem gibt es: Die meisten ihrer Ideen
scheinen darauf hinauszulaufen, „sich
die Kinder vom Leib zu halten“. Marion
ist aber nicht Erzieherin geworden,
um sich „die Kinder vom Leib zu halten“;
im Gegenteil, sie ist begeistert und
fasziniert über den lebendigen Austausch
mit den Kindern, nur dass nach den vielen
Jahren manche nicht mehr so niedlich
erscheinen. Sorgt eine Erzieherin dann
am besten für sich selbst, wenn sie
die Arbeitsbelastung möglichst weitgehend
reduziert?
Marion
verfolgt den Faden ihrer eigenen Überlegungen
in der Fortbildungswoche still für sich
alleine weiter. Es kommt ihr entgegen,
dass das offizielle Programm an dieser
Stelle eine Phantasiereise vorsieht:
von meditativer Musik untermalt und
geleitet durch die Stimme der Fortbildungsreferentin
versetzen sich die Teilnehmerinnen in
die eigene Vergangenheit. Es geht immer
weiter zurück, bis schließlich das eigene
Kinderleben vor Augen steht. So weit
soll es bei Marion nicht gehen, auch
hier koppelt sie sich ab, indem sie
den Anweisungen der Referentin nicht
dem Wortlaut nach folgt. Doch von deren
Stimmklang geht eine beruhigende Wirkung
aus, so dass für Marion die Situation
günstig ist, ihre Berufsjahre Revue
passieren zu lassen. Sie sieht sich
als junge Vorpraktikantin, die damals
mit Simone viel Zeit verbrachte, um
sich mit dem Mädchen zu beschäftigen,
das Angst vor den anderen Kindern hatte
und sich zunehmend zurückzog. Wie viele
geradezu philosophische Gespräche hatte
sie mit Simone geführt? Sie sieht sich
als Berufspraktikantin, die mit ihrem
jugendlichen Elan auch die wilde Jungenbande
zu begeistern wusste, die mit ihnen
tobte, einen Boxring für sie im Gruppenraum
arrangierte. Wurde sie damals nicht
selbst von den größten Rabauken verehrt
und geliebt? Sie sieht sich als Gruppenleiterin
in ihrer ersten Gruppe. Die Namen der
Kinder fallen ihr heute nicht mehr ein,
aber die Gesichter, die Augen, die typischen
Bewegungen, die Stimmen, die Macken
und die Liebenswürdigkeiten die bekommt
Marion heute noch nach den vielen Jahren
fast alle zusammen. Was aus den Kindern
jetzt als Heranwachsende geworden ist?
Die Jahre des Berufseinstiegs haben
Marion viel gegeben: die Buntheit der
Kinderwelt, Kinder, die so waren, wie
sie sich selbst als kleines Kind gefühlt
hatte, Kinder, die ganz anders waren.
Marion war damals begeistert von den
Kindern, zu denen sie leicht einen lebendigen
Kontakt bekam. Ihr eigener Kinderwunsch,
der sich bald darauf realisierte, war
nicht unwesentlich von ihren ersten
beruflichen Kontakten zu Kindern unterstützt
worden.
Die
Zeit der Phantasiereise ist leider schon
vorüber. Zu gerne würde Marion sich
selbst in ihrer Beziehungsentwicklung
zu den Kindern weiterverfolgen. Zum
Glück bietet sich dazu alsbald Gelegenheit,
weil Einzelarbeit jetzt auf dem Plan
des offiziellen Fortbildungsprogramms
steht. Marion sucht sich eine ungestörte
Ecke im Garten des Tagungsgeländes.
Die Sonne scheint ihr ins Gesicht, und
Vogelgesang dringt von fern an ihr Ohr.
In dieser friedlichen Stimmung lässt
sich der Faden der Erinnerungen wieder
aufnehmen. Marion sieht sich als Erzieherin
mit festem Stand, die nach der Babypause
wieder in das Geschäft einstieg. Namen
vieler Kinder fallen ihr ein, aber die
Bilder der einzelnen kleinen Gesichter
erscheinen weniger vor ihrem Auge. Auch
muss sie weniger innerlich schmunzeln,
wenn sie an Kai, Matthias, Sandra und
Kirsten denkt, die ihr heute wie etwas
schwächere Kopien des aufbrausenden
Frank, der verspielten Nicole, des drolligen
Stefan und der niedlichen Suse vorkommen.
„The first cut is the deepest“ - dies
gilt nicht nur für die Mutter-Kind-Beziehung,
die erste Liebe oder das erste eigene
Kind, sondern es gestaltet sich in jeder
Lebensphase neu.
Marions
Erinnerungen an ihre berufliche Karriere
mögen negativ erscheinen, doch dieser
Eindruck wäre ganz falsch. „Stolz“ ist
vielmehr das richtige Wort: Stolz auf
die zunehmende Entwicklung beruflicher
Kompetenzen. Zu diesem Stolz hat Marion
allen Grund. Sie hat damals ein Händchen
entwickelt, wie mit einzelnen Kindern
und wie mit der großen Gruppe umzugehen
sei. Die Kinder gingen mit Freude zu
Marion in den Kindergarten, und die
Eltern vertrauten ihr die Kinder gerne
an. Sie war beliebt und geschickt. Selbst
Kinder, die als sehr verhaltensauffällig
galten, normalisierten sich unter ihrem
Einfluss, wozu Marions Weiterbildung
in der nondirektiven Pädagogik beitrug.
Schließlich traute sie es sich sogar
zu, behinderte Kinder in ihre Gruppe
aufzunehmen, und ihr Meisterstück lieferte
sie ab, als sie Gerd, einen schwer-
und mehrfach behinderten Jungen erfolgreich
in ihrer Gruppe betreute. Marion verlässt
mit Zufriedenheit ihre ungestörte Ecke
im sonnenbeschienen Garten des Fortbildungsgeländes:
damals hat sie sich die berufliche Fähigkeiten
angeeignet, die ihr auch heute noch
eine sichere Kindergartenarbeit ermöglichen.
Marion
bewegt sich langsam zu der Gruppe der
Erzieherinnen. Man kann nicht sagen,
dass sie sich auf die jetzt folgenden
zwei Stunden freut. Bisher hat sie sich
nicht gerade eifrig an dem Gruppengespräch
beteiligt, und es ist nicht zu erwarten,
dass sie in der nun folgenden Auswertungsrunde
die aktive Rednerin wird. Aber sie geht
auch nicht niedergeschlagen, denn die
letzte Stunde der Alleinarbeit hat ihr
noch einmal bestätigt, dass sie sich
zu Recht als gute Erzieherin fühlen
darf. Der Lärmpegel in der Gruppe ist
hoch, weil viele Kolleginnen nach der
langen Zeit des Schweigens einen starken
Drang zu haben scheinen, ihre eigene
Stimme laut zu hören. Die Fortbildungsreferentin
versucht zu strukturieren, und es beginnt
eine lange Berichtphase, in der jede
erzählt, wie sie sich durch die Phantasiereise
in die eigene Kindheit zurückversetzt
habe, und wie sie in der Alleinarbeit
erkannt hätte, dass sie in Zukunft noch
sensibler auf die Bedürfnisse des einzelnen
Kindes achten müsste. Viele wälzen ihren
Bericht unendlich aus. Marion ist es
langweilig. Den Wörtern, die aus den
Mündern der Kolleginnen kommen, gewinnt
sie keinen Sinn ab, sie hört schließlich
nicht mehr hin, nur der Geräuschpegel
stört sie.
In
dieser nicht so wohligen Atmosphäre
versucht Marion, ihren eigenen Gedankenfaden
fortzuspinnen. Nachdem sie in die Vergangenheit
geschaut hat, muss sie jetzt noch die
Gegenwart betrachten: Was bedeuten ihr
die Beziehungen zu den Kindern im Kindergarten
jetzt? Marions Blick schwankt zwischen
zwei Polen hin und her: Auf der einen
Seite sieht sie die größer werdende
Zahl der schwierigen Kinder, die immer
mehr Ansprüche stellen und dabei immer
unzufriedener werden. Die Bemerkung
einer gestressten Mutter fällt ihr ein,
die von sich sagte, sie habe das Gefühl,
der gestillt werdende Säugling sauge
sie aus. Dieses Gefühl hat Marion manchmal
auch: ein Teil der Kinder saugt sie
auf, bis nichts mehr von ihr selbst
übrigbleibt. Immer mehr muss sie geben,
und immer weniger erhält sie von ihnen
zurück. Auf der anderen Seite sieht
sie die „lieben“ Kinder, die freundlich
auf sie zugehen, die im Alltagsgeschäft
gut funktionieren. Gerne ist sie mit
ihnen zusammen, weil sich unkompliziert
alles leicht von selbst ergibt. Aber
was bekommt sie von ihnen zurück? Sie
sind schwache Abbilder früherer Erfahrungen:
ihre Niedlichkeit ist nicht mehr ganz
so niedlich, ihre Freude nicht mehr
ganz so freudig, ihre Traurigkeit nicht
mehr ganz so traurig. Dieser Teil der
Kinder ist lieb, gerade auch lieb zu
Marion, aber sie gehen ihr nicht mehr
so ans Herz wie die Kinder früher.
Marions
Gedanken sind gerade an einem Punkt
angekommen, der nicht gerade freudige
Verheißung verspricht. Da spürt sie,
wie die Blicke der anderen Seminarteilnehmer
sich auf sie richten. Sie ist an der
Reihe, ihr Arbeitsergebnis der Gruppe
zu präsentieren. Sie ist erschrocken:
So vertieft war sie in die eigenen Gedanken,
dass sie ganz vergessen hat, ihr sonst
übliches Verfahren bei den so unbeliebten
Gesprächsrunden anzuwenden - spätestens
bei der dritten Vorrednerin sich einen
Satz zurechtzulegen, der klug und originell
wirkt, in Wirklichkeit aber die momentanen
Gedanken versteckt. Jetzt muss sie ohne
Vorüberlegung reden, wenigstens ein
Satz sollte doch über ihre Lippen kommen.
Leicht könnte sie sagen, dass sie jetzt
nichts sagen wolle - denn das war von
der Seminarleiterin vorher so abgemacht
worden. Doch in ihrer Aufregung fällt
ihr nicht einmal dies ein. Nur stotternd
bringt sie heraus: „Es ist schwer, --
dass einem -- alle Kinder -- ans Herz
-- wachsen ...“
Ungläubig
schaut die Kolleginnenrunde sie an.
Von fröhlichen, phantasievollen, lebendigen
Kindern war bisher die Rede, an deren
Entwicklung man sich als Erzieherin
nur aktiv freuen könne, auch von schüchternen
und ängstlichen, in deren Probleme man
sich sensibel auch durch Rückbezug auf
die eigene Kindheit hineinversetzen
müsse, schließlich von den schwierigen
und aggressiven, die durch das Fernsehen
und den pädagogisch falschen Umgang
ihrer Eltern verdorben seien. Doch gerade
letztere stellten eine positive Herausforderung
für jede Erzieherin dar. Marions Satz
von „dem eigenen Herzen“ macht keinen
Sinn. Schnell geht die Gruppe darüber
hinweg, sie war ja in der ganzen Fortbildungswoche
so wie so keine aktive Teilnehmerin.
Jetzt
noch das Essen, Taschepacken und die
Schlussreflexion. Beim Mittagstisch
sitzt Marion zufällig neben der Fortbildungsreferentin.
Eigentlich macht diese keinen unsympathischen
Eindruck, und sie kann ja auch nichts
dafür, dass Marion nicht wie gewohnt
rege an der Veranstaltung beteiligt
war. Ein wenig Small Talk wird betrieben:
die schöne Sonne, die Pläne für den
Sommerurlaub. Als der Tisch sich langsam
leert, spricht die Seminarleiterin Marion
direkt an, und ohne dass diese ausführlich
erzählt, versteht jene ein wenig von
Marions Problem. Auch sie ergeht sich
nicht in langen Wortergüssen, sondern
äußert nur scheinbar nebenbei in einem
knappen Vergleich, dass ein Schreiner
nur dann ein guter Schreiner sei, wenn
er sein Holz liebe. Auch bei ihm würde
sich im Verlaufe der Berufsjahre die
Einstellung zu dem Material ändern,
und wenn die Beziehung zwischen Schreiner
und Holz sich nicht mehr automatisch
ergäbe, dann müsse er die richtigen
Fragen an sich selbst und nicht an das
Holz stellen.
Zuerst
versucht Marion den Gedanken der Fortbildungsreferentin
abzuwehren: sie bearbeite kein totes
Material, aus dem sie beliebig etwas
formen könne, sondern sei mit lebendigen
Kindern zusammen, die ihren eigenen
Kopf hätten. Doch als Marion in ihrem
Zimmer die Tasche packt, merkt sie,
dass ihr Einwand nicht den Nagel auf
den Kopf trifft. In dem Vergleich geht
es nicht um die Provokation der großen
pädagogischen Moral, die die Erzieherinnenarbeit
als so einmalig darstellt, dass man
ihr nur mit den hehrsten Absichten nachkommen
könne. Sondern das Entscheidende in
der Bemerkung der Fortbildungsreferentin
war: man (sie) müsse die richten Fragen
an sich selbst stellen.
Was
ist die richtige Frage für Marion? In
Sekundenschnelle schießt es ihr jetzt
durch den Kopf: In meinen Selbstgedanken
während der Fortbildungswoche habe ich
die Vergangenheit glorifiziert und meine
jetzige Situation bejammert. Doch was
hilft mir das Glorifizieren, wenn es
nicht nur eine Bestätigung ist, dass
die Vergangenheit schön war, sondern
wenn ich mir damit selbst nur ein Bein
stelle, meine Beziehung zu den jetzigen
Kindern zu klären, die noch nicht einmal
geboren waren, als die ersten Kinder
mich prägten? Und was hilft das Selbstbejammern
über die Kinder, die nicht mehr so sind,
wie sie sein sollten? Die richtigen
Fragen, das ist Marion jetzt schlagartig
klar, sind nicht: Warum die Kinder so
sind, wie sie sind. Sondern die erste
richtige Frage ist: Welche Wichtigkeit
haben die Kinder, die jetzt in meiner
Kindergartengruppe sind, für mich, für
mein eigenes Leben? Und die zweite wichtige
Frage: Wie bringe ich mich in die Situation,
dass die faktischen Kinder für mich
Bedeutung haben? Gerade die zweite Frage
gefällt Marion. Sie bringt zum Ausdruck,
was ihren Kopf in der letzten Woche
bewegt hat, und sie kann eine Perspektive
aufzeigen für die nächsten Schritte,
die sie gehen wird. Mit dieser Frage
geht Marion in die Schlussreflexion,
und obwohl es am Ende der Tagung alle
Teilnehmerinnen nach Hause drängt, entwickelt
sich beinahe noch eine lebhafte Diskussion.
Marion
hat keine Antwort auf ihre Frage, aber
das stört sie auch gar nicht. Sie will
kein Patentrezept, bei dem sie nur noch
nachkochen muss, was andere aufgeschrieben
haben. Was sie gesucht hat, ist ein
neuer Anfangspunkt für das gemeinsame
Leben mit den Kindern, und diesen hat
sie mit ihren Fragen gefunden. Jetzt
sitzt sie im Auto und fährt Familie,
Haus und Wochenende entgegen. Darauf
freut sie sich. Noch glücklicher ist
sie aber darüber, dass sie sich auf
den Montag in ihrem Kindergarten freut.
Nichts Spektakuläres hat sie vor, keine
neue Handlungstechnik will sie ausprobieren,
kein aufsehenerregendes Animationsprogramm
anbieten, keinen Psychotrick anwenden.
Sondern Marion stellt sich vor, wie
sie am Montag Morgen auf dem Sofa sitzt,
die Kinder zu ihr kommen, sie mit ihnen
plaudert: sich von ihnen führen lässt.
Diese Vorstellung verdichtet sich, und
sie bemerkt jetzt in die Gesichter der
Kinder: sie sieht Nicoles fröhliche
Augen und Anjas heruntergezogene Mundwinkel,
Sebastians aufbrausende Fäuste und Toms
charmantes Lächeln, sie betrachtet den
treuen Blick von Maria und die schönen
Haare von Mustafa. Selbst Stefan, mit
dem sie so viele Probleme hat, und der
ihr bisher immer so dumpf dreinzuschauen
schien, gewinnt in ihrer Vorstellung
plötzlich an rabaukenhaftem Leben, das
ihn liebenswert macht. 25 unterschiedliche
Gesichter, Stimmen, Gerüche von Menschen
mit denen Marion ausprobieren will,
was sie ihr zu sagen haben.
Und
auch auf ihre Kolleginnen freut sie
sich. Hatte sie während der Fortbildungswoche
immer die Angst, mit leeren Händen in
den Kindergarten zurückzukommen, weil
es in der Mitarbeiterrunde nichts zu
berichten gäbe, so ist sie jetzt gespannt
darauf, wie die anderen auf ihre mitgebrachte
Frage reagieren. Empfindet Silke, die
junge Praktikantin, wie Marion damals
empfunden hatte, als die ersten professionellen
Begegnungen mit den Kindern ihren eigenen
Kinderwunsch verstärkten? Geht es Heike,
die als neue Gruppenleiterin gerade
frischen Wind in die Einrichtung bringt,
wie ihr, als sie vor Jahren ihre berufliche
Handlungskompetenz mit Erfolg erwarb?
Und was wird Jutta sagen, die älteste
Kollegin des Teams, von der Marion des
öfteren den Einruck hat, der Beruf würde
ihr zu viel und sie reichte lieber die
Rente ein? Wird auch sie sich von dem
neuen Schwung, den Marion in sich spürt,
mitreißen lassen?
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