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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1998 - 2

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Sigurd Hebenstreit

Die Persönlichkeit der Erzieherin als das wichtigste Handwerkszeug in der kindzentrierten Kindergartenarbeit

Vortrag in Siegen 1998

1. Einleitende Übersicht

Ich bin gebeten worden, etwas zu der Rolle der Erzieherin in der kindzentrierten Kindergartenpädagogik zu sagen, und Ihre Tagungsleitung hat in die Überschrift einen Ausdruck aus meinem Kindergartenbuch aufgenommen, in dem ich von der Persönlichkeit der Erzieherin als ihrem wichtigsten Handwerkszeug spreche. Sie gestalten in Ihrem Kindergarten für die Kinder einen Raum, damit diese aktiv sein können; Sie stellen ihnen Material zur Verfügung, Sie strukturieren den Tagesablauf und legen Regeln für das soziale Miteinander fest, Sie lesen Bilderbücher vor, singen Lieder, organisieren Stuhlkreisspiele. All dies sind wichtige Tätigkeiten, die Sie sich unter pädagogischen Gesichtspunkten gut überlegen. Sie müssen all dies ausführen, damit der Kindergarten für die Kinder zu einem Betätigungsfeld wird, in dem sie eigenaktiv ihr Spiel gestalten können. Dadurch werden die Kinder einen Schritt von der eigenen Familie auf die große Welt hin tun können und sie werden sich in Ihrem Kindergarten frei entwickeln.

Wenn Sie jedem Kind Ihres Kindergartens den geeigneten Raum, das geeignete Material, die passende Zeitstruktur, die notwendigen Regeln geben, dann haben Sie den Kindern viel gegeben. Aber ich glaube, Sie haben ihnen dann noch nicht das Wichtigste gegeben. Sie müssen jedem einzelnen Kind noch ein Stück Ihrer Persönlichkeit geben.

Es lassen sich Roboter vorstellen, die im Kindergarten Raumgestaltung und Materialauswahl optimal regeln, und ein Fernsehprogramm mag die Animation der Kinder perfekt leisten - doch das Wichtigste würde hier fehlen, das ich vorläufig mit einem altmodischen Wort als die „Seele“ bezeichnen möchte. Der Raum und das Material, das den Kindern im Kindergarten angeboten wird, sie müssen beseelt werden von der lebendigen Erzieherin, die ihren Körper, ihr Gefühl und ihren Geist in den Kindergarten einbringt. Die Lebendigkeit der Erzieherin ist Voraussetzung, damit die freie, selbstaktive und lebendige Entwicklung des einzelnen Kindes vonstatten gehen kann.

Es gilt generell für den Menschen, dass er existentiell angewiesen ist auf die Beziehung zu anderen, für ihn bedeutungsvollen Menschen. Ohne sie kann sein Leben nur schwerlich Sinn gewinnen. Noch mehr aber hat diese fundamentale Tatsache für die Erziehung Bedeutung. Damit ein Kind gesund groß werden kann, bedarf es konkreter, für ihn herausgehobener Menschen, die ihm ihre Liebe geben, damit es Sicherheit und Zutrauen gewinnen kann, die es als bedeutungsvoll anerkennen, so dass das Kind sich selbst als wichtig zu erfahren vermag. Das Kind, dem alle notwendigen Dinge in einer für seine Bedürfnisse optimal gestalteten Umgebung bereitgestellt werden, würde eingehen, wenn es daneben nicht spezifische Erwachsene hätte, die mit ihrer persönlichen, auf das einzelne Kind bezogenen Liebe die Umwelt beseelen würden. Diese Vertrauenspersonen bieten sich selbst als Material an, damit das Kind aus dieser Quelle leben kann.

Für die ganz kleinen Kinder sind zunächst Mutter und Vater, dann die Großeltern, Verwandte und Freunde solch bedeutungsvolle Erwachsene, an denen das Kind sich anlehnen und zu denen es aufschauen kann. In ihren Armen fühlt es sich getröstet und geborgen. Für die immer noch kleinen Kinder im Kindergarten übernimmt die Erzieherin einen wichtigen Ausschnitt von diesen Aufgaben. Sie bietet für einige Stunden am Tag den Kindern ihre Liebe an, damit sie Sicherheit und Selbstbedeutsamkeit erfahren können. Dies schließt nicht aus, dass die Kinder im Kindergarten auch erzieherinnen-freie Zeiten erleben. Vielmehr betone ich in meiner Kindergartenkonzeption gerade den Gedanken, dass ein Kind im Kindergarten im gemeinsamen Spiel mit seinen Altersgenossen auch unbeobachtet von Erwachsenen leben können muss. Doch auch für diesen wichtigen Schritt auf die Gleichaltrigen zu ist die Erzieherin gerade im Anfang eine wichtige Brücke, über die das kleine Kind zu seinesgleichen findet.

Die Erzieherin im Kindergarten - so lautet meine zusammenfassende These am heutigen Vormittag - ist weit mehr als eine Serviceperson zur Anbietung einer geeigneten Umgebung, sie ist weit mehr als eine Animateurin zur Darbietung von Lern- und Spielprogrammen, sie ist weit mehr als Vermittlerin von situationsorientierten oder traditionellen Bastelinhalten. Sie ist eine lebendige Persönlichkeit, die sich mit Haut und Haaren, mit - wie Johann Heinrich Pestalozzi formulieren würde - Kopf, Herz und Hand in den Dienst von Kindern stellt. Erst dadurch können sie die notwendige Stabilität gewinnen, um Schritte in die große Welt tun und um selbstbewusst und eigenaktiv die eigene Entwicklung weitertreiben zu können.

Dies war meine etwas langgeratene, vielleicht auch etwas zu pathetisch klingende Einleitung meines vormittäglichen Vortrags. Im folgenden möchte ich drei Punkte näher ausführen:

1.    ich will einige zentrale Kennzeichen der von mir vertretenen kindzentrierte Kindergartenpädagogik vorstellen,

2.    ich werde einige Ansprüche, die sich aus dieser Konzeption für die Erzieherin ergeben, erläutern, und

3.    ich möchte die Frage berühren, ob die vorgestellten Aufgaben nicht eine Überforderung der Erzieherin darstellen.

2. Zentrale Kennzeichen der kindzentrierte Kindergartenpädagogik

Zwei zentrale pädagogische Vorannahmen kennzeichnen die von mir vertretene Position kindzentrierter Kindergartenpädagogik. Diese möchte ich Ihnen heute unter den Stichworten „Kindheit“ und „Erziehung“ vorstellen.

a) Das Kind

Ein Kind ist nicht die verkleinerte Ausgabe eines Erwachsenen, sondern ein Mensch, der auf einer qualitativ anderen Stufe steht. Ein Kind denkt, fühlt und handelt nicht weniger als ein Erwachsener, sondern es denkt, fühlt und handelt anders.

Dazu heute nur ein kleines Beispiel: Für uns Erwachsene ist klar, dass wir unterschiedliche Dinge zählen können und dass fünf gleich fünf ist. Mit dieser Vorstellung unseres Kopfes können wir gedankliche Schneisen in die große Welt schlagen und so das Chaos bannen. Fünf bleibt fünf: dessen sind wir uns sicher, und auf diese Gewissheit können wir unsere Handlungen aufbauen. Für das kleine Kind ist fünf nicht gleich fünf, ja zunächst einmal ist für seinen Kopf die Schneise: „Wir können einzelnen Gegenstände zählen“, noch nicht einmal vorhanden, und statt des Wortes „fünf“ könnten Sie dem Kind genauso gut „Hypotenusenquadrat“ beibringen. Irgendwann später wird es dann begreifen, dass „fünf“ etwas damit zu tun hat, dass man die Welt zählen kann. Aber immer noch weiß es nicht, dass fünf gleich fünf ist, sondern für seinen Kopf kann „fünf“ auch mehr oder weniger als fünf sein.

Denken wir uns für einen kurzen Moment nur einmal unsere Fähigkeit weg, fünf immer als fünf zu betrachten: Wir würden auf sehr schwankendem Boden mit unseren wackeligen Füßen stehen. Und auf solch schwankendem Grund befindet sich das Kind: nicht nur, dass fünf gleich fünf ist, macht ihm Schwierigkeiten, sondern auch uns so sichere Begriffe wie „vorher“ und „nachher“, „rechts“ und „links“, „oben“ und „unten“ strukturieren noch nicht seinen Kopf. Stellen Sie sich eine rasante Achterbahnfahrt vor, wo Ihnen vielleicht auch „oben“ und „unten“ durcheinandergeraten. Auf solch einer Achterbahnfahrt befindet sich das kleine Kind. Ihm müsste immer schlecht werden, so wie Ihnen vielleicht schon bei der Vorstellung, Sie würden Achterbahn fahren, wenn es nur über das Fehlen zentraler Begriffsmöglichkeiten gekennzeichnet wäre. Das ist Gott sei Dank nicht so. Dem Kind fehlt nicht nur im Vergleich zu uns Erwachsenen etwas, sondern es hat eine qualitativ andere Denkweise als wir, eine Denkweise, über die wir nicht mehr verfügen: Es deutet die Welt in symbolischer Weise um.

Ich beschreibe Ihnen jetzt als Beispiel einen kleinen Jungen, der jedes Mal, bevor er in den Kindergarten geht, mit seinen häuslichen Stofftieren diskutiert, wer von denen heute mit in den Kindergarten darf. Der grüne Affe auf keinen Fall, denn der ist böse, hat heute Nacht ins Bett gepinkelt und durch lautes Rufen den kindlichen Schlaf gestört. Was würde er erst im Kindergarten an Schlimmem anstellen. Aber vielleicht Flossi, das Steckenpferd, das genau so wie der manchmal etwas wilde Junge vieler Bewegungsmöglichkeiten bedarf? Oder die kleine Handpuppe Pinocchio, die so hilfsbedürftig ist? Oder, oder, oder. Es braucht eine gewisse Zeit ernsthaften Ausdiskutierens, bis der Junge seine Wahl für den heutigen Tag getroffen hat. Was von dem ganzen Reden und Aushandeln, das uns als Gequatsche erscheinen mag, meint der Junge wirklich so? Das lässt sich vom Standpunkt des Erwachsenen aus nicht ausmachen, denn über die Möglichkeit des symbolischen Denkens verfügen wir Erwachsene ebenso wenig wie der Junge über unsere Erkenntnis, dass fünf gleich fünf ist.

Ich habe Ihnen dies alles heute nur in einer Absicht erzählt: um durch dieses Beispiel meine These illustrieren zu können, dass Kinder in einer anderen Welt leben als wir Erwachsene. Sie denken, fühlen und handeln anders, als wir es tun, und eigentlich können wir sie nicht verstehen. Je weiter die zivilisatorische Entwicklung der Gesellschaft voranschreitet, desto größer wird diese Kluft zwischen den Erwachsenen und dem Kind, und desto mehr erhöhen sich die Konflikte zwischen diesen beiden Welten.

Damit kleine Kinder gesund groß werden können - und dies ist m.E. die zentrale Zielsetzung pädagogischer Einrichtungen -, bedürfen sie einer Welt, in der sie entsprechend ihren Möglichkeiten leben können. Unsere Erwachsenenwelt bietet diese Chance nur noch in Ausnahmefällen, selbst innerhalb des Kreises der Familie wird der kindertümliche Raum immer knapper. Der Kindergarten ist der Ort kindlichen Lebens, der so gestaltet ist, dass ihre Formen des Denkens, Fühlens und Handelns zum Ausdruck kommen können. Kinder bedürfen dieses Ortes, um vorsichtige und selbstsichere Schritte in ihrer Entwicklung tun zu können.

Kindheit, Jugend, Erwachsenensein und Alter sind unterschiedliche Formen der Menschwerdung, die für sich selbst genommen ihren Sinn im Plan der Natur haben. Jede dieser Stufen muss voll gelebt werden können, und sie dürfen nicht als Übergangsstationen zur jeweils nächsten begriffen werden. Erst dann ist eine Entfaltung kraftvoller Individualität möglich. Der Sinn der Kindheitsstufe scheint mir darin zu bestehen, einen Vorrat an Stabilität aufzubauen, um selbstsicher in die große Welt hineingehen zu können. Das Kind wird lernen, dass Fünf gleich Fünf ist, und es ist gewiss nicht unwichtig, dies begriffen zu haben. Was mir aber für das Kindergartenalter wichtiger zu sein scheint, ist die stabile Erfahrung des Wertes der eigenen Person. Noch oft in seinem Erwachsenenleben wird die große Welt an der Selbstgewissheit kratzen, und dann wird es gut sein, wenn jedes Kind ein stabiles Fundament hat, um an die Bedeutsamkeit seiner eigenen Person in dem unendlichen Universum zu glauben.

Noch vieles ließe sich zu dem Stichwort „Kindheit“ sagen, doch so ganz dürfen wir unser heutiges Thema nicht aus den Augen verlieren. Deshalb fasse ich den ersten Punkt zusammen: Kinder sind Fremde in der Welt der Erwachsenen, und sie bedürfen des Kindergartens, der ihren Denk-, Gefühls- und Handlungsmöglichkeiten Raum gibt.

b) Der Erziehungsbegriff

Das zweite Schlagwort, das meine kindzentrierte Kindergartenpädagogik charakterisiert, ist das der „Erziehung“. Mir ist es bewusst, dass ich mich kaum eines missverständlicheren Wortes bedienen könnte. Einerseits verbindet man häufig Formen der Gewalt damit: Ein Kind ist zu stoßen, zu ziehen, zu formen, zu kneten. Es ist anders zu machen, als es ist: klüger, sozial verträglicher, nicht so egoistisch usw. Heute stellt man sich diese Formung des Kindes durch den Erwachsenen weniger gewaltsam vor, dafür bietet die Psychologie ein großes Arsenal freundlich manipulierender Techniken an.

Gegen dieses Alltagsverständnis von Erziehung wendet sich ein anderes. Hier wird behauptet, der Erwachsene und das Kind wären gleichberechtigt, nicht nur der Große erziehe den Kleinen, sondern wechselseitig sei die gegenseitige Beeinflussung. So wie die Kinder von uns lernen könnten, so könnten wir von ihnen lernen: ihre Phantasie, soziale Verträglichkeit, Kreativität usw. Beide Alltagsverständnisse treffen nicht das, was in meinen Augen Sinn macht, mit dem Begriff „Erziehung“ belegt zu werden. Deshalb möchte ich Ihnen in wenigen Worten meine Sichtweise darlegen.

Der Begriff „Erziehung“ ist für das Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern (bzw. Jugendlichen) zu belegen. Diese Beziehung ist eine spezifische: Nur für sie trifft zu, dass es sich um eine Beziehung zwischen Ungleichen handelt, die darauf zielt, dass die Ungleichheit zunehmend in Gleichheit verwandeln wird. Sinn und Zweck dieser erzieherischen Beziehungsgestaltung ist, dass sie nicht um des stärkeren Erwachsenen willen geschieht, sondern von der Perspektive der schwächeren Kinder aus begriffen werden muss. Ihren Entwicklungsmöglichkeiten soll Raum gegeben werden, damit sie sich zu einer kraftvollen Individualität im Rahmen einer umgebenden Gesellschaft entwickeln können.

Aus diesem hier nur kurz angedeuteten pädagogischen Erziehungsverständnis ergeben sich verdeutlichende Abgrenzungen gegenüber den beiden eben erwähnten Alltagstheorien von Erziehung:

1.    In der Erziehung geht es nicht um die Gewalt, die sich durchaus auch in freundlicher Manipulation äußern kann, um aus einem Kind einen sozialisierten Menschen zu formen, der anders gemacht werden muss, als er seiner Individualität nach sein kann. In der Erziehung geht es um die Perspektiveneröffnung für das Kind, so dass es zu einer unverwechselbaren Individualität im Rahmen eines sozialen Zusammenhangs werden kann. Dies schließt nicht aus, dass in den tatsächlichen Erziehungsverhältnissen viel Gewalt herrscht, die auch von den Kindern so empfunden wird. Sie erinnern sich vielleicht noch an den bösen, grünen Affen aus der Stofftiersammlung des Jungen, den ich vorhin erwähnte. Als der Junge gefragt wurde, ob er dieses kleine Ungeheuer nicht einmal zu einem lieben Tier erziehen könne, greift er ihn sich spontan, zieht an seinem Kopf, drückt den Bauch ein und versohlt ihm schließlich den Hintern. Das gibt zu denken. Aber meine These ist, dass wir gerade deshalb einen positiven Erziehungsbegriff benötigen, um schlechte Anteile in der pädagogischen Praxis korrigieren zu können. Wir als die stärkeren Erwachsenen müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir die Beziehung zu den schwächeren Kindern so gestalten können, damit wir eine Hilfe zu einer gesunden Entwicklung werden. Diese, den Selbstentfaltungskräften des Kindes dienende Tätigkeit des Erwachsenen nenne ich Erziehung.

2.    In der Erziehung geht es nicht um ein wechselseitiges Verhältnis zum Zwecke gleichberechtigter Beeinflussung zweier Teile, wie dies z.B. in ehelichen oder Freundschaftsbeziehungen der Fall ist. Sondern in der Erziehung geht es um ein radikal einseitiges Verhältnis: jedem einzelnen Kind sollen Hilfen zu seiner ihm möglichen Entwicklung gegeben werden. Natürlich verändert sich der Erwachsene durch die Erziehung eines Kindes auch, vielleicht sogar in noch viel stärkerem Maße als das Kind; doch diese Veränderung des Erwachsenen ist nicht der Zielpunkt der Erziehung. Er hat vielmehr eine “dienende“ Funktion gegenüber dem Kind, um dessen Selbstwerdung es zentral geht.

Meine zusammenfassende These lautet an dieser Stelle: In der Erziehung stellt eine Erzieherin ihren Körper, ihren Geist, ihre Liebe zur Verfügung, damit das Kind zu einer Persönlichkeit sich bilden kann, die mit Selbstvertrauen auf die Welt zugeht. In der Erziehung schließen wir den Kindern zunehmend Türen zu neuen Räumen auf, die die Kinder selbst betreten müssen, und die sie selbst betreten können, wenn wir Erwachsene ihnen Sicherheit vermitteln. Dazu zur Illustration noch eine kurze Geschichte von dem schon des öfteren erwähnten Jungen. Auf dem Weg zum Kindergarten stellt er fest, dass er den kleinen, noch so schutzbedürftigen Ernie vergessen hat. Mit zitternder Stimme fragt er die Eltern, ob sie gleich zu Hause seien, um auf Ernie aufpassen zu können. Als diese verneinen, ist er zunächst verzweifelt. Doch dann kommt ihm die rettende Idee, und er sagt - und wieder können wir nicht beurteilen, wie ernsthaft ihm dies ist -, dass Ernie ja des Jungen Pistolenstock zu Hilfe nehmen könne, wenn jemand ihm etwas Böses wolle.

3. Aufgaben der Erzieherin

Ich möchte mit Ihnen jetzt etwas näher das Aufgabenfeld einer Erzieherin im Kindergarten betrachten. Ich teile es in zwei große Bereiche: in die indirekten und in die direkten Tätigkeiten.

a) Die indirekten Tätigkeiten

Zu der ersten Gruppe zähle ich all das, was eine Erzieherin tut, damit jedes Kind ihrer Gruppe zu dem ihm eigenen Spiel findet. Die Erzieherin strukturiert den Raum, sie wählt Material aus, sie gliedert den Tagesablauf, sie stellt Einstiegshilfen zur Verfügung, sie hilft über Frustrationsphasen hinweg usw. Ich möchte dies nur kurz andeuten:

·       Der Raum sollte so konzipiert sein, dass er ruhige Aktivitäten und lärmende Bewegung ermöglicht, er sollte so gegliedert sein, dass er einer kleinen Kindergruppe ein gemeinsames Spiel erleichtert, aber gleichzeitig die Möglichkeit eines unbeobachtbaren Rückzugs eines Kindes erlaubt. Ich halte dabei wenig von der heute teilweise modernen Aufgliederung des Kindergartens in Funktionsräume: Im Bewegungsraum wird sich bewegt, im kreativen gemalt, gebastelt, gebaut, im Rollenspielraum mit Puppen gespielt usw. M.E. ist eine solche Aufgliederung von dem Erwachsenendenken aus konzipiert, der kindliche Aktivitäten in verschiedene Bereche aufgliedert. Vom Kind aus gesehen gehen diese Bereiche ineinander über: Im Familienspiel gehen die Väter ihrer Aufgabe als Bauarbeiter nach, die Mütter malen ein Bild zur Verschönerung der Wohnung, die Babys plantschen mit Wasser usw. Wollen Sie einer wild schießenden Jungenbande, die gerade mit Holzklötzen ein Fort aufgebaut hat, in den Bewegungsraum verbannen?

·       Zum Stichwort Material heute nur zwei Hinweise: Reduzieren Sie die störende Überfülle aus dem Kindergarten. Ich kenne Ihre Einrichtung nicht, aber ich möchte blind behaupten, dass Sie 60 % der Spielkästen und sonstigen Materialien im Keller verstauen können, ohne den Spielwert Ihrer Einrichtung zu verschlechtern. Im Gegenteil würden Sie, wenn Sie hier nach dem Motto „weniger ist mehr“ verfahren, für das Kind eine übersichtlichere Spielwelt schaffen, die ihm hilft, zu seinem Spiel zu finden. Und mein zweiter Hinweis: Bringen Sie reale Gegenstände in die Einrichtung. Ein Puppenkinderwagen kostet viel Geld, hält aber kein in ihm sitzendes Kind aus. Einen richtiger Kinderwagen bekommen Sie gebraucht für weniger Geld, und er hat einen ungleich höheren Spielwert für die Kinder. Und dann die echten Boxhandschuhe. Kein Kindergarten sollte auf sie verzichten, denn mit ihnen kann man lernen, „in echt“ zuzuschlagen, ohne zu verletzen. Im fairen Kampf zu bestehen, modelliert die Aggressivität der Kinder, und dies scheint mir eine nicht unwichtige Aufgabe.

·       Was die zeitliche Strukturierung angeht, kann ich Ihnen nur raten: geben Sie dem Spiel der Kinder viel Zeit, dieses zu entwickeln, denn diese benötigen sie, um nach einer oberflächlichen, einsteigenden Mal- oder Puzzle-Aktivität zu intensiverem Spiel zu kommen. Nicht „Beschäftigung“, sondern „Spiel“ ist die Intention des Kindergartens. Neben einer kurzen Aufräum- und einer ebenso kurzen Stuhlkreisphase sollte der gesamte Vormittag in dem Freispiel bestehen, in das all das integriert wird, was im Kindergartengeschehen vorkommt. Zurecht werden vielleicht einige von Ihnen einwenden, dass eine solch ausgedehnte Freispielphase für einige Kinder eine Überforderung darstelle, da sie einen Zeitraum von drei bis vier Stunden nicht überblicken könnten. Nur gerade darin scheint mir die schwierige Aufgabe der Erzieherin zu bestehen, die unterschiedlichen Zeitbedürfnisse verschiedener Kinder wahrzunehmen, um individuell darauf reagieren zu können. Ein kleines, dreijähriges Kind, das neu in den Kindergarten kommt, mag lange an Ihrem Rockzipfel hängen, bevor es sich selbständig in die große Kindergartenwelt hinauswagt. Diesem Kind müssen Sie helfen, Sie müssen für dieses Kind eine Brücke sein, über die es sich trauen kann zu gehen, um zu dem eigenen Spiel und dem seiner Mitkinder zu gelangen. Nur, warum sollten deshalb alle 25 Kinder, für die Sie stundenweise verantwortlich sind, ihr Spiel unterbrechen, um auf Ihr Kommando hin zu essen oder nach draußen zu gehen?

Die indirekte Erzieherinnentätigkeit, die ich hier nur angedeutet habe, nimmt quantitativ den größten Anteil der Arbeit einer Erzieherin in Anspruch. Sie ist sehr wichtig, damit der pädagogische Auftrag des Kindergartens. dass jedes Kind zu seinem Spiel findet, erfüllt werden kann. Und diese Aufgabe ist schwierig, weil der Beurteilungsmaßstab ihres Ge- oder Misslingens der ist, inwieweit Sie aus der Perspektive der Kinder die erforderlichen Hilfen anbieten. Die Erzieherin wird indirekt aktiv, und sie ist dann erfolgreich, wenn sie sich in der Freispielphase auf ihre passive, beobachtende Rolle zurückziehen kann. Es ist nicht Ihre Aufgabe, mit den Kinder zu spielen, denn je aktiver Sie sind, desto passiver werden die Kinder, es träte das Gegenteil von dem ein, was pädagogisch wünschenswert ist. Die Spielwelt der Kinder ist nicht unsere Erwachsenenwelt. Wir verstehen sie meist nicht richtig und wir sind zu egozentrisch. Wenn Sie es sich in einem Bild vorstellen wollen: das Spiel der Kinder ist wie das zarte Pflänzchen, das Zeit, Licht und Wärme benötigt, um wachsen zu können. Unser Mitspielen wirkt meist mehr wie die überdimensionale Walze, die das Pflänzchen zerstört. Meiner Erfahrung nach ist die im Nicht-Mitspielen der Erzieherin gebotene Passivität eine der schwierigsten Teile der Erzieherinnenarbeit.

b) Die direkte Tätigkeit

Die soeben angedeuteten indirekten Tätigkeiten nehmen quantitativ den Hauptteil der Erzieherinnenarbeit in Anspruch, und es sind solche, die sich relativ leicht erlernen lassen: Wie ein Innenarchitekt kann man lernen, unter pädagogischen Gesichtspunkten einen Raum zu gliedern, mit Überlegung lässt sich die Auswahl des geeigneten Materials bewerkstelligen, und mit ein wenig Erfahrung kann die Erzieherin ein Händchen dafür entwickeln, wann und wie sie einem Kind helfen kann, um zu seinem Spiel zu finden. Das, was ich Ihnen jetzt als den zweiten Aufgabenbereich der Erzieherin gegenüber den Kindern vorstellen möchte, ist viel schwieriger zu erlernen als das, worüber ich gerade gesprochen habe: ich meine die direkte Beziehungsgestaltung der Erzieherin gegenüber jedem einzelnen Kind. Da die Tätigkeiten, die hier verlangt werden, tief in die Persönlichkeitsbildung jeder einzelnen Erzieherin hineinreichen, sind sie schwerer normierbar und komplizierter zu verändern.

Ich möchte das, was die Erzieherin in der direkten Beziehung zu jedem einzelnen Kind leisten muss, unter das Stichwort der „passiven Liebe“ stellen. Das klingt vielleicht etwas widersprüchlich und pathetisch. Wir werden sehen. Ein Kind bedarf, um gesund groß werden zu können, eines intensiven Raumes, in dem es eigenaktiv tätig werden kann. Darüber haben wir unter dem Stichwort „Spielwelt“ gesprochen. Aber es bedarf noch mehr: Es bedarf der Sicherheit, dass sich das kleine Leben in der großen Welt lohnt, dass diese große Welt Sinn macht, dass das kleine Kind an dieser großen Welt aktiv wird mitarbeiten können. Jedes menschliche Leben kann nur Bedeutung gewinnen, wenn es sich bezogen weiß auf eine über es selbst hinausreichende Welt: der Kampf um soziale Gerechtigkeit, das sich Einsetzen für eine friedliche Welt, religiöse Gewissheit angesichts der Erfahrung des Todes und der Unendlichkeit gehören dazu. All dies erwirbt das kleine Kind nicht durch philosophische, verbale Auseinandersetzung, sondern durch die Unmittelbarkeit der Beziehung zu großen Menschen, die für das ganze Unverstandene stehen.

Ein Kind braucht Sicherheit, Vertrauen, Hoffnung, Heimat, und dies nicht durch große Worte abstrakt im Kopf, sondern indem es mit für ihn bedeutsamen Erwachsenen dies alles augenblicklich spürt. Nur wenn ein Kind diese selbstsichere Erfahrung von Heimat hat, dann kann es gesund sich entwickeln und sichere Schritte auf die weite Welt zumachen. Es wird sich von all dem, was ihm als Kind angeboten wurde, distanzieren, es wird zerstören müssen, um seine eigene Welt und seine religiösen, sittlichen und politischen Werte aufbauen zu können. Aber jetzt ist es noch sehr klein, es bedarf der Sicherheit des Hafens, von dem es sich nur ein Stück weit entfernen kann.

Die Eltern sind die ersten Ansprechpartner, wenn es darum geht, dem Kind Heimat zu vermitteln. Das ist wahr. Aber mit diesem Verweis lässt sich die Forderung nach Liebe durch die Erzieherin im Kindergarten nicht vollständig zurückweisen. Dies aus zwei Gründen heraus nicht: wir haben in unseren Kindergärten viele Kinder, denen in ihrem Elternhaus ein gutes Stück Heimat fehlt. Dies gilt für die versagenden, misshandelnden Familien, aber manchmal auch für die, bei denen jenseits der Oberfläche materieller Versorgung und sogar Überfülle vieles fehlt, was einem Kind Geborgenheit, Verlässlichkeit und Bedeutsamkeit vermitteln würde. Und zweitens auch im Falle gelingender Familienerziehung: Das kleine Kind verlässt den sicheren Hafen seiner Familie, es wird ein Stück weit selbständiger, es nabelt sich ab von der Mutter, aber es ist immer noch abhängig von der persönlichen Beziehung zu einem lebendigen Erwachsenen. Die Beziehung zur Erzieherin ist somit zweiseitig zu sehen: Einerseits ist sie Loslösung und Unabhängigkeit, andererseits aber Ersatz für die Mutter, die das Kind nicht loslassen könnte, wenn es im Kindergarten nicht die Erzieherin vorfinden würde, die es genauso wie die Mutter festhält und liebt.

„Liebe“ ist zu einem Wort geworden, das manchmal einen so pathetischen Klang angenommen hat, dass es nur noch für den deutschen Schlager taugt. Oder es dient als Bemäntelung für Egoismus, Gewalt und Eindringung, die genau das Gegenteil davon sind, was mit „Liebe“ gemeint ist. Ich versuche also mich konkreter auszudrücken:

·       Erzieherische Liebe äußert sich in der Fähigkeit der Hand, ein Kind so anfassen zu können, dass es weder auf Grund der Heftigkeit des Druckes entfliehen möchte, noch so labberig, dass nur Ungewissheit vermittelt würde. Man muss ein Kind so anfassen, dass es Sicherheit und Geborgenheit spürt, von denen aus es selbst die schützende Hand loslassen will.

·       Erzieherische Liebe äußert sich in dem Blick, der ein Kind gefangen nimmt, weil hier Fröhlichkeit, Lebendigkeit und Ausgelassenheit durchscheinen. Es gibt Gesichter, in die sich gerne schauen lässt, weil sie Optimismus versprühen. Man muss ein Kind so anschauen, dass es in dem Bruchteil einer Sekunde spürt: diese Lebendigkeit der Erzieherin gehört mir selbst.

·       Erzieherische Liebe äußert sich in der Fähigkeit, ein trauriges Kind in den Arm nehmen zu können, damit es wortlos seine Tränen in den Schoß vergießen kann, es so zu umhüllen, dass das Kind spürt, dass nichts als Ihr Körper es bemänteln, und für eine Zeitlang Sie die Welt von ihm fernhalten. Man muss ein Kind so lange in den Arm nehmen können, bis es sich ausgeweint hat, ohne dass man auch nur eins dieser überflüssigen Wörter sagt, die zur Täuschung rascher Tröstung führen, und man muss es so in den Arm nehmen können, dass es sich nachher nicht wird schämen müssen.

·       Erzieherische Liebe äußert sich in der Sprache, die lieber lange überlegt, welches Wort sie einem unruhigen Kind sagt, anstatt ihn mit einem Wortschwall zu überdecken. Und nicht nur das unruhige Kind, sondern auch das bedrückte, das zickige, das schweigende und das lärmende. Man muss die Stimme so modellieren, dass mit wenigen Worten Gewissheit und Verständnis, Beständigkeit und Freundlichkeit gleichzeitig ausdrückt wird.

Ihre Hand, Ihre Arme und Beine, Ihr Körper, Ihre Augen, Ihre Stimme, ja selbst Ihre Haare und Ihre Kleidung können die Liebe zu dem Kind ausstrahlen oder ihm die Liebe versagen. Ein Kind spürt beispielsweise durch Ihren Blick, ob Sie es lieben oder nicht. Sie können sich dazu in Ihrem Kopf an Ideologie zurechtlegen, was Sie wollen. Nun lässt sich vielleicht durch ein Rhetorik-, Mimik- und Gestikseminar Ihre Sprache, Ihre Gesichtsmuskeln und Ihre Handfestigkeit beeinflussen, und in der Erzieherinnenfortbildung wird dies teilweise versucht. Doch es hilft nichts, jedes kleine Kind wird es mit der Zeit spüren, ob Ihre Freundlichkeit aufgesetzt oder wirklich ist. Sie mögen im Training Ihrer Rhetorik-, Gestik- und Mimikfähigkeiten Meisterin sein, es nützt Ihnen wenig (zumindest nicht im Umgang mit Kindern). Damit Ihre Stimme, Ihr Blick, Ihre Hand wirklich zu einem Werkzeug Ihrer Liebe zu dem Kind werden können, dürfen Ihre Handlungstechniken nicht nur Fassade bleiben, sondern sie müssen in Ihrer Persönlichkeit Verankerung finden. Wenn Sie nicht in Ihrer eigenen Person die Fähigkeit finden, ein jedes Kind auf seine individuelle Art und Weise zu lieben, können Sie die Kinder angrinsen und ansäuseln wie Sie wollen, es wird nichts nützen.

Damit sind wir also bei den tieferen Persönlichkeitsschichten jeder einzelnen Erzieherin. Es gibt keinen erzieherisch gebotenen Blick, Sprachstil, Händedruck usw. Hier ist nichts zu normieren. Sondern jede Erzieherin muss sich selbst fragen, wie sie sich in die Lage versetzen kann, für jedes Kind, für das sie ein Stück weit Verantwortung trägt, Liebe zu empfinden, und wie sie diese ihre liebende Einstellung in praktische Handlungsmuster umsetzen kann. Es hilft dann auch nicht die pauschale Versicherung, man liebe jedes Kind, denn die verallgemeinernde Behauptung ist entweder eine Abwehr, das konkrete Kind tatsächlich in seiner Individualität an sich herankommen zu lassen, oder sie ist die Unerfahrenheit der Berufsanfängerin, die sich in ihrer Motivation nicht enttäuschen lassen will. Es gibt nervige Kinder, es gibt solche, an denen einen alles abstößt. Da hilft weder die Ideologie weiter, man liebe sie alle gleichermaßen, noch die Entschuldigung, man können nicht alle gleichermaßen lieben. Sondern es gilt sich zu fragen, wie kann ich als der stärkere Erwachsene mich selbst in die Situation bringen, damit gerade dieses Kind mir als liebenswert erscheint. Und wir müssen uns fragen, wie mache ich mich als Erzieherin für jedes der mir anvertrauten Kinder zu einem liebenswerten Erwachsenen. Wir werden dann vielleicht gerade bei den Kindern, an denen uns vieles abstößt, eine Erweiterung unserer Persönlichkeit und beruflichen Kompetenz erfahren, für die wir ihnen dankbar sein werden.

Ich sprach vorhin davon, dass die Fähigkeit zur „passiven Liebe“ das Entscheidende in der direkten Beziehungsgestaltung zwischen Ihnen und den Kindern sei. Zu dem Wörtchen „Liebe“ habe ich einiges gesagt, zu dem es begleitenden Adjektiv „passiv“ noch eine knappe Bemerkung. Sie sollen Ihren Körper und Ihre Persönlichkeit in die Situation versetzen, damit Sie jederzeit jedes Kind, für das Sie stundenweise Verantwortung tragen, lieben können. Aber Sie sollen diese Liebe den Kindern nicht andienen. Es mag Kinder in Ihrer Gruppe geben, die kein oder nur ein kleines Stückchen Ihrer Liebe benötigen. Dann lassen Sie sie gewähren. Es gibt andere, die sehnsüchtig oder auch durch aggressives Aufmerksamkeit Erregen sehr viel von Ihnen verlangen. Geben Sie ihnen dieses Viele. Maria Montessori sagt an einer Stelle, dass die Erzieherin wie das Material sein soll, das die Kinder zu ihrer Entwicklung benötigen. Sie nehmen es sich, wann und solange sie es gebrauchen. Es steht ihnen zur freien Verfügung. Dies gilt auch für die Liebe der Erzieherin. Sie steht einem Kind zur freien Verfügung, wann und solange es sie braucht. Doch fragen Sie sich selbstkritisch: Wann nehmen Sie ein Kind in den Arm, weil Sie es brauchen, ein Kind in den Arm zu nehmen, und wann schauen Sie lächelnd ein Kind an, weil seine Lebendigkeit Sie fasziniert - aber vielleicht entziehen Sie damit einem anderen Kind Ihren Blick, das von Ihrer Lebendigkeit leben müsste?

4. Überforderung?

Vieles von dem, was ich Ihnen vorgetragen habe, mag wie eine Überforderung an die Erzieherin wirken - dienende Hingabe, selbstlose, passive Liebe? Man kann fragen: Wird hier nicht eine Moral gepredigt, die niemand erreichen kann und die deshalb für das Alltagshandeln wertlos ist, sondern allenfalls für zukleisternde Festtagsreden wie diese heute taugt? Es mag so sein. Ich würde gerne auf das Wort „Liebe“ verzichten, soweit es Missverständnisse auslöst. Doch um den Kern des erzieherischen Geschäfts zu beschreiben, habe ich bislang kein besseres gefunden. Also lebe ich mit den Missverständnissen. Vielleicht werden dadurch auch Assoziationen ausgelöst, die wie ein Stachel unsere pädagogische Realität zu hinterfragen geeignet sind.

Ich will hier keine langen Überlegungen mehr zu der Frage anstellen, ob „Liebe“ nicht ein übertriebenes Wort für das Alltagshandeln einer Erzieherin im Kindergarten ist und eine Überforderung für jeden Erwachsenen - zumindest soweit er das Geschäft als lebenslange Berufsarbeit angeht. Ich will Ihnen statt dessen nur zwei kurze Geschichten erzählen.

a) Was eine Friseuse benötigt?

Zunächst einmal die richtigen Finger, Finger, die behände mit der Schere umgehen können, die geschickt einige Haarreihen ergreifen, die kräftig die Kopfhaut massieren, die vorsichtig einen Tuck entzerren, die die Länge des Schnitts abschätzen können. Sie benötigt gute Augen, Augen, die die gerade Linie erkennen, Sinn für Proportionen haben, Farbnuancen differenzieren können, einen Blick auf das Ganze der Person werfen. Die Friseuse benötigt einen gesunden Körper, ein Körper, der gegenüber Allergien nicht anfällig ist, der sie den ganzen Tag stehen lässt, der Bücken und Herunterbeugen erlaubt. Die Friseuse benötigt soziale Kompetenzen, Kompetenzen, die ihr ein Zurechtkommen erlauben: mit dem zappeligen Kind, der senilen Oma, der stolzen Dame, dem verrückten Punker, dem eitlen Pfau, dem angetrunkenen Säufer, der nörgelnden Frau.

Soweit mein lückenhaftes, vor allem aber leihenhaftes Kompetenzprofil. Damit aus der Friseuse eine gute Friseuse wird, benötigt sie neben der Ausbildung der genannten Fähigkeiten noch etwas weiteres: Liebe. Nicht dass sie jeden ihrer Kunden lieben müsste (das muss nicht einmal die Prostituierte), aber Haare, die muss sie lieben. Sie benötigt eine engagierte, künstlerische Liebe, um aus zotteligen, fettigen, wild sprießenden Haaren eine Frisur zu formen, die für den jeweiligen Kopf passend ist. Schlecht wäre es, wenn sie eine egozentrische Haarliebe hätte, wenn sie von ihren eigenen Haaren und ihrem eigenen Frisurgeschmack für ihren Kopf ausginge. Nein, die Friseuse mit den langen, dichten, leicht gelockten, blonden Haaren muss sich in die struppige Fastglatze ihres Gegenübers hineindenken und hineinfühlen, um eine passende Frisur zu schneiden. In diesem Sinne ist ihre Haarliebe nicht egozentrisch, sondern selbstlos. Sie erwartet für ihren Dienst die gerechte Entlohnung und das passende Trinkgeld. Selbstlos ist die Haarliebe auch, weil die Friseuse in ihrem beruflichen Handeln nicht von den persönlichen Gefühlen beherrscht wird. Nehmen wir an, unsere Haarschneiderin hätte sich am Abend vorher heftig mit ihrem Freund gestritten. Noch voller Wut verlässt sie das Haus. Was würde passieren, wenn sie ihre Aggression und Enttäuschung an der Haarmähne des ersten Kunden ausließe? Der Schnitt wäre zu kurz geraten, Ecken würden die Frisur entstellen, die linke Seite wäre länger als die rechte, die Haartönung zu kräftig geraten. Ihre Chefin würde ihr kündigen, oder, wenn sie selbständig wäre, stünde sie bald ohne Kunden da. Ihre Haarliebe muss deshalb so stark sein, dass sie für Stunden auch die persönlichen Probleme überdeckt.

Damit aus der Erzieherin eine gute Erzieherin wird, benötigt sie neben der Ausbildung der in meinem heutigen Vortrag angedeuteten Fähigkeiten noch etwas weiteres: Liebe. Die Erzieherin kann und soll nicht jedes Kind lieben wie ihr eigenes. Im Gegenteil: sie soll sie alle lieben, und das kann sie nur, wenn sie sie nicht wie das eigene liebt. Sie benötigt ihre Liebe, um für jedes Kind das Klima zu schaffen, in dem es sich selbst kraftvoll entwickeln kann. Sie liebt vielleicht weniger dieses Kind als die erstaunliche und bewunderungswürdige Tatsache, dass kleine Kinder ihre Schritte in die weite Welt hinein unternehmen und dass sie in einer Atmosphäre des Geliebt Werdens ihr Inneres in der Kindergartenwelt probeweise zur Darstellung bringen. Es fasziniert uns, das Erblühen einer Pflanze in dem hoffentlich bald kommenden Frühling zu beobachten. Sollte uns das Wachstum eines Kindes, mit seinen tastenden Versuchen, seinen Irrwegen, Probeläufen und schließlich sicheren Schritten weniger faszinieren können? Aber da ist die wehleidige Martina mit ihren Tränchen, da ist der ständig streitsüchtige Frank und der übelriechende, häßliche Thomas. Auch sie lieben? Ich erspare mir jetzt langatmige Ausführungen und stelle einfach die These auf, dass jede Erzieherin das hässlichste, fieseste, nervigste, aggressivste Kind lieben lernen kann,

·       wenn sie über einen längeren Zeitraum der Begegnung mit dem Kind nicht ausweicht,

·       wenn sie sich nicht unter den Druck setzt, spontane Zuneigung empfinden zu müssen,

·       wenn sie auch in der kämpferischen Auseinandersetzung mit dem Kind Zeichen der Annäherung sieht,

·       wenn sie sich in ihre Verantwortung für die Zukunft des Kindes hineindenken kann,

·       wenn sie das Kind wohl besorgt und anderen, ihr subjektiv näherstehenden, vorzieht.

Mit ihrer längerfristigen Sorge und Verantwortung wird ihr dieses Kind ans Herz wachsen.

Was heißt „pädagogische Liebe“: Die Suche nach der Individualität dieses Kindes, die Suche nach der einmaligen Ausdrucksform meiner Beziehung zu diesem konkreten Kind. Diese Liebe ist „selbstlos“, weil der Maßstab ihres Gelingens nicht die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist, sondern die gegenwärtige Situation des Kindes und seine Entwicklungsmöglichkeit im Mittelpunkt stehen. Die Erzieherin erhält ihre monatliche Entlohnung für ihre Arbeit, und wenn sie es diesem Kind gegenüber nicht anders empfinden kann, dann muss es hiermit genug sein. Nicht jeder Rohrreiniger ist ständig aufs Neue begeistert, den Gestank beim Entfernen des Drecks auszuhalten - seinem Engagement und seiner Liebe zu seinem Beruf muss dies keinen Abbruch tun.

b) Der Briefmarkensammler

Jahre lang habe ich den in der Literatur auffindbaren Satz unbefragt übernommen: der Erzieherinnenberuf sei erst dann ein professioneller, wenn er nicht wie die Kindergärtnerinnentätigkeit Vorbereitung auf die eigene Mutterschaft sei, sondern wenn er mit Berufszufriedenheit lebenslänglich ausgeführt werden könne. Ich kenne ältere Erzieherinnen, für die dies gilt, und ich bewundere ihre Vitalität. Sie sind im positiven Sinne mit ihren Kindern jung geblieben, dem Neuen gegenüber aufgeschlossen, der Spontaneität des Lachens fähig, des Herunterbückens zu den Kindern nicht müde. Diese Frauen haben etwas Faszinierendes, und für die Darstellung und Entwicklung des Berufsstandes leisten sie Wertvolles. Doch ich bin mir gegenwärtig nicht mehr sicher, ob diese Frauen das Vorbild für alle Erzieherinnen abgeben können. Vielleicht heißt ausschließlich auf ihre Karte zu setzen, so viel wie früher auf die der nicht verheirateten Diakonissen und Nonnen (und auch unter ihnen gab und gibt es viele faszinierende Persönlichkeiten). Vielleicht ist für die Mehrheit der im Erziehungsbereich Tätigen nach einigen Kindergenerationen die Kraft verbraucht, und es wäre hilfreicher über Strukturen zu verfügen, die einen Berufsausstieg oder eine berufliche Weiterorientierung erleichtern würden.

Jetzt als letzte Assoziation meines vormittäglichen Vortrags die abschließende Geschichte von dem Briefmarkensammler. Herr Schön ist pensioniert. Seine ganze Zuneigung gilt jetzt - neben seiner Frau - seinen Briefmarken. Wenn er des morgens seine Post erhält, öffnet er in Feiertagsstimmung den Umschlag mit den Marken, die ihm ein Freund hat zukommen lassen. Er betrachtet sie, sortiert die doppelten aus, die neuen legt er in eine gesonderte Schachtel. Vorsichtig trennt er im Wasserbad die Marken von den Umschlägen und trocknet sie. Er holt seine Lupe aus der Schreibtischschublade, um die Marken einzeln vergrößert beobachten zu können. Bei dieser sind die Zacken vorsichtig mit der Pinzette zu glätten, bei jener letzte Briefumschlagsreste zu beseitigen. Herr Schön holt seine Alben, die neuen Marken sind an der richtigen Stelle einzuordnen. Er freut sich, einen Satz vervollständigen zu können, er lächelt über ein komisches Briefmarkenmotiv. Einmal hat er es mit dem örtlichen Briefmarkenverein probiert, doch als er feststellte, die dort versammelten Philantelisten seien zu hektisch und verbiestert, beschloss er, lieber für sich alleine zu bleiben und seine Tauschpartner nur im privaten Kreis zu suchen. Herr Schön besitzt diverse Briefmarkenkataloge, sie bieten ihm eine willkommene Übersicht, doch er weiß, dass die dort genannten Verkaufssummen Phantasiepreise sind. Würde er seine Sammlung bei einem professionellen Händler verkaufen, er bekäme nicht viel mehr als den Altpapierpreis. Doch er würde so und so nicht verkaufen, was sollte er mit dem Geld schon anfangen. Er wird seine Sammlung bis zum Tod weiter pflegen, obwohl er weiß, dass noch nicht einmal sein Enkel mit dem Briefmarkenerbe etwas wird anfangen können. Manchmal zeigt er seine Sammlung seiner Frau, doch wenn diese dann nur auf die bunten Vögel mit Begeisterung fliegt, ist er resigniert und enttäuscht, und er beschließt, dass es für seine Frau wohl besser sei, seine Sammlung allein unter putztechnischen Gesichtspunkten zu betrachten. Herr Schön weiß nicht, warum es ihn glücklich macht, wenn er ein seltenes Exemplar in seine Sammlung einreihen kann. Eigentlich denkt er über diese Frage noch nicht einmal nach. Es ist einfach so.

Vielleicht kann man Kinder mit der Liebe des Briefmarkensammlers Schön sammeln - nur bitte schön nicht im Album und nach Katalog.


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