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Sigurd
Hebenstreit
Die
Persönlichkeit der Erzieherin als das
wichtigste Handwerkszeug in der kindzentrierten
Kindergartenarbeit
Vortrag
in Siegen 1998
1.
Einleitende Übersicht
Ich
bin gebeten worden, etwas zu der Rolle
der Erzieherin in der kindzentrierten
Kindergartenpädagogik zu sagen, und
Ihre Tagungsleitung hat in die Überschrift
einen Ausdruck aus meinem Kindergartenbuch
aufgenommen, in dem ich von der Persönlichkeit
der Erzieherin als ihrem wichtigsten
Handwerkszeug spreche. Sie gestalten
in Ihrem Kindergarten für die Kinder
einen Raum, damit diese aktiv sein können;
Sie stellen ihnen Material zur Verfügung,
Sie strukturieren den Tagesablauf und
legen Regeln für das soziale Miteinander
fest, Sie lesen Bilderbücher vor, singen
Lieder, organisieren Stuhlkreisspiele.
All dies sind wichtige Tätigkeiten,
die Sie sich unter pädagogischen Gesichtspunkten
gut überlegen. Sie müssen all dies ausführen,
damit der Kindergarten für die Kinder
zu einem Betätigungsfeld wird, in dem
sie eigenaktiv ihr Spiel gestalten können.
Dadurch werden die Kinder einen Schritt
von der eigenen Familie auf die große
Welt hin tun können und sie werden sich
in Ihrem Kindergarten frei entwickeln.
Wenn
Sie jedem Kind Ihres Kindergartens den
geeigneten Raum, das geeignete Material,
die passende Zeitstruktur, die notwendigen
Regeln geben, dann haben Sie den Kindern
viel gegeben. Aber ich glaube, Sie haben
ihnen dann noch nicht das Wichtigste
gegeben. Sie müssen jedem einzelnen
Kind noch ein Stück Ihrer Persönlichkeit
geben.
Es
lassen sich Roboter vorstellen, die
im Kindergarten Raumgestaltung und Materialauswahl
optimal regeln, und ein Fernsehprogramm
mag die Animation der Kinder perfekt
leisten - doch das Wichtigste würde
hier fehlen, das ich vorläufig mit einem
altmodischen Wort als die „Seele“ bezeichnen
möchte. Der Raum und das Material, das
den Kindern im Kindergarten angeboten
wird, sie müssen beseelt werden von
der lebendigen Erzieherin, die ihren
Körper, ihr Gefühl und ihren Geist in
den Kindergarten einbringt. Die Lebendigkeit
der Erzieherin ist Voraussetzung, damit
die freie, selbstaktive und lebendige
Entwicklung des einzelnen Kindes vonstatten
gehen kann.
Es
gilt generell für den Menschen, dass
er existentiell angewiesen ist auf die
Beziehung zu anderen, für ihn bedeutungsvollen
Menschen. Ohne sie kann sein Leben nur
schwerlich Sinn gewinnen. Noch mehr
aber hat diese fundamentale Tatsache
für die Erziehung Bedeutung. Damit ein
Kind gesund groß werden kann, bedarf
es konkreter, für ihn herausgehobener
Menschen, die ihm ihre Liebe geben,
damit es Sicherheit und Zutrauen gewinnen
kann, die es als bedeutungsvoll anerkennen,
so dass das Kind sich selbst als wichtig
zu erfahren vermag. Das Kind, dem alle
notwendigen Dinge in einer für seine
Bedürfnisse optimal gestalteten Umgebung
bereitgestellt werden, würde eingehen,
wenn es daneben nicht spezifische Erwachsene
hätte, die mit ihrer persönlichen, auf
das einzelne Kind bezogenen Liebe die
Umwelt beseelen würden. Diese Vertrauenspersonen
bieten sich selbst als Material an,
damit das Kind aus dieser Quelle leben
kann.
Für
die ganz kleinen Kinder sind zunächst
Mutter und Vater, dann die Großeltern,
Verwandte und Freunde solch bedeutungsvolle
Erwachsene, an denen das Kind sich anlehnen
und zu denen es aufschauen kann. In
ihren Armen fühlt es sich getröstet
und geborgen. Für die immer noch kleinen
Kinder im Kindergarten übernimmt die
Erzieherin einen wichtigen Ausschnitt
von diesen Aufgaben. Sie bietet für
einige Stunden am Tag den Kindern ihre
Liebe an, damit sie Sicherheit und Selbstbedeutsamkeit
erfahren können. Dies schließt nicht
aus, dass die Kinder im Kindergarten
auch erzieherinnen-freie Zeiten erleben.
Vielmehr betone ich in meiner Kindergartenkonzeption
gerade den Gedanken, dass ein Kind im
Kindergarten im gemeinsamen Spiel mit
seinen Altersgenossen auch unbeobachtet
von Erwachsenen leben können muss. Doch
auch für diesen wichtigen Schritt auf
die Gleichaltrigen zu ist die Erzieherin
gerade im Anfang eine wichtige Brücke,
über die das kleine Kind zu seinesgleichen
findet.
Die
Erzieherin im Kindergarten - so lautet
meine zusammenfassende These am heutigen
Vormittag - ist weit mehr als eine Serviceperson
zur Anbietung einer geeigneten Umgebung,
sie ist weit mehr als eine Animateurin
zur Darbietung von Lern- und Spielprogrammen,
sie ist weit mehr als Vermittlerin von
situationsorientierten oder traditionellen
Bastelinhalten. Sie ist eine lebendige
Persönlichkeit, die sich mit Haut und
Haaren, mit - wie Johann Heinrich Pestalozzi
formulieren würde - Kopf, Herz und Hand
in den Dienst von Kindern stellt. Erst
dadurch können sie die notwendige Stabilität
gewinnen, um Schritte in die große Welt
tun und um selbstbewusst und eigenaktiv
die eigene Entwicklung weitertreiben
zu können.
Dies
war meine etwas langgeratene, vielleicht
auch etwas zu pathetisch klingende Einleitung
meines vormittäglichen Vortrags. Im
folgenden möchte ich drei Punkte näher
ausführen:
1.
ich will einige zentrale Kennzeichen
der von mir vertretenen kindzentrierte
Kindergartenpädagogik vorstellen,
2.
ich werde einige Ansprüche, die
sich aus dieser Konzeption für die Erzieherin
ergeben, erläutern, und
3.
ich möchte die Frage berühren,
ob die vorgestellten Aufgaben nicht
eine Überforderung der Erzieherin darstellen.
2.
Zentrale Kennzeichen der kindzentrierte
Kindergartenpädagogik
Zwei
zentrale pädagogische Vorannahmen kennzeichnen
die von mir vertretene Position kindzentrierter
Kindergartenpädagogik. Diese möchte
ich Ihnen heute unter den Stichworten
„Kindheit“ und „Erziehung“ vorstellen.
a)
Das Kind
Ein
Kind ist nicht die verkleinerte Ausgabe
eines Erwachsenen, sondern ein Mensch,
der auf einer qualitativ anderen Stufe
steht. Ein Kind denkt, fühlt und handelt
nicht weniger als ein Erwachsener, sondern
es denkt, fühlt und handelt anders.
Dazu
heute nur ein kleines Beispiel: Für
uns Erwachsene ist klar, dass wir unterschiedliche
Dinge zählen können und dass fünf gleich
fünf ist. Mit dieser Vorstellung unseres
Kopfes können wir gedankliche Schneisen
in die große Welt schlagen und so das
Chaos bannen. Fünf bleibt fünf: dessen
sind wir uns sicher, und auf diese Gewissheit
können wir unsere Handlungen aufbauen.
Für das kleine Kind ist fünf nicht gleich
fünf, ja zunächst einmal ist für seinen
Kopf die Schneise: „Wir können einzelnen
Gegenstände zählen“, noch nicht einmal
vorhanden, und statt des Wortes „fünf“
könnten Sie dem Kind genauso gut „Hypotenusenquadrat“
beibringen. Irgendwann später wird es
dann begreifen, dass „fünf“ etwas damit
zu tun hat, dass man die Welt zählen
kann. Aber immer noch weiß es nicht,
dass fünf gleich fünf ist, sondern für
seinen Kopf kann „fünf“ auch mehr oder
weniger als fünf sein.
Denken
wir uns für einen kurzen Moment nur
einmal unsere Fähigkeit weg, fünf immer
als fünf zu betrachten: Wir würden auf
sehr schwankendem Boden mit unseren
wackeligen Füßen stehen. Und auf solch
schwankendem Grund befindet sich das
Kind: nicht nur, dass fünf gleich fünf
ist, macht ihm Schwierigkeiten, sondern
auch uns so sichere Begriffe wie „vorher“
und „nachher“, „rechts“ und „links“,
„oben“ und „unten“ strukturieren noch
nicht seinen Kopf. Stellen Sie sich
eine rasante Achterbahnfahrt vor, wo
Ihnen vielleicht auch „oben“ und „unten“
durcheinandergeraten. Auf solch einer
Achterbahnfahrt befindet sich das kleine
Kind. Ihm müsste immer schlecht werden,
so wie Ihnen vielleicht schon bei der
Vorstellung, Sie würden Achterbahn fahren,
wenn es nur über das Fehlen zentraler
Begriffsmöglichkeiten gekennzeichnet
wäre. Das ist Gott sei Dank nicht so.
Dem Kind fehlt nicht nur im Vergleich
zu uns Erwachsenen etwas, sondern es
hat eine qualitativ andere Denkweise
als wir, eine Denkweise, über die wir
nicht mehr verfügen: Es deutet die Welt
in symbolischer Weise um.
Ich
beschreibe Ihnen jetzt als Beispiel
einen kleinen Jungen, der jedes Mal,
bevor er in den Kindergarten geht, mit
seinen häuslichen Stofftieren diskutiert,
wer von denen heute mit in den Kindergarten
darf. Der grüne Affe auf keinen Fall,
denn der ist böse, hat heute Nacht ins
Bett gepinkelt und durch lautes Rufen
den kindlichen Schlaf gestört. Was würde
er erst im Kindergarten an Schlimmem
anstellen. Aber vielleicht Flossi, das
Steckenpferd, das genau so wie der manchmal
etwas wilde Junge vieler Bewegungsmöglichkeiten
bedarf? Oder die kleine Handpuppe Pinocchio,
die so hilfsbedürftig ist? Oder, oder,
oder. Es braucht eine gewisse Zeit ernsthaften
Ausdiskutierens, bis der Junge seine
Wahl für den heutigen Tag getroffen
hat. Was von dem ganzen Reden und Aushandeln,
das uns als Gequatsche erscheinen mag,
meint der Junge wirklich so? Das lässt
sich vom Standpunkt des Erwachsenen
aus nicht ausmachen, denn über die Möglichkeit
des symbolischen Denkens verfügen wir
Erwachsene ebenso wenig wie der Junge
über unsere Erkenntnis, dass fünf gleich
fünf ist.
Ich
habe Ihnen dies alles heute nur in einer
Absicht erzählt: um durch dieses Beispiel
meine These illustrieren zu können,
dass Kinder in einer anderen Welt leben
als wir Erwachsene. Sie denken, fühlen
und handeln anders, als wir es tun,
und eigentlich können wir sie nicht
verstehen. Je weiter die zivilisatorische
Entwicklung der Gesellschaft voranschreitet,
desto größer wird diese Kluft zwischen
den Erwachsenen und dem Kind, und desto
mehr erhöhen sich die Konflikte zwischen
diesen beiden Welten.
Damit
kleine Kinder gesund groß werden können
- und dies ist m.E. die zentrale Zielsetzung
pädagogischer Einrichtungen -, bedürfen
sie einer Welt, in der sie entsprechend
ihren Möglichkeiten leben können. Unsere
Erwachsenenwelt bietet diese Chance
nur noch in Ausnahmefällen, selbst innerhalb
des Kreises der Familie wird der kindertümliche
Raum immer knapper. Der Kindergarten
ist der Ort kindlichen Lebens, der so
gestaltet ist, dass ihre Formen des
Denkens, Fühlens und Handelns zum Ausdruck
kommen können. Kinder bedürfen dieses
Ortes, um vorsichtige und selbstsichere
Schritte in ihrer Entwicklung tun zu
können.
Kindheit,
Jugend, Erwachsenensein und Alter sind
unterschiedliche Formen der Menschwerdung,
die für sich selbst genommen ihren Sinn
im Plan der Natur haben. Jede dieser
Stufen muss voll gelebt werden können,
und sie dürfen nicht als Übergangsstationen
zur jeweils nächsten begriffen werden.
Erst dann ist eine Entfaltung kraftvoller
Individualität möglich. Der Sinn der
Kindheitsstufe scheint mir darin zu
bestehen, einen Vorrat an Stabilität
aufzubauen, um selbstsicher in die große
Welt hineingehen zu können. Das Kind
wird lernen, dass Fünf gleich Fünf ist,
und es ist gewiss nicht unwichtig, dies
begriffen zu haben. Was mir aber für
das Kindergartenalter wichtiger zu sein
scheint, ist die stabile Erfahrung des
Wertes der eigenen Person. Noch oft
in seinem Erwachsenenleben wird die
große Welt an der Selbstgewissheit kratzen,
und dann wird es gut sein, wenn jedes
Kind ein stabiles Fundament hat, um
an die Bedeutsamkeit seiner eigenen
Person in dem unendlichen Universum
zu glauben.
Noch
vieles ließe sich zu dem Stichwort „Kindheit“
sagen, doch so ganz dürfen wir unser
heutiges Thema nicht aus den Augen verlieren.
Deshalb fasse ich den ersten Punkt zusammen:
Kinder sind Fremde in der Welt der Erwachsenen,
und sie bedürfen des Kindergartens,
der ihren Denk-, Gefühls- und Handlungsmöglichkeiten
Raum gibt.
b)
Der Erziehungsbegriff
Das
zweite Schlagwort, das meine kindzentrierte
Kindergartenpädagogik charakterisiert,
ist das der „Erziehung“. Mir ist es
bewusst, dass ich mich kaum eines missverständlicheren
Wortes bedienen könnte. Einerseits verbindet
man häufig Formen der Gewalt damit:
Ein Kind ist zu stoßen, zu ziehen, zu
formen, zu kneten. Es ist anders zu
machen, als es ist: klüger, sozial verträglicher,
nicht so egoistisch usw. Heute stellt
man sich diese Formung des Kindes durch
den Erwachsenen weniger gewaltsam vor,
dafür bietet die Psychologie ein großes
Arsenal freundlich manipulierender Techniken
an.
Gegen
dieses Alltagsverständnis von Erziehung
wendet sich ein anderes. Hier wird behauptet,
der Erwachsene und das Kind wären gleichberechtigt,
nicht nur der Große erziehe den Kleinen,
sondern wechselseitig sei die gegenseitige
Beeinflussung. So wie die Kinder von
uns lernen könnten, so könnten wir von
ihnen lernen: ihre Phantasie, soziale
Verträglichkeit, Kreativität usw. Beide
Alltagsverständnisse treffen nicht das,
was in meinen Augen Sinn macht, mit
dem Begriff „Erziehung“ belegt zu werden.
Deshalb möchte ich Ihnen in wenigen
Worten meine Sichtweise darlegen.
Der
Begriff „Erziehung“ ist für das Verhältnis
der Erwachsenen zu den Kindern (bzw.
Jugendlichen) zu belegen. Diese Beziehung
ist eine spezifische: Nur für sie trifft
zu, dass es sich um eine Beziehung zwischen
Ungleichen handelt, die darauf zielt,
dass die Ungleichheit zunehmend in Gleichheit
verwandeln wird. Sinn und Zweck dieser
erzieherischen Beziehungsgestaltung
ist, dass sie nicht um des stärkeren
Erwachsenen willen geschieht, sondern
von der Perspektive der schwächeren
Kinder aus begriffen werden muss. Ihren
Entwicklungsmöglichkeiten soll Raum
gegeben werden, damit sie sich zu einer
kraftvollen Individualität im Rahmen
einer umgebenden Gesellschaft entwickeln
können.
Aus
diesem hier nur kurz angedeuteten pädagogischen
Erziehungsverständnis ergeben sich verdeutlichende
Abgrenzungen gegenüber den beiden eben
erwähnten Alltagstheorien von Erziehung:
1.
In der Erziehung geht es nicht
um die Gewalt, die sich durchaus auch
in freundlicher Manipulation äußern
kann, um aus einem Kind einen sozialisierten
Menschen zu formen, der anders gemacht
werden muss, als er seiner Individualität
nach sein kann. In der Erziehung geht
es um die Perspektiveneröffnung für
das Kind, so dass es zu einer unverwechselbaren
Individualität im Rahmen eines sozialen
Zusammenhangs werden kann. Dies schließt
nicht aus, dass in den tatsächlichen
Erziehungsverhältnissen viel Gewalt
herrscht, die auch von den Kindern so
empfunden wird. Sie erinnern sich vielleicht
noch an den bösen, grünen Affen aus
der Stofftiersammlung des Jungen, den
ich vorhin erwähnte. Als der Junge gefragt
wurde, ob er dieses kleine Ungeheuer
nicht einmal zu einem lieben Tier erziehen
könne, greift er ihn sich spontan, zieht
an seinem Kopf, drückt den Bauch ein
und versohlt ihm schließlich den Hintern.
Das gibt zu denken. Aber meine These
ist, dass wir gerade deshalb einen positiven
Erziehungsbegriff benötigen, um schlechte
Anteile in der pädagogischen Praxis
korrigieren zu können. Wir als die stärkeren
Erwachsenen müssen uns Gedanken darüber
machen, wie wir die Beziehung zu den
schwächeren Kindern so gestalten können,
damit wir eine Hilfe zu einer gesunden
Entwicklung werden. Diese, den Selbstentfaltungskräften
des Kindes dienende Tätigkeit des Erwachsenen
nenne ich Erziehung.
2.
In der Erziehung geht es nicht
um ein wechselseitiges Verhältnis zum
Zwecke gleichberechtigter Beeinflussung
zweier Teile, wie dies z.B. in ehelichen
oder Freundschaftsbeziehungen der Fall
ist. Sondern in der Erziehung geht es
um ein radikal einseitiges Verhältnis:
jedem einzelnen Kind sollen Hilfen zu
seiner ihm möglichen Entwicklung gegeben
werden. Natürlich verändert sich der
Erwachsene durch die Erziehung eines
Kindes auch, vielleicht sogar in noch
viel stärkerem Maße als das Kind; doch
diese Veränderung des Erwachsenen ist
nicht der Zielpunkt der Erziehung. Er
hat vielmehr eine “dienende“ Funktion
gegenüber dem Kind, um dessen Selbstwerdung
es zentral geht.
Meine
zusammenfassende These lautet an dieser
Stelle: In der Erziehung stellt eine
Erzieherin ihren Körper, ihren Geist,
ihre Liebe zur Verfügung, damit das
Kind zu einer Persönlichkeit sich bilden
kann, die mit Selbstvertrauen auf die
Welt zugeht. In der Erziehung schließen
wir den Kindern zunehmend Türen zu neuen
Räumen auf, die die Kinder selbst betreten
müssen, und die sie selbst betreten
können, wenn wir Erwachsene ihnen Sicherheit
vermitteln. Dazu zur Illustration noch
eine kurze Geschichte von dem schon
des öfteren erwähnten Jungen. Auf dem
Weg zum Kindergarten stellt er fest,
dass er den kleinen, noch so schutzbedürftigen
Ernie vergessen hat. Mit zitternder
Stimme fragt er die Eltern, ob sie gleich
zu Hause seien, um auf Ernie aufpassen
zu können. Als diese verneinen, ist
er zunächst verzweifelt. Doch dann kommt
ihm die rettende Idee, und er sagt -
und wieder können wir nicht beurteilen,
wie ernsthaft ihm dies ist -, dass Ernie
ja des Jungen Pistolenstock zu Hilfe
nehmen könne, wenn jemand ihm etwas
Böses wolle.
3.
Aufgaben der Erzieherin
Ich
möchte mit Ihnen jetzt etwas näher das
Aufgabenfeld einer Erzieherin im Kindergarten
betrachten. Ich teile es in zwei große
Bereiche: in die indirekten und in die
direkten Tätigkeiten.
a)
Die indirekten Tätigkeiten
Zu
der ersten Gruppe zähle ich all das,
was eine Erzieherin tut, damit jedes
Kind ihrer Gruppe zu dem ihm eigenen
Spiel findet. Die Erzieherin strukturiert
den Raum, sie wählt Material aus, sie
gliedert den Tagesablauf, sie stellt
Einstiegshilfen zur Verfügung, sie hilft
über Frustrationsphasen hinweg usw.
Ich möchte dies nur kurz andeuten:
· Der
Raum
sollte so konzipiert sein, dass er ruhige
Aktivitäten und lärmende Bewegung ermöglicht,
er sollte so gegliedert sein, dass er
einer kleinen Kindergruppe ein gemeinsames
Spiel erleichtert, aber gleichzeitig
die Möglichkeit eines unbeobachtbaren
Rückzugs eines Kindes erlaubt. Ich halte
dabei wenig von der heute teilweise
modernen Aufgliederung des Kindergartens
in Funktionsräume: Im Bewegungsraum
wird sich bewegt, im kreativen gemalt,
gebastelt, gebaut, im Rollenspielraum
mit Puppen gespielt usw. M.E. ist eine
solche Aufgliederung von dem Erwachsenendenken
aus konzipiert, der kindliche Aktivitäten
in verschiedene Bereche aufgliedert.
Vom Kind aus gesehen gehen diese Bereiche
ineinander über: Im Familienspiel gehen
die Väter ihrer Aufgabe als Bauarbeiter
nach, die Mütter malen ein Bild zur
Verschönerung der Wohnung, die Babys
plantschen mit Wasser usw. Wollen Sie
einer wild schießenden Jungenbande,
die gerade mit Holzklötzen ein Fort
aufgebaut hat, in den Bewegungsraum
verbannen?
· Zum
Stichwort Material
heute nur zwei Hinweise: Reduzieren
Sie die störende Überfülle aus dem Kindergarten.
Ich kenne Ihre Einrichtung nicht, aber
ich möchte blind behaupten, dass Sie
60 % der Spielkästen und sonstigen Materialien
im Keller verstauen können, ohne den
Spielwert Ihrer Einrichtung zu verschlechtern.
Im Gegenteil würden Sie, wenn Sie hier
nach dem Motto „weniger ist mehr“ verfahren,
für das Kind eine übersichtlichere Spielwelt
schaffen, die ihm hilft, zu seinem Spiel
zu finden. Und mein zweiter Hinweis:
Bringen Sie reale Gegenstände in die
Einrichtung. Ein Puppenkinderwagen kostet
viel Geld, hält aber kein in ihm sitzendes
Kind aus. Einen richtiger Kinderwagen
bekommen Sie gebraucht für weniger Geld,
und er hat einen ungleich höheren Spielwert
für die Kinder. Und dann die echten
Boxhandschuhe. Kein Kindergarten sollte
auf sie verzichten, denn mit ihnen kann
man lernen, „in echt“ zuzuschlagen,
ohne zu verletzen. Im fairen Kampf zu
bestehen, modelliert die Aggressivität
der Kinder, und dies scheint mir eine
nicht unwichtige Aufgabe.
· Was
die zeitliche
Strukturierung angeht, kann ich
Ihnen nur raten: geben Sie dem Spiel
der Kinder viel Zeit, dieses zu entwickeln,
denn diese benötigen sie, um nach einer
oberflächlichen, einsteigenden Mal-
oder Puzzle-Aktivität zu intensiverem
Spiel zu kommen. Nicht „Beschäftigung“,
sondern „Spiel“ ist die Intention des
Kindergartens. Neben einer kurzen Aufräum-
und einer ebenso kurzen Stuhlkreisphase
sollte der gesamte Vormittag in dem
Freispiel bestehen, in das all das integriert
wird, was im Kindergartengeschehen vorkommt.
Zurecht werden vielleicht einige von
Ihnen einwenden, dass eine solch ausgedehnte
Freispielphase für einige Kinder eine
Überforderung darstelle, da sie einen
Zeitraum von drei bis vier Stunden nicht
überblicken könnten. Nur gerade darin
scheint mir die schwierige Aufgabe der
Erzieherin zu bestehen, die unterschiedlichen
Zeitbedürfnisse verschiedener Kinder
wahrzunehmen, um individuell darauf
reagieren zu können. Ein kleines, dreijähriges
Kind, das neu in den Kindergarten kommt,
mag lange an Ihrem Rockzipfel hängen,
bevor es sich selbständig in die große
Kindergartenwelt hinauswagt. Diesem
Kind müssen Sie helfen, Sie müssen für
dieses Kind eine Brücke sein, über die
es sich trauen kann zu gehen, um zu
dem eigenen Spiel und dem seiner Mitkinder
zu gelangen. Nur, warum sollten deshalb
alle 25 Kinder, für die Sie stundenweise
verantwortlich sind, ihr Spiel unterbrechen,
um auf Ihr Kommando hin zu essen oder
nach draußen zu gehen?
Die
indirekte Erzieherinnentätigkeit, die
ich hier nur angedeutet habe, nimmt
quantitativ den größten Anteil der Arbeit
einer Erzieherin in Anspruch. Sie ist
sehr wichtig, damit der pädagogische
Auftrag des Kindergartens. dass jedes
Kind zu seinem Spiel findet, erfüllt
werden kann. Und diese Aufgabe ist schwierig,
weil der Beurteilungsmaßstab ihres Ge-
oder Misslingens der ist, inwieweit
Sie aus der Perspektive der Kinder die
erforderlichen Hilfen anbieten. Die
Erzieherin wird indirekt aktiv, und
sie ist dann erfolgreich, wenn sie sich
in der Freispielphase auf ihre passive,
beobachtende Rolle zurückziehen kann.
Es ist nicht Ihre Aufgabe, mit den Kinder
zu spielen, denn je aktiver Sie sind,
desto passiver werden die Kinder, es
träte das Gegenteil von dem ein, was
pädagogisch wünschenswert ist. Die Spielwelt
der Kinder ist nicht unsere Erwachsenenwelt.
Wir verstehen sie meist nicht richtig
und wir sind zu egozentrisch. Wenn Sie
es sich in einem Bild vorstellen wollen:
das Spiel der Kinder ist wie das zarte
Pflänzchen, das Zeit, Licht und Wärme
benötigt, um wachsen zu können. Unser
Mitspielen wirkt meist mehr wie die
überdimensionale Walze, die das Pflänzchen
zerstört. Meiner Erfahrung nach ist
die im Nicht-Mitspielen der Erzieherin
gebotene Passivität eine der schwierigsten
Teile der Erzieherinnenarbeit.
b)
Die direkte Tätigkeit
Die
soeben angedeuteten indirekten Tätigkeiten
nehmen quantitativ den Hauptteil der
Erzieherinnenarbeit in Anspruch, und
es sind solche, die sich relativ leicht
erlernen lassen: Wie ein Innenarchitekt
kann man lernen, unter pädagogischen
Gesichtspunkten einen Raum zu gliedern,
mit Überlegung lässt sich die Auswahl
des geeigneten Materials bewerkstelligen,
und mit ein wenig Erfahrung kann die
Erzieherin ein Händchen dafür entwickeln,
wann und wie sie einem Kind helfen kann,
um zu seinem Spiel zu finden. Das, was
ich Ihnen jetzt als den zweiten Aufgabenbereich
der Erzieherin gegenüber den Kindern
vorstellen möchte, ist viel schwieriger
zu erlernen als das, worüber ich gerade
gesprochen habe: ich meine die direkte
Beziehungsgestaltung der Erzieherin
gegenüber jedem einzelnen Kind. Da die
Tätigkeiten, die hier verlangt werden,
tief in die Persönlichkeitsbildung jeder
einzelnen Erzieherin hineinreichen,
sind sie schwerer normierbar und komplizierter
zu verändern.
Ich
möchte das, was die Erzieherin in der
direkten Beziehung zu jedem einzelnen
Kind leisten muss, unter das Stichwort
der „passiven Liebe“ stellen. Das klingt
vielleicht etwas widersprüchlich und
pathetisch. Wir werden sehen. Ein Kind
bedarf, um gesund groß werden zu können,
eines intensiven Raumes, in dem es eigenaktiv
tätig werden kann. Darüber haben wir
unter dem Stichwort „Spielwelt“ gesprochen.
Aber es bedarf noch mehr: Es bedarf
der Sicherheit, dass sich das kleine
Leben in der großen Welt lohnt, dass
diese große Welt Sinn macht, dass das
kleine Kind an dieser großen Welt aktiv
wird mitarbeiten können. Jedes menschliche
Leben kann nur Bedeutung gewinnen, wenn
es sich bezogen weiß auf eine über es
selbst hinausreichende Welt: der Kampf
um soziale Gerechtigkeit, das sich Einsetzen
für eine friedliche Welt, religiöse
Gewissheit angesichts der Erfahrung
des Todes und der Unendlichkeit gehören
dazu. All dies erwirbt das kleine Kind
nicht durch philosophische, verbale
Auseinandersetzung, sondern durch die
Unmittelbarkeit der Beziehung zu großen
Menschen, die für das ganze Unverstandene
stehen.
Ein
Kind braucht Sicherheit, Vertrauen,
Hoffnung, Heimat, und dies nicht durch
große Worte abstrakt im Kopf, sondern
indem es mit für ihn bedeutsamen Erwachsenen
dies alles augenblicklich spürt. Nur
wenn ein Kind diese selbstsichere Erfahrung
von Heimat hat, dann kann es gesund
sich entwickeln und sichere Schritte
auf die weite Welt zumachen. Es wird
sich von all dem, was ihm als Kind angeboten
wurde, distanzieren, es wird zerstören
müssen, um seine eigene Welt und seine
religiösen, sittlichen und politischen
Werte aufbauen zu können. Aber jetzt
ist es noch sehr klein, es bedarf der
Sicherheit des Hafens, von dem es sich
nur ein Stück weit entfernen kann.
Die
Eltern sind die ersten Ansprechpartner,
wenn es darum geht, dem Kind Heimat
zu vermitteln. Das ist wahr. Aber mit
diesem Verweis lässt sich die Forderung
nach Liebe durch die Erzieherin im Kindergarten
nicht vollständig zurückweisen. Dies
aus zwei Gründen heraus nicht: wir haben
in unseren Kindergärten viele Kinder,
denen in ihrem Elternhaus ein gutes
Stück Heimat fehlt. Dies gilt für die
versagenden, misshandelnden Familien,
aber manchmal auch für die, bei denen
jenseits der Oberfläche materieller
Versorgung und sogar Überfülle vieles
fehlt, was einem Kind Geborgenheit,
Verlässlichkeit und Bedeutsamkeit vermitteln
würde. Und zweitens auch im Falle gelingender
Familienerziehung: Das kleine Kind verlässt
den sicheren Hafen seiner Familie, es
wird ein Stück weit selbständiger, es
nabelt sich ab von der Mutter, aber
es ist immer noch abhängig von der persönlichen
Beziehung zu einem lebendigen Erwachsenen.
Die Beziehung zur Erzieherin ist somit
zweiseitig zu sehen: Einerseits ist
sie Loslösung und Unabhängigkeit, andererseits
aber Ersatz für die Mutter, die das
Kind nicht loslassen könnte, wenn es
im Kindergarten nicht die Erzieherin
vorfinden würde, die es genauso wie
die Mutter festhält und liebt.
„Liebe“
ist zu einem Wort geworden, das manchmal
einen so pathetischen Klang angenommen
hat, dass es nur noch für den deutschen
Schlager taugt. Oder es dient als Bemäntelung
für Egoismus, Gewalt und Eindringung,
die genau das Gegenteil davon sind,
was mit „Liebe“ gemeint ist. Ich versuche
also mich konkreter auszudrücken:
· Erzieherische
Liebe äußert sich in der Fähigkeit der
Hand, ein Kind so anfassen zu können,
dass es weder auf Grund der Heftigkeit
des Druckes entfliehen möchte, noch
so labberig, dass nur Ungewissheit vermittelt
würde. Man muss ein Kind so anfassen,
dass es Sicherheit und Geborgenheit
spürt, von denen aus es selbst die schützende
Hand loslassen will.
· Erzieherische
Liebe äußert sich in dem Blick, der
ein Kind gefangen nimmt, weil hier Fröhlichkeit,
Lebendigkeit und Ausgelassenheit durchscheinen.
Es gibt Gesichter, in die sich gerne
schauen lässt, weil sie Optimismus versprühen.
Man muss ein Kind so anschauen, dass
es in dem Bruchteil einer Sekunde spürt:
diese Lebendigkeit der Erzieherin gehört
mir selbst.
· Erzieherische
Liebe äußert sich in der Fähigkeit,
ein trauriges Kind in den Arm nehmen
zu können, damit es wortlos seine Tränen
in den Schoß vergießen kann, es so zu
umhüllen, dass das Kind spürt, dass
nichts als Ihr Körper es bemänteln,
und für eine Zeitlang Sie die Welt von
ihm fernhalten. Man muss ein Kind so
lange in den Arm nehmen können, bis
es sich ausgeweint hat, ohne dass man
auch nur eins dieser überflüssigen Wörter
sagt, die zur Täuschung rascher Tröstung
führen, und man muss es so in den Arm
nehmen können, dass es sich nachher
nicht wird schämen müssen.
· Erzieherische
Liebe äußert sich in der Sprache, die
lieber lange überlegt, welches Wort
sie einem unruhigen Kind sagt, anstatt
ihn mit einem Wortschwall zu überdecken.
Und nicht nur das unruhige Kind, sondern
auch das bedrückte, das zickige, das
schweigende und das lärmende. Man muss
die Stimme so modellieren, dass mit
wenigen Worten Gewissheit und Verständnis,
Beständigkeit und Freundlichkeit gleichzeitig
ausdrückt wird.
Ihre
Hand, Ihre Arme und Beine, Ihr Körper,
Ihre Augen, Ihre Stimme, ja selbst Ihre
Haare und Ihre Kleidung können die Liebe
zu dem Kind ausstrahlen oder ihm die
Liebe versagen. Ein Kind spürt beispielsweise
durch Ihren Blick, ob Sie es lieben
oder nicht. Sie können sich dazu in
Ihrem Kopf an Ideologie zurechtlegen,
was Sie wollen. Nun lässt sich vielleicht
durch ein Rhetorik-, Mimik- und Gestikseminar
Ihre Sprache, Ihre Gesichtsmuskeln und
Ihre Handfestigkeit beeinflussen, und
in der Erzieherinnenfortbildung wird
dies teilweise versucht. Doch es hilft
nichts, jedes kleine Kind wird es mit
der Zeit spüren, ob Ihre Freundlichkeit
aufgesetzt oder wirklich ist. Sie mögen
im Training Ihrer Rhetorik-, Gestik-
und Mimikfähigkeiten Meisterin sein,
es nützt Ihnen wenig (zumindest nicht
im Umgang mit Kindern). Damit Ihre Stimme,
Ihr Blick, Ihre Hand wirklich zu einem
Werkzeug Ihrer Liebe zu dem Kind werden
können, dürfen Ihre Handlungstechniken
nicht nur Fassade bleiben, sondern sie
müssen in Ihrer Persönlichkeit Verankerung
finden. Wenn Sie nicht in Ihrer eigenen
Person die Fähigkeit finden, ein jedes
Kind auf seine individuelle Art und
Weise zu lieben, können Sie die Kinder
angrinsen und ansäuseln wie Sie wollen,
es wird nichts nützen.
Damit
sind wir also bei den tieferen Persönlichkeitsschichten
jeder einzelnen Erzieherin. Es gibt
keinen erzieherisch gebotenen Blick,
Sprachstil, Händedruck usw. Hier ist
nichts zu normieren. Sondern jede Erzieherin
muss sich selbst fragen, wie sie sich
in die Lage versetzen kann, für jedes
Kind, für das sie ein Stück weit Verantwortung
trägt, Liebe zu empfinden, und wie sie
diese ihre liebende Einstellung in praktische
Handlungsmuster umsetzen kann. Es hilft
dann auch nicht die pauschale Versicherung,
man liebe jedes Kind, denn die verallgemeinernde
Behauptung ist entweder eine Abwehr,
das konkrete Kind tatsächlich in seiner
Individualität an sich herankommen zu
lassen, oder sie ist die Unerfahrenheit
der Berufsanfängerin, die sich in ihrer
Motivation nicht enttäuschen lassen
will. Es gibt nervige Kinder, es gibt
solche, an denen einen alles abstößt.
Da hilft weder die Ideologie weiter,
man liebe sie alle gleichermaßen, noch
die Entschuldigung, man können nicht
alle gleichermaßen lieben. Sondern es
gilt sich zu fragen, wie kann ich als der stärkere Erwachsene
mich selbst in die Situation bringen,
damit gerade dieses Kind mir als liebenswert
erscheint. Und wir müssen uns fragen,
wie mache ich mich als Erzieherin für
jedes der mir anvertrauten Kinder zu
einem liebenswerten Erwachsenen. Wir
werden dann vielleicht gerade bei den
Kindern, an denen uns vieles abstößt,
eine Erweiterung unserer Persönlichkeit
und beruflichen Kompetenz erfahren,
für die wir ihnen dankbar sein werden.
Ich
sprach vorhin davon, dass die Fähigkeit
zur „passiven Liebe“ das Entscheidende
in der direkten Beziehungsgestaltung
zwischen Ihnen und den Kindern sei.
Zu dem Wörtchen „Liebe“ habe ich einiges
gesagt, zu dem es begleitenden Adjektiv
„passiv“ noch eine knappe Bemerkung.
Sie sollen Ihren Körper und Ihre Persönlichkeit
in die Situation versetzen, damit Sie
jederzeit jedes Kind, für das Sie stundenweise
Verantwortung tragen, lieben können.
Aber Sie sollen diese Liebe den Kindern
nicht andienen. Es mag Kinder in Ihrer
Gruppe geben, die kein oder nur ein
kleines Stückchen Ihrer Liebe benötigen.
Dann lassen Sie sie gewähren. Es gibt
andere, die sehnsüchtig oder auch durch
aggressives Aufmerksamkeit Erregen sehr
viel von Ihnen verlangen. Geben Sie
ihnen dieses Viele. Maria Montessori
sagt an einer Stelle, dass die Erzieherin
wie das Material sein soll, das die
Kinder zu ihrer Entwicklung benötigen.
Sie nehmen es sich, wann und solange
sie es gebrauchen. Es steht ihnen zur
freien Verfügung. Dies gilt auch für
die Liebe der Erzieherin. Sie steht
einem Kind zur freien Verfügung, wann
und solange es sie braucht. Doch fragen
Sie sich selbstkritisch: Wann nehmen
Sie ein Kind in den Arm, weil Sie es
brauchen, ein Kind in den Arm zu nehmen,
und wann schauen Sie lächelnd ein Kind
an, weil seine Lebendigkeit Sie fasziniert
- aber vielleicht entziehen Sie damit
einem anderen Kind Ihren Blick, das
von Ihrer Lebendigkeit leben müsste?
4.
Überforderung?
Vieles
von dem, was ich Ihnen vorgetragen habe,
mag wie eine Überforderung an die Erzieherin
wirken - dienende Hingabe, selbstlose,
passive Liebe? Man kann fragen: Wird
hier nicht eine Moral gepredigt, die
niemand erreichen kann und die deshalb
für das Alltagshandeln wertlos ist,
sondern allenfalls für zukleisternde
Festtagsreden wie diese heute taugt?
Es mag so sein. Ich würde gerne auf
das Wort „Liebe“ verzichten, soweit
es Missverständnisse auslöst. Doch um
den Kern des erzieherischen Geschäfts
zu beschreiben, habe ich bislang kein
besseres gefunden. Also lebe ich mit
den Missverständnissen. Vielleicht werden
dadurch auch Assoziationen ausgelöst,
die wie ein Stachel unsere pädagogische
Realität zu hinterfragen geeignet sind.
Ich
will hier keine langen Überlegungen
mehr zu der Frage anstellen, ob „Liebe“
nicht ein übertriebenes Wort für das
Alltagshandeln einer Erzieherin im Kindergarten
ist und eine Überforderung für jeden
Erwachsenen - zumindest soweit er das
Geschäft als lebenslange Berufsarbeit
angeht. Ich will Ihnen statt dessen
nur zwei kurze Geschichten erzählen.
a)
Was eine Friseuse benötigt?
Zunächst
einmal die richtigen Finger, Finger,
die behände mit der Schere umgehen können,
die geschickt einige Haarreihen ergreifen,
die kräftig die Kopfhaut massieren,
die vorsichtig einen Tuck entzerren,
die die Länge des Schnitts abschätzen
können. Sie benötigt gute Augen, Augen,
die die gerade Linie erkennen, Sinn
für Proportionen haben, Farbnuancen
differenzieren können, einen Blick auf
das Ganze der Person werfen. Die Friseuse
benötigt einen gesunden Körper, ein
Körper, der gegenüber Allergien nicht
anfällig ist, der sie den ganzen Tag
stehen lässt, der Bücken und Herunterbeugen
erlaubt. Die Friseuse benötigt soziale
Kompetenzen, Kompetenzen, die ihr ein
Zurechtkommen erlauben: mit dem zappeligen
Kind, der senilen Oma, der stolzen Dame,
dem verrückten Punker, dem eitlen Pfau,
dem angetrunkenen Säufer, der nörgelnden
Frau.
Soweit
mein lückenhaftes, vor allem aber leihenhaftes
Kompetenzprofil. Damit aus der Friseuse
eine gute Friseuse wird, benötigt sie
neben der Ausbildung der genannten Fähigkeiten
noch etwas weiteres: Liebe. Nicht dass
sie jeden ihrer Kunden lieben müsste
(das muss nicht einmal die Prostituierte),
aber Haare, die muss sie lieben. Sie
benötigt eine engagierte, künstlerische
Liebe, um aus zotteligen, fettigen,
wild sprießenden Haaren eine Frisur
zu formen, die für den jeweiligen Kopf
passend ist. Schlecht wäre es, wenn
sie eine egozentrische Haarliebe hätte,
wenn sie von ihren eigenen Haaren und
ihrem eigenen Frisurgeschmack für ihren
Kopf ausginge. Nein, die Friseuse mit
den langen, dichten, leicht gelockten,
blonden Haaren muss sich in die struppige
Fastglatze ihres Gegenübers hineindenken
und hineinfühlen, um eine passende Frisur
zu schneiden. In diesem Sinne ist ihre
Haarliebe nicht egozentrisch, sondern
selbstlos. Sie erwartet für ihren Dienst
die gerechte Entlohnung und das passende
Trinkgeld. Selbstlos ist die Haarliebe
auch, weil die Friseuse in ihrem beruflichen
Handeln nicht von den persönlichen Gefühlen
beherrscht wird. Nehmen wir an, unsere
Haarschneiderin hätte sich am Abend
vorher heftig mit ihrem Freund gestritten.
Noch voller Wut verlässt sie das Haus.
Was würde passieren, wenn sie ihre Aggression
und Enttäuschung an der Haarmähne des
ersten Kunden ausließe? Der Schnitt
wäre zu kurz geraten, Ecken würden die
Frisur entstellen, die linke Seite wäre
länger als die rechte, die Haartönung
zu kräftig geraten. Ihre Chefin würde
ihr kündigen, oder, wenn sie selbständig
wäre, stünde sie bald ohne Kunden da.
Ihre Haarliebe muss deshalb so stark
sein, dass sie für Stunden auch die
persönlichen Probleme überdeckt.
Damit
aus der Erzieherin eine gute Erzieherin
wird, benötigt sie neben der Ausbildung
der in meinem heutigen Vortrag angedeuteten
Fähigkeiten noch etwas weiteres: Liebe.
Die Erzieherin kann und soll nicht jedes
Kind lieben wie ihr eigenes. Im Gegenteil:
sie soll sie alle lieben, und das kann
sie nur, wenn sie sie nicht wie das
eigene liebt. Sie benötigt ihre Liebe,
um für jedes Kind das Klima zu schaffen,
in dem es sich selbst kraftvoll entwickeln
kann. Sie liebt vielleicht weniger dieses
Kind als die erstaunliche und bewunderungswürdige
Tatsache, dass kleine Kinder ihre Schritte
in die weite Welt hinein unternehmen
und dass sie in einer Atmosphäre des
Geliebt Werdens ihr Inneres in der Kindergartenwelt
probeweise zur Darstellung bringen.
Es fasziniert uns, das Erblühen einer
Pflanze in dem hoffentlich bald kommenden
Frühling zu beobachten. Sollte uns das
Wachstum eines Kindes, mit seinen tastenden
Versuchen, seinen Irrwegen, Probeläufen
und schließlich sicheren Schritten weniger
faszinieren können? Aber da ist die
wehleidige Martina mit ihren Tränchen,
da ist der ständig streitsüchtige Frank
und der übelriechende, häßliche Thomas.
Auch sie lieben? Ich erspare mir jetzt
langatmige Ausführungen und stelle einfach
die These auf, dass jede Erzieherin
das hässlichste, fieseste, nervigste,
aggressivste Kind lieben lernen kann,
·
wenn sie über einen längeren
Zeitraum der Begegnung mit dem Kind
nicht ausweicht,
·
wenn sie sich nicht unter
den Druck setzt, spontane Zuneigung
empfinden zu müssen,
·
wenn sie auch in der kämpferischen
Auseinandersetzung mit dem Kind Zeichen
der Annäherung sieht,
·
wenn sie sich in ihre
Verantwortung für die Zukunft des Kindes
hineindenken kann,
·
wenn sie das Kind wohl
besorgt und anderen, ihr subjektiv näherstehenden,
vorzieht.
Mit
ihrer längerfristigen Sorge und Verantwortung
wird ihr dieses Kind ans Herz wachsen.
Was
heißt „pädagogische Liebe“: Die Suche
nach der Individualität dieses Kindes,
die Suche nach der einmaligen Ausdrucksform
meiner Beziehung zu diesem konkreten
Kind. Diese Liebe ist „selbstlos“, weil
der Maßstab ihres Gelingens nicht die
Befriedigung meiner Bedürfnisse ist,
sondern die gegenwärtige Situation des
Kindes und seine Entwicklungsmöglichkeit
im Mittelpunkt stehen. Die Erzieherin
erhält ihre monatliche Entlohnung für
ihre Arbeit, und wenn sie es diesem
Kind gegenüber nicht anders empfinden
kann, dann muss es hiermit genug sein.
Nicht jeder Rohrreiniger ist ständig
aufs Neue begeistert, den Gestank beim
Entfernen des Drecks auszuhalten - seinem
Engagement und seiner Liebe zu seinem
Beruf muss dies keinen Abbruch tun.
b)
Der Briefmarkensammler
Jahre
lang habe ich den in der Literatur auffindbaren
Satz unbefragt übernommen: der Erzieherinnenberuf
sei erst dann ein professioneller, wenn
er nicht wie die Kindergärtnerinnentätigkeit
Vorbereitung auf die eigene Mutterschaft
sei, sondern wenn er mit Berufszufriedenheit
lebenslänglich ausgeführt werden könne.
Ich kenne ältere Erzieherinnen, für
die dies gilt, und ich bewundere ihre
Vitalität. Sie sind im positiven Sinne
mit ihren Kindern jung geblieben, dem
Neuen gegenüber aufgeschlossen, der
Spontaneität des Lachens fähig, des
Herunterbückens zu den Kindern nicht
müde. Diese Frauen haben etwas Faszinierendes,
und für die Darstellung und Entwicklung
des Berufsstandes leisten sie Wertvolles.
Doch ich bin mir gegenwärtig nicht mehr
sicher, ob diese Frauen das Vorbild
für alle Erzieherinnen abgeben können.
Vielleicht heißt ausschließlich auf
ihre Karte zu setzen, so viel wie früher
auf die der nicht verheirateten Diakonissen
und Nonnen (und auch unter ihnen gab
und gibt es viele faszinierende Persönlichkeiten).
Vielleicht ist für die Mehrheit der
im Erziehungsbereich Tätigen nach einigen
Kindergenerationen die Kraft verbraucht,
und es wäre hilfreicher über Strukturen
zu verfügen, die einen Berufsausstieg
oder eine berufliche Weiterorientierung
erleichtern würden.
Jetzt
als letzte Assoziation meines vormittäglichen
Vortrags die abschließende Geschichte
von dem Briefmarkensammler. Herr Schön
ist pensioniert. Seine ganze Zuneigung
gilt jetzt - neben seiner Frau - seinen
Briefmarken. Wenn er des morgens seine
Post erhält, öffnet er in Feiertagsstimmung
den Umschlag mit den Marken, die ihm
ein Freund hat zukommen lassen. Er betrachtet
sie, sortiert die doppelten aus, die
neuen legt er in eine gesonderte Schachtel.
Vorsichtig trennt er im Wasserbad die
Marken von den Umschlägen und trocknet
sie. Er holt seine Lupe aus der Schreibtischschublade,
um die Marken einzeln vergrößert beobachten
zu können. Bei dieser sind die Zacken
vorsichtig mit der Pinzette zu glätten,
bei jener letzte Briefumschlagsreste
zu beseitigen. Herr Schön holt seine
Alben, die neuen Marken sind an der
richtigen Stelle einzuordnen. Er freut
sich, einen Satz vervollständigen zu
können, er lächelt über ein komisches
Briefmarkenmotiv. Einmal hat er es mit
dem örtlichen Briefmarkenverein probiert,
doch als er feststellte, die dort versammelten
Philantelisten seien zu hektisch und
verbiestert, beschloss er, lieber für
sich alleine zu bleiben und seine Tauschpartner
nur im privaten Kreis zu suchen. Herr
Schön besitzt diverse Briefmarkenkataloge,
sie bieten ihm eine willkommene Übersicht,
doch er weiß, dass die dort genannten
Verkaufssummen Phantasiepreise sind.
Würde er seine Sammlung bei einem professionellen
Händler verkaufen, er bekäme nicht viel
mehr als den Altpapierpreis. Doch er
würde so und so nicht verkaufen, was
sollte er mit dem Geld schon anfangen.
Er wird seine Sammlung bis zum Tod weiter
pflegen, obwohl er weiß, dass noch nicht
einmal sein Enkel mit dem Briefmarkenerbe
etwas wird anfangen können. Manchmal
zeigt er seine Sammlung seiner Frau,
doch wenn diese dann nur auf die bunten
Vögel mit Begeisterung fliegt, ist er
resigniert und enttäuscht, und er beschließt,
dass es für seine Frau wohl besser sei,
seine Sammlung allein unter putztechnischen
Gesichtspunkten zu betrachten. Herr
Schön weiß nicht, warum es ihn glücklich
macht, wenn er ein seltenes Exemplar
in seine Sammlung einreihen kann. Eigentlich
denkt er über diese Frage noch nicht
einmal nach. Es ist einfach so.
Vielleicht
kann man Kinder mit der Liebe des Briefmarkensammlers
Schön sammeln - nur bitte schön nicht
im Album und nach Katalog.
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