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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1998 - 3

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Sigurd Hebenstreit

Was brauchen Kinder heute, um für die Welt von morgen vorbereitet zu sein?

Vortrag am 3. November 1998 in Trier, Europahalle

wenn ich akademisch an mein Thema - Was brauchen Kinder heute, um für die Welt von morgen vorbereitet zu sein? - herangehen würde, dann würde ich mit Ihnen

1.    einen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung der nächsten 70 Jahre werfen,

2.    die Entwicklungspsychologie zu Hilfe nehmen, um die Möglichkeiten kleiner Kinder zur Aneignung der Welt zu eruieren, und

3.    Schlussfolgerungen ableiten, die angeben, was Sie in den Kindergärten pädagogisch zu tun haben.

Ein solches Vorgehen wäre logisch, doch vielleicht als Vortrag auch etwas langweilig. Wenn Sie also eine solche Abhandlung für die nächste Stunde erwarten sollten, wäre es ratsamer, in ruhiger Atmosphäre ein geeignetes Buch zu studieren. Statt also das akademisch korrekte Verfahren zu wählen, möchte ich Ihnen heute einige Assoziationen zu dem Thema vorstellen. Diese leite ich mit einer Bibelstelle ein.

„Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Leben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung?

Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?

Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern? ...

Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage.“ (Matthäus, Kapitel 6, Vers 25 bis 27 und 34)

Ich will Ihnen nicht sagen, was Sie über die bekannte Bibelstelle zu denken haben. Vielleicht lassen Sie diese einfach auf sich wirken. Vielmehr möchte ich mit meinem Vortrag fortfahren, indem ich Ihnen eine Geschichte erzähle.

1. Anita B.

Anita B. ist Erzieherin, berufs- und lebenserfahren. Der heutige Tag war recht anstrengend: nach dem Vor- und Nachmittag mit den Kindern in der Gruppe eine kurze Verschnaufpause und dann noch der Elternabend, der sich länger als gedacht hinzog, weil ein Elternpaar das Gespräch über seinen Filius suchte. Jetzt ist es bald 23.00 Uhr, Anita B. schaltet sich durch die Fernsehprogramme - auf der Suche nach einem seichten Film, der sie zum Eindösen bringen soll: Tagesthemen, hektisch laute Musik, Filmszenen, die Schwermut ausdrücken, schießende Cowboys, die Ansagerin einer Diskussion. Anita B. hört von ihr nur noch dessen Thema: „Was brauchen berufstätige Erwachsene von heute, um für ihr Leben als Rentner vorbereitet zu sein?“.

Anita B. ist nicht nach Diskussion: Sie will weiter schalten, doch als sie das erste Bild aus dem Studio sieht, muss sie lächeln: eine Runde von Greisinnen und Greisen. Sie schaltet wieder zurück. Der kritische Kulturphilosoph, ein Herr mit langem grauen Bart und fehlendem Kopfhaar, erklärt, dass das Leben für die Rentner von morgen noch gefährlicher würde - und weil er schon etwas senil ist, fallen ihm nur noch vier seiner vorgesehenen sieben Punkte ein. Der Erwachsene solle schon heute seine kritische Distanz zu der Gesellschaft von morgen schärfen. Der Seniorenbeauftragte der gerade gewählten Regierungspartei - elegant gekleidet, aber der locker sitzende Kragen an dem faltigen Hals verrät sein Alter - widerspricht: Es würde alles besser, und der zukünftige Rentner können sich schon darauf freuen, dass zu späterem Zeitpunkt die jetzt ins Auge gefassten Reformen griffen. Dem widerspricht die Oppositionsvertreterin heftig, doch bevor alles in ein unnutzes Parteiengezänk ausartet, greift der Moderator ein und übergibt das Wort dem Gerontologen. Dieser differenziert in: 1. die psychische, 2. die soziale, 3. die politische bis 13. in die anthropologische Dimension. Sein Beitrag ist geschliffen und ehrfurchterregend, aber auch langweilig. Farbe bringt die Leiterin einer Selbsthilfegruppe „Selbstbestimmt ins Rentneralter“ in die Diskussion hinein. Ihre Thesen sind provokant und die Lebendigkeit ihres Vortrags überzeugt. Es folgt ein Rentenexperte, der eine Schautafel mitgebracht hat, die eindrucksvoll demonstriert, dass der zukünftige Rentner mit finanziellen Einbußen in beträchtlicher Höhe rechnen muss.

Die Diskussion läuft weiter, doch Anita B. ist kurz vor dem Einschlafen. Sie hat gelernt: Die Zukunft ist schwer. Man muss Angst vor ihr haben. Und: sie wird jetzt viel lernen müssen, um eine gute Rentnerin zu werden. Anita B. ist sorgenvoll, aber ihr Schlafbedürfnis überwiegt. Der Fernseher läuft weiter, doch sie träumt schon. Sie sieht sich auf der Schulbank: Mathematik für Vorrentner, damit sie auch in Zukunft mit Geld umgehen können, Einführung in die Technik von morgen, Ernährung durch den richtigen Mix an Pillen. Im Sportunterricht gibt es Übungen unter dem Motto: „So weit die Füße tragen“, und der Psychologe hält einen Vortrag: „Wie besiege ich meinen Alzheimer“ - inklusive praktischer Übungen. Anita B. hat damit Schwierigkeiten: Sie hat noch keinen Alzheimer, wie soll sie ihn da besiegen? Der Psychologe steht vor ihr, mit einem unverständlichen Wortschwall überfällt er sie. Anita B. hat das Gefühl, er dringe in sie ein. Sie ist nichts mehr, Herr Alzheimer alles.

Schweißgebadet wacht Anita B. auf. Ihr Mann ist gerade nach Hause gekommen. Sie drückt sich feste an ihn und freut sich über seine Zärtlichkeiten.

2. Leben in der Gegenwart

Dies war meine einleitende Geschichte, die in unser heutiges Thema einführen soll. Nicht viel mehr will ich sagen als: Ein Kind ist ein Kind, nicht ein Vorschulkind, nicht ein Vorberufsausbildungsjugendlicher, nicht ein Vorerwerbstätigkeitsheranwachsender. Unser Erwachsenenalter als Vorrentnerdasein zu betrachten ist komisch, aber genau dies tun wir, wenn wir im Hinblick auf die Kinder die Zukunft zu sehr in den Vordergrund stellen.

Die Frage nach dem Leben in der Gegenwart hat viele Aspekte. In der Bibelstelle ist von der „Plage“ die Rede gewesen, die jeder Tag in hinreichendem Maße bringe, und vielleicht lässt sich die Berechtigung dieser Aussage desto weniger bezweifeln, je älter man wird. Doch wir befinden uns mit den kleinen Kindern in einer anderen Situation. Weniger die „Plage“ denn die Befreiung steht im Vordergrund. Kinder wollen lachen, herumrennen, übermütig sein, und selbst ihre Tränen verschwinden schnell, wenn sie Sicherheit und Geborgenheit spüren. Der Tag hält so viele Überraschungen bereit, auf die man sich freut, und selbst in schwierigen Situationen hält der kleine Kopf nach Möglichkeiten Ausschau, die Freudiges versprechen. Betrachten Sie ein Kind, das vielleicht aus einer Obdachlosensiedlung oder sonstigen problematischen Familiensituationen in Ihren Kindergarten kommt. Wenn Sie sich vorstellen, Sie selbst müssten dort leben, dann würden Sie vielleicht verzweifeln, Sie könnten den Schmutz nicht aushalten, hätten Angst vor der Gewalt. Aber das Kind aus diesen Verhältnissen kommt zu Ihnen in die Einrichtung, die so ganz anders ist, lacht Sie an, nimmt Sie in den Arm, sucht seinen Freund. Das Kind hat einen Schutz um sich herum, der ihm hilft, optimistisch in den Tag und auf die Welt zugehen zu können.

Diese Schutzschicht wirkt nicht immer, sie wird angekratzt von vielen kleinen und größeren Enttäuschungen, sie wird beschädigt, wenn der Erwachsene die Fröhlichkeit zurückweist, wenn das Lachen auf teilnahmslosen oder griesgrämigen Blick trifft. Mir scheint dies eine wichtige Teilantwort auf die uns heute gestellte Frage zu sein: Kinder benötigen eine Stärkung ihres Optimismus, sie müssen bekräftigt werden in ihrem Vertrauen, dass die Welt gut und schön ist, dass es sich lohnt zu leben. Kinder bedürfen deshalb Erzieherinnen, die spontan sind, die Quatsch machen können, die sich die Fähigkeit zu lachen bewahrt haben. Ich meine, dass zu den wichtigsten Qualifikationen der Erzieherin gehört: ein Kind liebevoll anlächeln zu können, dazu in der Lage zu sein, sich zu ihm herunterzubeugen, es zärtlich zu streicheln und fest im Arm zu halten. Bei all den Debatten um Qualitätssicherung, Bildungsziele und Bedeutung der Elementarerziehung für die weitere Entwicklung werden diese zentralen Notwendigkeiten leicht übersehen.

Ich möchte Sie noch auf einen anderen Punkt zu der Überschrift „Leben in der Gegenwart“ aufmerksam machen. Sie haben es mit kleinen Kindern zu tun, und dies bedeutet, dass die Kindes vieles noch nicht können, ja noch mehr, dass sie Fehler machen. In der Pädagogik ist man häufig darum bemüht, den Fehler auszumerzen und die Unkenntnis zu beseitigen. Es erzeugt aber eine schizophrene Situation, wenn man die fehlende Kompetenz als ein Problem und nicht als Notwendigkeit betrachtet. Denn Kinder, die bei den Fragen des Lehrers keine falsche Antwort geben, müssten nicht mehr lernen und bedürften deshalb des Lehrers nicht mehr. Dies lässt sich auch auf den Kindergarten übertragen: Wenn die Kinder all dies könnten, was sie hier lernen sollen oder wenn ihnen all dies auf das erste Wort einleuchten würde, dann wäre der Kindergarten für sie überflüssig und Sie als Erzieherin wären arbeitslos.

Dass ein Kind etwas nicht kann, dass es viele Fehler macht bei dem, was es lernen soll, stellt also kein Problem, kleine erhöhte Schwierigkeit der Erzieherin dar, sondern ist eine Notwendigkeit. Stellen Sie sich dies bitte bis ins Konkrete hinein vor: Die Jungen müssen den Toilettenrand vollpinkeln, denn es ist für sie als zukünftige Männer wichtig, ihr Geschäft im Stehen verrichten zu können. Jetzt aber müssen sie mit den vielfältigen Schwierigkeiten fertig werden, und dies heißt: Fehler machen. Dies gilt auch für die kleineren Kinder, die jetzt verstärkt in den Kindergarten kommen und die noch nicht der Pampers entwöhnt sind. Dies ist kein Problem, und der Kindergarten sollte sich hüten, „Sauberkeit“ als Eingangsvoraussetzung zu fordern. Das Kind muss lernen, selbständig zur Toilette gehen zu können, aber dies heißt auch: gegenwärtig wird die Hose des öfteren nass sein.

Es ist eine schwierige Qualifikation der Erzieherinnenarbeit, Unkenntnis und Fehler in Bereichen, die uns selbstverständlich von der Hand gehen, auszuhalten. Wie oft sagt man: „Ich habe euch doch schon hundertmal gesagt ...“, oder: „Ich hab dir doch schon so oft gezeigt...“. Es ist verständlich, dass man aus der Haut zu fahren geneigt ist, doch es hilft nichts, man muss es zweihundert mal sagen und zeigen. Geduld zu erlernen, ist ein wichtiges Ziel in der Pädagogik, und ich meine nicht die Geduld der Kinder, sondern die der Erzieherin.

3. Die kleine, nicht die große Welt

Vielleicht wundern Sie sich über meine Beispiele, die so in alltägliche Selbstverständlichkeiten hineingehen, wo doch die große Welt von morgen mein Thema sein soll. Aber das ist es, was ich Ihnen sagen möchte: Wir werden in der Zukunft keinen Krieg weniger erleiden müssen, wenn heute „Friedenserziehung“ auf dem Stundenplan des Kindergartens steht; es wird morgen keinen Kriminellen weniger geben, wenn wir heute ein Anti-Gewalt-Training anbieten, und die Prostitution wird nicht abnehmen, wenn wir Sexualaufklärung und selbstbestimmtes Verhalten von Mädchen betreiben. Und ich glaube noch nicht einmal, dass die Zahl neurotischer Erkrankungen in späteren Tagen reduziert würde, wenn wir heute eine Erziehung nach allen Kenntnissen der psychologischen und psychoanalytischen Forschung entwickelten. Die Welt ist, wie sie ist. Sie hat ihre schönen, aber auch ihre Schattenseiten. Es wird Kriminalität und Prostitution in der Zukunft geben, und einige der Kinder, die jetzt in Ihrem Kindergarten sind, werden davon betroffen sein. Sie können sich ein Bein ausreißen, sie mögen dies mit aller Gewalt nicht wollen, aber es wird so sein - auch wenn wir nicht voraussagen können, wen die Nieten in der großen Gesellschaftslotterie treffen werden.

Die Welt der Kinder ist nicht die große Gesellschaft - wenngleich sich nicht bestreiten lässt, dass deren Lebenschancen entscheidend von ihr geprägt werden. Kinder, deren Väter der Krieg tötet, Kinder, die Hunger leiden, Kinder, die Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektive ihrer Eltern erleben - alles, was die große Erwachsenenwelt an Chancen und Gefahren bereithält, wirkt unmittelbar auf die Situation der Kinder. Nur: das Kind erfährt dies in der Rolle des Opfers. Es weiß nichts von den ungeklärten Nationalitätenkonflikten im ehemaligen Jugoslawien, nichts von der Ausbeutung der ärmeren Staaten durch die reichen, nichts von den fehlenden Steuerungsmöglichkeiten in kapitalistischen Gesellschaften. Wenn wir daran etwas ändern wollen - an Krieg, Ausbeutung und Arbeitslosigkeit - dann sollten wir unsere Erwachsenenwelt in Ordnung bringen.

Die Welt des Kindes ist die kleine Welt der Familie, der Nachbarschaft und des Kindergartens. Es hat als Säugling die Mutter und dann den Vater kennergelernt, sich in die Welt der Verwandten und Freunde eingefunden. Das kleine Kind hat erste Schritte in die Nachbarschaft gemacht - der Kaufmann, die Sparkasse, der Spielplatz. Jetzt kommt es zu Ihnen in den Kindergarten, eine völlig neue Gesellschaft, auf die es sich freut und die ihm Angst macht.

Das Weltbild des Kindes ist zweigeteilt: Es gibt die Realität der Phantasie, die alle zeitlichen und räumlichen Begrenzungen sprengt, und es gibt die empirische Welt, die nicht weiter reicht, als die Füße das Kind tragen. Erfährt es etwas von der weiteren Gesellschaft, von den Problemen, die die Großen mit sich herumtragen, dann kann es dies nicht verstehen, sondern es hat nur die Möglichkeit, sie in eine seiner beiden Welten einzuordnen: die der Phantasie oder die des Nahen und Vertrauten.

4. Drei kurze Geschichten

Ich will Ihnen hierzu eine Geschichte aus meiner eigenen Kindheit erzählen. Als ich klein war, hieß der erste Bundespräsident Theodor Heuss. Ich weiß nicht warum, aber es gab eine Zeit, da war sein Name in aller Munde. Sein Bild wurde noch nicht durch das Fernsehen in meine Kinderstube übertragen, aber im Radio hörte ich seinen Namen. Und die Großen sagten: „Heuss hat das gesagt oder jenes getan!“ Heuss war für mich also ein bedeutender Mann. Nun wollte es der Zufall, dass der damalige Chefarzt unseres örtlichen Krankenhauses auch Heuss hieß, und ein Chefarzt ist auch ein bedeutender Mann. Wenn im Radio also der Name „Heuss“ fiel, wusste ich genau, wer gemeint war. Der Arzt, den ich kannte, war so berühmt, dass er im Radio genannt wurde, und was noch wichtiger war: Mein Vater war mit diesem Heuss befreundet. Dies gab meinem Vater in meinen Augen eine noch größere Bedeutung, und ein wenig konnte ich glauben, durch meine Familie selbst an der Wichtigkeit und Berühmtheit zu partizipieren. Ich war verbunden mit der weiten Welt, die aus dem Radioapparat kam.

Ich möchte Ihnen noch eine weitere Geschichte erzählen, die von einem sechsjährigen Jungen handelt. Er kauft mit seiner Mutter regelmäßig in einem Geschäft ein, an dessen Kasse „Willi“ sitzt. Willi ist ein etwas zurückhaltender, freundlicher Mann, der seinen Job verrichtet. Der Junge bekommt bei jedem Einkauf einen Lutscher von ihm. Das macht ihn sympathisch, denn kleine Kinder sind nicht weniger korrupt als wir Erwachsenen. Was aber noch wichtiger ist: Willi ist Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Dies gibt ihm eine ungeheure Autorität. Der Junge, der ihn immer nur im weißen Kittel sieht, wird ihn sich in der Uniform vorstellen, er ist es, der das Tatütata auslöst, mit riesigem Schlauch auf einer hohen Leiter steht, Wasser spritzt und das beängstigende und faszinierende Feuer beherrscht. Willi ist für den Jungen jemand, so wie es für mich der Bundespräsiden-Arzt Heuss war. Sehr konkret und doch so bedeutend, dass er nur mit der Macht der Phantasie erfasst werden kann. Wenn man als Erwachsener den kundenfreundlichen Willi hinter seiner Kasse sieht, so kann man sich nicht vorstellen, dass er jemals bei einem wirklichen Brand auf der Leiter zum Einsatz kam. Man denkt eher an die feucht-fröhlichen Feuerwehrfeste, und vielleicht durfte er auch schon einmal eine Straße absperren, als die richtige Feuerwehr tätig wurde.

Ich erzähle Ihnen dies alles, um Sie hinzulenken auf die kindliche Realität. Sie mögen didaktische Einheit zu den großen Problemen der Umwelterziehung, Einen Welt und Geschlechtsrollenbeziehung durchführen oder zu den Realitäten von Krankenhaus, Bäckerei und Post - dies ist weder verwerflich noch unnütz. Doch erwarten Sie nicht, dass der Kopf des Kindes dadurch auf die Lösung der Probleme der Welt von morgen vorbereitet wird. Was Sie in didaktischer Absicht auch immer tun, das Kind wird es einordnen in seine Welt, und das ist die der Phantasie einerseits und die von Mama und Papa, Oma und Opa andererseits.

Dies ist der Grund, warum ich der Arbeit mit didaktischen Einheiten im Kindergarten weniger Bedeutung zumesse. Wichtiger erscheint mir die Aufgabe, alles dafür zu tun, dass die Welt der Familie und des Kindergartens für das Kind in Ordnung ist, dass es sich geliebt fühlt, dass es Heimat erwerben kann. Wenn das Kind mit sechs Jahren den Kindergarten verlässt, wird es vielleicht noch 70 oder 80 Jahre Leben vor sich haben. Dies sind - Schaltjahre nicht mit eingerechnet - 29.200 Tage, die „genug eigene Pein“ haben werden. Vielleicht wird es in drei Ehen scheitern, vielleicht wird es Alkoholiker werden oder ein Bein verlieren. Vielleicht wird es als Sozialhilfeempfänger am unteren Rand des Existenzminimums leben, vielleicht macht es aber auch den großen Gewinn im Lotto. Vielleicht. Was auch immer das Kind treffen wird, die beste Vorbereitung auf das Morgen ist es, wenn es in den empfindlichen Jahren der frühen Kindheit einen Überschuss an Selbstvertrauen, Optimismus und Lachen erworben hat.

Ich erzähle Ihnen dazu eine weitere Geschichte. Vor einiger Zeit saß ich an einem Abend in der gemeinsamen Runde einer Familienfreizeit. Die Erzieherin spielte zum Abschluss auf ihrer Gitarre einige Abendlieder und forderte die Anwesenden zum Mitsingen auf. Einige der Eltern kamen aus sehr traurigen Verhältnissen, doch gerade diese sangen die bekannten Volkslieder mit tiefer Inbrunst und strahlendem Lächeln im Gesicht. Dies war ein Stück erinnerter Kinderheimat, und die Probleme von Alkoholismus und Obdachlosigkeit ließen sich für einen Moment vergessen. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche gefühlsmäßige Rührung und Sentimentalität stärker war; meine, bei der Beobachtung dieser Szene, oder die der betroffenen Männer.

5. Zukunft und Gegenwart

Ein Kindergartenkind lebt ganz in seiner Gegenwart und in seiner unmittelbaren Umgebung. Dies habe ich bisher zu sagen versucht. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Die andere lautet: In der Pädagogik sind Gegenwart und Zukunft auf bestimmte Art und Weise verknüpft. Um diesen Punkt zu erläutern, greife ich auf den Text eines Pädagogen aus dem 19. Jahrhundert zurück. Friedrich Schleiermacher, ein Theologe, der sich auch mit pädagogischen Fragen auseinandergesetzt hat, versucht in seiner Theorie, die immer wieder aktuellen Fragen der Erziehung auf allgemeine Art zu bestimmen. Eine davon ist die nach dem Verhältnis von Gegenwart und Zukunft.

Gemeinhin versteht man unter der pädagogischen Tätigkeit: die Kinder dazu anzuhalten, etwas für ihre Zukunft Wichtiges zu lernen. Den Schülern passt dies oft nicht, warum sollen sie sich mit dem ABC quälen, die Hauptstädte der europäischen Staaten auswendig lernen oder sich in die Integralrechnung einarbeiten, wo es doch so viel zu spielen gäbe und wo außerhalb der Schulstube die Abenteuer des wirklichen Lebens warten. Wird der Widerstand der Kinder stärker, mag der Lehrer sich in die Enge gedrängt fühlen und zu dem Spruch Zuflucht nehmen, der den meisten von Ihnen wahrscheinlich auch noch im Kopf ist: „Später wirst du mir dafür dankbar sein!“ Das Kind bedarf auch der Erholung und der Ferien, aber ein Teil seines Lebens steht unter dem Vorzeichen: „Jetzt musst du deine augenblicklichen Bedürfnisse zurückstellen, um etwas zu lernen, was du für deine Zukunft wirst brauchen können!“ Die pädagogisch wichtigen Tätigkeiten beziehen sich auf den letzten Aspekt, während die Pausen und Entspannungen der Medien- und Spielzeugindustrie überlassen bleiben.

Friedrich Schleiermacher sagt: Diese gängige Argumentation ist sowohl falsch als auch richtig. Die Pädagogik ist auf die Zukunft des Kindes gerichtet, und die Kindheit ist eine Zeit der Vorbereitung, damit es mündig wird, um selbstbestimmt handeln zu können. Würde die Erzieherin sagen: „Ich versuche alles, den Kindern einen schönen Tag zu machen, sie im Hier-und-Jetzt leben zu lassen!“, dann würde sie pädagogisch nicht korrekt handeln, weil sie sich der Verantwortung für das morgige Leben entzöge.

Dies ist aber nur die eine Seite. Denn Friedrich Schleiermacher sagt auch, es sei mit der Würde des menschlichen Lebens unverantwortlich, für einen zukünftigen Lebensabschnitt die Gegenwart aufzuopfern. Man weiß ja gar nicht, ob dieser morgige Tag überhaupt mit den Anforderungen eintrifft, auf die man vorbereitet wurde, so dass man vielleicht unnütz gequält wurde. Und außerdem gilt generell: Jeder Tag im Leben eines Menschen ist gleich wichtig, es gibt nicht das ausschlaggebende Erwachsenensein und die unbedeutendere Kindheit, sondern die Gegenwart hat in jedem Lebensabschnitt ihren Sinn in sich selbst.

So stehen wir also vor einem unauflösbaren Widerspruch: Wir können nicht den Gedanken an die Zukunft der Kinder aufgeben und sie nur im Hier-und-Jetzt glücklich leben lassen; wir können aber auch den Kindern nicht auf Grund einer ungewissen Zukunft Einschränkungen in ihrer Gegenwart auferlegen. Dieser Widerspruch gilt generell in der pädagogischen Beziehung, so dass sich auch nicht pragmatisch argumentieren ließe: „Ein paar Stunden am Tag können wir ihre Gegenwart zurückstellen, damit sie auf die Welt von morgen vorbereitet werden; es bleibt ja noch genügend Zeit zu spaßreicher Erholung!“

Friedrich Schleiermacher findet einen interessanten Ausgang aus diesem Dilemma. Er sagt für das ältere Kind, dass es durchaus in der Lage sei, seine Zukunft selbst zu wünschen und sich zu ihrer Erreichung freiwillig Einschränkungen aufzuerlegen. Wenn Sie eine Tochter haben, die gerne Geige spielen lernen möchte, so kann sie selbst entscheiden, zur Realisierung dieses Zieles augenblickliche Stunden zu opfern. Und bis nicht mehr nur quietschende Töne aus dem Instrument kommen und noch mehr, bis ihre Tochter in einem Orchester mitspielen kann, bedarf sie vieler Übungsstunden. Ein solcher Kompromiss gilt für das kleine Kind - und mit diesem haben Sie es ja mehrheitlich in Ihrer Praxis zu tun - allerdings nicht. „Zeit“ ist für es noch kein Begriff und so kann es nicht selbstbestimmt sagen: „Um ein guter Schüler zu werden, muss ich mich heute der Mühen des Vorschulprogramms unterwerfen!“ Ein Kindergartenkind lebt jetzt, und Zukunft ist der nächste Geburtstag, weil man dann schon zu den Großen gehört.

Für das Kindergartenkind kommt Friedrich Schleiermacher deshalb zu einer anderen Lösung, die für eine Konzeption des Kindergartens sehr interessant ist. Er sagt nämlich, dass im Spiel des Kindes die Momente von Gegenwart und Zukunft miteinander vereint sind. Das Kind spielt Raum und Zeit vergessend und ganz in sich selbst versunken, es will nicht ein zukünftiges Ziel erreichen, sondern der Inspiration des gegenwärtigen Einfalls folgen. Doch indem es dies tut, übt es gleichzeitig seine sprachlichen, kognitiven und emotionalen Kompetenzen.

Um dies nicht mitzuverstehen: Gemeint ist nicht das didaktische Spiel, bei dem der erzieherischen Absicht mehr oder weniger durchsichtig ein spielerisches Mäntelchen umgehängt wird. Die sogenannten Lernspiele sind Etikettenschwindel, sie haben mit kindlichem Spiel nichts zu tun. Wichtig ist vielmehr das freie, selbstbestimmte Tun des Kindes. Deswegen betone ich in meiner kindzentrierten Position der Kindergartenarbeit die zentrale Bedeutung des Spiels im Sinne der Eigenaktivität der Kinder und sehe es als die zentrale Aufgabe der Erzieherin im Kindergarten an, die geeigneten Mittel der Spielförderung zur Verfügung zu stellen: viel Zeit, eine bunte Fülle von Material, großzügigen und frei zugänglichen Raum und vor allem sich - die Erzieherin - selbst. (Sigurd Hebenstreit, Kindzentrierte Kindergartenarbeit, Freiburg 19974)

Ich schließe damit meinen recht langen Exkurs, der vielleicht etwas ermüdend gewirkt hat. Doch ich habe ihn gebraucht, um im Vergleich zu meinen anfänglichen Ausführungen eine Gegenthese begründen zu können. Wir können uns nicht aus unserer erzieherischen Verantwortung herausschleichen und nur sehen, wie wir den jetzigen Tag einigermaßen unbeschadet über die Runden bekommen. Wenn wir Erzieher sind, haben wir es immer auch mit der Zukunft unserer Kinder zu tun. Wir helfen ihrem Leben heute, damit sie morgen als selbstbewusste Menschen ihre Aufgaben angehen können, damit sie mittätig werden, eine Welt von Friede und Gerechtigkeit zu gestalten, und damit sie in Würde werden leben können, selbst wenn sie Kriminelle oder Prostituierte werden.

Ich habe die letzten beiden Beispiele schon einmal gebraucht, und sie wirken vielleicht provozierend. Ich will mit ihnen andeuten: Wenn wir an die Welt von morgen denken, so müssen unsere Kinder auf die Verhältnisse vorbereitet sein, in denen sie faktisch leben werden. Dies ist nicht für alle das behütete Mittelschichtmilieu, sondern es sind manchmal Lebensbedingungen, die für uns schwer vorstellbar sind. Aber auch auf diese gilt es pädagogisch so vorzubereiten, dass ein Leben in Würde und Selbstbestimmung möglich ist. Vielleicht werden wir noch Gelegenheit haben, auf dieses Thema zurückzukommen. Ich möchte Ihnen zum Abschluss dieses Abschnittes ein Zitat von Janusz Korczak vortragen: „Schließlich, wenn das Leben Krallen erfordert, haben wir dann das Recht, die Kinder nur mit Schamröte und leisem Seufzer auszurüsten? Deine Pflicht ist es, Menschen großzuziehen, nicht Schäfchen, und Arbeiter, keine Prediger, sondern physisch und moralisch gesunde Menschen. Und Gesundheit ist weder zart besaitet noch opferwillig.“ (Janusz Korczak, Das Internat, in: Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 206)

6. Ein Kind ist ein Mensch auf seinem Entwicklungsweg

Ich habe meinen Vortrag damit begonnen, den heutigen Tag des Kindes herauszuheben, bevor ich Ihnen gerade darzulegen versuchte, dass in der Erziehung Gegenwart und Zukunft auf bestimmte Weise miteinander verschränkt sind. Jetzt gilt es, den Blick wieder auf das Kind zurückzulenken. Sicherlich, Kinder sind zufrieden, wenn sie mit einer Tüte Chips auf dem Schoß und einer Flasche Cola neben sich vor dem Fernseher sitzen und gebannt der Flut der bunten Bilder folgen. Doch es gibt bei ihnen auch einen Sättigungsgrad in der Befriedigung dieser aktuellen Bedürfnisse. Es ist bei ihnen wie bei uns Erwachsenen: Wir erfreuen uns an der Flasche Wein am Abend und genießen den Kinobesuch. Doch wenn dies alles wäre, dann würden wir unser Leben als sehr langweilig erleben. Vielleicht haben Sie die aktuelle Werbung für die Deutsche Fernsehlotterie gesehen: Der fettleibige Gewinner des großen Preises wird im Swimmingpool gezeigt, er schlürft seinen Drink. Oder er liegt unter Palmen in der Sonne und hat nichtstuend - sieht man von der Umdrehung von der rechten auf die linke Seite ab - Tag und Monat vergessen. Zu den gelangweilten Bildern sagt eine unsympathische Stimme: „Es macht Spaß, Millionär zu sein!“ Ich weiß nicht, wie Ihre Vorstellung vom Paradies aussieht, doch auf mich wirkt der Werbespot eher wie die Hölle: nie vergehende Zeit und unerträgliche Langeweile. Wir Erwachsenen brauchen unsere Aufgabe: Herausforderungen, die unsere Tage sinnvoll ausfüllen und strukturieren. Wenn wir zu viel Hektik haben, dann freuen wir uns auf den Urlaub, das Nichtstun in der Freizeit. Doch die Verbannung zu immerwährender Untätigkeit ist Strafe.

Beim Kind ist dies ähnlich. Es hat seine Aufgabe, die es aus eigener Motivation und mit all seiner Kraft angeht. Es braucht seine Erholungspausen, aber diese sind kürzer als bei uns, denn seine Herausforderungen sind viel größer als die unsrigen. Sie sind Erzieherin in einem Kindergarten, vielleicht Leiterin einer Gruppe. Sie können diese Tätigkeit bis zu ihrer Rente weiterführen oder überlegen, auf eine andere Stelle zu wechseln, um vielleicht Leiterin einer größeren Einrichtung zu werden. Sie mögen sich entschließen, ein Studium aufzunehmen oder eine ganz andere Ausbildung zu beginnen. Was Sie auch tun, Ihre Veränderungen innerhalb von sechs Jahren werden im Vergleich zu der Entwicklung, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren macht, klein sein.

Ein Kind ist ein Mensch, der sich vor der Aufgabe seiner eigenen Entwicklung sieht. Innerhalb einer kurzen Zeit wird aus dem hilflosen, in völligem Unbewussten lebenden und nur seine Reflexe anwendenden Säugling ein handlungsfähiger Mensch, der in früheren Zeiten bereits als voll in das gesellschaftliche Leben integriert angesehen wurde. Mit Selbstverständlichkeit bedienen Kindergartenkinder heute technische Apparate, vor denen erwachsene Menschen vor 100 oder sogar 50 Jahren noch hilflos gestanden hätten. Das kleine Kind hat eine immense Aufgabe: Aus seinen vielfältigen Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind, baut es mit Hilfe der Umgebung eine Persönlichkeit auf, die ihre unverwechselbare Individualität hat.

Das Kind weiß nichts von seiner Aufgabe. Es sagt sich nicht: „Ich will dies oder jenes lernen, um meine einzigartige Persönlichkeit zu entwickeln!“ Es weiß dies nicht, aber es tut dies mit einer unglaublich starken Willenskraft. Beobachten Sie ein knapp einjähriges Kind, das dabei ist, stehen und laufen zu lernen. Es will sich am Tischbein hochziehen, fällt auf seinen Popo. Doch der Misserfolg kann es nicht davon abhalten, es nochmals zu versuchen - und wieder und wieder. Jetzt erreicht es die Tischplatte und versucht, sich an ihr entlangzuhangeln. Aber dies ist schwierig: die Händchen sind oben in der Luft, die Augen haben den braunen Balken des Tischgestells im Blick, und unten müssen die Füßchen aufpassen, sich nicht zu verknoten. Natürlich, die ersten Versuche bringen es bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Füßchen stellen sich zu oft selbst ein Bein. Aber es lässt nicht locker. Immer wieder ein neuer Versuch, bis es klappt, wenn auch mit zitternden Knien. Und dann gibt es kein Aufhalten mehr: Alles Senkrechte dient als Mittel, um sich hochzuziehen, alles Wagerechte als Stütze zum Laufen. Sie können kein Motivations- und Trainingsprogramm entwickeln, das so wirksam wäre wie die Eigenmotivation des Kindes, seinen Entwicklungsgang zu gehen.

In der Pädagogik wird das Kind manchmal als jemand gesehen, der von Erwachsenen motiviert werden muss, um bereit zu sein, häppchenweise die große Welt in sich aufzunehmen. Der Erzieher bestimmt die Ziele, und er muss das Kind aufschließen, damit es sich für den geplanten Inhalt öffnet. Doch diese Denkfigur geht an der Realität vorbei:

·       Das Kind muss nicht motiviert werden, es ist von sich aus motiviert;

·       es muss nicht aufgeschlossen werden, sondern es ist von sich aus offen;

·       ihm müssen keine Ziele gesetzt werden, sondern es hat die Ziele in sich selbst.

Johann Heinrich Pestalozzi hat diesen Gedanken in einem schönen Bild ausgedrückt. Er sagt, dass die Erziehung nicht „führen“ könne, sondern nur „aufladen auf einen Wagen, der von sich selbst geht“. (Sigurd Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi - Leben und Schriften, Freiburg 1996, S. 116)

7. Ein Kind ist ein aufmerksamer Beobachter seiner Umwelt

Jedes Kind will sich entwickeln, und es hat in sich einen Bauplan, der es zu dem hintreibt, was seine einmalige Persönlichkeit ausmacht. Die Erziehung schafft nicht das Kind, sondern sie ist Unterstützung für die Selbstwerdung des Kindes. Dies ist der Kern des reformpädagogischen Denkens. Damit ein Kind seine Individualität gestalten kann, ist es auf die Umwelt angewiesen, denn dieser Prozess besteht nicht in einer im pädagogischen Schonraum von selbst sich entfaltenden Reifung. Das Kind saugt alles, was um es herum ist, in sich auf, bewahrt es in seinem Kopf, seinen Muskeln und seinem Herzen, und je älter es wird, desto mehr benutzt es diese Bruchstücke, um Kopf, Muskeln und Herz ihre bestimmte Form zu geben.

Es ist eine existentielle Notwendigkeit des Kindes, dass es in einer lebendigen Umwelt leben kann, in der insbesondere die Menschen, die mit ihm in Beziehung treten, eine Bedeutung haben. Dabei ist es für das Neugeborene relativ egal, in welcher Umgebung es groß wird. Sie können einen Steinzeitneugeborenen in unsere heutige komplizierte Gesellschaft versetzen oder umgekehrt einen Säugling unserer Tage in eine Steinzeitkultur: Er wird die Fähigkeiten ausprägen, die für die Gesellschaft, in der er groß wird, maßgeblich sind. Nur eins können Sie nicht tun, ohne die Entwicklung zu beschädigen: dem Kind Umwelt und Menschen überhaupt vorenthalten.

Das Ziel der Erziehung ist es, Hilfen zu geben, damit die Kinder dermaleinst ihre Eltern und Erzieher in der Verantwortung für die Zukunftsgestaltung ablösen können. Individualität müssen sie in dem Rahmen entwickeln, der in ihrer Zeit vorgegeben ist. Ein Steinzeiterwachsener in unserer Gesellschaft wäre nicht überlebensfähig - ebenso wie umgekehrt wir in dem steinzeitlichen Alltag bald untergehen würden. Unsere Persönlichkeit prägen wir nicht jenseits der konkreten Gesellschaft aus, sondern nur durch ihre Aufnahme in unsere Person. Die sozialen Verhältnisse zwingen und verknechten uns nicht, sondern legen Bahnen und Möglichkeiten fest, ohne die wir nicht existieren könnten.

Die große Gesellschaft kommt nicht dadurch in den kleinen Kopf, indem sie sich ihm mit Macht aufpresst, und auch nicht dadurch, dass die Pädagogik raffinierte Belehrungsprogramme entwickelt, mit denen sie das Kindergartenkind auf seinem Stühlchen und den Schüler in der Schulbank unterrichtet. Das Aufsaugen und Verarbeiten der Umgebung ist vielmehr ein höchst aktiver Prozess des Kindes selbst. Es hat in sich Werkzeuge, die ihm helfen, diese große Arbeit zu leisten. Betrachten Sie den Neugeborenen: Er kann noch nicht im inhaltlichen Sinne wahrnehmen, aber so bald er wach ist, hat er seine Augen geöffnet, um die weite Welt in sich hineinzulassen. Und schon bald wird er sein Köpfchen dahin wenden, wo ein interessantes Schauspiel zu erwarten ist: der Kontrast von hell und dunkel zunächst, dann die Bewegungen der hin- und herschaukelnden Rassel an seinem Wiegendach und schließlich die Augen des Menschen.

Dazu ließe sich noch viel sagen, aber ich muss langsam zum Schluss kommen und mache deshalb einen Sprung zu den Kindergartenkindern, indem ich Ihnen eine kurze Geschichte erzähle. Der Sechsjährige darf heute länger als gewohnt aufbleiben, denn die Eltern erwarten eine Reihe von Gästen zum Abendessen. Immer wenn es klingelt, rennt der Junge zur Tür, begrüßt die Anwesenden und bittet sie herein. Er scheint ganz in seinem Element zu sein. Nun ergibt es sich, dass eine der Bebsucherinnen keine Hände und Arme hat, so dass die Füße und Beine deren Arbeit mit übernehmen müssen. Sie ist geübt darin. Der Vater kann an sich selbst, aber auch an seinen Miterwachsenen bemerken, wie er verstohlen und mit Scheu hinüberschielt, um zu beobachten, wie diese Frau mit den Füßen ihr Essen meistert. Der Junge ist anders: Er sitzt auf seinem Stuhl, und mit weit geöffnetem Mund schaut er die Frau direkt an. Er ist fasziniert von diesem erstaunlichen Schauspiel. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, die seinen Mund nur selten stillstehen lässt, ist er ruhig. Man merkt, wie es in seinem Kopf arbeitet, bis er schließlich nach einigen Minuten sagt: „Man ißt nicht mit den Füßen!“ Der Gesprächsfluss der Erwachsenen, die eifrig bemüht waren, die ungewohnte Situation zu umgehen, stockt für einen Moment. Es wird ruhig, vielleicht fragen sich alle, wie würde ich aus dieser peinlichen Situation herauskommen. Doch die angesprochene Frau tut nicht so, als hätte sich der Einwurf des Jungen nicht ereignet - er hat es aber auch wirklich unüberhörbar laut gesagt -, sie antwortet vielmehr in die entstandene Stille hinein: „Wenn man keine Hände hat, muss man mit den Füßen essen!“ Diese Erklärung überzeugt - auch den Jungen. Er kann jetzt seinen Teller leer essen.

Ich möchte Ihnen mit dieser Geschichte heute nur so viel sagen: Kinder sind aufmerksame Beobachter ihrer Umwelt. Sie sind daran interessiert, sie zu verstehen. Wir brauchen uns also keine Lehrprogramme auszudenken, um sie mit der Nase auf die Dinge zu stoßen, von denen wir wollen, dass sie sie aufnehmen - um dann festzustellen, dass sie doch die Aspekte auswählen, die für unsere didaktische Absicht nebensächlich oder sogar störend waren. Was wir tun müssen, ist: die Welt und das wirkliche Leben in unsere pädagogischen Einrichtungen hineinzulassen. Keine didaktische Einheit hätte bei dem Jungen den Effekt haben können, wie sein Erleben in der realen Situation und die knappen Erklärungen der Frau. Die Kinder werden auf die Welt von morgen vorbereitet, wenn wir das wirkliche Leben in den Kindergarten einströmen lassen und den Kindern Gelegenheit verschaffen, in ihrer Weise mit den Gegebenheiten umzugehen.

8. „Das Leben bildet“ (Pestalozzi)

Diese Forderung zu erfüllen ist nicht so einfach, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Viel Künstliches hat sich in der Kindergartenpädagogik ausgebildet, das nur innerhalb der Mauern der Einrichtung Bedeutung hat. Dazu zähle ich auch die Versuche, in denen in didaktischen Verpackungen - Bilderbuch, Arbeitsblatt, Lerneinheit - die Außenwelt in den Kindergarten geholt werden soll. In diesen Ansätzen verliert man zumeist das, was mir wichtig erscheint: Selbstverständlichkeit und Buntheit. Man muss den kleinen Kindern Gelegenheit geben, das weite Leben auf sich wirken zu lassen, es in seiner Gesamtheit zu erfahren, das Kind selbst auswählen zu lassen, was ihm auffällt und wichtig wird. Das Kind kann die Welt nicht begreifen, wenn die Erzieherin schnell mit wortreichen Erklärungen zur Hand ist. Nicht quatschen - und vor allem nicht didaktisch geplant - soll die Erzieherin, und sie soll das Kind nicht gezielt mit der Nase auf einen Gegenstand stoßen.

Um die Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten, muss in dem Kindergarten selbst die Buntheit des Lebens mit Selbstverständlichkeit präsent sein. In den Zeitungen wurde vor kurzer Zeit von dem Verweis einer türkischen Lehrerin von der Schule berichtet, weil diese nicht bereit war, auf das Tragen ihres Kopftuches zu verzichten. Ich finde, damit wurde eine Chance vertan. Es ist für die Kinder wichtig, dass sie eine Kollegin erleben können, die ihre Andersartigkeit mit Selbstverständlichkeit leben kann. Mehr als ein didaktisches Arrangement, das interkulturelle Erziehung oder Friedenspädagogik zum Ziele hat, beeinflusst die Einbeziehung unterschiedlicher Kulturen und Religionen die Kinder. Sie müssen dann als Erzieherin weniger reden, Exkursionen oder sonst was planen, sondern können sich auf das verlassen, was Johann Heinrich Pestalozzi als Bilanz seiner Pädagogik formuliert hat: „Das Leben bildet!“

Dies gilt auch für den Einbezug behinderter Menschen. Wenn die Kinder die Selbstverständlichkeit des gemeinsamen Zusammenlebens erfahren, dann werden sie die Unterschiedlichkeit menschlicher Existenzweisen betrachten, ohne Scheu auf sie blicken und handelnd miteinander umgehen können. Wenn dies in Ihrem Kindergarten Normalität ist, werden die Kinder Toleranz als normal empfinden. Wenn es in Ihrem Kindergarten aber als bewusste Anstrengung zu einem menschenwürdigen Ziel vorkommt, dann werden auch die Kinder es als gezielte Anstrengung erleben, und die Toleranz und Integration werden bald zerbrechen.

Noch ein praktischen Hinweis: „Lesen“ Sie mit Ihren Kindern im Stuhlkreis die Zeitung. Die Kinder werden die Bilder betrachten - auch die vielen unschönen -, sie werden Ihre Erklärungen hören. Dadurch soll kein Unterricht in politischer Bildung gegeben werden, sondern es wird die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem geschaffen, was den Kindern sonst immer als die geheime Welt der Großen erscheint.

Ich erzähle Ihnen hierzu abschließend auch noch eine Geschichte. Als Mike Tyson zum ersten Mal Boxweltmeister im Schwergewicht wurde, habe ich den Kindern meiner Gruppe den Sportteil der Zeitung gezeigt. Dies geschah weniger geplant denn zufällig. Die Kinder betrachteten die Photos, die wir später an einer Pinnwand aufhängten. Und ich konnte sehen, dass jetzt des öfteren insbesondere die Jungen zu dem Bild gingen. Sie waren fasziniert: Mike Tyson war so stark, und er hatte solche Muskeln. Er war stärker als der Papa, vielleicht als die Papas aller Kinder zusammen. Und er war schwarz. Er hatte eine andere Hautfarbe als die Kinder, aber er war so bedeutsam. Ich glaube, dieses Bild von Mike Tyson und die Geschichten über ihn haben mehr bewirkt, als das Projekt zu „Kindern in der Einen Welt“, das wir damals auch durchführten. Dieser „Boxweltmeister aller Klassen“ war so lebendig, man konnte zu ihm hingehen und sehen: „Er ist so anders als ich!“, und man konnte sich wünschen: „So stark möchte ich auch einmal werden!“

Ich muss jetzt noch einen Absatz für diejenigen hinzufügen, die Mike Tyson nicht kennen. Er wurde später zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt, weil er eine Frau vergewaltigt hatte. Nachdem er entlassen wurde, kämpfte er gegen Evander Holyfield erneut um die Weltmeisterschaft, und als er merkte, dass er auf der Verliererstraße war, biss er seinem Gegner im Ring ein Stück seines Ohres ab. Gegenwärtig lassen sich im Internet die psychiatrischen Gutachten nachlesen, die erstellt wurden, um die Zurechnungs- und erneute Kampffähigkeit Mike Tysons zu überprüfen. Ich glaube, all diese Geschichten hätte ich meinen Kindern im Kindergarten nicht präsentiert. Kinder müssen nicht allen Schmutz mitbekommen, den wir in unserer Erwachsenenwelt so produzieren. Dies zu erörtern, würde jetzt ein „weites Feld“ eröffnen. Doch ich vermute, Ihre Konzentrationskraft ist erschöpft, und ich bedanke mich deshalb für Ihr Zuhören.


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