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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1998 - 1

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Sigurd Hebenstreit

Kinder und Kind: Pro - Profi - Profil

Vortrag am 13. 5. 1998 in Koblenz

Es ist scheinbar wenig, was mir die beiden Leiterinnen der von Ihnen gewählten Arbeitsgruppe - Frau Greese und Frau Gerlach-Keutmann - für den heutigen Nachmittag vorgegeben haben: drei kleine Wörtchen - Pro, Profi, Profil - und das Symbol des Steines. Doch schon diese wenigen Vorgaben würden ausreichen, um ein ganzes Buch zu füllen. Ich muss also für meine halbe Stunde auswählen, mehr weglassen als sagen können. Wenn Sie selbst weitere oder andere Assoziationen als ich zu den Stichwörtern haben, so streitet dies nicht gegen das, was ich vortrage, und Sie sollten Ihre eigenen Gedanken aufbewahren für die folgende Diskussion und für kommende Gespräche in Ihrem Kindergarten. Nicht mehr als einen kleinen Anstoß mag ich Ihnen heute liefern.

I. Pro:

Kinder (im Plural) sind immer gleich -

das Kind (im Singular) ist eine unverwechselbare Individualität.

Sie haben am Eingang einen Stein erhalten und dazu die Aufforderung, ihn zu betrachten und darüber nachzudenken, bis der Saal gefüllt und die Arbeitsgruppe mit der Begrüßung beginnen konnte. Ich kann nicht wissen, was in Ihren Köpfen vorgegangen ist. Das erste, was mir dazu einfällt, ist der banale Satz: Ein Stein ist ein Stein. Vor allem ist er hart, Sie würden sich Ihre Zähne ausbeißen, wollten Sie ihn zerkauen. Ein Stein gegen die Fensterscheibe geworfen, lässt diese zerspringen - ein Vergnügen für ältere Kinder und Jugendliche. Ein Schäfer mag die einzelnen Schafe seiner Herde unterscheiden können, für uns Normalmenschen sehen sie alle gleich aus. Genau so erregt ein Stein normalerweise nicht unsere Aufmerksamkeit. Er liegt unbedacht herum, und wir wollen doch nicht künstlich etwas Hineinphilosophieren: Ein Stein ist wie der andere. Nehmen wir die Flusskieselsteine: die gräuliche Farbe, die Abrundungen, die Geruchlosigkeit - man muss schon ein sehr spezielles Interesse haben, um die Unterschiedlichkeit wahrzunehmen. Ich verlasse deshalb jetzt lieber das Thema der „Steine“.

Kinder einer Altersstufe, bei den meisten von Ihnen also die Drei- bis Sechsjährigen, sind alle gleich. Sie denken, fühlen und handeln in einer Weise, die viele Gemeinsamkeiten aufweisen, vor allem wenn wir sie im Unterschied zu uns Erwachsenen betrachten. Eine Hexe ist zu fürchten, ein Ritter drückt Stärke aus, der Kasper ist gut und das Krokodil böse, der Osterhase hält Überraschungen bereit, und der Stock neben das Bett des Kindes gelegt schützt vor Einbrechern. Immer ist der Kopf der kleinen Kinder bereit, die Welt symbolisch umzudeuten, sie sich so zurechtzulegen, wie es den eigenen Bedürfnissen gerade passt. Die Drei- bis Sechsjährigen haben noch nicht ein sicheres Fundament in ihren Köpfen, das ihnen die weite Welt so zeigt, wie sie ist, sondern auf schwankendem Grund stehen sie, und sie brauchen ihr Symbolspiel als eine Krücke, um angesichts des ganzen Unverstanden nicht unterzugehen.

Dazu kommt ihr Bemühen, gut zu sein. Sie wollen wissen, was das ist, sie wollen denen, deren Liebe sie spüren, diese zurückgeben - und dies im Überfluss. Ich meine, dies gilt nicht nur für die lieben, manchmal überangepassten Mädchen, sondern auch für die rabaukenhaften, als verhaltensauffällig klassifizierten Jungen. Nur ist es für sie oft schwieriger, den Kampf zu bestehen. Was macht man mit seiner Wut im Bauch, obwohl man doch gut sein will?

Und noch ein weiteres gilt für die kleinen Kinder: Sie wollen es den Großen nachmachen. Neben ihrem Symbolspiel brauchen sie die Erwachsenen, um ihre Ängste vor der großen Welt und dem Brodeln im eigenen Innern zu bewältigen. So wie die Großen alltägliche Verrichtungen zu beherrschen, so wie diese sich zu bewegen, ihre Redeweisen nachzusprechen, ihre Gewohnheiten anzunehmen - all dies hilft. Es ist für uns Erwachsene deshalb so leicht, die Liebe der kleinen Kinder zu gewinnen, weil sie so abhängig von uns sind. Anhänglichkeit von Kindern zu erreichen, ist kein Ausdruck pädagogischen Geschicks, schwieriger ist es da schon, mit dem Vertrauensvorschuss, den die Kinder uns geben, verantwortungsvoll umzugehen.

Noch vieles ließe sich zu der Art und Weise des Denkens, Fühlens und Handelns sagen, die kleine Kinder immer wieder gleich machen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit jetzt aber auf die Gegenseite der These lenken: Kein Kind ist wie das andere. Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte. Der Junge hat einen ganzen Korb voll mit Steinen geschenkt bekommen: gewöhnliche, unscheinbare, aber auch bunte und glänzend schimmernde. Er schüttet die Steine aus, legt sie in eine Reihe, packt sie auf einen Haufen, ordnet sie seinen Stofftieren zu, räumt sie alle wieder in den Korb. Manchmal schenkt der Junge seinen Eltern so einen Stein. Über den ersten freuen sie sich, doch dann werden es mit der Zeit zwei, drei, vier, fünf Steine. Die Freude nimmt mit jedem Geschenk ab - ein Stein ist eben ein Stein -, und unbeachtet bleiben sie auf dem Küchentisch liegen. Die Steine von Mutter und Vater vermischen sich auf einem Haufen, sie stören beim Aufräumen. Man wartet auf den richtigen Zeitpunkt, um sie in den Steinkorb des Jungen zurückzuwerfen. Ein Stein ist ein Stein, doch der Junge will die Steine nicht zurück in seinen Korb, und er kann auch noch wenige Tage später genau angeben, welcher für die Mutter und welcher für den Vater war. Der Junge hat - nach welchen Kriterien auch immer - gerade diesen als Geschenk ausgewählt, und er hat für den Schenkenden dadurch eine Individualität gewonnen. Für die Beschenkten ist dies nicht so einfach.

Eine Erzieherin, die dreißig Jahre im Beruf tätig ist und durchschnittlich zu jedem Kindergartenjahr zehn neue Kinder in ihre Gruppe bekommen hat, besitzt eine Erfahrung von 300 Kindern. Dies sind 300 unterschiedliche Geschichten, 300 unterschiedliche Zukunftsentwürfe und 300 unterschiedliche Ängste und Freuden. Hätte sie sich eine Datei mit den Fingerabdrücken angelegt, so hätte sie 300 verschiedene Muster. Ebenso 300 unterschiedliche Frisuren, Gesichtsformen, Körperhaltungen und 300 verschiedene Lachen und 300 verschiedene Tränen.

Für den oberflächlichen Betrachter sind Tränen gleich Tränen, so wie für die uninteressierten Eltern Steine gleich Steine sind, für unsere Erzieherin mit ihren 30 Berufsjahren aber sind die Tränen eines Kindes ebenso unverwechselbar wie für den Jungen die Steine, denen er seine Liebe geschenkt hat. Jedes Kind ist anders als die anderen, es hat seine unverwechselbare Individualität, und für die Erzieherin ist das einzelne Kind nicht der Anwendungsfall der allgemeinen Kategorie Kinder. Ein gewisser Schlendrian mag uns dazu verführen, Kinder einzuteilen wie die Seine: es gibt runde, die sich der Hand bequem anpassen, es gibt glänzend schimmernde, die die Aufmerksamkeit erregen, es gibt kantige, die besonderes Engagement herausfordern, und es gibt unscheinbare, die unbeachtet liegen bleiben. Solche Einteilungen - in Bezug auf den Charakter, die Intelligenz, das Sozialverhalten, die Kreativität - helfen nicht weiter. Sie sind viel zu grob, als dass sie etwas über das einzelne Kind aussagten. Pädagogisch erscheint mir eins vor allem geboten: sich radikal auf die Einmaligkeit dieses Kindes einzulassen. Dieses Kind ist, wie es ist, ich mag ihm einige Hilfestellungen geben, aber ich werde es nicht anders machen als es ist. Das einzige, was ich tun kann, ist, mich selbst offenzuhalten für die Individualität des Kindes, das konkret vor mir steht.

Kinder sind immer gleich, aber das Kind ist eine unverwechselbare, einmalige Individualität. Für die Konzeption des Kindergartens ziehe ich daraus zwei Konsequenzen:

1.    Der Kindergarten muss den Kindern die Möglichkeit bieten, ihre Kindlichkeit leben zu können. Ihre Denk-, Gefühls- und Handlungsmöglichkeiten gilt es zu verstehen, um sich auf ihre Andersartigkeit einlassen zu können. Wie wir die Zeit im Kindergartengeschehen einteilen, wie wir den Raum gestalten, welches Material wir anbieten, welche Regeln wir einführen - all dies ist zentriert auf die Entwicklungsbedürfnisse der kleinen Kinder.

2.    Im Mittelpunkt des erzieherischen Geschehens stehen nicht die Kinder, nicht die Fiktion einer Gruppe, sondern das konkrete einzelne Kind. Damit eine Erzieherin sich auf dessen Individualität einlassen kann, muss sie sich zunächst einmal von dem Wahn des Verstehens befreien. Kinder einer bestimmten Altersstufe lassen sich (psychologisch) verstehen, das einzelne Kind lässt sich nicht verstehen. Wir sollten Achtung vor seinen Geheimnissen haben.

Ein Stein lässt sich zersägen und kaputtschlagen, um festzustellen, ob er innen die gleiche Farbe wie außen hat. Doch er ist damit zerstört. Wir sollten viel über Kinder, ihre Entwicklungsgesetze und sozialen Bedingungen wissen, doch wir sollten nicht glauben, damit das konkrete Kind verstanden zu haben. „Mutter, baue beizeiten einen Zaun um die Seele deines Kindes“, schreibt Jean-Jacques Rousseau, und dieser Zaun soll vor allem vor der falschen Neugierde von Erwachsenen schützen, die meinen alles verstehen und alles modellieren zu können. In der behutsamen Annäherung an die Möglichkeiten des einzelnen Kindes - darin scheint mir das Wichtigste des Erziehungsgeschäfts zu liegen. Gelingt dieser Prozeß, dann wird das Kind der Erzieherin ein klein wenig von seinen Entwicklungschancen offenbaren, und die Erzieherin kann dann staunend wie vor einem Wunder stehen. Verstehen wird die Erzieherin dann vor allem etwas von sich selbst.

II. Profi

Es ist ein Beruf, Kindergärtnerin zu sein -

doch dieser besteht im wesentlichen in alltäglichen, mütterlichen Verrichtungen.

Erzieherin ist ein Beruf. Einer Versammlung wie der heutigen dies zu sagen, heißt Eulen nach Athen tragen. Wenn Sie nach sechs oder acht Stunden Arbeit nach Hause kommen, wissen Sie, was Sie getan haben; Sie bekommen Geld für Ihre Tätigkeit, haben Urlaubs- und Rentenanspruch, Sie müssen sich in die dienstlichen Anweisungen des Trägers und die ministeriellen Vorhaben fügen, Sie bedürfen einer spezifischen Ausbildung und müssen sich fortbilden. Es ist zu banal, als dass es hier weiter ausgeführt werden müsste: Sie Tätigkeit im Kindergarten hat sich zu einem spezifischen Beruf ausgeprägt.

Doch der einleitende Satz muss auch ergänzt werden: Erzieherin ist ein Beruf wie jeder andere auch. Automechaniker, Friseuse, Sekretärin, Erzieherin. Wir sollten alles überhöhende Pathos beiseite lassen, das der beruflichen Tätigkeit mit Kindern einen besonderen Status verleihen will. Früher hatte man von der „Berufung“ zur Pädagogin geredet, und das man das schlecht bezahlt hat, was eher in den Bereich des Religiösen gehört, war konsequent. Manchmal hört man auch von Erzieherinnen, dass ihr Beruf etwas besonderes sei, dass ihn auszeichne, dass es hier nicht um Sachen, sondern empfindliche Menschen gehe. Nur ich bitte Sie: Auch eine Friseuse hat es mit Menschen zu tun, und wenn wir jetzt in einer Vollversammlung rheinischer Friseusen wären, so würde sicherlich auch das Lied von der besonderen Wichtigkeit des Friseurberufes gesungen. Ein solcher berufsständischer Egozentrismus ist wohl normal. Erzieherinnen sind nicht die besseren Menschen, die immer so sozial eingestellt sind, dass sie nur an andere und nie an sich selbst denken, und für Erzieherinnen gilt, was auch für alle anderen Berufe gilt: Es gibt engagierte und träge, gute und schlechte, fleißige und faule. So sind die Menschen, und die Erzieherinnen bilden nicht eine herausgehobene Gruppe.

Verabschieden wir uns also von allen pathetischen Überhöhungen, und fragen wir uns ganz nüchtern, was ist das Spezifische an der Berufstätigkeit einer Erzieherin im Kindergarten? Zunächst einmal ist es eine sehr vielschichtige Tätigkeit: Elterngespräche sind zu führen, mit dem Träger ist zusammen zu arbeiten, politisch gilt es sich einzumischen, Verwaltungsaufgaben müssen erledigt werden. In den letzten Jahren sind die Ansprüche an die Arbeitstätigkeiten in Bezug auf Aufgaben gegenüber Erwachsenengruppen sehr stark gewachsen, bis hin zu konzeptionellen Überlegungen, die eine Überforderung und Überfrachtung des Kindergartens darstellen. Ich möchte mit Ihnen heute gern das Augenmerk auf die Kernaufgabe der Erzieherin lenken: die Gestaltung eines bunten Kinderlebens für vier bis sechs Stunden am Tag.

Die Erzieherin begrüßt die Kinder, sie singt mit ihnen ein Lied, sie bereitet den Frühstückstisch vor, unterhält sich mit einem Kind, sie führt neues Material in den Kindergarten ein, gibt einer Kindergruppe eine spezifische Aufgabe, sie putzt Nasen und Kinderpopos ab, sie tröstet ein weinendes Kind und ermahnt eine wilde Bande, sie begleitet Kinder zu ihrem Spiel nach draußen und rennt mit einigen um die Wette, sie liest ein Bilderbuch vor und bringt ein Kasperlestück zur Aufführung. Diese Liste ließe sich noch lange fortführen, Sie kennen dies durch Ihre Arbeit von montags bis freitags.

All dies sind tausend Kleinigkeiten, die sich in ihren Einzelhandlungen kaum von dem unterscheiden, was eine Mutter zu Hause mit ihren Kindern tut, nur dass es sich bei der Erzieherin um fremde Kinder handelt und dass es 25 relativ gleich alte Kinder auf einmal sind. Mit diesem Vergleich zur Mutter möchte ich nicht sagen, dass „Erzieherin“ eigentlich kein wirklicher Beruf sei, sondern nur eine Verlängerung mütterlicher Tätigkeiten und Eigenschaften in einen größeren Kreis. Dies meine ich nicht. Von der Professionalität des Erzieherberufs gibt es nichts zurückzunehmen. Die Frage ist nur, was das Professionelle der Erziehertätigkeit ausmacht?

Ich möchte hier eine kleine Karikatur dazwischenschieben: Wenn ich „Professionalität“ höre, dann denke ich unwillkürlich an den geschniegelten Manager im grauen Anzug, Handy am Ohr und Aktenköfferchen in der Hand. Der Blick ist geschäftig nach vorne gerichtet, und wenn drei solch Professioneller zusammenstehen, lassen sie den Eindruck von Wichtigkeit aufkommen - bis wir schließlich erfahren, dass sie den Verleih von Karnevalskostümen für den südwestdeutschen Raum zu organisieren haben.

Diese Professionalität der „Mister Wichtig“ kann nicht gemeint sein. Die Erzieherin hat für einige Stunden am Tag für eine Anzahl von Kindern Kinderleben zu organisieren. Sie hat dazu die Kinder wohl zu besorgen, sie hat ihnen durch Raumgestaltung und Materialauswahl Entwicklungshilfen bereitzustellen und sie hat Regeln festzulegen und sich für sie zu verbürgen, so dass das Miteinander der Kinder in Frieden ablaufen kann. Doch m.E. muss sie noch mehr: Sie muss jedes ihrer 25 Kinder auf eine einmalige Art und Weise lieben. Die Erzieherin muss nicht singen können wie die Operndiva, sie muss nicht die Bilderbücher wie ein Schauspieler vortragen, sie muss nicht wie ein Talkmaster fragen können. Nicht in der Grandiosität, wie sie die Einzeltätigkeiten bewältigt, liegt ihre Professionalität, sondern in ihrer Fähigkeit, bei den einzelnen Tätigkeiten jedem Kind das Gefühl zu geben, dass sie mit ihrer ganzen Person bei ihm ist.

Jede Erzieherin wird den Kindern Lieder vorsingen und Bilderbücher vorlesen. Wichtig ist dabei nicht die Show, sondern die Art, wie sie das Kind anfasst, anguckt, auf den Schoß setzt, ihm über die Haare streichelt, mit ihm redet. Eine professionelle Erzieherin wird dies in einer Weise tun, die dem Kind Sicherheit und Gewissheit vermittelt, und die dem Kind die Freiheit lässt, die Erzieherin zu benutzen oder unbeachtet beiseite zu lassen. Die Professionalität der Erzieherin zeigt sich deshalb nicht in der Gesichtsmine, Körperhaltung und den Utensilien der „Mister Wichtig“, sondern in der Fröhlichkeit des Gesichtsausdrucks, dem Herunterbeugen zu dem Kind und der Bereitschaft, den eigenen Körper den Kindern zur Verfügung zu stellen.

Das mit der „Liebe“ als professionellem Kennzeichen der Erziehertätigkeit könnte missverstanden werden, ich setze deshalb noch einen Absatz hinzu. Es geht mir hierbei nicht um das große pathetische Wort und eine Ideologie, die nur zukleistert, was im Erziehungsgeschäft Zwang und Gewalt ist. In jedem Beruf wird derjenige besser sein, der seine Tätigkeit mit Liebe ausführt. Eine Friseuse muss Haare lieben, ein Zahnarzt Zähne, ein Automechaniker Autos und eine Erzieherin Kinder. Ihre Liebe zeigt sich in ihrem Blick und ihren Händen, mit ihrem Körper und durch ihre Stimme. All dies kann die professionelle Erzieherin so modellieren, dass sie jedem Kind Sicherheit einerseits und Freiheit andererseits gibt.

Die Professionalität der Erzieherin zeigt sich im wesentlichen nicht in der Reichhaltigkeit ihres didaktischen Koffers und in ihrer methodischen Kompetenz, Lerninhalte an die Kinder heranzubringen. Sie liegt vielmehr in der Fähigkeit, sich selbst - ihren Körper, ihren Kopf und ihr Herz - offenzuhalten für die Einmaligkeit dieses Kindes. Die Erzieherin soll die Kinder ihrer Gruppe nicht lieben wie die eigenen, das könnte sie nicht und das wäre der Begrenztheit ihrer Aufgabe auch nicht gemäß. Aber sich selber für die Wandlungsfähigkeit des Kindes offenhalten, an seine Fähigkeit zur eigenen Entwicklung glauben, sich selbst ganz dem Kind zur Verfügung stellen - das soll sie.

III. Profil

Kinder haben einen Anspruch darauf, nicht abhängig zu sein von der zufälligen pädagogischen Meinung ihrer Erzieherin. Deshalb sind Kindergärten alle gleich! -

Ein Kind hat einen Anspruch auf die liebende Beziehung zu einer lebendigen Erzieherin. Deshalb ist jeder Kindergarten anders!

Ich leite meinen letzten Punkt mit einer kurzen Geschichte ein: Der Sechsjährige fährt mit seinen Eltern eine ihm unbekannte Straße entlang. Plötzlich ruft er: „Sieh mal, da drüben ist ein Kindergarten!“ Und in der Tat, einhundert Meter von der Autostraße entfernt befindet sich ein durch unwegsames Baugelände etwas verdecktes Kindergartengebäude. Der Junge, selbst Kindergartenkind, ist an der Wahrnehmung derartiger Einrichtungen interessiert, er hat seine Sinnesorgane diesbezüglich auf Empfang gestellt wie der Pfarrer auf Kirchen und der Säufer auf Wirtshäuser. Nur: warum gibt der nur kurze Eindruck bemalter Fensterscheiben bei einem Flachbau einem Sechsjährigen die eindeutige Zuordnung „Kindergarten“?

Darum soll es im letzten Punkt gehen: Wie gleich und wie unterschiedlich müssen und dürfen Kindergärten sein? Ich antworte auf diese Frage wieder mit einer widersprüchlichen Antwort, so wie Sie es mittlerweile bei mir kennen. Es gibt Wald-, und spielzeugfreie Kindergärten, situativ und situationsorientiert arbeitende Einrichtungen, bildungs- oder kindzentrierte Konzepte, Kindergärten, die zusätzlich unter drei- und über sechsjährige Kinder aufnehmen, Montessori- und Waldorfeinrichtungen, evangelische und katholische, städtische und Betriebskindergärten, heilpädagogische und integrative Einrichtungen. Dazu noch die Unterschiede zwischen den Erzieherinnen: kindertümelnde und nüchterne, junge und alte, strenge und nachgiebige, fröhliche und traurige und so weiter.

Wenn ein kleines Kind in den Kindergarten kommt, weiß es von all den Unterschieden nichts, und auch nur in wenigen Fällen entscheiden sich die Eltern bewusst für eine bestimmte Einrichtung. Meist ist es Zufall oder der Stadt- und Dorfklatsch, die darüber befinden, in welche Einrichtung und zu welcher Erzieherin ein Kind kommt. Für ca. 4000 Stunden seines noch jungen Lebens kann es jetzt an einem intensiven Mal-, Bastel-, Sing- und Puzzleprogramm unter Anleitung einer mütterlich gluckenhaften Erzieherin teilnehmen, oder es wird im Gegenteil für den gleichen Stundenumfang durch die Räume und das Außengelände chaoten und mit einer großen, wechselnden Erzieherschaft in Berührung kommen.

Ich übertreibe an dieser Stelle bewusst, um für folgende Frage zu sensibilisieren: Mit welchem Recht ist das Kind abhängig davon, was eine Erzieherin zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine pädagogische Auffassung von der Erziehung kleiner Kinder hat? Wenn Sie Ihr Auto zur Reparatur bringen, erwarten Sie, dass der Mechaniker den Schaden in möglichst kurzer Zeit behebt. Wenn nicht, dann werden Sie die Werkstatt meiden, und wenn es allen Kunden so geht wie Ihnen, dann wird sie bald bankrott sein.

Nun werden Sie vielleicht erwidern: „Aber die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Erzieherinnen!“ Nur: ich glaube nicht, dass die Bandbreite bei Automechanikern geringer als bei Erzieherinnen ist, und ich glaube auch nicht, dass ein Automechaniker seine Persönlichkeit geringer in die Arbeit als die Erzieherin einbringt. Auch er muss seinen Kopf gebrauchen, um den Fehler zu finden, er muss seine Hände benutzen, sich den Schweiß abwischen und Engagement und Liebe aufbringen.

Jedes Kind hat ein Recht auf bestmögliche Entwicklung, und es darf deshalb nicht davon abhängig sein, was seine Erzieherin zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine Meinung vertritt. Insoweit alle Kinder einer bestimmten Altersstufe gleich sind, bedürfen sie alle das Gleiche. Jeder Kindergarten, egal welche Konzeption er vertritt, in welcher Trägerschaft er sich befindet, welche Erzieherinnen in ihm angestellt sind, muss sich auf die zentralen Entwicklungsbedürfnisse der Kinder beziehen, und insoweit diese immer wieder gleich sind, müssen auch die Kindergärten gleich sein.

Dies ist die eine Seite, doch die andere möchte ich Ihnen zum Abschluss auch noch nahe bringen. So gleich wie die Kinder im Plural sind, so unterschiedlich ist jedes einzelne Kind. Auf dessen Individualität ist die Erziehung bezogen, in der es nicht um das Phantom einer Gruppe, sondern die Wirklichkeit des konkreten Kindes geht. Eine Kindergartenkonzeption muss deshalb viel Freiraum lassen, so dass die Einmaligkeit jeden Kindes Platz gewinnen kann, und ein Kindergarten ist dann ein guter Kindergarten, wenn wir niemals den Satz hören: „Das geht nicht, weil: Wenn alle dies wollten ...“ Wenn jedes Kind anders ist, dann müssen auch verschiedene Kindergärten unterschiedlich sein, ja der einzelne Kindergarten muss sich ständig wandeln, um dem individuellen Kind Rechnung tragen zu können.

Die Konsequenz der Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit der Kindergärten ergibt sich noch von einem anderen Punkte aus: Ein Kind hat einen Anspruch auf eine lebendige Erzieherin, die nicht wie ein Automat nach Schema F handelt, sondern die sich mit ihrer ganzen Person in das Kindergartengeschehen einbringt. Damit die Einmaligkeit der Beziehungsgestaltung gelingen kann, ist neben der Besonderheit jeden Kindes auch die Einmaligkeit der Erzieherin in den Blick zu nehmen.

Ich möchte an dieser Stelle sogar die These vertreten, dass im Vergleich zu den Kindern die Erzieherin viel stärker der Faktor von Veränderung und damit Unterschiedlichkeit und Buntheit zwischen den Kindergärten und innerhalb eines Kindergartens ist. Im Verlaufe einer 30-jährigen Berufstätigkeit bleiben die Kinder relativ gleich, während sich die Erzieherin selbst stark verändert: von der jungen Berufspraktikantin, die noch selbst nicht ganz die Seite des Tisches gewechselt hat, über die Heirat und die Geburt der eigenen Kinder bis hin zu heute, wo die Großmutterschaft ein naheliegender Gedanke ist. All dies ist nicht nur äußerlich zu sehen, nicht nur negativ als die zunehmende Kaputtheit des Rückens, sondern die unterschiedliche Stellung, die man im privaten Bereich zu kleinen Kindern hat, hat auch Auswirkungen auf die Sichtweise, mit der man im beruflichen Kontext Kinder betrachtet.

Für das Profil des einzelnen Kindergartens heißt dies: Soweit nicht die zentralen, immer wieder konstanten Entwicklungsbedürfnisse von Kindern verletzt werden, gehört Wandel und Unterschiedlichkeit zu den Grundvoraussetzungen der Kindergartenarbeit. Dabei geht es nicht um die Konzeption, die sich bemüht, dem neuesten Schrei aus der Werbemaschinerie des Bücher- und Zeitschriftenmarktes hinterherzulaufen. Man muss nicht alles, was einem an neuen Stichworten aufgedrängt wird, aufgreifen. Es geht auch nicht um eine Profilschärfung, die nichts anders zum Ziel hat, als anders zu sein als die anderen, um sich im Konzert konkurrierender Einrichtungen hervorzutun. Sondern zwischen der Konzeption eines Kindergartens und den dort arbeitenden Erzieherinnen muss eine Passung bestehen. Sie müssen ihn so gestalten, dass das Kind ihn als seinen Kindergarten erlebt, aber sie müssen ihn auch so gestalten, dass er ihre eindeutige Handschrift trägt.

Die Individualität der einzelnen Erzieherinnen wird dann eine stärkere Buntheit in der Kindergartenlandschaft bewirken. Dies wird es dem Jungen dann nicht mehr ermögliche, von bemalten Fensterscheiben auf Kindergarten zu schließen, aber er würde, in welcher Einrichtung er selbst auch immer leben würde, eine Erzieherin finden, die lebendig ist und die sich als unverwechselbare Person auf die Förderung seiner Individualität einlassen kann.


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