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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1997 - 1

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Sigurd Hebenstreit

Erzieherinnenzentrierte Kindergartenarbeit

Unter dem Titel „Was brauchen Erzieherinnen – Ein anderer Blick auf die Kindergartenarbeit“ in: Kindergarten heute, 1997, Heft 5, S. 16 bis 21

Marion geht es nicht schlecht. Im Gegenteil: der beginnende Frühling gibt ihr sichtlich Aufschwung - die ersten Arbeiten im Garten, die sie als Ausgleich zu ihrem Beruf so schätzt, einige wärmere Tage, die ein Versprechen auf den Sommer sind. Privat stimmt vieles in ihrem Leben: die Beziehung zu dem Ehemann ist befriedigend, die eigenen Kinder, obwohl altersmäßig jetzt in der Epoche, die „Pubertät“ genannt wird, machen Freude, der Kontakt zu den Freundinnen ist ausgeglichen und außerordentlich spaßvoll. Auch beruflich kann Marion sich nicht beschweren: die 25 Kinder, die sie zu betreuen hat, haben sich zu einer munteren Gruppe entwickelt, zwischen den Kolleginnen gibt es nur wenig nervigen Streit, und die Kontakte zu den Eltern und dem Träger sind zwar gering, weisen aber auch nur wenige Konfliktpunkte auf.

Marion fühlt sich im Gleichgewicht mit ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld und vor allem auch mit sich selbst. Eigentlich ist es nur ein störender Gedanke, der sie in der letzten Zeit nicht loslässt, über den sie nachgrübelt, und der sie manchmal so empfindlich macht, dass sie trotz positiver Grundstimmung unsicher und ungehalten werden kann. Am plastischsten lässt sich dieser kritische Punkt mit der Frage ausdrücken: Dürfen Kinder alles, während wir Erzieherinnen immer die Sündenböcke sind? Die Wörter dieser Frage dürfen nicht als Ausdruck eines rational zu umreißenden Problems verstanden werden, denn dann wäre alles ganz einfach, ist Marion doch eine geübte Rednerin, die in jeder öffentlichen Diskussion gut ihr Wort machen kann. Aber es ist komplizierter: Hinter der Frage steckt mehr ein diffuses Gefühl, ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Ohnmacht.

Marions Stimmung macht sich an einer ganzen Reihe von kleinen, oft unbedeutenden Einzelsituationen fest, und jede neue Begebenheit, die in die gleiche Kerbe haut, ist eine Bestätigung für die Dringlichkeit der Frage. Erwähnen wir hier nur zwei Beispiele: An einem Nachmittag der letzten Woche kam ein kleines Besucherkind auf Marion zu und kniff sie heftig in den Arm. Das war nicht die Aggression eines unsicheren Kindes, das nicht weiß, wie es Kontakt aufbauen kann; vielmehr schien es Marion so, als ob ein breites Grinsen das Gesicht des Dreijährigen zierte, der sein Kneifen auch dann noch ohne Bedenken wiederholte, als Marion mit guten Worten auf ihn einzureden versuchte. Ja, als sie ihm erklärte, er würde ihr wehtun, schien es ihr, als ob die Breite seines Grinsens eher zunähme. Und dann die Geschichte mit Jasmine, die bei den gelegentlichen Ausflügen immer wieder auf die Straße laufen will, so dass Marion heftige Angst  bekommt. Auch hier haben die guten Worte von Marion keinen Erfolg, und als sie letztens Jasmine mit Gewalt zurückhielt, die unbedacht sich wieder in Gefahr zu bringen drohte, stürzte diese dabei zu Boden, so dass die Strumpfhose ein Loch aufwies und das Knie ein wenig Blut verlor. Hinterher schimpfe die Mutter nicht mit ihrem Kind, sondern mit der Erzieherin, der sie geradezu körperliche Misshandlung vorwarf.

Dürfen die Kinder alles, und sind die Erzieherinnen nur noch Erfüllungsgehilfen ihrer ständig zunehmenden Bedürfnisse? Was sollen wir tun, wenn alle Strafen verpönt sind und viele Kinder sich durch gute Worte nicht mehr erreichen lassen? Solche Fragen beschäftigen Marion seit einiger Zeit, und die diesbezüglichen Gedanken verdichten sich in ihrem Kopf, als sie mit dem Auto zu einer mehrtägigen Fortbildungsveranstaltung fährt. „Kindzentrierte Kindergartenpädagogik“ ist ausgerechnet das Thema, als wenn die Kinder nicht ohnehin schon  die Könige und die Erzieherinnen die Diener wären. Nur wer sorgt sich um die Erzieherinnen, die um so weniger Beachtung erfahren, je mehr das Kind im Mittelpunkt steht.

Von der Fortbildung, die Marion besucht, muss hier nicht die Rede sein. Sie läuft ab, wie eine Veranstaltung mit diesem Titel nur ablaufen kann. Einen Traum aber, den Marion in der ersten Nacht der Fortbildungswoche hat, wollen wir. erwähnen Die Traumfortbildnerin, fatalerweise trägt sie die Gesichtszüge von Marions Mutter in früheren Tagen, erhebt sich und hält eine Ansprache an die Gruppe. Das ganze Gerede um kindzentrierte, offene Kindergartenarbeit sei Unsinn, denn im Mittelpunkt aller Bemühungen müsse die Erzieherin selbst stehen. Nur wenn es ihr gut gehe, können sie für die Kinder sorgen. Es sei geradezu ein Gesetz: je besser es der Erzieherin gehe, desto besser ginge es auch den Kindern. Also: jede Erzieherin muss zuerst für sich sorgen, damit sie die beste Kindergartenarbeit machen könne. Die Gruppe der Erzieherinnen begleitet den Vortrag mit lauten Beifallsstürmen, und sie tragen die Fortbildungsreferentin auf einer Sänfte durch den Raum. Je mehr sich Marion in das Traumgesicht vertieft, desto mehr verschwinden in ihm die Gesichtszüge der Mutter und desto stärker wird sie es selbst, die in der Sänfte getragen wird, und in den Gesichtern der Träger erkennt sie einige Kindergartenkinder, den Pastor, Eltern, auch ihren eigenen Mann.

Der Traum verwirrt Marion, vor allem weil er so realistische Züge angenommen hat. Mochte die echte Fortbildungsgruppe für den Rest der Tagung über „kindzentrierte Kindergartenpädagogik“ reden, für Marion stellte sich ein anderes Thema: „Erzieherinnen-zentrierte Kindergartenpädagogik“ schreibt sie in Gedanken als Überschrift auf ein großes Blatt Papier. Sie sammelte ihre ersten Assoziationen zu dem Thema: Umgestaltung des Mitarbeiterraumes in ein Zimmer, in dem man sich als Erwachsener wohlfühlen kann; kinderfreie Zonen (Küche, Büro und auch ein Stück des Gartens); Sitzmöbel in den Gruppenräumen, die den ergonomischen Bedürfnissen der Erwachsenen angepasst sind; lärmdämmende Maßnahmen, die den Geräuschpegel auf Zimmerlautstärke senken; weniger Arbeitszeit bei besserer Entlohnung; Eltern die begierig die Ratschläge der Erzieherinnen aufnehmen; mehr Vorbereitungszeit und weniger unmittelbare Arbeit mit den Kinder; überhaupt „pflegeleichte“ Kinder, die freundlich mit der Erzieherin umgehen, auf ihr Wort Acht geben, dankbar für ihre Zuwendung sind und ansonsten friedlich miteinander spielen.

Während die reale Fortbildungsgruppe sich in immer neue „Rechte des Kindes“ versteigt, und die beteiligten Kolleginnen mit Beifall in die Reduzierung ihres eigenen Waffenarsenals einstimmen, denkt Marion über ihre Forderungsliste „Erzieherinnen-zentrierte Kindergartenarbeit“ nach. Sie gefällt ihr, und vor allem der Kontrast zwischen ihrer Stillarbeit und den Wortbeiträgen der anderen lässt sie lächeln. Dieses Lächeln ist das Einzige, was von ihr nach außen dringt, denn sie hält es für nicht opportun, ihre Gedanken in die Fortbildung einzubringen. Die anderen würden sie zerreißen, gilt hier doch die dick aufgetragene Moral: Es muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Die Erzieherinnen-zentrierte Kindergartenarbeit findet Marions Beifall - vor allem die Ohr- und Rückenschonung und das gemütliche Sofa im Mitarbeiterraum. Nur ein kleines Problem gibt es: Die meisten ihrer Ideen scheinen darauf hinauszulaufen, „sich die Kinder vom Leib zu halten“. Marion ist aber nicht Erzieherin geworden, um sich „die Kinder vom Leib zu halten“; im Gegenteil, sie ist begeistert und fasziniert über den lebendigen Austausch mit den Kindern, nur dass nach den vielen Jahren manche nicht mehr so niedlich erscheinen. Sorgt eine Erzieherin dann am besten für sich selbst, wenn sie die Arbeitsbelastung möglichst weitgehend reduziert?

Marion verfolgt den Faden ihrer eigenen Überlegungen in der Fortbildungswoche still für sich alleine weiter. Es kommt ihr entgegen, dass das offizielle Programm an dieser Stelle eine Phantasiereise vorsieht: von meditativer Musik untermalt und geleitet durch die Stimme der Fortbildungsreferentin versetzen sich die Teilnehmerinnen in die eigene Vergangenheit. Es geht immer weiter zurück, bis schließlich das eigene Kinderleben vor Augen steht. So weit soll es bei Marion nicht gehen, auch hier koppelt sie sich ab, indem sie den Anweisungen der Referentin nicht dem Wortlaut nach folgt. Doch von deren Stimmklang geht eine beruhigende Wirkung aus, so dass für Marion die Situation günstig ist, ihre Berufsjahre Revue passieren zu lassen. Sie sieht sich als junge Vorpraktikantin, die damals mit Simone viel Zeit verbrachte, um sich mit dem Mädchen zu beschäftigen, das Angst vor den anderen Kindern hatte und sich zunehmend zurückzog. Wie viele geradezu philosophische Gespräche hatte sie mit Simone geführt? Sie sieht sich als Berufspraktikantin, die mit ihrem jugendlichen Elan auch die wilde Jungenbande zu begeistern wusste, die mit ihnen tobte, einen Boxring für sie im Gruppenraum arrangierte. Wurde sie damals nicht selbst von den größten Rabauken verehrt und geliebt? Sie sieht sich als Gruppenleiterin in ihrer ersten Gruppe. Die Namen der Kinder fallen ihr heute nicht mehr ein, aber die Gesichter, die Augen, die typischen Bewegungen, die Stimmen, die Macken und die Liebenswürdigkeiten die bekommt Marion heute noch nach den vielen Jahren fast alle zusammen. Was aus den Kindern jetzt als Heranwachsende geworden ist? Die Jahre des Berufseinstiegs haben Marion viel gegeben: die Buntheit der Kinderwelt, Kinder, die so waren, wie sie sich selbst als kleines Kind gefühlt hatte, Kinder, die ganz anders waren. Marion war damals begeistert von den Kindern, zu denen sie leicht einen lebendigen Kontakt bekam. Ihr eigener Kinderwunsch, der sich bald darauf realisierte, war nicht unwesentlich von ihren ersten beruflichen Kontakten zu Kindern unterstützt worden.

Die Zeit der Phantasiereise ist leider schon vorüber. Zu gerne würde Marion sich selbst in ihrer Beziehungsentwicklung zu den Kindern weiterverfolgen. Zum Glück bietet sich dazu alsbald Gelegenheit, weil Einzelarbeit jetzt auf dem Plan des offiziellen Fortbildungsprogramms steht. Marion sucht sich eine ungestörte Ecke im Garten des Tagungsgeländes. Die Sonne scheint ihr ins Gesicht, und Vogelgesang dringt von fern an ihr Ohr. In dieser friedlichen Stimmung lässt sich der Faden der Erinnerungen wieder aufnehmen. Marion sieht sich als Erzieherin mit festem Stand, die nach der Babypause wieder in das Geschäft einstieg. Namen vieler Kinder fallen ihr ein, aber die Bilder der einzelnen kleinen Gesichter erscheinen weniger vor ihrem Auge. Auch muss sie weniger innerlich schmunzeln, wenn sie an Kai, Matthias, Sandra und Kirsten denkt, die ihr heute wie etwas schwächere Kopien des aufbrausenden Frank, der verspielten Nicole, des drolligen Stefan und der niedlichen Suse vorkommen. „The first cut is the deepest“ - dies gilt nicht nur für die Mutter-Kind-Beziehung, die erste Liebe oder das erste eigene Kind, sondern es gestaltet sich in jeder Lebensphase neu.

Marions Erinnerungen an ihre berufliche Karriere mögen negativ erscheinen, doch dieser Eindruck wäre ganz falsch. „Stolz“ ist vielmehr das richtige Wort: Stolz auf die zunehmende Entwicklung beruflicher Kompetenzen. Zu diesem Stolz hat Marion allen Grund. Sie hat damals ein Händchen entwickelt, wie mit einzelnen Kindern und wie mit der großen Gruppe umzugehen sei. Die Kinder gingen mit Freude zu Marion in den Kindergarten, und die Eltern vertrauten ihr die Kinder gerne an. Sie war beliebt und geschickt. Selbst Kinder, die als sehr verhaltensauffällig galten, normalisierten sich unter ihrem Einfluss, wozu Marions Weiterbildung in der nondirektiven Pädagogik beitrug. Schließlich traute sie es sich sogar zu, behinderte Kinder in ihre Gruppe aufzunehmen, und ihr Meisterstück lieferte sie ab, als sie Gerd, einen schwer- und mehrfach behinderten Jungen erfolgreich in ihrer Gruppe betreute. Marion verlässt mit Zufriedenheit ihre ungestörte Ecke im sonnenbeschienen Garten des Fortbildungsgeländes: damals hat sie sich die berufliche Fähigkeiten angeeignet, die ihr auch heute noch eine sichere Kindergartenarbeit ermöglichen.

Marion bewegt sich langsam zu der Gruppe der Erzieherinnen. Man kann nicht sagen, dass sie sich auf die jetzt folgenden zwei Stunden freut. Bisher hat sie sich nicht gerade eifrig an dem Gruppengespräch beteiligt, und es ist nicht zu erwarten, dass sie in der nun folgenden Auswertungsrunde die aktive Rednerin wird. Aber sie geht auch nicht niedergeschlagen, denn die letzte Stunde der Alleinarbeit hat ihr noch einmal bestätigt, dass sie sich zu Recht als gute Erzieherin fühlen darf. Der Lärmpegel in der Gruppe ist hoch, weil viele Kolleginnen nach der langen Zeit des Schweigens einen starken Drang zu haben scheinen, ihre eigene Stimme laut zu hören. Die Fortbildungsreferentin versucht zu strukturieren, und es beginnt eine lange Berichtphase, in der jede erzählt, wie sie sich durch die Phantasiereise in die eigene Kindheit zurückversetzt habe, und wie sie in der Alleinarbeit erkannt hätte, dass sie in Zukunft noch sensibler auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes achten müsste. Viele wälzen ihren Bericht unendlich aus. Marion ist es langweilig. Den Wörtern, die aus den Mündern der Kolleginnen kommen, gewinnt sie keinen Sinn ab, sie hört schließlich nicht mehr hin, nur der Geräuschpegel stört sie.

In dieser nicht so wohligen Atmosphäre versucht Marion, ihren eigenen Gedankenfaden fortzuspinnen. Nachdem sie in die Vergangenheit geschaut hat, muss sie jetzt noch die Gegenwart betrachten: Was bedeuten ihr die Beziehungen zu den Kindern im Kindergarten jetzt? Marions Blick schwankt zwischen zwei Polen hin und her: Auf der einen Seite sieht sie die größer werdende Zahl der schwierigen Kinder, die immer mehr Ansprüche stellen und dabei immer unzufriedener werden. Die Bemerkung einer gestressten Mutter fällt ihr ein, die von sich sagte, sie habe das Gefühl, der gestillt werdende Säugling sauge sie aus. Dieses Gefühl hat Marion manchmal auch: ein Teil der Kinder saugt sie auf, bis nichts mehr von ihr selbst übrigbleibt. Immer mehr muss sie geben, und immer weniger erhält sie von ihnen zurück. Auf der anderen Seite sieht sie die „lieben“ Kinder, die freundlich auf sie zugehen, die im Alltagsgeschäft gut funktionieren. Gerne ist sie mit ihnen zusammen, weil sich unkompliziert alles leicht von selbst ergibt. Aber was bekommt sie von ihnen zurück? Sie sind schwache Abbilder früherer Erfahrungen: ihre Niedlichkeit ist nicht mehr ganz so niedlich, ihre Freude nicht mehr ganz so freudig, ihre Traurigkeit nicht mehr ganz so traurig. Dieser Teil der Kinder ist lieb, gerade auch lieb zu Marion, aber sie gehen ihr nicht mehr so ans Herz wie die Kinder früher.

Marions Gedanken sind gerade an einem Punkt angekommen, der nicht gerade freudige Verheißung verspricht. Da spürt sie, wie die Blicke der anderen Seminarteilnehmer sich auf sie richten. Sie ist an der Reihe, ihr Arbeitsergebnis der Gruppe zu präsentieren. Sie ist erschrocken: So vertieft war sie in die eigenen Gedanken, dass sie ganz vergessen hat, ihr sonst übliches Verfahren bei den so unbeliebten Gesprächsrunden anzuwenden - spätestens bei der dritten Vorrednerin sich einen Satz zurechtzulegen, der klug und originell wirkt, in Wirklichkeit aber die momentanen Gedanken versteckt. Jetzt muss sie ohne Vorüberlegung reden, wenigstens ein Satz sollte doch über ihre Lippen kommen. Leicht könnte sie sagen, dass sie jetzt nichts sagen wolle - denn das war von der Seminarleiterin vorher so abgemacht worden. Doch in ihrer Aufregung fällt ihr nicht einmal dies ein. Nur stotternd bringt sie heraus: „Es ist schwer, -- dass einem -- alle Kinder -- ans Herz -- wachsen ...“

Ungläubig schaut die Kolleginnenrunde sie an. Von fröhlichen, phantasievollen, lebendigen Kindern war bisher die Rede, an deren Entwicklung man sich als Erzieherin nur aktiv freuen könne, auch von schüchternen und ängstlichen, in deren Probleme man sich sensibel auch durch Rückbezug auf die eigene Kindheit hineinversetzen müsse, schließlich von den schwierigen und aggressiven, die durch das Fernsehen und den pädagogisch falschen Umgang ihrer Eltern verdorben seien. Doch gerade letztere stellten eine positive Herausforderung für jede Erzieherin dar. Marions Satz von „dem eigenen Herzen“ macht keinen Sinn. Schnell geht die Gruppe darüber hinweg, sie war ja in der ganzen Fortbildungswoche so wie so keine aktive Teilnehmerin.

Jetzt noch das Essen, Taschepacken und die Schlussreflexion. Beim Mittagstisch sitzt Marion zufällig neben der Fortbildungsreferentin. Eigentlich macht diese keinen unsympathischen Eindruck, und sie kann ja auch nichts dafür, dass Marion nicht wie gewohnt rege an der Veranstaltung beteiligt war. Ein wenig Small Talk wird betrieben: die schöne Sonne, die Pläne für den Sommerurlaub. Als der Tisch sich langsam leert, spricht die Seminarleiterin Marion direkt an, und ohne dass diese ausführlich erzählt, versteht jene ein wenig von Marions Problem. Auch sie ergeht sich nicht in langen Wortergüssen, sondern äußert nur scheinbar nebenbei in einem knappen Vergleich, dass ein Schreiner nur dann ein guter Schreiner sei, wenn er sein Holz liebe. Auch bei ihm würde sich im Verlaufe der Berufsjahre die Einstellung zu dem Material ändern, und wenn die Beziehung zwischen Schreiner und Holz sich nicht mehr automatisch ergäbe, dann müsse er die richtigen Fragen an sich selbst und nicht an das Holz stellen.

Zuerst versucht Marion den Gedanken der Fortbildungsreferentin abzuwehren: sie bearbeite kein totes Material, aus dem sie beliebig etwas formen könne, sondern sei mit lebendigen Kindern zusammen, die ihren eigenen Kopf hätten. Doch als Marion in ihrem Zimmer die Tasche packt, merkt sie, dass ihr Einwand nicht den Nagel auf den Kopf trifft. In dem Vergleich geht es nicht um die Provokation der großen pädagogischen Moral, die die Erzieherinnenarbeit als so einmalig darstellt, dass man ihr nur mit den hehrsten Absichten nachkommen könne. Sondern das Entscheidende in der Bemerkung der Fortbildungsreferentin war: man (sie) müsse die richten Fragen an sich selbst stellen.

Was ist die richtige Frage für Marion? In Sekundenschnelle schießt es ihr jetzt durch den Kopf: In meinen Selbstgedanken während der Fortbildungswoche habe ich die Vergangenheit glorifiziert und meine jetzige Situation bejammert. Doch was hilft mir das Glorifizieren, wenn es nicht nur eine Bestätigung ist, dass die Vergangenheit schön war, sondern wenn ich mir damit selbst nur ein Bein stelle, meine Beziehung zu den jetzigen Kindern zu klären, die noch nicht einmal geboren waren, als die ersten Kinder mich prägten? Und was hilft das Selbstbejammern über die Kinder, die nicht mehr so sind, wie sie sein sollten? Die richtigen Fragen, das ist Marion jetzt schlagartig klar, sind nicht: Warum die Kinder so sind, wie sie sind. Sondern die erste richtige Frage ist: Welche Wichtigkeit haben die Kinder, die jetzt in meiner Kindergartengruppe sind, für mich, für mein eigenes Leben? Und die zweite wichtige Frage: Wie bringe ich mich in die Situation, dass die faktischen Kinder für mich Bedeutung haben? Gerade die zweite Frage gefällt Marion. Sie bringt zum Ausdruck, was ihren Kopf in der letzten Woche bewegt hat, und sie kann eine Perspektive aufzeigen für die nächsten Schritte, die sie gehen wird. Mit dieser Frage geht Marion in die Schlussreflexion, und obwohl es am Ende der Tagung alle Teilnehmerinnen nach Hause drängt, entwickelt sich beinahe noch eine lebhafte Diskussion.

Marion hat keine Antwort auf ihre Frage, aber das stört sie auch gar nicht. Sie will kein Patentrezept, bei dem sie nur noch nachkochen muss, was andere aufgeschrieben haben. Was sie gesucht hat, ist ein neuer Anfangspunkt für das gemeinsame Leben mit den Kindern, und diesen hat sie mit ihren Fragen gefunden. Jetzt sitzt sie im Auto und fährt Familie, Haus und Wochenende entgegen. Darauf freut sie sich. Noch glücklicher ist sie aber darüber, dass sie sich auf den Montag in ihrem Kindergarten freut. Nichts Spektakuläres hat sie vor, keine neue Handlungstechnik will sie ausprobieren, kein aufsehenerregendes Animationsprogramm anbieten, keinen Psychotrick anwenden. Sondern Marion stellt sich vor, wie sie am Montag Morgen auf dem Sofa sitzt, die Kinder zu ihr kommen, sie mit ihnen plaudert: sich von ihnen führen lässt. Diese Vorstellung verdichtet sich, und sie bemerkt jetzt in die Gesichter der Kinder: sie sieht Nicoles fröhliche Augen und Anjas heruntergezogene Mundwinkel, Sebastians aufbrausende Fäuste und Toms charmantes Lächeln, sie betrachtet den treuen Blick von Maria und die schönen Haare von Mustafa. Selbst Stefan, mit dem sie so viele Probleme hat, und der ihr bisher immer so dumpf dreinzuschauen schien, gewinnt in ihrer Vorstellung plötzlich an rabaukenhaftem Leben, das ihn liebenswert macht. 25 unterschiedliche Gesichter, Stimmen, Gerüche von Menschen mit denen Marion ausprobieren will, was sie ihr zu sagen haben.

Und auch auf ihre Kolleginnen freut sie sich. Hatte sie während der Fortbildungswoche immer die Angst, mit leeren Händen in den Kindergarten zurückzukommen, weil es in der Mitarbeiterrunde nichts zu berichten gäbe, so ist sie jetzt gespannt darauf, wie die anderen auf ihre mitgebrachte Frage reagieren. Empfindet Silke, die junge Praktikantin, wie Marion damals empfunden hatte, als die ersten professionellen Begegnungen mit den Kindern ihren eigenen Kinderwunsch verstärkten? Geht es Heike, die als neue Gruppenleiterin gerade frischen Wind in die Einrichtung bringt, wie ihr, als sie vor Jahren ihre berufliche Handlungskompetenz mit Erfolg erwarb? Und was wird Jutta sagen, die älteste Kollegin des Teams, von der Marion des öfteren den Einruck hat, der Beruf würde ihr zu viel und sie reichte lieber die Rente ein? Wird auch sie sich von dem neuen Schwung, den Marion in sich spürt, mitreißen lassen?


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