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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1997 - 2

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Sigurd Hebenstreit

Kindzentrierte Kindergartenarbeit

Vortrag am 26. 11. 1997 in Stadthagen

Was ich Ihnen heute Vormittag vortragen möchte, zerfällt in zwei deutlich voneinander getrennte Teile: Zunächst versuche ich Ihnen für ca. eine halbe Stunde einige grundlegende Gedanken zu der von mir vertretenen Position „Kindzentrierte Kindergartenarbeit“ mitzuteilen. Dies ist manchmal keine recht leichte Kost für die frühe Morgenstunde. Deshalb präsentiere ich Ihnen danach eine leichte Geschichte, die ich unter die Überschrift „Vorsicht: Satire“ gestellt habe. Diejenigen von Ihnen, die keinen Bedarf an einer unsinnigen Erzählung haben, können dann für eine halbe Stunde ihren eigenen Gedanken nachgehen. Heute Mittag erfolgt dann meinerseits noch eine dritte Halbzeit, die den mehr praktischen Problemen des Kindergartens gewidmet ist. Falls Sie also primär daran Interesse haben zu diskutieren, wie der Kindergartenraum gestaltet sein soll, welche Kriterien für die Auswahl des Spielmaterials gelten, wie die zeitliche Strukturierung des Tagesablaufes aussehen könnte, was die Hauptaufgaben der Erzieherinnentätigkeit sind, dann muss ich Sie für den Vormittag über um eine lange Geduldspause bitten. Ich beginne also mit der Darstellung einiger theoretischer Elemente der kindzentrierten Kindergartenkonzeption.

I. Einige Grundgedanken: „Konzeption“ und „Kindzentriert“

1. Nach Konzeptionen lässt sich nicht arbeiten

Ich stelle Sie mir vor, meine liebe Zuhörerin, als jemand, die durch Fortbildungen, das Lesen von Fachbüchern und -zeitschriften, durch die eigene Ausbildung mit einer Vielzahl neuer Konzepte vertraut ist. Vielleicht haben Sie sich persönlich, vielleicht haben Sie sich auch gemeinsam mit Ihren Kolleginnen für ein bestimmtes Konzept entschieden und arbeiten jetzt nach dem Konzept X. oder Y. von Herrn oder Frau A. oder B. Vielleicht gehören Sie auch zu den pragmatischen Kolleginnen, die sich aus jedem Konzept die Rosinen herauspicken und anderes, was Sie nicht richtig finden, beiseite lassen.

Ich bin heute zu Ihnen eingeladen, damit wir uns über mein Konzept kindzentrierter Kindergartenarbeit unterhalten können, und ich möchte auch für dieses Konzept werben. Doch ich muss Ihnen einleitend gestehen, dass man nach dem Konzept kindzentrierter Kindergartenarbeit nicht arbeiten kann. Ein Konditor mag seine Torte nach einem Rezept aus dem Buch erstellen, ein Sänger singt die Noten, die von Franz Schubert vor mehr als 150 Jahren aufgeschrieben wurden. Aber eine Erzieherin kann nicht nach einem Konzept arbeiten, wie der Sänger vom Blatt absingen kann. Erziehung ist ein einmaliger Akt zwischen einer lebendigen Erzieherin und einem einmaligen Kind. An dieser Interaktion lässt sich nichts normieren: Die Lebendigkeit der Erzieherin, die Einmaligkeit des Kindes oder sogar beide würden dabei unter die Räder kommen. Hinzu kommt, dass nicht nur Sie als Erzieherin sich im Verlaufe Ihrer Berufsjahre entwickeln und dass die Kinder sich in der Zeit verändern, auch die pädagogischen Konzepte unterliegen einer ununterbrochenen Wandlung. Den Satz, den ich zu einem bestimmten Zeitpunkt geschrieben habe, würde ich in der kommenden Woche, im nächsten Jahr anders formulieren. Ich bitte Sie: wenn Sie sich und den Kindern das Recht der Veränderung zubilligen, und das hoffe ich doch, versagen Sie dieses Recht auf Wandlung nicht den Autorinnen und Autoren pädagogischer Kindergartenkonzepte.

Hinzu kommt eine weiteres: Sie erwarten sehr zurecht von einer Kindergartenkonzeption, dass sie Antworten auf die Fragen der Raum- und Zeitgestaltung, der Materialauswahl und vieles mehr gibt. Ich möchte Ihnen heute Nachmittag gerne meine Sicht der diesbezüglichen Probleme zeigen, weil Ihr Anspruch, dass etwas Konkretes bei dem Tag heute herumkommen soll, berechtigt ist. Allerdings stelle ich auch oft fest, dass mit vielen Antworten auf derartige Fragen sich ein Kindergartenteam festbeißen und bis zur Handlungsunfähigkeit lähmen kann. Erzieherin A tritt für eine traditionelle Raumgestaltung ein, Erzieherin B für Funktionsräume, Erzieherin C für ein festes Gruppenprinzip und Erzieherin D für den wöchentlichen Wechsel der Kinder je nach gewähltem Schwerpunkt. M.E. verrennt man sich dann schnell in Glaubenskämpfe, und stilisiert drittrangige Fragen zu prinzipiellen Entscheidungen. Je orthodoxer man dabei wird, je verbissener man an dem festhält, was man selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt für richtig hält, oder was man von Prof. Dr. gehört oder gelesen hat, desto mehr verliert man die Distanz, bekämpft die Kolleginnen des eigenen oder die eines anderen Kindergartens als „rückständig“. Mein erster praktischer Hinweis ist also dieser: Man halte die pragmatischen Fragen in dem Bereich, in den sie hineingehören. Glaubensfragen; werden anderswo entschieden. Billigen Sie Ihrer Kollegin das Recht zu, traditionell zu arbeiten, und halten Sie sich selbst das Recht offen, nach einer Experimentierphase mit „offener“ Arbeit wieder zu einer stärkeren Betonung des Gruppenprinzips zurückzukehren, oder nach einer Zeit, in der sie auf den Situationsansatz geschworen haben, wieder zu traditionellen Rahmenthemen mit Nikolausgeschichte, Plätzchenbacken und Adventschmuckbasteln zurückzukehren. Die gleichen Bewegungen sollten Sie auch umgekehrt vollziehen können und Ihren Kolleginnen auch das Recht darauf eingestehen.

2. Die Aufgabe von Konzepten ist „der fremde Blick“

Jetzt mögen Sie mit Recht fragen: „Wenn das alles so beliebig ist, warum sollen wir uns dann überhaupt mit Konzeptionsfragen beschäftigen?“ Ich habe auf diese Frage eine Antwort, die Ihnen vielleicht paradox vorkommt: Konzeptionen sind nicht Anleitungen zu „richtiger“ Arbeit in der Praxis, sondern sie sind in erster Linie ein notwendiges Mittel, um Distanz zu schaffen. Wenn Sie morgen früh wieder in Ihre Einrichtungen kommen, stürmt ein Wust unaufhörlicher Aufgaben auf Sie zu: Die Mutter, die ihr Kind bringt, will etwas wissen, die weinende Katja muss getröstet werden, der Frühstückstisch ist vorzubereiten, der wilde Frank zur Mäßigung anzuhalten, die Kollegin will erfahren, wie es denn gestern auf der Fortbildung war. Das geht so weiter bis Sie um 16.30 Uhr Ihre Einrichtung verlassen und mit dem Auto nach Hause fahren. Alles das, was Sie morgen in den acht Stunden Arbeitszeit machen, läuft ab wie ein Programm, für das es keinen Stückeschreiber und keinen Regisseur zu geben scheint, und es erfordert Ihre wache Aufmerksamkeit, in dem Bruchteil einer Sekunde zu entscheiden, was sie sagen oder nicht sagen, ob sie aufstehen oder sitzen bleiben, ob sie eingreifen oder sich zurückhalten.

Kein Schreiber einer Kindergartenkonzeption kann Ihnen sagen, was Sie morgen zu sagen oder zu schweigen, zu tun oder zu lassen haben. Ich kenne Sie nicht, Ihre Kinder und Ihre Einrichtung nicht; ich müsste ein Aufschneider sein, wenn ich behaupten würde, Ihnen hierzu etwas sagen zu können. Konzeptarbeit ist so etwas, wie es beispielsweise am heutigen Tag stattfindet: Sie sitzen nicht auf den kleinen Kindergartenstühlen, Sie sind nicht der Geräuschkulisse des Vormittagsgeschehens ausgeliefert, Sie müssen jetzt ersteinmal zu niemandem etwas sagen, ja niemand kann Ihnen befehlen, jetzt zuzuhören. Mit anderen Worten: Sie haben Distanz zu dem alltäglichen Geschehen, und diese Distanz kann Ihnen helfen, pädagogische Fragen anders zu stellen als sonst, mit der Antwort sich noch Zeit zu lassen, nicht genau zu wissen, ob das Argument A besser ist als das Argument B. Diese Distanz sollten Sie nutzen. Eine Kindergartenkonzeption kann Ihnen helfen, die tägliche Welt Ihres Kindergartens anders zu sehen. Mit diesem „fremden Blick“ auf das, was Sie wie Ihre Westentasche kennen, weil Sie es tagtäglich erleben, kommen Sie vielleicht zu anderen Antworten als Sie es bisher gewohnt waren.

Machen wir einen kleinen Versuch: Bitte stellen Sie sich in Ihrem Kopf den größten Rabauken Ihrer Gruppe vor, nicht den niedlichen Rabauken, sondern das Kind, das Sie persönlich am meisten nervt - und seien Sie ehrlich zu sich selbst, es gibt solche Kinder. Stellen Sie sich dieses Kind vor, sehen Sie in sein Gesicht, beobachten Sie, wie es durch den Raum chaotet, wie es andere Kinder ärgert.

Denken Sie bitte weiter an dieses Kind, aber denken Sie jetzt einen zweiten Gedanken hinzu: Ich möchte, dass dieses Kind dasjenige wird, was Ihnen am meisten ans Herz wächst. Seine schräpige Stimme, seine vor Rotz triefende Nase - sie stören Sie jetzt nicht. Sie können dieses Kind in den Arm nehmen - nicht als Sozialfall in den Arm nehmen - sondern es ehrlich auf den Schoß setzen, ihm seine Haare streicheln, es so kitzeln, dass sie beide gemeinsam laut lachen.

Ob dieser kleine Versuch geklappt hat, können Sie jetzt noch nicht beurteilen, sondern erst Morgen früh, wenn Sie das erste Mal wieder leibhaftig auf diesen Wildfang treffen, an den Sie gerade gedacht haben. Vielleicht erinnern Sie sich morgen Nachmittag, wenn sie mit dem Auto nach Hause fahren, an diese kleine Szene.

Zum Thema „Konzeption“ habe ich Ihnen bisher gesagt, dass sie keine Anleitung zum „Arbeiten nach ...“ ist, sondern dass sie die Aufgabe hat, Distanz zu schaffen, damit Sie selbst mit fremden Blick das betrachten können, was Sie tagtäglich umgibt. Den Rest der ersten Halbzeit meiner vormittäglichen Zeit möchte ich nutzen, um Ihnen einige grundsätzliche Anmerkungen zu der Kennzeichnung der von mit vertretenen Position als „kindzentrierte Kindergartenarbeit“ zu geben. Wie gesagt: Für die mehr praktischen Schlussfolgerungen ist der Nachmittag vorgesehen.

3. „Kindzentriert“ nicht „situationsorientiert“ oder „offen“

Als ich an der Arbeit meines Kindergartenbuches saß, war ich gezwungen, über dessen Titel nachzudenken. Er sollte prägnant das zum Ausdruck bringen, was ich in meiner Kindergartenkonzeption hervorheben wollte. Ich stand also vor der Aufgabe, ein Adjektiv zu finden, das meine Position schlagwortartig beschrieb. Gängig waren damals Worte wie „situationsorientiert“ und „offen“ - inhaltliche Konzepte mit denen mich manches verbindet, anders aber unterscheidet. „Situationen“ von Kindern gibt es unzählig viele und auf ihrer willkürlichen Auswahl lässt sich kein Konzept aufbauen, das über den Einzelfall hinaus etwas allgemeingültiges aussagen soll. Das Wörtchen „offen“ erscheint mir viel zu unspezifisch - „offen“ sein kann man für alles, was die Kinder, die Eltern, den Träger, was einen selbst angeht, aber eine Konzeption soll nicht nur offen sein, sondern auch bestimmen, an welchen Stellen man nicht offen ist, sie soll angeben, was einem wichtig ist und warum und was einem nicht wichtig ist und warum nicht. Die Konzeption wird sonst zu einem Selbstbedienungsladen, aus dem sich jeder das holt, was er gerade braucht. Eine Konzeption beschneidet ihrem Wesen nach gerade die Offenheit, weil sie das Bedeutsame von dem weniger Bedeutsamen scheidet.

Im Mittelpunkt meiner pädagogischen Überlegungen um den Kindergarten steht der Gedanke: Alles Geschehen in ihm - auch die Elternarbeit, die Auseinandersetzungen in der Mitarbeiterschaft usw. - ist zentriert auf das einzelne Kind. Der Kindergarten ist ein Dienstleistungsunternehmen, dessen Abnehmer das einzelne Kind ist, und so wie in einem Warenhaus der Kunde König ist, so ist das Kind der Punkt, um den in pädagogischer Hinsicht der ganze Kindergarten sich dreht. Die Befriedigung der Bedürfnisse, die das einzelne Kind im Verlaufe seiner Zeit im Kindergarten hat, hat oberste Priorität, an ihr muss sich alles, was im einzelnen in der Einrichtung geschieht, ausrichten.

Der Satz von der Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen Kindes könnte das Missverständnis eines mit Coca-Cola und Chips abgefüllten, vor dem Fernsehschirm ruhiggestellten Kindes hervorrufen. Also muss er durch einen zweiten Satz ergänzt werden: die pädagogisch relevanten Bedürfnisse des Kindes sind intensiver zu diskutieren als sein „Recht auf Erziehung“. Jedes Kind verlangt nach einer Erweiterung seiner Perspektive, es ist in der Entwicklung, und es will sich entwickeln. Auf diese erzieherisch ausgerichteten Entwicklungsbedürfnisse des Kindes hin ist die Pädagogik des Kindergartens zentriert. Was ich Ihnen also den grundsätzlichen Teil abschließend zu sagen habe, besteht aus meiner Sichtweise des Kindes und aus meiner Sichtweise von Erziehung.

4. Ich kann ein Kind nicht verstehen

Was Kinder sind, dass weiß doch jedes Kind - zumindest jeder Professor der Pädagogik, schließlich hat er duzende dicker Bücher über die Anthropologie und Entwicklungspsychologie des Menschen gelesen und neulich noch selbst eine Abhandlung darüber geschrieben. Und, was ein Kind ist, weiß auch jede berufserfahrene Erzieherin, hat sie doch jetzt seit mehreren Jahren tagtägliche Erfahrungen mit Kindern und in der Zwischenzeit eine breite Palette unterschiedlicher Charaktere erlebt. Demgegenüber behaupte ich: Viel theoretisches Studieren und viele praktischen Erfahrungen mögen das Wissen um Kinder erhöhen, nur was ein Kind ist, das weiß ich nicht. Das mag wie Wortklauberei aussehen, aber für mich ist das ein wichtiger Punkt. In meiner Kindergartenkonzeption gehe ich von der These aus: Ich kann ein Kind nicht verstehen. Ich kann es mit Zentimetermaß und Wage vermessen, ich kann mit Röntgenapparat und Ultraschall sein Inneres verbildlichen, ich kann es einem ganzen Stab psychologischer Testbatterien aussetzen, nur verstehen werde ich es dadurch nicht.

Bevor ich Ihnen sage, welche Schlussfolgerungen ich aus dieser These ziehe, möchte ich Ihnen wenigstens in Kürze einige der Gründe, die m.E. für sie sprechen, nennen. Zunächst denken Sie bitte nur an sich selbst. Sie glauben sich selbst zu verstehen, schließlich stecken Sie ja schon zwanzig, dreißig, vierzig oder mehr Jahre in Ihrer Haut. Doch dann tun oder sagen Sie plötzlich etwas, was Sie selbst überrascht. Wollen Sie für sich selbst eine Garantie für Morgen, Übermorgen, für das nächste Jahr, für die Zeit Ihrer Rente geben? Solange Sie gelebt haben und solange Sie leben werden, sind Sie in einem ständigen Wandlungsprozess, und immer erst im nachhinein lässt sich sagen: „Ja klar, das musste so bei mir kommen!“ Sie können Ihr Leben betrachten als einen Prozess des zunehmenden Verstehens über Sie selbst, und Sie werden merken, dass Sie mit Ihrem Verstehen dem Leben immer nur hinterherkommen, so bald Sie glauben, etwas verstanden zu haben, ist Ihr Leben schon weiter. Wenn Sie also sich selbst nicht im vollen Sinne verstehen können, wie wollen Sie da einen anderen verstehen?

Bei Kindern kommt hinzu, dass sie sich in einer Lebensphase befinden, die sich gerade durch ihre Wandelbarkeit auszeichnet. Noch mehr als wir schon etwas verknöcherten Erwachsenen sind sie Menschen in der Entwicklung, und alles, was in der Entwicklung, im Werden ist, lässt sich nicht einfangen, wie engmaschig man das Netz auch webt.

Ich habe mir seit einiger Zeit einen Lieblingssatz angewöhnt: „Man guckt nicht in den Kopf des Kindes hinein.“ Die Haut ist die äußere Grenze, die ich von einem Menschen wahrnehmen kann, was der Kopf im Innern denkt und was das Herz fühlt, ich kann es nicht sehen. Von einem grimmigen Gesicht auf Ärger, von einer schlagenden Hand auf Aggressivität zu schließen, mag plausibel sein, aber ob es für denjenigen, der grimmig schaut und wild um sich schlägt auch stimmt, das weiß ich nicht. Und dieses „das weiß ich nicht“ ist mir bei Kindern besonders wichtig. Überall, wo wir mit scheinbar psychologischen Theorien glauben, ein Kind zu verstehen, sollten wir lieber öfter sagen: „das weiß ich nicht“. Alle Vermutungen, die wir darüber äußern, was jenseits der Schädeldecke eines Kindes abläuft, sind Vermutungen, die in unserem Kopf sind und nicht in dem Kopf des Kindes.

Ein weiteres spricht für mich für die Anerkenntnis der These, dass wir ein Kind nicht verstehen können. Maria Montessori hat es in einem Buchtitel mit den schlichten Worten „Kinder sind anders“ ausgedrückt. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie denken, fühlen und handeln ganz anders als wir, und sie müssen deshalb auch ganz anders bedacht, befühlt und behandelt werden als wir. Mit Hilfe der Entwicklungspsychologien Piagets und der Psychoanalyse ließe sich hierzu einiges sagen, doch dazu ist die Zeit heute nicht. Vielmehr möchte ich jetzt nur feststellen: Weil Kinder anders sind - anders als wir Erwachsenen und anders als wir Erwachsenen sie meinen zu verstehen - sollten wir uns große Zurückhaltung auferlegen. Denn das scheint mir eine große Gefahr im Erziehungsgeschäft zu sein: Wir unterliegen zu oft dem Erwachsenenzentrismus. Wir stellen uns das Kind zu oft so vor, wie wir selbst sind (oder sein möchten), wir denken uns zu oft, dass es so dächte wie wir, wir fühlen zu oft, dass es so fühlte wie wir. Übrigens möchte ich an dieser Stelle nur anmerken, dass das Argument, dass wir, als wir Kinder waren, auch dies oder jenes gemacht, gedacht, gefühlt haben, nicht weiterhilft. Wir haben zu viel vergessen von unserer Kindheit, wir denken und fühlen nicht mehr, wie wir als Kinder gedacht und gefühlt haben - die Zeit ist vorüber,  auch wenn einige vielleicht „leider“ sagen. Und: warum sollte ein Mädchen mit Barbie-Puppen spielen, weil auch wir mit Barbie-Puppen gespielt haben, bzw. weil wir gerade nicht mit Barbie-Puppen spielen konnten oder durften.

Ich habe meine Konzeption „kindzentrierte Kindergartenarbeit“ und nicht „Kinder“zentrierte Kindergartenarbeit genannt, weil es mir wichtig ist zu betonen, dass nicht Kinder im Plural im Mittelpunkt der Kindergartenarbeit stehen, sondern das einzelne Kind. Mir geht es um die Respektierung und Förderung der Individualität jedes einzelnen Kindes. Auf den jetzt angesprochenen Punkt des Verstehens bzw. besser Nicht-Verstehens von Kindern bezogen bedeutet dies: das Kind ist nicht ein Fall der allgemeinen Kategorie Kinder, Hans kein Beispiel des verhaltensauffälligen Jungen. Dies möchte ich gerne noch durch ein Beispiel illustrieren. Für ein Jahr hatte ich es in einem Kindergarten einmal mit Andrea zu tun, einem blinden und geistig behinderten Mädchen. Da ich mit behinderten Kindern gänzlich unerfahren war, erhoffte ich mir Hilfe von einem Sozialpädagogen, der landesweit speziell für die Frühförderung der Gruppe blinder, mehrfachbehinderter Kinder angestellt war. Ich bin diesem Sozialpädagogen heute noch für seine Hilfen dankbar. Das wichtigste, was er mir vermittelt hat, war die Einsicht, dass es für blinde, geistig behinderte Kindergartenkinder kein allgemein verbindliches Programm der Förderung gäbe, weil jedes Kind dieser Gruppe zu unterschiedlich sei, als dass man etwas Allgemeingültiges aufstellen könnte. Ich bitte Sie zu beachten: die Gruppe der blinden, geistig behinderten Kinder ist nicht sehr zahlreich, und dann noch die gehörlosen, die einbeinigen und einarmigen, die verhaltensauffälligen, die Alkoholikerkinder und die ganz normalen. Jedes Kind ist eine einmalige Individualität, die sich in einem rasanten Entwicklungstempo befindet. Wir können das einzelne Kind nicht in einem allgemeinen Verständnis von Kindern einfangen. So zutreffend die für den Plural getroffenen Aussagen auch sein mögen, Sie als Erzieherin haben es mit dem Kind im Singular zu tun.

5. Pädagogische Grundsätze

Meine These über das Nicht-Verstehen-Können des Kindes hat wichtige Konsequenzen für das pädagogische Verhalten im Kindergarten. Ich möchte Ihnen heute vier Punkte dazu sagen. Den ersten kleide ich bewusst in ein altmodisch klingendes Wort: Entwickeln Sie eine „demütige“ Haltung zu dem Kind. Mit diesem Wort verbinde ich Passivität, Achtung und Glauben. Ich hebe in meiner Kindergartenkonzeption stark die Bedeutung der Erziehung hervor. Einer der wichtigsten und auch schwierigsten Punkte in diesem Geschäft scheint mir der zu sein, die erzieherische Aktivität vor allem darauf zu lenken, passiv sein zu können. Das Ziel der pädagogischen Aufgabe ist es, dass das Kind sich zu einem gesunden Menschen entwickelt, und diese Entwicklungsaufgabe kann es nur selbst leisten. Ich mag und soll Hilfen dazu geben, aber ich muß mir ständig wieder neu bewusst machen, dass ich es nicht bin, der ein Kind entwickelt. Dies bringt mich zu der Achtung vor den Selbstentwicklungskräften des Kindes. Es ist ein Wunder, dass sich aus dem Nichts einer befruchteten Eizelle nach neun Monaten der lebensfähige Mensch herausbildet, es ist ein Wunder, dass sich aus dem schlafenden, zappelnden, saugenden Neugeborenen ein Einjähriger entwickelt, der sich selbst fortbewegen, der auf die menschliche Stimme reagieren und selbst die ersten Wörter plappern kann. Die Entwicklungsgeschwindigkeit verlangsamt sich, doch es ist immer noch wie ein Wunder zu betrachten, welch selbstbewusste Persönlichkeiten aus der dreijährigen Kindergartenzeit hervorgehen. Dies alles möchte ich mit dem Wort von der „demütigen Haltung“ zum Ausdruck bringen und ebenso den Glauben, dass die Selbstentwicklungstendenzen der Kinder ihren richtigen Weg gehen, wenn die Erwachsenen sie nicht in eine falsche Richtung lenken. Jeder von uns kennt dies von seiner eigenen Entwicklung: Es gibt Phasen der Schieflagen, der scheinbaren Retardierung, des Stillstandes und sogar der Fehlentwicklung. All dies ist selbstverständlich, denn starre Gradlinigkeit gehört nicht zum Wesen der Entwicklung in der Natur. Ich hoffe weiterhin, dass viele von Ihnen für sich erfahren haben, dass es in Zeiten, in denen die eigene Entwicklung in eine Sackgasse zu laufen schien, es einen bedeutungsvollen Erwachsenen gab, der auch dann noch an Ihre Entwicklungsmöglichkeiten glaubte, als Sie vielleicht schon an sich selbst zweifelten.

Die zweite Schlussfolgerung, die ich aus dem Satz von dem Nicht-Verstehen-Können der Kinder ziehe, ist die der Respektierung. Ein Kind ist so, wie es ist - nicht besser oder schlechter, nicht klüger oder dümmer, nicht sozial verträglicher oder aggressiver. Wühlen Sie einerseits nicht in der Geschichte des Kindes her, um durch das scheinbare Auffinden von Gründen klug klingende Erklärungen für sein Verhalten aufzufinden. Machen Sie sich andererseits aber auch nicht zu viele Sorgen um die Zukunft des Kindes, indem Sie Prognosen für dessen Schul- oder sogar Lebenserfolg aufzustellen versuchen. Respektieren Sie ein Kind so, wie es ist - laut und leise, schön und hässlich, wild und sanft, klug und dumm, fröhlich und brummelig oder all dies zusammen. Dies mag wieder wie eine schlichte Passivität klingen, doch bitte glauben Sie mir: Ich weiß, dass es eine große erzieherische Aktivität an sich selbst bedeutet, um als Erwachsener eine Haltung zu gewinnen, die das Kind so lassen kann, wie es ist. Ich kenne nervige, dumme, chaotische, gewalttätige Kinder, die eine große pädagogische Herausforderung darstellen. Deshalb weiß ich, dass ein Respektieren des Kindes „so wie es jetzt ist“ keine passive Haltung ist, keine Gleichgültigkeit, sondern ein aktives pädagogisches Arbeiten an der eigenen Person.

Neben dieser zweiten Schlussfolgerung steht für mich eine dritte: offen zu sein für die Wandlungen des Kindes. Es sind sehr kleine Kinder, mit denen Sie es zu tun haben. Ihre Persönlichkeitsentwicklung hat sich noch nicht so feste herausgebildet, dass sie nicht auch ganz anders werden könnte. Auch diese erzieherische Forderung, offen zu sein für die Wandlungen der Kinder, stellt eine eminente Herausforderung dar. In unserem Alltagsverhalten sind wir auf Stabilität ausgerichtet, wir müssen nicht jeden Tag das Rad neu erfinden, können uns auf uns selbst und andere verlassen. Dies hat Vorteile. Stellen Sie sich vor, Ihr Pfarrer, immer korrekt gekleidet, käme plötzlich im Lumpensack daher, oder ihre Kollegin, die immer strahlend den Kindergarten betritt, würde Sie morgen fauchend erwarten. Wir haben uns so eingerichtet, dass unsere Erwartungen an die anderen stabil sind  und dass wir von ihnen gleichbleibend erlebt werden. Korrekturen sind selbstverständlich, aber bitte nur in kleinen Portionen oder extremen Situationen. Es ist schwer, von dieser selbstverständlichen und für unser alltägliches Handeln wichtigen Haltung wegzukommen und sich nicht auf das Gleichbleibende, sondern das Wandelbare einzustellen. Aber doch ist diese Forderung pädagogisch notwendig, weil die Kinder sich in einem rasanten Entwicklungstempo befinden und in einer Entwicklungsphase, in der es notwendig ist, verschiedene Möglichkeiten der Selbstwerdung auszuprobieren. Zu dieser pädagogischen Haltung, die nicht auf das Gleichbleibende und Bestätigende der Entwicklung gerichtet ist, sondern die auf das sich sprunghaft oder langsam hervorkommende Neue einstellt, kommt noch hinzu, daß es für viele Kinder geradezu angezeigt ist, sie auf die anderen Möglichkeiten des Selbst- und Fremdbildes zu stoßen. Statt weiterer Erläuterungen ein praktischer Hinweis: Kaufen Sie noch heute Nachmittag eine kostbare Tasse Meißener Porzellans und geben Sie diese Tasse morgen früh dem Kind zum Geschenk, das wegen seiner Tölpeligkeit Ihnen und den Eltern schon lange aufgefallen ist. Ich garantiere Ihnen, dass Kind wird diese kostbare Tasse nicht hinwerfen, sondern es wird Ihnen dankbar sein, dass Sie der erste Mensch sind, der es nicht als Tollpatsch behandelt.

Ich komme für den heutigen Vormittag zu meinem letzten Punkt. Ich habe es wiederholt gesagt: Ich kann ein Kind nicht verstehen. Da ich meine Kindergartenkonzeption gleichzeitig als „kindzentriert“ definiere, scheint darin ein Widerspruch zu liegen. Diesen versuche ich dadurch aufzulösen, dass ich von der Erziehung als der „Annäherung an ein Kind“ spreche. „Schon wieder so eine Wortklauberei“, mögen Sie denken, aber der Unterschied zwischen „Verstehen“ und „Annäherung“ ist mir ebenso wichtig wie der vorige zwischen „Kindern“ und „Kind“. Der Konzeption vom „Verstehen“ liegt ein zweistufiges pädagogisches Vorgehen zu Grunde, das dem Bereich der Therapie entstammt: Als erstes versteht der Arzt mit Hilfe seiner Untersuchungsmethoden Ihre Krankheit und dann kann er gezielt therapeutische Maßnahmen ergreifen. Nun, in der Erziehung funktioniert dieses Zweiphasenmodell nicht, weil hier „verstehen“ und „eingreifen“ in eins zusammenfallen. Das gilt in pragmatischer Hinsicht: Sie kommen morgens früh in den Kindergarten, sehen ein Kind, sagen etwas oder schweigen. Wenn Sie mit Ihrem erzieherischen Handeln so lange warten wollten, bis Sie glaubten, ein Kind „verstanden“ zu haben, müssten Sie so lange warten, bis das Kind aus dem Kindergarten herausgewachsen ist. Indem ich von der Erziehung als Annäherung an das Kind spreche, kann ich des öfteren das mir Wichtige „das-weiß-ich-nicht“ sagen, ich bin frei von jeglichem Wahn, bei dem Kind etwas „aufarbeiten“ zu müssen, sondern ich kann Erziehung als das sehen, was sie m.E. ihrem Wesen nach ist: dem Kind Hilfe zu geben, neues Gelände betreten zu können. Erziehung ist nicht rückwärts-, sondern vorwärtsgewandt: das Kind soll unterstützt werden, sichere Schritte in eine Zukunft zu tun, in der es alleine bestimmen wird und alleine bestimmen muss, wer es mit seinem Leben in dieser Welt sein kann und will. Ich spreche von Erziehung als „Annäherung an das Kind, um die Momente zum Ausdruck zu bringen, die ich vorhin als wichtige Grundlagen einer pädagogischen Haltung beschrieben habe: die Demut, das Respektieren und die Offenheit für Wandlungen.

Was die Wandlungen angeht, so muss ich Ihnen und mir für die zweite Halbzeit meines vormittäglichen Vortrags auch eine solche zumuten. Ich habe die versprochen unsinnige Geschichte, die ich Ihnen jetzt vortragen möchte, unter die Überschrift „Vorsicht: Satire“ gestellt.

II. Vorsicht: Satire

1. Der Plan

Sie hören und lesen in der letzten Zeit häufig von den großen Löchern in den öffentlichen Haushalten, in den Rentenkassen, bei den Krankenversicherungen und nicht zuletzt bei den beiden großen Kirchen. Mal ist es der arme Finanzminister, der einer schon nicht mehr staunenden Zuhörerschaft erklären muss, wie er das erneut aufgetauchte Haushaltsloch zu kaschieren gedenke, dann muss wieder der Sozialminister an die Front, der mit gedrückter Stimme erklärt, dass die Rentenbeiträge auf der einen Seite stiegen, dafür aber die Zahlungen an die Rentner zurückgingen. Der Solidaritätspakt zwischen der älteren und der jüngeren Generation gerate durcheinander und alle hätten ihr Scherflein dazu beizutragen, dass zumindest der Konkurs abgewendet würde. Diese ganze Finanzdebatte ist ausgesprochen störend für den bevorstehenden Wahlkampf, denn bis jetzt wurden Wahlen immer durch Geschenke und Versprechungen gewonnen und nicht durch Parolen, daß alle den Gürtel enger schnallen müssten.

In dieser Situation hat Bundeskanzler Helmut Kohl das chronische Finanzdefizit zur Chefsache erklärt, ihm wird ja immer schon ein besonderer Instinkt für die richtigen Wahlthemen zur richtigen Zeit vorausgesagt. Am Wolfgangsee sitzt er, und angesichts der friedlichen Dörfer um ihn herum kommt ihm die Idee, wie mit einem Schlage sämtliche Probleme, vor allem das seiner gefährdeten Wiederwahl, lösen kann. Die Idee ist ganz einfach, aber einfache Ideen haben ja oft ihren besonderen Reiz. Ein Befreiungsschlag ist es, mit dem er es allen zeigen wird. Die Bild-Zeitung wird seinen Plan am Tag nach der Pressekonferenz wie folgt in die Titelzeile bringen: „Kohl: (Doppelpunkt) ‘Schafft die Kindergärten ab!’“

Vielleicht lachen Sie jetzt, vielleicht denken Sie auch: „So ein Quatsch!“ Aber das zeigt nur, dass Sie in Ihrem Besitzstandsdenken gefangen sind und die Vielschichtigkeit, die hinter dem Plan steht, nicht erkennen können. Ich will versuchen, sie Ihnen zu erklären. Zunächst einmal: wenn der Plan Wirklichkeit würde, müssten viele Frauen, die jetzt noch berufstätig sind, aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Dies würde Arbeitsplätze massenweise freimachen, und das uns jetzt so bedrückende Problem der hohen Arbeitslosenzahlen wäre gelöst, könnten Männer und Familienväter doch wieder in die ihnen angestammten Berufe zurückkehren. Und seien Sie als Frauen doch mal ehrlich: auch für Sie ist die Erfüllung häuslicher Aufgaben eine angenehmere Befriedigung als sich dem Stress des Berufslebens auszusetzen. Des weiteren würden Milliardensummen frei, die für die Stopfung von Haushaltslöchern genutzt werden könnten. Hinzu kämen die Gelder, die durch den Verkauf der Kindergartengrundstücke hereinkämen - und in Privatisierungsaktionen ist diese Regierung ja geübt. Die vorhandenen Kindergartengebäude würden in Einfamilienhäuser umgebaut - eine nicht unerhebliche Entlastung auf dem Wohnungsmarkt und ein Beschäftigungsprogramm, das der daniederliegenden Bauindustrie Aufschwung geben würde. Das pädagogische Argument, dass kleine Kinder im familiären Kreis ohnehin besser, weil individueller, erzogen werden könnten, spielt in der politischen Debatte übrigens keine Rolle - Kinder sind keine Wähler -, aber in mitternächtlichen Talkshows wird es heftig diskutiert. Die Taktik Helmut Kohls ist genial: lieber an einer Stelle einen richtigen Einschnitt machen und allenfalls die zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallende Gruppe der Erzieherinnen als Nicht-CDU-Wähler in Kauf nehmen, als es sich mit allen Bürgerinnen und Bürgern zu verderben. Gemeinnutz geht vor Eigennutz, das müssen auch die Berufsvertreter der Erzieherinnen und die Fachberaterinnen verstehen.

2. Die Konkurrenten

Das muss man sagen: der Befreiungsschlag ist Helmut Kohl gelungen. Die Zeitungen schreiben über nichts anderes mehr, das Fernsehen berichtet in ARD-aktuell und ZDF-spezial in ausführlichen Sondersendungen. Nur die Kommentatoren sind sich noch nicht sicher, wie sie argumentieren sollen. Der Generalsekretär der FDP, Herr Guido Westwelle, stimmt, nachdem er für eine Neidsekunde erblasste, begeistert zu: Schon immer seien die Liberalen für den schlanken Staat eingetreten, und der Kindergarten sei ein Ballast, der von der öffentlichen Hand nicht mehr mitgeschleppt werden könne, sondern in den Bereich der privaten Initiative gehöre. Der Kanzlerkandidat der SPD, sonst ja nicht gerade auf den Mund gefallen, ist für wenige Tage sprachlos. Als er sich wieder besinnt hat, greift er mit markigen Worten in die Debatte ein. Er pfeift die rote Heidemarie Wiezoreck-Zeul, die etwas von Frauenemanzipation geschwafelt hat, energisch zurück und verkündet, dass er eigentlich schon immer ..., und daß sich der Abbau der Kindergärten nahtlos in das beschlossene Modernisierungsprogramm der Partei einpasse. Dem SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Eilfertig und geschmeidig erklärt er, dass der SPD-Vorstand einstimmig - bei nur einer Enthaltung - den Anregungen des Spitzenkandidaten gefolgt sei. Es entbrennt geradezu ein Wettlauf zwischen den beiden großen Parteien, wer in der Gunst der Wählerinnen und Wähler die eigentliche Urheberschaft des Planes für sich in Anspruch nehmen könne.

Von den beiden kleinen Parteien lohnt sich hier kaum zu reden: Bei den Grünen setzt sich, nachdem die Fundis mit markigen Worten Helmut Kohl als Frauen- und Kinderschänder anprangen wollten, Joschka Fischer mit seiner pragmatischen Linie durch, vor allem als deutlich wird, dass durch die Reduzierung der Frauenarbeit auch einige Plätze mehr für Ausländer in unserem Land frei würden. Nur die PDS bleibt bei ihrem Uralt-Stasi-Sozialismus, der schon die Babys zwangsweise in die Krippen trieb.

Die Kirchen sind zunächst ein wenig gespalten: Einerseits sehen sie den Vorteil einer enormen Kostenersparnis auch auf ihrer Seite, und die katholischen Vertreter betonen, daß es schon immer auf ihrer Linie gelegen hätte, die Familie zu stärken. Aber mit den Erzieherinnen in den Kindergärten müssen sie auch an eine große Gruppe von Arbeitnehmerinnen denken. Deshalb streichen sie im Konzert der öffentlichen Meinungen besonders heraus, dass der geplante Abbau der Kindergärten sozial abgefedert zu erfolgen habe. IG-Bergbau und IG-Metall erklären sich gerne bereit, den Kirchen ihre Erfahrungen mit Sozialplänen bereitzustellen.

3. Die Durchführung

Damit die Wählerinnen und Wähler spüren, dass der frische Wind tatsächlich unser Land belebt und das ganze Deutschland in eine blühende Landschaft verwandelt, wird das Gesetzesvorhaben noch vor der Wahl auf den parlamentarischen Weg gebracht, und - weil Widerstand von keiner Seite zu erwarten ist - in Windeseile in drei Lesungen vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat stimmt freudig zu, sind es doch gerade die Länder, die sich von einer ungeheuren finanziellen Last befreien können. Mit „Zukunftssicherungsgesetz“ bekommt das Vorhaben einen ihm gemäßen Titel. Die Unterüberschrift lautet demgegenüber etwas umständlich verklausuliert: „Gesetz zur Konsolidierung und Stabilisierung öffentlicher Haushalte durch Ergänzung des Solidaritätsvertrages der Generationen im Sinne einer wechselseitigen Absicherung der Pflichten und durch geschlechtsspezifische Verlagerung der Balance auf dem Arbeitsmarkt nebst zweitem Gesetz zur Veränderung des Gesetzes über die Kinder- und Jugendhilfe“. Im Kern bedeute dies die ersatzlose Streichung des § 22 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, so dass die Länder und Kommunen zur Förderung von Tageseinrichtungen für Kinder nicht mehr aufgefordert sind. Weil man gerade in Streichlaune ist, streicht man auch den Rentnern die Erhöhung ihrer Bezüge - auf einem Bein steht sich schlecht und die Balance der Generationenansprüche ist ja das Ziel des Planes von Regierung und Opposition gleichermaßen.

Das Gesetz ist beschlossen, und die einzelnen Bundesländer gehen munter an die Abschaffung ihrer Kindergartengesetze, -richtlinien und -erlasse. Noch bevor das Ganze in die Verwaltungspraxis umgesetzt werden kann, finden die Bundestagswahlen statt, und es zeigt sich mal wieder, dass der alte Stratege Helmut Kohl auf das richtige Pferd gesetzt hat. Von den Bürgerinnen und Bürgern erhält er einen überwältigenden Vertrauensbeweis. Der SPD-Kanzlerkandidat scheitert, aber das ist nicht weiter schlimm, ein neuer Kandidat wird sich in vier Jahren schon finden lassen, und die Überlegung taucht auf, ob es das nächste Mal nicht klüger sei, den Kanzlerkandidaten erst nach der Wahl zu nominieren.

Das Zukunftssicherungsgesetz sieht einen Vertrauensschutz für die Kinder vor, die sich zum 1. 7. 1997 bereits in einem Kindergarten befanden. Sie können bis zu ihrer Einschulung in der Einrichtung verbleiben, neue Kinder werden allerdings nicht aufgenommen. Dies ermöglicht es den Trägern, nicht alle Erzieherinnen auf einen Schlag entlassen zu müssen, sondern auf drei Jahre hin dieses Problem verteilen zu können. Sie erinnern sich, dass die Kirchen ja gefordert hatten, die Maßnahme müsse sozial abgefedert erfolgen. Frau Birgit Breuel bekommt neben ihrem Job als Managerin der Expo 2000 eine zusätzliche Aufgabe: Sie wird Vorsitzende der „Treuhand zur Veräußerung überflüssiger Kindergartengrundstücke und -gebäude“. Auch für sie endlich eine Tätigkeit, aus der sie mit finanziellem Gewinn herauskommen wird.

4. Die Gewinner

Um beurteilen zu können, ob neben der erfolgreichen Wiederwahl des Bundeskanzlers der Plan zur Abschaffung der Kindergärten tatsächlich das erbringt, was man dermaleinst sich davon versprach, müssen wir jetzt unseren Blick zehn Jahre voraus in die Zukunft werfen. In der Tat, anfängliche Erfolge lassen sich nicht bestreiten: Die Haushalte der Länder und Kommunen sind auf einen Schlag saniert, und weil der Bund über eine Reduzierung der Mehrwertsteuerzuweisung an die Länder selbst mehr Geld einnimmt, freut sich auch der Bundesfinanzminister. Die Kirchen stehen finanziell ebenfalls besser da, ja man kann sogar die Reduzierung der Kirchensteuer um einen Prozentpunkt erwägen. Das spezielle Problem der Entlassungswelle für die Erzieherinnen erweist sich, sieht man von wenigen Härtefällen ab, als nicht so schwierig. Die älteren, über 50-jährigen Kolleginnen werden durch einen Sozialplan abgefedert in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Die jüngeren Erzieherinnen planen selbst verstärkt die Gründung einer eigenen Familie, ein Anstieg in den Babyzahlen läßt sich kurzfristig dadurch sogar statistisch nachweisen. Die Gruppe der mittelalterlichen Erzieherinnen - zu alt für die eigene Familienplanung, zu jung für den vorzeitigen Ruhestand - löst ihr Arbeitslosenproblem auf eigene Faust: massenweise sehen wir sie in den Tageszeitungen inserieren, dass sie eine Möglichkeit als Tagesmutter anböten, ein Angebot, das von vielen berufstätigen Müttern gerne aufgegriffen wird.

Es gibt noch andere Gewinner bei der Durchführung des Plans zur Abschaffung der Kindergärten. Die Spielzeugfirmen und Kinderkassettenhersteller steigern ihre Produktion, die Spielzeuggeschäfte und Warenhäuser erhöhen ihren Umsatz. Auch wenn einige Firmen, die sich früher auf die Belieferung von Kindergärten spezialisiert hatten, jetzt Konkurs anmelden müssen, die Umsatzsteigerungen allein der Firmen Lego, Playmobile und Toys’r’us im zweistelligen Bereich machen dieses Manko mehr als wett. Da der tägliche Fernsehkonsum der noch nicht schulpflichtigen Kinder sich beträchtlich erhöht, steigen die Preise für die Werbespots in Höhen, wie wir sie früher nur für Fußballübertragungen kannten - ein erhebliches Plus für die Betreiber von RTL, SAT 1 und PRO 7 ist die Folge. Insgesamt kann man sagen, dass der erhöhte Kinderkonsum ein Faktor ist, der für die Privatwirtschaft zu einem willkommenen Motor wird.

5. Die Probleme

Nur in einem Punkt funktioniert der Plan zur Abschaffung der Kindergärten nicht in gewünschter Weise: die Frauen, die trotz kleiner Kinder berufstätig sind, lassen sich nicht aus ihren Arbeitsstellen verdrängen, und die Reduzierung der Arbeitslosenzahlen findet deshalb faktisch nicht statt. Weil diese Frauen nicht freiwillig ihre Arbeitsplätze räumen wollen, arbeiten einige Hardliner im konservativen Lager an Plänen, auf gesetzlichem Wege die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf zu verbieten. Doch dies sind selbst in der CDU nur Ausnahmeerscheinungen, die eine nicht zu beachtende Randposition einnehmen. So einfach, dass weiß der inzwischen älter gewordene Vordenker der CDU - Wolfgang Schäuble - lässt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.

Doch die Berufstätigkeit vieler Mütter mit kleinen Kindern hat nicht nur negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, sondern auch für die betroffenen Kinder. Immer massiver werden die diesbezüglichen Probleme, und zur Illustration des Gemeinten lese ich Ihnen heute fünf Zeitungsartikel vom 26. November 2007 vor.

1. Das Hamburger Abendblatt berichtet unter der Überschrift „Stoppt den Wahnsinn - Warum Franziska sterben musste“, dass innerhalb einer Woche bereits das fünfte Kind von einem Auto überfahren wurde. Außer dem Photo von der Unfallstelle, das kein Detail auslässt, wird die weinende Mutter Franziskas abgebildet, und unter diesem Photo stehen die Worte: „Erst jetzt?!“. Der Artikel macht die Schuldige rasch aus. Die Fahrerin des Unglückswagens, Frau B., kann es nicht sein, denn sie ist umsichtig in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 50 km/h gefahren. Aber ist Franziskas Mutter ebenso verantwortlich mit ihrem Kind umgegangen? Von ihr lesen wir, dass sie schon seit dem zweiten Lebensjahr Franziskas diese für acht Stunden am Tag alleine ließ, während sie in einer Computersoftwarefabrik ihrer Arbeit nachging. Franziska streunte so tagsüber alleine in der Gegend herum, und auf ihrem letzten Gang wurde sie von dem Auto erfasst. Da dies - wie gesagt - schon der fünfte Vorfall vergleichbarer Art in einer Woche ist, nimmt sich der Chefredakteur des Hamburger Abendblattes in einem Kommentar persönlich der Sache an. Mit markigen Worten fordert er von den Politikern: „Wann, meine Herren, machen Sie die Straßen endlich kindersicher vor diesen herumstreunenden Blagen?“

2. Am gleichen Tag schreibt die Süddeutsche Zeitung in seriöserer Weise, aber auch sie weiß von einem Skandal zu berichten: Acht Kinder seien in der 40 qm großen Wohnung einer Tagesmutter in erbärmlichem Zustand angetroffen worden. Die ältere Frau, offensichtlich Alkoholikerin, habe die Kinder für einen Einzelpreis von 350 ECU monatlich bei sich aufgenommen, alles Kinder wohlhabender Eltern, denn wer sonst könne sich dieses Geld leisten. In dem Bericht der Süddeutschen Zeitung kommt auch der Jugendamtsleiter der Stadt München zu Wort: „Wir wissen, dass viele Kinder während des Tages unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht sind. Aber was sollen wir machen? Einerseits fehlt uns für regelmäßige Kontrollen von Tagesmüttern das notwendige Personal und andererseits: Was wird denn mit den Kindern, wenn wir so einen Laden dichtmachen? Wenn wir nur so etwas wie die früheren Kindergärten hätten!“

3. Noch ein Blick in die Bild-Zeitung möchte ich Ihnen geben. Unter der Überschrift „Kinderbanden“ wird berichtet: „Schon wieder hinterlässt eine Horde von Kindern eine Spur der Verwüstung in der Hannoveraner Innenstadt. Unter der Anleitung des sechsjährigen Fritz schwärmen die kleinen Pöbel mit einem Schraubenzieher bewaffnet aus. ‘Automalen’, so nennen sie selbst ihre Schandtaten. Vor allem teure Nobelkarossen sind das Ziel ihres Zerstörungsdranges. Nur der Besonnenheit der Polizisten des 7. Reviers ist es zu verdanken, dass diesen Halunken das Handwerk gelegt werden konnte. Aber wer schützt uns vor dem nächsten Fritz, der bereits jetzt in den Wohnsilos der Vorstädte aus Langeweile seine Pläne ausheckt?“ Zum Schluss des Artikels kommt der berühmte Kinderpsychiater Prof. Dr. Mäusling zu Wort, und er wird mit dem Ausspruch zitiert: „Das Böse ist in jedem Menschen. Wir müssen es rechtzeitig bekämpfen.“

4. Die Hamburger Wochenschrift „Die Zeit“ nimmt sich in einem Sonderteil in dieser Woche eines speziellen Problems an: der Ernährungssituation der Kinder. Kein Kind habe in unserem Lande Hunger zu leiden, vielmehr hätte die Nahrungsmittelindustrie sich gerade seit der Abschaffung der Kindergärten gezielt um neue Produkte bemüht, die sie über Werbespots den Kleinen schmackhaft mache. Wir hätten eine differenzierte Palette von speziellen Kinderernährungsprodukten, über die der Mensch vor zehn Jahren - an Kinderschokolade und Fruchtzwergen gewohnt - nur gestaunt hätte. Trotzdem berichteten Zahnärzte über ..., und Schulärzte, dass ... Ich überlasse die Ausmahlung der diversen Probleme Ihrer eigenen Phantasie.

5. Als letztes möchte ich Ihnen noch von der Fachzeitschrift „Die moderne Grundschule“ berichten, die ihre Lehrer-Leser aufforderte, über die Erfahrungen mit dem neuen Einschulungsjahrgang 2007 zu berichten. Die Reaktion der angesprochenen Lehrer hat selbst die Redaktion der „Modernen Grundschule“ überrascht. Bergeweise wird sie mit Berichten überhäuft, so dass die Redaktion schließlich ein Sonderheft herausgibt, in dem ausschließlich die Leserbriefe abgedruckt werden. Die Tendenz dieser Beiträge ist eindeutig: Die Schulanfänger des Jahres 2007 können sich keine fünf Minuten konzentrieren, mit Stiften und Schere wissen sie nicht umzugehen, und ihr Sozialverhalten sei so wenig ausgeprägt, dass an einen regulären Unterricht nicht zu denken sei: ständig verletzten sie die Mitschüler oder sich selbst. Eine Lehrerin meint, indem sie auf eine langjährige Berufserfahrung zurückblickt: „Die Kinder heutzutage sind pfiffiger in allen Dingen, die ihr tagtägliches Überleben angehen als die Kinder vor zehn Jahren, aber in allen Bereichen, die für das Schulelernen notwendig sind, sind sie durch nichts zu motivieren.“

6. Die Vorzeigeprojekte

Meine lieben Zuhörerrinnen. Durch die Auswahl der zitierten Zeitungsberichte mag der Eindruck aufkommen, ich schildere Ihnen die Situation im Jahre 10 nach Abschaffung des Kindergartens ausschließlich in düsteren Farben. Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, das ist auch so: die Probleme mit den kleinen Kindern nehmen überhand. Aber ich muss Ihnen auch von dem Positiven berichten, wobei ich mich jetzt auf wenige beispielhafte Projekte beschränke.

1. Gesponsert von Mercedes und BMW richtet der Allgemeine Deutsche Automobil Club sogenannte „Kinderverkehrsgärten“ ein - und es ist nicht uninteressant zu erwähnen, dass der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club Junior-Partner dieses Vorhabens wird. Vorschulkinder werden hier in ein richtiges Verhalten im Straßenverkehr eingewöhnt, und offen muss gesagt werden: die didaktischen Konzepte und die materielle Ausstattung dieser Kinderverkehrsgärten würden jeder Erzieherin zehn Jahre zuvor vor Neid erblasst haben lassen. Für die Firmen Mercedes und BMW sind diese Kinderverkehrsgärten eine gelungene Aktion, die sich in Werbekampagnen gut vermarkten lässt („Wir haben verstanden“), nur die Zahl der Unfälle mit Kindern im Straßenverkehr kann dadurch nicht reduziert werden. Es laufen einfach zu viele Kinder frei herum.

2. Das Diakonische Werk richtet gemeinsam mit dem Jugendamt der Stadt Emden sogenannte „Wartehäuser“ ein, in denen die berufstätigen Mütter gegen ein geringes Entgelt ihre Kinder parken können. Stellen Sie sich diese „Wartehäuser“ bitte nicht wie die früheren Kindergärten vor, sondern mehr wie Gelegenheiten, Kinder umweltsichernd unterzubringen, während die Erwachsenen sich ernsthaft beschäftigen. Wenn Sie älter sind, können Sie sich vielleicht noch an die früheren Kinderparks der Firma IKEA erinnern - so in etwa, nur mit wesentlich mehr Kindern angefüllt. Rasch werden die Wartehäuser von den Eltern bestürmt, und in den Zeitungen wird über den Erfolg in Emden berichtet, so dass die Wartehäuser zu einer bundesweiten „Wartehaus-Bewegung“ werden.

3. Das Problem der herumstreunenden Kinderbanden ist besonders schwierig zu lösen. Zunächst glaubte man, dass man diese verhaltensauffälligen Kinder gemäß § 32 KJHG in Tagesgruppen für Kinder behandeln könne, aber dann scheiterte dieses Vorhaben an der ungeheuer großen Zahl der Fälle. Ein bedarfsgerechtes Netz dieser Tagesgruppen würde Ausgaben erforderlich machen, die höher wären als die Wiedereinführung der allgemeinen Kindergärten. Deshalb muss man sich notgedrungen damit abfinden, diese Kinder verloren zu geben. Sie werden ihren Eltern weggenommen und in große Kinderverbesserungszentren gesteckt, die außerhalb der Städte überall entstehen.

4. Der nächste Punkt ist wieder erfreulich zu erwähnen. Um das Ernährungsproblem zu lösen, hat die größte Hamburgerkette eine Aktion gestartet: „Mc Donald’s for Kids“. Nicht wie bei einem früheren Drive-In müssen die Kinder in die Läden kommen, sondern in speziellen Servicewagen wird das Essen zu den Kindern gebracht. Und zweierlei ist bei dieser Aktion „Mc Donald’s for Kids“ besonders erwähnenswert: Zunächst das soziale Engagement dieser Firma, die mit speziellen Volksburgern gerade die Wohnsiedlungen der ärmsten Kinder anfährt, und dann das ernährungsbewusste Verhalten der Gesellschaft: in langer Forschungsarbeit ist es gelungen, einen Hamburger zu entwickeln, der allen Ansprüchen der strengsten Apostel der Vollwerternährung entspricht und in den sich Kinderzähne trotzdem herzhaft hineinbeißen lassen.

5. Schließlich ist von einem beispielhaften Vorhaben des Fernsehsenders RTL zu berichten. In seiner Aktion „Keine Gewaltdarstellungen vor Mittag“ verbannt er alle Darstellungen pornographischer und aggressiver Art aus dem Vormittagsprogramm, und er sendet statt dessen lehrreiche Filme, die die Kleinen auf die Schule vorbereiten sollen. Die ARD ist froh, dass RTL sogar für eine immense Summe die Zweitverwertungsrechte der Sesamstraße übernimmt. Die Aktion „Keine Gewaltdarstellung vor Mittag“ wird von der Bundesfamilienministerin mit dem großen Preis „Gemeinsam für unseren lieben Kleinen“ ausgezeichnet.

7. Das Ende der Geschichte

Diese Geschichte muss endlich zu Ende gehen. Werfen wir also einen noch weiteren Blick voraus in das Jahr 2028. Helmut Kohl ist immer noch Bundeskanzler. Dank seiner guten Gesundheit und der Wählergunst des Publikums lässt sich sein Wunsch, noch vor Bismarck der am längsten regierende Bundeskanzler aller Zeiten zu sein, realisieren. Doch seine erneute Wiederwahl ist gefährdet, diesmal nicht wegen der Finanzpolitik, sondern wegen der großen gesellschaftlichen Probleme mit den kleinen Kindern - soweit sie überhaupt noch geboren werden. Denn trotz der eben kurz erwähnten vorbildhaften Aktionen lassen sich die Schwierigkeiten mit den herumstreunenden Kindern nicht in den Griff bekommen, und selbst die Professoren stöhnen inzwischen über die unfähigen Studenten, die eines Hochschulstudiums nicht würdig seien.

Helmut Kohl sitzt am Wolfgangsee, seinen inneren Blick richtet er zurück auf die ersten Jahre seiner Kanzlerschaft. Und ganz in sich selbst versonnen sagt er: „Du, Hannelore, ich hab’s. Kindergärten werden wir einrichten müssen.“

III. Praktisches: Das Bild eines gewöhnlichen Kindergartens

Ich möchte jetzt mit Ihnen den Gang durch einen Kindergarten machen, um etwas von dem zu verbildlichen, was ich mir unter gelungener Kindergartenarbeit vorstelle. Es handelt sich nicht um einen besonderen Kindergarten, der sich durch modische Projekte aus der Menge der umliegenden Einrichtungen heraushöbe, denn interessiert bin ich an der ganz normalen Kindergartenarbeit, so wie sie in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus in vielen europäischen Staaten zehntausende von Malen jeden Tag aufs Neue vorkommt. Wenn Sie in vielem, was ich Ihnen sage, Ihre eigene Einrichtung wiedererkennen, nehmen Sie es als Bestätigung, denn es ist nicht die Absicht meiner Konzeption, die Kindergartenarbeit von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Wenn Sie einiges finden, was Ihnen nicht vertraut vorkommt, dann schieben Sie es entweder der Besonderheit der vorgestellten Einrichtung in die Schuhe, oder denken Sie darüber nach, ob diese Elemente nicht auch eine Anregung für Sie sein können. Ich spreche im folgenden von „unserem“ Kindergarten und meine dabei mich und Sie als meine lieben Zuhörerrinnen. Tatsächlich existiert die Einrichtung, die ich Ihnen vorstelle, im faktischen Sinne nicht, sondern stellt sie stellt nur das mögliche und mir sinnvoll erscheinende Bild eines Kindergartens dar.

1. Raum- und Materialgestaltung

Was den äußeren Standard unserer dreigruppigen Einrichtung angeht, so muß man ehrlich sagen, gibt es gelungenere Architekturen: das Gebäude ist älteren Baujahrs und lange, schlauchartige Flure statt einer geräumigen Eingangshalle bestimmen das Bild. Daran lässt sich ebenso wenig etwas ändern wie an der Tatsache, dass das Außengelände zu klein ausfällt. Trotzdem haben sich die Erzieherinnen alle Mühen gegeben, auch den Flurbereich mit als Spielfläche nutzbar zu machen. Große Pinnwände sehen wir angebracht, an die die Kinder selbständig ein Blatt heften können, um es mit der bereitgestellten Fingerfarbe zu bemalen. Pferdeleinen und Seile hängen an einem Ständer, denn die Länge der Flure lädt zum Rennen ein. Am Ende des Ganges steht eine Werkbank, auch diese ist von den Kindern frei zu nutzen. Zunächst glaubten die Erzieherinnen, dies sei eine „Kreativzone“, doch dann zeigte sich bald, dass die meisten Kinder hier weniger aufbauen als zerstören (hämmern, sägen, feilen) wollten.

Schon im Flurbereich fällt die besondere Ästhetik unseres Kindergartens auf. Obwohl die Einrichtung nicht gerade über viel Geld verfügte, haben die Erzieherinnen teure Bilderrahmen angeschafft, in denen sie Reproduktionen wertvoller Gemälde zeigen. Neben Breugel, Miro und Klee werden auch wechselnde Produkte von Kindern hier ausgestellt. Vor jeder Gruppentür hängt ein Gedicht, das die Erzieherinnen „Monatsgedicht“ nennen, weil sie es jeden Monat wechseln. Hier wird den Eltern Nachdenkliches und auch Lustiges präsentiert.

Die ästhetische Gestaltung, die allen Kinderkitsch aus dem Gebäude entfernt hat (keine bemalten Fensterscheiben, keine baumelnden Äste) setzt sich in den Gruppenräumen fort. Nicht das sie besonders aufgeräumt wären, denn obwohl wir diesen Kindergarten an einem Nachmittag besuchen, nachdem die Kinder fort sind, liegt noch vieles herum, das den meisten Putzfrauen ein Dorn im Auge wäre. Doch nicht wie Kraut und Rüben liegen die Dinge durcheinander, sondern vielmehr ist es so wie in einem Arbeitszimmer, das man für eine Pause verlassen hat, um dann die begonnene Arbeit fortsetzen zu können.

Die Gestaltung der Gruppenräume zeichnet sich durch das Prinzip „weniger ist mehr“ aus Nur wenige Bilder hängen an den Wänden, ein großes Regal ist längs in die Mitte des Raumes gestellt und nimmt alle Spielsachen auf, nur zwei Tische stehen im Raum: ein großer runder Frühstückstisch und ein weiterer, an dem die Kinder wahlweise kneten, malen oder Memory spielen können. Vielleicht etwas ungewöhnlich sind die Sitzmöbel: nicht 27 gleiche Kinderstühlchen befinden sich im Raum, sondern ein großes Sofa, ein alter Opasessel, mehrere Schaumstoffkissen und einige Kindersesselchen. Ausgelegt sind alle Gruppenräume mit einem weichen, kurzschlingigen Teppichboden. Auf dessen Investition haben die Erzieherinnen viel Wert gelegt, wissen sie doch, dass der liebste Spielort der kleinen Kinder der Boden ist. Blicken wir von unten auf die Decke. Wir sehen hier keine gleichmäßige Beleuchtung des gesamten Raumes, sondern eine Reihe unterschiedlicher Lichtquellen: eine alte Stehlampe beim Sofa, jeweils eine Lampe über den beiden Tischen, eine Reihe von Strahlern, die die Kinder an- und ausknipsen können, so dass der Raum unterschiedlich hell ausgeleuchtet ist.

Vergleichen wir die drei Gruppenräume miteinander, so zeigt sich Gemeinsames und Unterscheidendes gleichermaßen. In jedem Raum gibt es eine ähnliche Grundstruktur, die den Kindern die Möglichkeit bietet zu malen und zu kneten, zu bauen und Autos fahren zu lassen, zu turnen und sich zurückzuziehen. Für letzteres haben die Erzieherinnen in jeder Gruppe eine Art Litfasssäule aufgestellt, in der es ganz dunkel ist und in die ein bis drei Kinder hineinklettern können. Trotz der Gemeinsamkeiten weist jeder Raum seine Besonderheit auf: in dem ersten steht ein großes Klettergerüst, der zweite hat ein Babyzimmer mit echten Babymöbeln, und der dritte Raum verfügt über eine stattliche Anzahl von Montessorimaterialien. Darüber werde ich gleich noch berichten. Obwohl es also für grobmotorische Aktivitäten, Rollenspiel und Stillarbeit besondere Angebote gibt, käme keine Erzieherin auf die Idee, ein Kind zu fragen, was es heute machen wolle, um es dann auf den entsprechenden Raum zu verweisen.

Das mit dem Montessoriraum hat seine besondere Geschichte. Eine Erzieherin war auf einer Fortbildung auf den Namen Maria Montessoris gestoßen. Da sie von der Pädagogik dieser Frau fasziniert war, hat sie eine spezielle Weiterbildung begonnen und Zug um Zug ihren Raum entsprechend der dort geltenden Prinzipien umgestaltet. Sie praktiziert diese entsprechende Methode, aber sie weiß auch, dass sie nicht allumfassend ist. Deshalb ist sie froh, dass die Kinder neben diesem Angebot jederzeit die Möglichkeit haben, richtig zu spielen, das heißt: umherzulaufen zu klettern und sich in wechselnden Rollenspielen auszuprobieren. Eine Idee hat die Montessori-Erzieherin aber doch so massiv in den Kindergarten eingebracht, dass alle Kolleginnen sie für ihre Gruppe übernommen haben: Wir werden zu keinem Zeitpunkt in unserem Kindergarten ein Puzzle finden, das nicht vollständig ist, kein Würfelspiel, bei dem ein Püppchen fehlt, kein Verkleidungsstück, an dem die Knöpfe abgerissen sind, kein Auto, dem die Räder fehlen usw. Falls ein Material beschädigt oder unvollkommen sein sollte, wird es aus dem Verkehr gezogen, wenn möglich von der Erzieherin repariert oder für eine Ersatzbeschaffung gesorgt.

Auf unsere Montessori-Erzieherin geht noch eine andere Anregung zurück. Sie hat von dem Raum der Stille gehört, und weil es sich in unserer Einrichtung nicht anders realisieren ließ, haben alle Erzieherinnen gemeinsam im Keller einen entsprechenden Raum gestaltet, der nicht auf Grund äußerer Anweisungen, sondern wegen seiner spezifischen Gestaltung das Kind zur Ruhe und meditativen Betrachtung einlädt. Des öfteren im Verlauf des Vormittags kommt es vor, dass einzelne Kinder oder kleine Gruppen eine Erzieherin bitten, in den „Schweigeraum“ gehen zu können, der von einigen auch als „Betraum“ bezeichnet wird. Der Raum weist einige besondere Bilder auf - Darstellungen des Isenheimer Altars von Grünewald -, und die Kinder können dort klassische Musik hören, sich in einen Sessel setzen und in dem dunklen, nur von Kerzenlicht beschienenen Raum einige Minuten oder auch längere Zeit verharren.

Das Gegenteil dieses Schweigeraums ist die Turnhalle. Einmal in der Woche ist er für den freien Zugang der Kinder geschlossen, da dann jeweils eine einzelne Erzieherin mit wenigen Kindern ihre „Turnstunde“ abhält, aber ansonsten steht er allen Kindern zur freien Verfügung. Mittelpunkt der Turnhalle ist ein großer Boxring, ausstaffiert mit dicken Matten, einigen bereitliegenden Boxhandschuhen und einem dicken Sandsack. Des öfteren verabreden sich Jungen zu einem echten „Kämpfchen“, und ihre besondere Freude ist es, wenn eine Erzieherin sich als richtige Boxpartnerin zur Verfügung stellt. Da dieser Raum besondere Gefahrenquellen aufweist, haben es die Erzieherinnen im Wechsel unternommen, dort regelmäßig Aufsicht zu führen

2. Tagesablauf

Weil der Besuch unseres Kindergartens zu einem Zeitpunkt, wo die Kinder fort waren, unser Interesse gefunden hat, sind wir froh, dass wir die Möglichkeit haben, am folgenden Vormittag gemeinsam mit Marion, einer Erzieherin, die in dieser Einrichtung arbeitet, einen Tag in diesem Kindergarten verbringen zu können. Marion gehört nicht zu den Kolleginnen, die den jeweiligen Morgen mit einem strahlenden Lächeln begrüßen. Deshalb verbringt sie die erste, noch kinder-freie Viertelstunde des Kindergartenvormittages zumeist schweigend und mit einer Tasse Kaffee in der Hand, während andere Kolleginnen in der Runde sich munter über dieses und jenes unterhalten. Die ersten Kinder kommen, und die gesamte Mannschaft begibt sich in den jeweiligen Raum. Marion hat es sich angewöhnt, die die Kinder bringenden Eltern kurz abzufertigen. Dies hat weniger mit ihrem Morgenmuffelcharakter zu tun als mit der von ihr begründeten Einsicht, dass der Kindergartenvormittag für die Kinder da sein soll und dass gerade jetzt einige von ihnen ihre Anwesenheit benötigen, um zu ihrem Spiel zu finden.

Auffällig ist die Unterschiedlichkeit, mit der Marion die einzelnen Kinder begrüßt: einige von ihnen scheinen sie nicht besonders zu beachten und Marion beachtet diese deshalb auch zu diesem Zeitpunkt nicht besonders. Frank dagegen begrüßt sie jeden Morgen aufs Neue mit einem festen Schlag auf den Rücken, nicht unschmerzhaft, aber zumindest jetzt ist Marion richtig wach. Andrea muss ersteinmal fünf Minuten auf den Arm der Erzieherin, bevor sie für den Rest des Tages fast völlig aus dem Bild verschwindet. Matthias muss von Marion an der geöffneten Eingangstür abgeholt werden, sie muss ihm die Schuhe aus- und die Pantoffel anziehen, und obwohl er all dies auch alleine könnte, weiß die Erzieherin, dass dies die fünf Minuten sind, die Mathias von ihr braucht.

Die Freispielphase ist in diesem Kindergarten besonders ausgeprägt: sie dauert vom ersten Eintreffen der Kinder bis ca. eine halbe Stunde vor Ende des Kindergartenvormittags. Die Kinder können in dieser Zeit in ihrem Gruppenraum spielen, in eine andere Gruppe gehen, den Flur benutzen oder das Außengelände aufsuchen. Sie müssen dazu niemanden um Erlaubnis fragen oder sich auch nur abmelden, denn es ist das selbstverständliche Recht jedes Kindes, sich nach eigener Wahl in jedem Teil des Kindergartens oder draußen aufzuhalten und selbstbestimmt den Spielort zu wechseln. Einzig für den Schweigeraum im Keller gibt es strengere Regeln, aber er soll für die Kinder auch den Charakter des Besonderen behalten. Die lange Zeitspanne für das Freispiel halten die Erzieherinnen für wichtig, weil sie wissen, dass es Zeit braucht, bis ein Kind zu seinem Spiel findet, und dass die Dauer eines Spiels von dem Kind selbst bestimmt werden muss. So wie die Kinder den Raum wechseln, bewegt sich auch Marion auf der gesamten Fläche. Zwar weiß sie sich besonders verantwortlich für ihren eigenen Gruppenraum, und etwas mehr als die Hälfte des Vormittags verbringt sie auch dort, aber sie hält sich auch flexibel, um je nach Kinderzahl ihre Jacke anzuziehen, um auch bei Regenwetter die Aufsicht auf dem Außengelände sicherzustellen.

Wenn wir zusammenfassen, was wir an dem Kindergartenvormittag von Marions Tätigkeiten gesehen haben, so ist von wenig Spektakulärem zu berichten - jede von Ihnen kennt das. Marion unterhält sich am Frühstückstisch lange mit einzelnen Kindern, sie hilft einer kleinen Kindergruppe, dass diese zu dem gewünschten Material kommt, sie putzt einem Kind den Hintern ab und erklärt einem anderen, wie es sich die Hände mit Seife waschen kann. Sie schlichtet Streit zwischen verfeindeten Kindern, tröstet ein weinendes Mädchen und ermahnt eine wilde Kinderbande zu etwas mehr Rücksicht. Wenn wir es mit Beobachtungen anderer Erzieherinnen vergleichen, so zeigt Marion lediglich drei Besonderheiten. Zunächst: wir sehen sie nahezu den gesamten Vormittag nie selbst mit einem Kind oder einer Kindergruppe spielen; dann: wir beobachten, dass sie mindestens 10 % ihrer Zeit scheinbar nichts zu tun scheint, sondern nur in einer Ecke steht und den Kindern bei ihrem Treiben zuschaut; und schließlich müssen wir feststellen, dass sie ausschließlich mit Peter auf dem Sofa sitzt, ihm ein Bilderbuch vorliest und die anderen Kinder während dieser Zeit freundlich, aber bestimmt wegweist. Die letzte Beobachtung finden wir noch merkwürdiger, als wir von Marion erfahren, dass sie diese zehn Minuten jeden Tag exklusiv mit Peter auf dem Sofa verbringt. Als wir mit Marion in der Mittagspause über diese drei Besonderheiten sprechen, weiß sie für jede eine ausführliche Begründung anzugeben, die wir an dieser Stelle nicht wiederholen wollen. Nur so viel soll gesagt sein: Marion versucht für jedes einzelne Kind ihrer Kindergruppe zumindest eine Situation am Tag zu finden, wo es dieses Kind exklusiv im Blick hat. Dabei verfährt sie nach einem Prinzip, das sie mit „gezielter Ungerechtigkeit“ ausdrückt. Dies meint, dass Marion nicht bemüht ist, nach dem Gleichheitsprinzip zu verfahren, das jedem Kind das gleiche gibt, sondern dass sie für jedes Kind eine Situation zu finden bemüht ist, in der ihre spezifische Beziehungsgestaltung zu diesem einzelnen Kind Ausdruck findet. Weil jedes Kind anders ist, bedarf auch jedes Kind etwas Spezifisches.

Das Prinzip der „gezielten Ungerechtigkeit“ kommt auch in der abschließenden Stuhlkreisrunde zum Ausdruck. In 50 % aller Fälle ist es Nicole, die das Privileg hat, auf dem Schoß der Erzieherin zu sitzen. Vorher muss aber noch aufgeräumt werden, eine Phase, die nicht allzu lange dauert, da die Überfülle des Materials in Marions Kindergarten gebannt ist, da der Raum eine klare Struktur aufweist, so dass jedes Kind weiß, wo welcher Gegenstand zu liegen hat, und da es nicht das Ziel ist, den Raum am Mittag wieder so aussehen zu lassen, wie er am Vormittag vor dem Eintreffen der Kinder war. Für den Stuhlkreis hat sich Marion eine klare Zweiteilung vorgenommen: an jedem zweiten Vormittag bestimmen die Kinder, was gespielt oder gesungen wird, und Marion hat sich zum festen Grundsatz erhoben, nicht sichtbar zu murren, wenn zum 640ten Mal „Hilfe, Hilfe, ich bin in den Brunnen gefallen“ vorgeschlagen wird. Das jeweils andere Mal bestimmt Marion das Programm, und ihre Stuhlkreistage zelebriert sie wie herausgehobene Ereignisse. Ob sie ein neues Lied einführt, ein Märchen erzählt, ein Bilderbuch vorliest oder einen Zaubertrick zum Besten gibt: Marion bereitet sich auf diese Stuhlkreissituationen besonders vor, und meistens gelingen sie ihr wie kleine Showeinlagen. Heute spielt Marion den Kindern ein Kasperlestück vor: der Bastel-Spiel-Tisch ist umgekippt. die Kinder nehmen davor Platz, gebannt auf die obere Tischkante schauend. Hinter dem Tisch kniet Marion ein wenig im Stress, weil sie mit vier Puppen gleichzeitig hantiert. Irgendwie geraten ihr die selbsterfundenen Kasperlestücke immer zu einer Räubergeschichte. Nimmt man den Beifall der Kinder zum Abschluss, so ist ihr die Aufführung heute gelungen. Den Abschluss des Vormittages bildet das rituelle Lied „Alle Leut“, und weil heute der Kasper Ton und Takt vorgibt, finden dies alle lustig.

3. Jahresablauf

Es ließe sich jetzt noch von dem Nachmittagsprogramm unseres Kindergartens reden, und einige nicht uninteressante sozialpädagogische Arbeitsschwerpunkte müssten erwähnt werden. Diese hatten seinerzeit den Kindergartenträger überzeugt und ihn bewogen, fast die gesamten personellen Kindergartenressourcen für den ganzen Tag zur Verfügung zu stellen. Denn wiewohl nur wenige Kinder regelmäßig den Kindergarten nachmittags besuchen, liegt in der Arbeit mit sozial benachteiligten Gruppen von Kindern und Eltern ein besonderer Akzent in Marions Kindergarten. Wie gesagt, davon will ich an dieser Stelle nicht berichten, sondern wir wollen vielmehr einen kurzen Blick auf das Jahresprogramm in unserem Kindergarten werfen. Aus der Fülle, die hier anzumerken wäre, möchte ich nur drei Besonderheiten hervorheben. Das erste ist die sichtbare Veränderung der Kindergartenräume im Verlaufe des Jahres, womit nicht der Wechsel von Herbstbäumen und Winddrachen über Nikolaus und Weihnachtsschmuck zu Osterhasen und Blumenwiese gemeint ist - denn wie gesagt werden die Fensterscheiben in unserem Kindergarten so gut wie nie bemalt und aller Kinderkitsch wird aus den Räumen verbannt. Wenn nach dem Sommer die neuen Kinder in den Kindergarten kommen, sind die Spielflächen weitgehend leergeräumt. Außer der notwendigen Spielinfrastruktur von Holzbausteinen, Malutensilien, Knete usw. sind die meisten anderen Spielsachen in Kisten verpackt und im Keller verstaut. Dieses weitgehend reduzierte Spielprogramm wird Zug um Zug im Verlauf des Jahres erweitert, wobei die Einführung eines jeden neuen Gegenstandes im Stuhlkreis wie ein Fest gefeiert wird. Am Ende des Kindergartenjahres ist der Raum dann mit Vielem angefüllt, und es wird notwendig auszuwählen, was für den Neuanfang jetzt erst wieder einmal verschwinden kann. Dies wird deshalb so praktiziert, weil den Kindern nicht eine perfekt ausgestattete Umgebung präsentiert werden soll, die sie nur noch zu bespielen hätten, sondern die Gestaltung des Raumes soll mit den Kindern mitwachsen, so dass sie die Chance haben, ihn als den ihrigen zu erleben.

Eine zweite Besonderheit ist die nur geringe Anzahl an Projekten, die in unserem Kindergarten durchgeführt werden. Früher war man ständig auf der Suche nach besonderen Vorhaben, die sich häufig im vierwöchigen Rhythmus ablösten, so dass man mit der Projektvorbereitung, -durchführung und -auswertung kaum noch hinterher kam, und sich die Projekte kaum noch von dem unterschieden, was man früher einmal den „Monatsgegenstand“ genannt hatte. Jetzt werden pro Kindergartenjahr nur noch eins, maximal zwei Projekte durchgeführt, und man verfährt nach dem Motto „Lieber klotzen statt kleckern“. In diesem Jahr lautet das Thema „Dixi fliegt zum Mond“ und aus der Vielzahl der Aktivitäten möchte ich beispielhaft nur einige wenige nennen: Eine Erzieherin schreibt eine Kindergeschichte, die wie ein roter Faden das gesamte Projektgeschehen begleitet; der Besuch in einer Sternwarte vermittelt den Kindern, aber auch den Erzieherinnen phantastische Eindrücke; Höhepunkt des Projektes ist ein Theaterstück, das die Erzieherinnen für die Weihnachtsfeier vorbereiten. Weder am Aufbau der Requisiten noch an der Erstellung der Kostüme sparen die Erzieherinnen irgendwelche Mühen, und die Vorstellung, in wenigen Wochen vor einer Zuschauerzahl von mehr als 200 Personen spielen zu müssen, bereitet den meisten Beteiligten schon jetzt Lampenfiber.

Die dritte Besonderheit, die ich erwähnen möchte, ist die Jahresplanung des Kindergartens. Immer in der Zeit nach Ostern nimmt das Erzieherinnenteam sich zwei ganze Tage Zeit, um Bilanz über das vergangene Jahr zu ziehen und den Arbeitsschwerpunkt für das kommende Jahr auszuwählen. Jede Kollegin hat die Möglichkeit auszuführen, was ihr bisher gut gefallen hat, womit sie Schwierigkeiten hatte und welches Problem für sie gegenwärtig im Vordergrund steht. Die Vorschläge, die so auf dem Tisch liegen, werden gemeinsam diskutiert, und schließlich wird ein bestimmter Punkt ausgewählt, den man gemeinsam zum Schwerpunkt der Arbeit im kommenden Jahr machen will. Festgehalten wird, wo man die gegenwärtigen Schwierigkeiten in Bezug auf das gewählte Thema sieht und wie der Kindergarten sich im Verlaufe des kommenden Jahres konkret verändern soll. Die beiden Konzeptionstage sind mit diesen Punkten häufig bereits ausgefüllt, und man kommt allenfalls noch zu einer Stichwortsammlung zu einzelnen Teilproblemen. Dass man weiter nicht ist, ist aber auch nicht schlimm, schließlich hat man ja ein Jahr Zeit, das Vorhaben anzugehen. Die Arbeitsschwerpunkte der vergangenen Jahre möchte ich Ihnen gerne noch nennen, damit Sie sich unter diesen Jahresthemen etwas vorstellen können:

·              die Situation ausländischer Kinder und ihrer Familien,

·              die Neugestaltung des Außengeländes,

·              das Zusammenwachsen der Mitarbeitergruppe,

·              die Aufnahme behinderter Kinder,

·              die Probleme geschlagener und schlagender Kinder.

4. Miteinander der Erzieherinnen

Der Bericht über unseren Kindergarten ist noch lange nicht vollständig, aber Vollständigkeit ist auch nicht meine Absicht, da ich Ihnen ja lediglich Anregungen für die folgenden Gespräche in den Kleingruppen liefern soll. So müsste ich Ihnen von der Elternarbeit berichten, davon, dass in diesem Kindergarten die gewählten Elternvertretungen nicht nur als lästige Spielerei oder überflüssiges Übel angesehen werden, sondern als ernstzunehmende Mitbestimmungsgremien, deren Meinungsbild Einfluss auf die Entscheidungen der Erzieherinnen hat. Ich müsste Ihnen berichten von der einseitigen Auswahl in der Schwerpunktsetzung in der Elternarbeit, die nicht nach dem Gieskannenprinzip alle Eltern gleichermaßen bedient, sondern bewusst Akzente auf die aktive Elternhilfe bei sozial benachteiligten Familien setzt. All das möchte ich jetzt nicht weiter ausführen, sondern mich in einem abschließenden Punkt noch mit dem Problem des Miteinanders der Erzieherinnen beschäftigen, und ich verlasse dazu den bisher gewählten Berichtsstil und gehe zu einer bewusst provokativen Heraushebung meiner eigenen Thesen über.

Ich kenne keinen Faktor, der eine gedeihlichen Entwicklung der Kindergartenarbeit so sehr behindert, wie die Zusammenarbeit bzw. besser Gegeneinanderarbeit von Erzieherinnen in einer Einrichtung. Da wird hinter dem Rücken geklatscht und getratscht, da beobachtet man mit heimlicher Freude, wie eine Kollegin aufläuft, da kämpft jede gegen jede, bzw. häufiger alle gegen eine. Alle beklagen sich über das schlechte Gruppenklima oder alle haben das Empfinden, dass es mit der Mitarbeitergruppe eigentlich ganz in Ordnung wäre, wenn nicht eine bestimmte Kollegin so ganz aus dem Rahmen fallen würde. Nur ich garantiere Ihnen, wenn diese eine Kollegin freiwillig oder gezwungenermaßen das Handtuch wirft, wird sich die neue Außenseiterin bald finden - nicht unbedingt ist dies die neue Kollegin, sondern es kann auch eine aus dem alten Stamm sein, der bisher doch in Ordnung schien. Die gruppendynamischen Schwierigkeiten fordern auf allen Seiten viel Kraft, schaffen Probleme, die manchmal bis hin zu Magengeschwüren einer Kollegin reichen können; sie hemmen das Miteinanderarbeiten, weil jede nur noch die Verantwortung für die eigene Gruppe wahrnimmt und die Gesamtverantwortung auf die Leiterin abschiebt. Die Konflikte verhindern aber auch ein gemeinsames Auftreten gegenüber den Eltern und dem Träger. Leittragende dieser Situation sind alle: die Kinder, die Eltern, der Träger und nicht zuletzt jede Kollegin selbst. Ist die Situation im Mitarbeiterteam ganz verfahren, mag die Forderung nach Supervision auftauchen, aber weil das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, wird auch dies nicht mehr helfen.

Gruppendynamische Konflikte sind nicht das Privileg der Mitarbeiterteams in Kindergärten, sie kommen in anderen Berufsgruppen sicherlich ebenso und vielleicht auch ebenso häufig vor. Nur die Folgen scheinen mir für die Arbeit mit kleinen Kindern besonders gravierend zu sein. Es ist meine These, dass nichts für eine erfolgreiche Kindergartenarbeit so wichtig ist, wie die personale Beziehungsgestaltung zwischen den Erzieherinnen und den Kinder. Ich spreche davon, dass die eigene Person das wichtigste Handwerkszeug jeder Erzieherin ist. Wird dieses Handwerkszeug beschädigt - und wie sollte dies vermieden werden, wenn unterschwellig oder sogar an der Oberfläche massive Konflikte zwischen Kolleginnen schwellen -, dann kann die Erzieherin nicht so erfolgreich arbeiten.

Wenn Sie mir bisher gefolgt sind - aus eigener Erfahrung oder auf Grund von Beobachtungen anderer -, dann ergibt sich die Frage, wie diesem Problem Abhilfe geschaffen werden kann. Der erste Hinweis hierzu ist die wohl vielleicht enttäuschende Einsicht, dass es Patentrezepte nicht gibt. Der Appell, alle mögen sich doch bitte am Riemen reißen, hilft gar nichts, und der Vorschlag, Supervision anzusetzen, nur selten. M.E. kann Supervision in den Fällen erfolgreich sein, in denen die Konflikte sich allenfalls auf einer mittleren Ebene bewegen und in denen alle Beteiligten den ehrlichen Willen haben, die Situation zu verändern - und das heißt vor allem die Bereitschaft, bei sich selbst anzufangen. Eine weitere Strategie hilft auch nur in wenigen Fällen: die Versetzung oder Wegbewerbung einer störenden Kollegin. Ganz abgesehen davon, dass diese Lösung in Zeiten eines absehbaren Anstiegs der Arbeitslosenzahlen bei Erzieherinnen oft zynisch ist, bewirkt der Austausch einer einzelnen Person oft wenig. Der gruppendynamische Konflikt scheint vielmehr in den Gemäuern der Einrichtung zu sitzen.

Was ist zu tun? Wie gesagt, ich kann Ihnen keine Patentrezepte geben, denn wenn es diese gäbe, wäre das Problem nicht so groß, wie es mir erscheint. Verweisen möchte ich abschließend lediglich auf folgende Punkte:

1.    Bitte ich um die Anerkenntnis, dass das Zusammenwirken mehrerer Erwachsener in der Erziehung ein großer Stressfaktor ist. Ihre Arbeitstätigkeiten bestehen aus privaten, sehr intimen Verrichtungen, bei denen man nicht gerne beobachtet wird, bei denen sich Kolleginnen aber zwangsweise beobachten. Stellen Sie sich vor, Sie fordern ein Kind auf dem Spielplatz auf, ein Spielzeug wegzuräumen. Das Kind weigert sind. Ihre abermalige Aufforderung wird von dem Kleinen mit Weglaufen beantwortet. Sie spüren, wie die Blicke der Kolleginnen sich auf Sie richten. Bleiben Sie bei Ihrer Forderung? Rennen Sie hinter dem Kind her und packen es? Oder verzichten Sie lieber auf Ihre Forderung? So wie es Ihnen in diesem Beispiel ergeht, so erleben es wechselweise auch Ihre Kolleginnen. Vielleicht hilft es ja, wenn Sie sich diesen Druck zunächst einmal einfach zugestehen können.

2.    Lassen Sie Ihre Kollegin so, wie sie ist. Es gibt Erzieherinnen mit einer säuselnden Stimme, die nur schwer zu ertragen ist, und es gibt andere mit einem barschen Ton, der wohl eher in einer Kaserne angebracht ist. Die Entwicklung des eigenen Erziehungsstils ist eine sehr persönliche Sache, die tief in der Biographie eines jeden verankert ist. Sie werden die säuselnde Stimme oder den barschen Ton Ihrer Kollegin nicht ändern, und was man nicht ändern kann, das muss man ertragen - so schwer es auch fällt. Es ist nicht das Ziel meiner Kindergartenkonzeption, einen einheitlichen Erziehungsstil zu proklamieren, sondern ich betone gerade die Individualität der Beziehungsgestaltung zwischen einer Erzieherin und einem Kind. Sie sollen weder eine säuselnde Stimme noch einen barschen Ton annehmen, aber vielleicht können Sie lernen, es einfach so hinzunehmen, dass Ihre Kollegin so ist.

3.    Schrauben Sie Ihre Erwartungen an das Miteinander von Kolleginnen herunter. Es gibt Mitarbeiterteams, in denen sich alle beruflich und privat bestens verstehen. Wenn Sie in einer solchen Einrichtung arbeiten, schätzen Sie sich glücklich, denn unter 100 Kindergärten gibt es kaum einen, der diese Bedingung aufweist. Wenn in Ihrer Einrichtung ein solch blindes Vertrauen nicht herrscht, wundern Sie sich nicht, denn Sie gehören zumindest in dieser Hinsicht zu einer ganz normalen Einrichtung. M.E. werden in vielen Kindergärten die gruppendynamischen Schwierigkeiten noch dadurch verstärkt, dass falsche und übertriebene Erwartungen an die Harmonie das Feld beherrschen. Eine Mitarbeitergruppe ist ein zwangsweise zusammengestellter Haufen von Menschen. Persönliche Sympathie und Freundschaft hier zu finden, mag vorkommen, ist aber nicht das Ausschlaggebende. Sie werden dafür bezahlt, acht Stunden am Tag in einem Gemäuer zusammenzuarbeiten, sie müssen sich nicht lieben, sondern sich lediglich respektieren, um in der gemeinsamen Arbeit ein Stück weiterzukommen. Für acht Stunden verbindet sie viel miteinander, und deshalb ist die Forderung nach Respektierung schon sehr hoch. Doch nach diesen acht Stunden müssen sie nicht mehr miteinander zu tun haben als die Mitinsassen des Busses, der Sie nach Hause fährt.

4.    Seien sie ehrlich miteinander. Verzichten Sie auf alles Getratsche hintenherum, auch wenn Ihnen dies kurzfristig einen Vorteil versprechen sollte. Wenn Sie ein Problem mit einer Kollegin haben, prüfen Sie, ob es Ihnen so wichtig ist, dass Sie es nicht herunterschlucken können. Falls dies nicht der Fall ist, sprechen Sie den Konflikt in der Mitarbeiterrunde offen an. Dies wird Ihnen nicht schaden, wenn in Ihrem Kollegenkreis die Einsicht vorhanden ist, dass Konflikt und Streit, nicht aber Liebe und Verstehen das Normale ist, wo immer Menschen in beruflichen Kontakten aufeinandertreffen.

Falls alles, was ich Ihnen gesagt habe, nichts hilft, dann habe ich abschließend nur noch eine Lebensweisheit parat, die Janusz Korczak einmal so formuliert hat und die sich auf Vieles beziehen lässt, wenn Sie möchten auch auf mich als Ihren heutigen Referenten: „Ärgere Dich nicht, es muß auch solche geben!“


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