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Sigurd
Hebenstreit
Was
brauchen Kinder heute, um für die Welt
von morgen vorbereitet zu sein?
Vortrag
am 3. November 1998 in Trier, Europahalle
wenn
ich akademisch an mein Thema - Was brauchen
Kinder heute, um für die Welt von morgen
vorbereitet zu sein? - herangehen würde,
dann würde ich mit Ihnen
1.
einen Blick auf die gesellschaftliche
Entwicklung der nächsten 70 Jahre werfen,
2.
die Entwicklungspsychologie zu
Hilfe nehmen, um die Möglichkeiten kleiner
Kinder zur Aneignung der Welt zu eruieren,
und
3.
Schlussfolgerungen ableiten,
die angeben, was Sie in den Kindergärten
pädagogisch zu tun haben.
Ein
solches Vorgehen wäre logisch, doch
vielleicht als Vortrag auch etwas langweilig.
Wenn Sie also eine solche Abhandlung
für die nächste Stunde erwarten sollten,
wäre es ratsamer, in ruhiger Atmosphäre
ein geeignetes Buch zu studieren. Statt
also das akademisch korrekte Verfahren
zu wählen, möchte ich Ihnen heute einige
Assoziationen zu dem Thema vorstellen.
Diese leite ich mit einer Bibelstelle
ein.
„Sorgt
euch nicht um euer Leben und darum,
dass ihr etwas zu essen habt, noch um
euren Leib und darum, dass ihr etwas
anzuziehen habt. Ist nicht das Leben
wichtiger als die Nahrung und der Leib
wichtiger als die Kleidung?
Seht
euch die Vögel des Himmels an: Sie säen
nicht, sie ernten nicht und sammeln
keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer
Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel
mehr wert als sie?
Wer
von euch kann mit all seiner Sorge sein
Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne
verlängern? ...
Sorgt
euch also nicht um morgen; denn der
morgige Tag wird für sich selbst sorgen.
Jeder Tag hat genug eigene Plage.“ (Matthäus,
Kapitel 6, Vers 25 bis 27 und 34)
Ich
will Ihnen nicht sagen, was Sie über
die bekannte Bibelstelle zu denken haben.
Vielleicht lassen Sie diese einfach
auf sich wirken. Vielmehr möchte ich
mit meinem Vortrag fortfahren, indem
ich Ihnen eine Geschichte erzähle.
1.
Anita B.
Anita
B. ist Erzieherin, berufs- und lebenserfahren.
Der heutige Tag war recht anstrengend:
nach dem Vor- und Nachmittag mit den
Kindern in der Gruppe eine kurze Verschnaufpause
und dann noch der Elternabend, der sich
länger als gedacht hinzog, weil ein
Elternpaar das Gespräch über seinen
Filius suchte. Jetzt ist es bald 23.00
Uhr, Anita B. schaltet sich durch die
Fernsehprogramme - auf der Suche nach
einem seichten Film, der sie zum Eindösen
bringen soll: Tagesthemen, hektisch
laute Musik, Filmszenen, die Schwermut
ausdrücken, schießende Cowboys, die
Ansagerin einer Diskussion. Anita B.
hört von ihr nur noch dessen Thema:
„Was brauchen berufstätige Erwachsene
von heute, um für ihr Leben als Rentner
vorbereitet zu sein?“.
Anita
B. ist nicht nach Diskussion: Sie will
weiter schalten, doch als sie das erste
Bild aus dem Studio sieht, muss sie
lächeln: eine Runde von Greisinnen und
Greisen. Sie schaltet wieder zurück.
Der kritische Kulturphilosoph, ein Herr
mit langem grauen Bart und fehlendem
Kopfhaar, erklärt, dass das Leben für
die Rentner von morgen noch gefährlicher
würde - und weil er schon etwas senil
ist, fallen ihm nur noch vier seiner
vorgesehenen sieben Punkte ein. Der
Erwachsene solle schon heute seine kritische
Distanz zu der Gesellschaft von morgen
schärfen. Der Seniorenbeauftragte der
gerade gewählten Regierungspartei -
elegant gekleidet, aber der locker sitzende
Kragen an dem faltigen Hals verrät sein
Alter - widerspricht: Es würde alles
besser, und der zukünftige Rentner können
sich schon darauf freuen, dass zu späterem
Zeitpunkt die jetzt ins Auge gefassten
Reformen griffen. Dem widerspricht die
Oppositionsvertreterin heftig, doch
bevor alles in ein unnutzes Parteiengezänk
ausartet, greift der Moderator ein und
übergibt das Wort dem Gerontologen.
Dieser differenziert in: 1. die psychische,
2. die soziale, 3. die politische bis
13. in die anthropologische Dimension.
Sein Beitrag ist geschliffen und ehrfurchterregend,
aber auch langweilig. Farbe bringt die
Leiterin einer Selbsthilfegruppe „Selbstbestimmt
ins Rentneralter“ in die Diskussion
hinein. Ihre Thesen sind provokant und
die Lebendigkeit ihres Vortrags überzeugt.
Es folgt ein Rentenexperte, der eine
Schautafel mitgebracht hat, die eindrucksvoll
demonstriert, dass der zukünftige Rentner
mit finanziellen Einbußen in beträchtlicher
Höhe rechnen muss.
Die
Diskussion läuft weiter, doch Anita
B. ist kurz vor dem Einschlafen. Sie
hat gelernt: Die Zukunft ist schwer.
Man muss Angst vor ihr haben. Und: sie
wird jetzt viel lernen müssen, um eine
gute Rentnerin zu werden. Anita B. ist
sorgenvoll, aber ihr Schlafbedürfnis
überwiegt. Der Fernseher läuft weiter,
doch sie träumt schon. Sie sieht sich
auf der Schulbank: Mathematik für Vorrentner,
damit sie auch in Zukunft mit Geld umgehen
können, Einführung in die Technik von
morgen, Ernährung durch den richtigen
Mix an Pillen. Im Sportunterricht gibt
es Übungen unter dem Motto: „So weit
die Füße tragen“, und der Psychologe
hält einen Vortrag: „Wie besiege ich
meinen Alzheimer“ - inklusive praktischer
Übungen. Anita B. hat damit Schwierigkeiten:
Sie hat noch keinen Alzheimer, wie soll
sie ihn da besiegen? Der Psychologe
steht vor ihr, mit einem unverständlichen
Wortschwall überfällt er sie. Anita
B. hat das Gefühl, er dringe in sie
ein. Sie ist nichts mehr, Herr Alzheimer
alles.
Schweißgebadet
wacht Anita B. auf. Ihr Mann ist gerade
nach Hause gekommen. Sie drückt sich
feste an ihn und freut sich über seine
Zärtlichkeiten.
2.
Leben in der Gegenwart
Dies
war meine einleitende Geschichte, die
in unser heutiges Thema einführen soll.
Nicht viel mehr will ich sagen als:
Ein Kind ist ein Kind, nicht ein Vorschulkind,
nicht ein Vorberufsausbildungsjugendlicher,
nicht ein Vorerwerbstätigkeitsheranwachsender.
Unser Erwachsenenalter als Vorrentnerdasein
zu betrachten ist komisch, aber genau
dies tun wir, wenn wir im Hinblick auf
die Kinder die Zukunft zu sehr in den
Vordergrund stellen.
Die
Frage nach dem Leben in der Gegenwart
hat viele Aspekte. In der Bibelstelle
ist von der „Plage“ die Rede gewesen,
die jeder Tag in hinreichendem Maße
bringe, und vielleicht lässt sich die
Berechtigung dieser Aussage desto weniger
bezweifeln, je älter man wird. Doch
wir befinden uns mit den kleinen Kindern
in einer anderen Situation. Weniger
die „Plage“ denn die Befreiung steht
im Vordergrund. Kinder wollen lachen,
herumrennen, übermütig sein, und selbst
ihre Tränen verschwinden schnell, wenn
sie Sicherheit und Geborgenheit spüren.
Der Tag hält so viele Überraschungen
bereit, auf die man sich freut, und
selbst in schwierigen Situationen hält
der kleine Kopf nach Möglichkeiten Ausschau,
die Freudiges versprechen. Betrachten
Sie ein Kind, das vielleicht aus einer
Obdachlosensiedlung oder sonstigen problematischen
Familiensituationen in Ihren Kindergarten
kommt. Wenn Sie sich vorstellen, Sie
selbst müssten dort leben, dann würden
Sie vielleicht verzweifeln, Sie könnten
den Schmutz nicht aushalten, hätten
Angst vor der Gewalt. Aber das Kind
aus diesen Verhältnissen kommt zu Ihnen
in die Einrichtung, die so ganz anders
ist, lacht Sie an, nimmt Sie in den
Arm, sucht seinen Freund. Das Kind hat
einen Schutz um sich herum, der ihm
hilft, optimistisch in den Tag und auf
die Welt zugehen zu können.
Diese
Schutzschicht wirkt nicht immer, sie
wird angekratzt von vielen kleinen und
größeren Enttäuschungen, sie wird beschädigt,
wenn der Erwachsene die Fröhlichkeit
zurückweist, wenn das Lachen auf teilnahmslosen
oder griesgrämigen Blick trifft. Mir
scheint dies eine wichtige Teilantwort
auf die uns heute gestellte Frage zu
sein: Kinder benötigen eine Stärkung
ihres Optimismus, sie müssen bekräftigt
werden in ihrem Vertrauen, dass die
Welt gut und schön ist, dass es sich
lohnt zu leben. Kinder bedürfen deshalb
Erzieherinnen, die spontan sind, die
Quatsch machen können, die sich die
Fähigkeit zu lachen bewahrt haben. Ich
meine, dass zu den wichtigsten Qualifikationen
der Erzieherin gehört: ein Kind liebevoll
anlächeln zu können, dazu in der Lage
zu sein, sich zu ihm herunterzubeugen,
es zärtlich zu streicheln und fest im
Arm zu halten. Bei all den Debatten
um Qualitätssicherung, Bildungsziele
und Bedeutung der Elementarerziehung
für die weitere Entwicklung werden diese
zentralen Notwendigkeiten leicht übersehen.
Ich
möchte Sie noch auf einen anderen Punkt
zu der Überschrift „Leben in der Gegenwart“
aufmerksam machen. Sie haben es mit
kleinen Kindern zu tun, und dies bedeutet,
dass die Kindes vieles noch nicht können,
ja noch mehr, dass sie Fehler machen.
In der Pädagogik ist man häufig darum
bemüht, den Fehler auszumerzen und die
Unkenntnis zu beseitigen. Es erzeugt
aber eine schizophrene Situation, wenn
man die fehlende Kompetenz als ein Problem
und nicht als Notwendigkeit betrachtet.
Denn Kinder, die bei den Fragen des
Lehrers keine falsche Antwort geben,
müssten nicht mehr lernen und bedürften
deshalb des Lehrers nicht mehr. Dies
lässt sich auch auf den Kindergarten
übertragen: Wenn die Kinder all dies
könnten, was sie hier lernen sollen
oder wenn ihnen all dies auf das erste
Wort einleuchten würde, dann wäre der
Kindergarten für sie überflüssig und
Sie als Erzieherin wären arbeitslos.
Dass
ein Kind etwas nicht kann, dass es viele
Fehler macht bei dem, was es lernen
soll, stellt also kein Problem, kleine
erhöhte Schwierigkeit der Erzieherin
dar, sondern ist eine Notwendigkeit.
Stellen Sie sich dies bitte bis ins
Konkrete hinein vor: Die Jungen müssen
den Toilettenrand vollpinkeln, denn
es ist für sie als zukünftige Männer
wichtig, ihr Geschäft im Stehen verrichten
zu können. Jetzt aber müssen sie mit
den vielfältigen Schwierigkeiten fertig
werden, und dies heißt: Fehler machen.
Dies gilt auch für die kleineren Kinder,
die jetzt verstärkt in den Kindergarten
kommen und die noch nicht der Pampers
entwöhnt sind. Dies ist kein Problem,
und der Kindergarten sollte sich hüten,
„Sauberkeit“ als Eingangsvoraussetzung
zu fordern. Das Kind muss lernen, selbständig
zur Toilette gehen zu können, aber dies
heißt auch: gegenwärtig wird die Hose
des öfteren nass sein.
Es
ist eine schwierige Qualifikation der
Erzieherinnenarbeit, Unkenntnis und
Fehler in Bereichen, die uns selbstverständlich
von der Hand gehen, auszuhalten. Wie
oft sagt man: „Ich habe euch doch schon
hundertmal gesagt ...“, oder: „Ich hab
dir doch schon so oft gezeigt...“. Es
ist verständlich, dass man aus der Haut
zu fahren geneigt ist, doch es hilft
nichts, man muss es zweihundert mal
sagen und zeigen. Geduld zu erlernen,
ist ein wichtiges Ziel in der Pädagogik,
und ich meine nicht die Geduld der Kinder,
sondern die der Erzieherin.
3.
Die kleine, nicht die große Welt
Vielleicht
wundern Sie sich über meine Beispiele,
die so in alltägliche Selbstverständlichkeiten
hineingehen, wo doch die große Welt
von morgen mein Thema sein soll. Aber
das ist es, was ich Ihnen sagen möchte:
Wir werden in der Zukunft keinen Krieg
weniger erleiden müssen, wenn heute
„Friedenserziehung“ auf dem Stundenplan
des Kindergartens steht; es wird morgen
keinen Kriminellen weniger geben, wenn
wir heute ein Anti-Gewalt-Training anbieten,
und die Prostitution wird nicht abnehmen,
wenn wir Sexualaufklärung und selbstbestimmtes
Verhalten von Mädchen betreiben. Und
ich glaube noch nicht einmal, dass die
Zahl neurotischer Erkrankungen in späteren
Tagen reduziert würde, wenn wir heute
eine Erziehung nach allen Kenntnissen
der psychologischen und psychoanalytischen
Forschung entwickelten. Die Welt ist,
wie sie ist. Sie hat ihre schönen, aber
auch ihre Schattenseiten. Es wird Kriminalität
und Prostitution in der Zukunft geben,
und einige der Kinder, die jetzt in
Ihrem Kindergarten sind, werden davon
betroffen sein. Sie können sich ein
Bein ausreißen, sie mögen dies mit aller
Gewalt nicht wollen, aber es wird so
sein - auch wenn wir nicht voraussagen
können, wen die Nieten in der großen
Gesellschaftslotterie treffen werden.
Die
Welt der Kinder ist nicht die große
Gesellschaft - wenngleich sich nicht
bestreiten lässt, dass deren Lebenschancen
entscheidend von ihr geprägt werden.
Kinder, deren Väter der Krieg tötet,
Kinder, die Hunger leiden, Kinder, die
Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektive
ihrer Eltern erleben - alles, was die
große Erwachsenenwelt an Chancen und
Gefahren bereithält, wirkt unmittelbar
auf die Situation der Kinder. Nur: das
Kind erfährt dies in der Rolle des Opfers.
Es weiß nichts von den ungeklärten Nationalitätenkonflikten
im ehemaligen Jugoslawien, nichts von
der Ausbeutung der ärmeren Staaten durch
die reichen, nichts von den fehlenden
Steuerungsmöglichkeiten in kapitalistischen
Gesellschaften. Wenn wir daran etwas
ändern wollen - an Krieg, Ausbeutung
und Arbeitslosigkeit - dann sollten
wir unsere Erwachsenenwelt in Ordnung
bringen.
Die
Welt des Kindes ist die kleine Welt
der Familie, der Nachbarschaft und des
Kindergartens. Es hat als Säugling die
Mutter und dann den Vater kennergelernt,
sich in die Welt der Verwandten und
Freunde eingefunden. Das kleine Kind
hat erste Schritte in die Nachbarschaft
gemacht - der Kaufmann, die Sparkasse,
der Spielplatz. Jetzt kommt es zu Ihnen
in den Kindergarten, eine völlig neue
Gesellschaft, auf die es sich freut
und die ihm Angst macht.
Das
Weltbild des Kindes ist zweigeteilt:
Es gibt die Realität der Phantasie,
die alle zeitlichen und räumlichen Begrenzungen
sprengt, und es gibt die empirische
Welt, die nicht weiter reicht, als die
Füße das Kind tragen. Erfährt es etwas
von der weiteren Gesellschaft, von den
Problemen, die die Großen mit sich herumtragen,
dann kann es dies nicht verstehen, sondern
es hat nur die Möglichkeit, sie in eine
seiner beiden Welten einzuordnen: die
der Phantasie oder die des Nahen und
Vertrauten.
4.
Drei kurze Geschichten
Ich
will Ihnen hierzu eine Geschichte aus
meiner eigenen Kindheit erzählen. Als
ich klein war, hieß der erste Bundespräsident
Theodor Heuss. Ich weiß nicht warum,
aber es gab eine Zeit, da war sein Name
in aller Munde. Sein Bild wurde noch
nicht durch das Fernsehen in meine Kinderstube
übertragen, aber im Radio hörte ich
seinen Namen. Und die Großen sagten:
„Heuss hat das gesagt oder jenes getan!“
Heuss war für mich also ein bedeutender
Mann. Nun wollte es der Zufall, dass
der damalige Chefarzt unseres örtlichen
Krankenhauses auch Heuss hieß, und ein
Chefarzt ist auch ein bedeutender Mann.
Wenn im Radio also der Name „Heuss“
fiel, wusste ich genau, wer gemeint
war. Der Arzt, den ich kannte, war so
berühmt, dass er im Radio genannt wurde,
und was noch wichtiger war: Mein Vater
war mit diesem Heuss befreundet. Dies
gab meinem Vater in meinen Augen eine
noch größere Bedeutung, und ein wenig
konnte ich glauben, durch meine Familie
selbst an der Wichtigkeit und Berühmtheit
zu partizipieren. Ich war verbunden
mit der weiten Welt, die aus dem Radioapparat
kam.
Ich
möchte Ihnen noch eine weitere Geschichte
erzählen, die von einem sechsjährigen
Jungen handelt. Er kauft mit seiner
Mutter regelmäßig in einem Geschäft
ein, an dessen Kasse „Willi“ sitzt.
Willi ist ein etwas zurückhaltender,
freundlicher Mann, der seinen Job verrichtet.
Der Junge bekommt bei jedem Einkauf
einen Lutscher von ihm. Das macht ihn
sympathisch, denn kleine Kinder sind
nicht weniger korrupt als wir Erwachsenen.
Was aber noch wichtiger ist: Willi ist
Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr.
Dies gibt ihm eine ungeheure Autorität.
Der Junge, der ihn immer nur im weißen
Kittel sieht, wird ihn sich in der Uniform
vorstellen, er ist es, der das Tatütata
auslöst, mit riesigem Schlauch auf einer
hohen Leiter steht, Wasser spritzt und
das beängstigende und faszinierende
Feuer beherrscht. Willi ist für den
Jungen jemand, so wie es für mich der
Bundespräsiden-Arzt Heuss war. Sehr
konkret und doch so bedeutend, dass
er nur mit der Macht der Phantasie erfasst
werden kann. Wenn man als Erwachsener
den kundenfreundlichen Willi hinter
seiner Kasse sieht, so kann man sich
nicht vorstellen, dass er jemals bei
einem wirklichen Brand auf der Leiter
zum Einsatz kam. Man denkt eher an die
feucht-fröhlichen Feuerwehrfeste, und
vielleicht durfte er auch schon einmal
eine Straße absperren, als die richtige
Feuerwehr tätig wurde.
Ich
erzähle Ihnen dies alles, um Sie hinzulenken
auf die kindliche Realität. Sie mögen
didaktische Einheit zu den großen Problemen
der Umwelterziehung, Einen Welt und
Geschlechtsrollenbeziehung durchführen
oder zu den Realitäten von Krankenhaus,
Bäckerei und Post - dies ist weder verwerflich
noch unnütz. Doch erwarten Sie nicht,
dass der Kopf des Kindes dadurch auf
die Lösung der Probleme der Welt von
morgen vorbereitet wird. Was Sie in
didaktischer Absicht auch immer tun,
das Kind wird es einordnen in seine
Welt, und das ist die der Phantasie
einerseits und die von Mama und Papa,
Oma und Opa andererseits.
Dies
ist der Grund, warum ich der Arbeit
mit didaktischen Einheiten im Kindergarten
weniger Bedeutung zumesse. Wichtiger
erscheint mir die Aufgabe, alles dafür
zu tun, dass die Welt der Familie und
des Kindergartens für das Kind in Ordnung
ist, dass es sich geliebt fühlt, dass
es Heimat erwerben kann. Wenn das Kind
mit sechs Jahren den Kindergarten verlässt,
wird es vielleicht noch 70 oder 80 Jahre
Leben vor sich haben. Dies sind - Schaltjahre
nicht mit eingerechnet - 29.200 Tage,
die „genug eigene Pein“ haben werden.
Vielleicht wird es in drei Ehen scheitern,
vielleicht wird es Alkoholiker werden
oder ein Bein verlieren. Vielleicht
wird es als Sozialhilfeempfänger am
unteren Rand des Existenzminimums leben,
vielleicht macht es aber auch den großen
Gewinn im Lotto. Vielleicht. Was auch
immer das Kind treffen wird, die beste
Vorbereitung auf das Morgen ist es,
wenn es in den empfindlichen Jahren
der frühen Kindheit einen Überschuss
an Selbstvertrauen, Optimismus und Lachen
erworben hat.
Ich
erzähle Ihnen dazu eine weitere Geschichte.
Vor einiger Zeit saß ich an einem Abend
in der gemeinsamen Runde einer Familienfreizeit.
Die Erzieherin spielte zum Abschluss
auf ihrer Gitarre einige Abendlieder
und forderte die Anwesenden zum Mitsingen
auf. Einige der Eltern kamen aus sehr
traurigen Verhältnissen, doch gerade
diese sangen die bekannten Volkslieder
mit tiefer Inbrunst und strahlendem
Lächeln im Gesicht. Dies war ein Stück
erinnerter Kinderheimat, und die Probleme
von Alkoholismus und Obdachlosigkeit
ließen sich für einen Moment vergessen.
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche gefühlsmäßige
Rührung und Sentimentalität stärker
war; meine, bei der Beobachtung dieser
Szene, oder die der betroffenen Männer.
5.
Zukunft und Gegenwart
Ein
Kindergartenkind lebt ganz in seiner
Gegenwart und in seiner unmittelbaren
Umgebung. Dies habe ich bisher zu sagen
versucht. Doch dies ist nur die halbe
Wahrheit. Die andere lautet: In der
Pädagogik sind Gegenwart und Zukunft
auf bestimmte Art und Weise verknüpft.
Um diesen Punkt zu erläutern, greife
ich auf den Text eines Pädagogen aus
dem 19. Jahrhundert zurück. Friedrich
Schleiermacher, ein Theologe, der sich
auch mit pädagogischen Fragen auseinandergesetzt
hat, versucht in seiner Theorie, die
immer wieder aktuellen Fragen der Erziehung
auf allgemeine Art zu bestimmen. Eine
davon ist die nach dem Verhältnis von
Gegenwart und Zukunft.
Gemeinhin
versteht man unter der pädagogischen
Tätigkeit: die Kinder dazu anzuhalten,
etwas für ihre Zukunft Wichtiges zu
lernen. Den Schülern passt dies oft
nicht, warum sollen sie sich mit dem
ABC quälen, die Hauptstädte der europäischen
Staaten auswendig lernen oder sich in
die Integralrechnung einarbeiten, wo
es doch so viel zu spielen gäbe und
wo außerhalb der Schulstube die Abenteuer
des wirklichen Lebens warten. Wird der
Widerstand der Kinder stärker, mag der
Lehrer sich in die Enge gedrängt fühlen
und zu dem Spruch Zuflucht nehmen, der
den meisten von Ihnen wahrscheinlich
auch noch im Kopf ist: „Später wirst
du mir dafür dankbar sein!“ Das Kind
bedarf auch der Erholung und der Ferien,
aber ein Teil seines Lebens steht unter
dem Vorzeichen: „Jetzt musst du deine
augenblicklichen Bedürfnisse zurückstellen,
um etwas zu lernen, was du für deine
Zukunft wirst brauchen können!“ Die
pädagogisch wichtigen Tätigkeiten beziehen
sich auf den letzten Aspekt, während
die Pausen und Entspannungen der Medien-
und Spielzeugindustrie überlassen bleiben.
Friedrich
Schleiermacher sagt: Diese gängige Argumentation
ist sowohl falsch als auch richtig.
Die Pädagogik ist auf die Zukunft des
Kindes gerichtet, und die Kindheit ist
eine Zeit der Vorbereitung, damit es
mündig wird, um selbstbestimmt handeln
zu können. Würde die Erzieherin sagen:
„Ich versuche alles, den Kindern einen
schönen Tag zu machen, sie im Hier-und-Jetzt
leben zu lassen!“, dann würde sie pädagogisch
nicht korrekt handeln, weil sie sich
der Verantwortung für das morgige Leben
entzöge.
Dies
ist aber nur die eine Seite. Denn Friedrich
Schleiermacher sagt auch, es sei mit
der Würde des menschlichen Lebens unverantwortlich,
für einen zukünftigen Lebensabschnitt
die Gegenwart aufzuopfern. Man weiß
ja gar nicht, ob dieser morgige Tag
überhaupt mit den Anforderungen eintrifft,
auf die man vorbereitet wurde, so dass
man vielleicht unnütz gequält wurde.
Und außerdem gilt generell: Jeder Tag
im Leben eines Menschen ist gleich wichtig,
es gibt nicht das ausschlaggebende Erwachsenensein
und die unbedeutendere Kindheit, sondern
die Gegenwart hat in jedem Lebensabschnitt
ihren Sinn in sich selbst.
So
stehen wir also vor einem unauflösbaren
Widerspruch: Wir können nicht den Gedanken
an die Zukunft der Kinder aufgeben und
sie nur im Hier-und-Jetzt glücklich
leben lassen; wir können aber auch den
Kindern nicht auf Grund einer ungewissen
Zukunft Einschränkungen in ihrer Gegenwart
auferlegen. Dieser Widerspruch gilt
generell in der pädagogischen Beziehung,
so dass sich auch nicht pragmatisch
argumentieren ließe: „Ein paar Stunden
am Tag können wir ihre Gegenwart zurückstellen,
damit sie auf die Welt von morgen vorbereitet
werden; es bleibt ja noch genügend Zeit
zu spaßreicher Erholung!“
Friedrich
Schleiermacher findet einen interessanten
Ausgang aus diesem Dilemma. Er sagt
für das ältere Kind, dass es durchaus
in der Lage sei, seine Zukunft selbst
zu wünschen und sich zu ihrer Erreichung
freiwillig Einschränkungen aufzuerlegen.
Wenn Sie eine Tochter haben, die gerne
Geige spielen lernen möchte, so kann
sie selbst entscheiden, zur Realisierung
dieses Zieles augenblickliche Stunden
zu opfern. Und bis nicht mehr nur quietschende
Töne aus dem Instrument kommen und noch
mehr, bis ihre Tochter in einem Orchester
mitspielen kann, bedarf sie vieler Übungsstunden.
Ein solcher Kompromiss gilt für das
kleine Kind - und mit diesem haben Sie
es ja mehrheitlich in Ihrer Praxis zu
tun - allerdings nicht. „Zeit“ ist für
es noch kein Begriff und so kann es
nicht selbstbestimmt sagen: „Um ein
guter Schüler zu werden, muss ich mich
heute der Mühen des Vorschulprogramms
unterwerfen!“ Ein Kindergartenkind lebt
jetzt, und Zukunft ist der nächste Geburtstag,
weil man dann schon zu den Großen gehört.
Für
das Kindergartenkind kommt Friedrich
Schleiermacher deshalb zu einer anderen
Lösung, die für eine Konzeption des
Kindergartens sehr interessant ist.
Er sagt nämlich, dass im Spiel des Kindes
die Momente von Gegenwart und Zukunft
miteinander vereint sind. Das Kind spielt
Raum und Zeit vergessend und ganz in
sich selbst versunken, es will nicht
ein zukünftiges Ziel erreichen, sondern
der Inspiration des gegenwärtigen Einfalls
folgen. Doch indem es dies tut, übt
es gleichzeitig seine sprachlichen,
kognitiven und emotionalen Kompetenzen.
Um
dies nicht mitzuverstehen: Gemeint ist
nicht das didaktische Spiel, bei dem
der erzieherischen Absicht mehr oder
weniger durchsichtig ein spielerisches
Mäntelchen umgehängt wird. Die sogenannten
Lernspiele sind Etikettenschwindel,
sie haben mit kindlichem Spiel nichts
zu tun. Wichtig ist vielmehr das freie,
selbstbestimmte Tun des Kindes. Deswegen
betone ich in meiner kindzentrierten
Position der Kindergartenarbeit die
zentrale Bedeutung des Spiels im Sinne
der Eigenaktivität der Kinder und sehe
es als die zentrale Aufgabe der Erzieherin
im Kindergarten an, die geeigneten Mittel
der Spielförderung zur Verfügung zu
stellen: viel Zeit, eine bunte Fülle
von Material, großzügigen und frei zugänglichen
Raum und vor allem sich - die Erzieherin
- selbst. (Sigurd Hebenstreit, Kindzentrierte
Kindergartenarbeit, Freiburg 19974)
Ich
schließe damit meinen recht langen Exkurs,
der vielleicht etwas ermüdend gewirkt
hat. Doch ich habe ihn gebraucht, um
im Vergleich zu meinen anfänglichen
Ausführungen eine Gegenthese begründen
zu können. Wir können uns nicht aus
unserer erzieherischen Verantwortung
herausschleichen und nur sehen, wie
wir den jetzigen Tag einigermaßen unbeschadet
über die Runden bekommen. Wenn wir Erzieher
sind, haben wir es immer auch mit der
Zukunft unserer Kinder zu tun. Wir helfen
ihrem Leben heute, damit sie morgen
als selbstbewusste Menschen ihre Aufgaben
angehen können, damit sie mittätig werden,
eine Welt von Friede und Gerechtigkeit
zu gestalten, und damit sie in Würde
werden leben können, selbst wenn sie
Kriminelle oder Prostituierte werden.
Ich
habe die letzten beiden Beispiele schon
einmal gebraucht, und sie wirken vielleicht
provozierend. Ich will mit ihnen andeuten:
Wenn wir an die Welt von morgen denken,
so müssen unsere Kinder auf die Verhältnisse
vorbereitet sein, in denen sie faktisch
leben werden. Dies ist nicht für alle
das behütete Mittelschichtmilieu, sondern
es sind manchmal Lebensbedingungen,
die für uns schwer vorstellbar sind.
Aber auch auf diese gilt es pädagogisch
so vorzubereiten, dass ein Leben in
Würde und Selbstbestimmung möglich ist.
Vielleicht werden wir noch Gelegenheit
haben, auf dieses Thema zurückzukommen.
Ich möchte Ihnen zum Abschluss dieses
Abschnittes ein Zitat von Janusz Korczak
vortragen: „Schließlich,
wenn das Leben Krallen erfordert, haben
wir dann das Recht, die Kinder nur mit
Schamröte und leisem Seufzer auszurüsten?
Deine Pflicht ist es, Menschen großzuziehen,
nicht Schäfchen, und Arbeiter, keine
Prediger, sondern physisch und moralisch
gesunde Menschen. Und Gesundheit ist
weder zart besaitet noch opferwillig.“
(Janusz Korczak, Das Internat, in: Wie
man ein Kind lieben soll, Göttingen
19723, S. 206)
6.
Ein Kind ist ein Mensch auf seinem Entwicklungsweg
Ich
habe meinen Vortrag damit begonnen,
den heutigen Tag des Kindes herauszuheben,
bevor ich Ihnen gerade darzulegen versuchte,
dass in der Erziehung Gegenwart und
Zukunft auf bestimmte Weise miteinander
verschränkt sind. Jetzt gilt es, den
Blick wieder auf das Kind zurückzulenken.
Sicherlich, Kinder sind zufrieden, wenn
sie mit einer Tüte Chips auf dem Schoß
und einer Flasche Cola neben sich vor
dem Fernseher sitzen und gebannt der
Flut der bunten Bilder folgen. Doch
es gibt bei ihnen auch einen Sättigungsgrad
in der Befriedigung dieser aktuellen
Bedürfnisse. Es ist bei ihnen wie bei
uns Erwachsenen: Wir erfreuen uns an
der Flasche Wein am Abend und genießen
den Kinobesuch. Doch wenn dies alles
wäre, dann würden wir unser Leben als
sehr langweilig erleben. Vielleicht
haben Sie die aktuelle Werbung für die
Deutsche Fernsehlotterie gesehen: Der
fettleibige Gewinner des großen Preises
wird im Swimmingpool gezeigt, er schlürft
seinen Drink. Oder er liegt unter Palmen
in der Sonne und hat nichtstuend - sieht
man von der Umdrehung von der rechten
auf die linke Seite ab - Tag und Monat
vergessen. Zu den gelangweilten Bildern
sagt eine unsympathische Stimme: „Es
macht Spaß, Millionär zu sein!“ Ich
weiß nicht, wie Ihre Vorstellung vom
Paradies aussieht, doch auf mich wirkt
der Werbespot eher wie die Hölle: nie
vergehende Zeit und unerträgliche Langeweile.
Wir Erwachsenen brauchen unsere Aufgabe:
Herausforderungen, die unsere Tage sinnvoll
ausfüllen und strukturieren. Wenn wir
zu viel Hektik haben, dann freuen wir
uns auf den Urlaub, das Nichtstun in
der Freizeit. Doch die Verbannung zu
immerwährender Untätigkeit ist Strafe.
Beim
Kind ist dies ähnlich. Es hat seine
Aufgabe, die es aus eigener Motivation
und mit all seiner Kraft angeht. Es
braucht seine Erholungspausen, aber
diese sind kürzer als bei uns, denn
seine Herausforderungen sind viel größer
als die unsrigen. Sie sind Erzieherin
in einem Kindergarten, vielleicht Leiterin
einer Gruppe. Sie können diese Tätigkeit
bis zu ihrer Rente weiterführen oder
überlegen, auf eine andere Stelle zu
wechseln, um vielleicht Leiterin einer
größeren Einrichtung zu werden. Sie
mögen sich entschließen, ein Studium
aufzunehmen oder eine ganz andere Ausbildung
zu beginnen. Was Sie auch tun, Ihre
Veränderungen innerhalb von sechs Jahren
werden im Vergleich zu der Entwicklung,
die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren
macht, klein sein.
Ein
Kind ist ein Mensch, der sich vor der
Aufgabe seiner eigenen Entwicklung sieht.
Innerhalb einer kurzen Zeit wird aus
dem hilflosen, in völligem Unbewussten
lebenden und nur seine Reflexe anwendenden
Säugling ein handlungsfähiger Mensch,
der in früheren Zeiten bereits als voll
in das gesellschaftliche Leben integriert
angesehen wurde. Mit Selbstverständlichkeit
bedienen Kindergartenkinder heute technische
Apparate, vor denen erwachsene Menschen
vor 100 oder sogar 50 Jahren noch hilflos
gestanden hätten. Das kleine Kind hat
eine immense Aufgabe: Aus seinen vielfältigen
Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind,
baut es mit Hilfe der Umgebung eine
Persönlichkeit auf, die ihre unverwechselbare
Individualität hat.
Das
Kind weiß nichts von seiner Aufgabe.
Es sagt sich nicht: „Ich will dies oder
jenes lernen, um meine einzigartige
Persönlichkeit zu entwickeln!“ Es weiß
dies nicht, aber es tut dies mit einer
unglaublich starken Willenskraft. Beobachten
Sie ein knapp einjähriges Kind, das
dabei ist, stehen und laufen zu lernen.
Es will sich am Tischbein hochziehen,
fällt auf seinen Popo. Doch der Misserfolg
kann es nicht davon abhalten, es nochmals
zu versuchen - und wieder und wieder.
Jetzt erreicht es die Tischplatte und
versucht, sich an ihr entlangzuhangeln.
Aber dies ist schwierig: die Händchen
sind oben in der Luft, die Augen haben
den braunen Balken des Tischgestells
im Blick, und unten müssen die Füßchen
aufpassen, sich nicht zu verknoten.
Natürlich, die ersten Versuche bringen
es bald wieder auf den Boden der Tatsachen
zurück. Die Füßchen stellen sich zu
oft selbst ein Bein. Aber es lässt nicht
locker. Immer wieder ein neuer Versuch,
bis es klappt, wenn auch mit zitternden
Knien. Und dann gibt es kein Aufhalten
mehr: Alles Senkrechte dient als Mittel,
um sich hochzuziehen, alles Wagerechte
als Stütze zum Laufen. Sie können kein
Motivations- und Trainingsprogramm entwickeln,
das so wirksam wäre wie die Eigenmotivation
des Kindes, seinen Entwicklungsgang
zu gehen.
In
der Pädagogik wird das Kind manchmal
als jemand gesehen, der von Erwachsenen
motiviert werden muss, um bereit zu
sein, häppchenweise die große Welt in
sich aufzunehmen. Der Erzieher bestimmt
die Ziele, und er muss das Kind aufschließen,
damit es sich für den geplanten Inhalt
öffnet. Doch diese Denkfigur geht an
der Realität vorbei:
· Das
Kind muss nicht motiviert werden, es
ist von sich aus motiviert;
· es
muss nicht aufgeschlossen werden, sondern
es ist von sich aus offen;
· ihm
müssen keine Ziele gesetzt werden, sondern
es hat die Ziele in sich selbst.
Johann
Heinrich Pestalozzi hat diesen Gedanken
in einem schönen Bild ausgedrückt. Er
sagt, dass die Erziehung nicht „führen“
könne, sondern nur „aufladen auf einen
Wagen, der von sich selbst geht“. (Sigurd
Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi
- Leben und Schriften, Freiburg 1996,
S. 116)
7.
Ein Kind ist ein aufmerksamer Beobachter
seiner Umwelt
Jedes
Kind will sich entwickeln, und es hat
in sich einen Bauplan, der es zu dem
hintreibt, was seine einmalige Persönlichkeit
ausmacht. Die Erziehung schafft nicht
das Kind, sondern sie ist Unterstützung
für die Selbstwerdung des Kindes. Dies
ist der Kern des reformpädagogischen
Denkens. Damit ein Kind seine Individualität
gestalten kann, ist es auf die Umwelt
angewiesen, denn dieser Prozess besteht
nicht in einer im pädagogischen Schonraum
von selbst sich entfaltenden Reifung.
Das Kind saugt alles, was um es herum
ist, in sich auf, bewahrt es in seinem
Kopf, seinen Muskeln und seinem Herzen,
und je älter es wird, desto mehr benutzt
es diese Bruchstücke, um Kopf, Muskeln
und Herz ihre bestimmte Form zu geben.
Es
ist eine existentielle Notwendigkeit
des Kindes, dass es in einer lebendigen
Umwelt leben kann, in der insbesondere
die Menschen, die mit ihm in Beziehung
treten, eine Bedeutung haben. Dabei
ist es für das Neugeborene relativ egal,
in welcher Umgebung es groß wird. Sie
können einen Steinzeitneugeborenen in
unsere heutige komplizierte Gesellschaft
versetzen oder umgekehrt einen Säugling
unserer Tage in eine Steinzeitkultur:
Er wird die Fähigkeiten ausprägen, die
für die Gesellschaft, in der er groß
wird, maßgeblich sind. Nur eins können
Sie nicht tun, ohne die Entwicklung
zu beschädigen: dem Kind Umwelt und
Menschen überhaupt vorenthalten.
Das
Ziel der Erziehung ist es, Hilfen zu
geben, damit die Kinder dermaleinst
ihre Eltern und Erzieher in der Verantwortung
für die Zukunftsgestaltung ablösen können.
Individualität müssen sie in dem Rahmen
entwickeln, der in ihrer Zeit vorgegeben
ist. Ein Steinzeiterwachsener in unserer
Gesellschaft wäre nicht überlebensfähig
- ebenso wie umgekehrt wir in dem steinzeitlichen
Alltag bald untergehen würden. Unsere
Persönlichkeit prägen wir nicht jenseits
der konkreten Gesellschaft aus, sondern
nur durch ihre Aufnahme in unsere Person.
Die sozialen Verhältnisse zwingen und
verknechten uns nicht, sondern legen
Bahnen und Möglichkeiten fest, ohne
die wir nicht existieren könnten.
Die
große Gesellschaft kommt nicht dadurch
in den kleinen Kopf, indem sie sich
ihm mit Macht aufpresst, und auch nicht
dadurch, dass die Pädagogik raffinierte
Belehrungsprogramme entwickelt, mit
denen sie das Kindergartenkind auf seinem
Stühlchen und den Schüler in der Schulbank
unterrichtet. Das Aufsaugen und Verarbeiten
der Umgebung ist vielmehr ein höchst
aktiver Prozess des Kindes selbst. Es
hat in sich Werkzeuge, die ihm helfen,
diese große Arbeit zu leisten. Betrachten
Sie den Neugeborenen: Er kann noch nicht
im inhaltlichen Sinne wahrnehmen, aber
so bald er wach ist, hat er seine Augen
geöffnet, um die weite Welt in sich
hineinzulassen. Und schon bald wird
er sein Köpfchen dahin wenden, wo ein
interessantes Schauspiel zu erwarten
ist: der Kontrast von hell und dunkel
zunächst, dann die Bewegungen der hin-
und herschaukelnden Rassel an seinem
Wiegendach und schließlich die Augen
des Menschen.
Dazu
ließe sich noch viel sagen, aber ich
muss langsam zum Schluss kommen und
mache deshalb einen Sprung zu den Kindergartenkindern,
indem ich Ihnen eine kurze Geschichte
erzähle. Der Sechsjährige darf heute
länger als gewohnt aufbleiben, denn
die Eltern erwarten eine Reihe von Gästen
zum Abendessen. Immer wenn es klingelt,
rennt der Junge zur Tür, begrüßt die
Anwesenden und bittet sie herein. Er
scheint ganz in seinem Element zu sein.
Nun ergibt es sich, dass eine der Bebsucherinnen
keine Hände und Arme hat, so dass die
Füße und Beine deren Arbeit mit übernehmen
müssen. Sie ist geübt darin. Der Vater
kann an sich selbst, aber auch an seinen
Miterwachsenen bemerken, wie er verstohlen
und mit Scheu hinüberschielt, um zu
beobachten, wie diese Frau mit den Füßen
ihr Essen meistert. Der Junge ist anders:
Er sitzt auf seinem Stuhl, und mit weit
geöffnetem Mund schaut er die Frau direkt
an. Er ist fasziniert von diesem erstaunlichen
Schauspiel. Entgegen seiner sonstigen
Gewohnheit, die seinen Mund nur selten
stillstehen lässt, ist er ruhig. Man
merkt, wie es in seinem Kopf arbeitet,
bis er schließlich nach einigen Minuten
sagt: „Man ißt nicht mit den Füßen!“
Der Gesprächsfluss der Erwachsenen,
die eifrig bemüht waren, die ungewohnte
Situation zu umgehen, stockt für einen
Moment. Es wird ruhig, vielleicht fragen
sich alle, wie würde ich aus dieser
peinlichen Situation herauskommen. Doch
die angesprochene Frau tut nicht so,
als hätte sich der Einwurf des Jungen
nicht ereignet - er hat es aber auch
wirklich unüberhörbar laut gesagt -,
sie antwortet vielmehr in die entstandene
Stille hinein: „Wenn man keine Hände
hat, muss man mit den Füßen essen!“
Diese Erklärung überzeugt - auch den
Jungen. Er kann jetzt seinen Teller
leer essen.
Ich
möchte Ihnen mit dieser Geschichte heute
nur so viel sagen: Kinder sind aufmerksame
Beobachter ihrer Umwelt. Sie sind daran
interessiert, sie zu verstehen. Wir
brauchen uns also keine Lehrprogramme
auszudenken, um sie mit der Nase auf
die Dinge zu stoßen, von denen wir wollen,
dass sie sie aufnehmen - um dann festzustellen,
dass sie doch die Aspekte auswählen,
die für unsere didaktische Absicht nebensächlich
oder sogar störend waren. Was wir tun
müssen, ist: die Welt und das wirkliche
Leben in unsere pädagogischen Einrichtungen
hineinzulassen. Keine didaktische Einheit
hätte bei dem Jungen den Effekt haben
können, wie sein Erleben in der realen
Situation und die knappen Erklärungen
der Frau. Die Kinder werden auf die
Welt von morgen vorbereitet, wenn wir
das wirkliche Leben in den Kindergarten
einströmen lassen und den Kindern Gelegenheit
verschaffen, in ihrer Weise mit den
Gegebenheiten umzugehen.
8.
„Das Leben bildet“ (Pestalozzi)
Diese
Forderung zu erfüllen ist nicht so einfach,
wie es vielleicht auf den ersten Blick
erscheint. Viel Künstliches hat sich
in der Kindergartenpädagogik ausgebildet,
das nur innerhalb der Mauern der Einrichtung
Bedeutung hat. Dazu zähle ich auch die
Versuche, in denen in didaktischen Verpackungen
- Bilderbuch, Arbeitsblatt, Lerneinheit
- die Außenwelt in den Kindergarten
geholt werden soll. In diesen Ansätzen
verliert man zumeist das, was mir wichtig
erscheint: Selbstverständlichkeit und
Buntheit. Man muss den kleinen Kindern
Gelegenheit geben, das weite Leben auf
sich wirken zu lassen, es in seiner
Gesamtheit zu erfahren, das Kind selbst
auswählen zu lassen, was ihm auffällt
und wichtig wird. Das Kind kann die
Welt nicht begreifen, wenn die Erzieherin
schnell mit wortreichen Erklärungen
zur Hand ist. Nicht quatschen - und
vor allem nicht didaktisch geplant -
soll die Erzieherin, und sie soll das
Kind nicht gezielt mit der Nase auf
einen Gegenstand stoßen.
Um
die Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten,
muss in dem Kindergarten selbst die
Buntheit des Lebens mit Selbstverständlichkeit
präsent sein. In den Zeitungen wurde
vor kurzer Zeit von dem Verweis einer
türkischen Lehrerin von der Schule berichtet,
weil diese nicht bereit war, auf das
Tragen ihres Kopftuches zu verzichten.
Ich finde, damit wurde eine Chance vertan.
Es ist für die Kinder wichtig, dass
sie eine Kollegin erleben können, die
ihre Andersartigkeit mit Selbstverständlichkeit
leben kann. Mehr als ein didaktisches
Arrangement, das interkulturelle Erziehung
oder Friedenspädagogik zum Ziele hat,
beeinflusst die Einbeziehung unterschiedlicher
Kulturen und Religionen die Kinder.
Sie müssen dann als Erzieherin weniger
reden, Exkursionen oder sonst was planen,
sondern können sich auf das verlassen,
was Johann Heinrich Pestalozzi als Bilanz
seiner Pädagogik formuliert hat: „Das
Leben bildet!“
Dies
gilt auch für den Einbezug behinderter
Menschen. Wenn die Kinder die Selbstverständlichkeit
des gemeinsamen Zusammenlebens erfahren,
dann werden sie die Unterschiedlichkeit
menschlicher Existenzweisen betrachten,
ohne Scheu auf sie blicken und handelnd
miteinander umgehen können. Wenn dies
in Ihrem Kindergarten Normalität ist,
werden die Kinder Toleranz als normal
empfinden. Wenn es in Ihrem Kindergarten
aber als bewusste Anstrengung zu einem
menschenwürdigen Ziel vorkommt, dann
werden auch die Kinder es als gezielte
Anstrengung erleben, und die Toleranz
und Integration werden bald zerbrechen.
Noch
ein praktischen Hinweis: „Lesen“ Sie
mit Ihren Kindern im Stuhlkreis die
Zeitung. Die Kinder werden die Bilder
betrachten - auch die vielen unschönen
-, sie werden Ihre Erklärungen hören.
Dadurch soll kein Unterricht in politischer
Bildung gegeben werden, sondern es wird
die Möglichkeit der Auseinandersetzung
mit dem geschaffen, was den Kindern
sonst immer als die geheime Welt der
Großen erscheint.
Ich
erzähle Ihnen hierzu abschließend auch
noch eine Geschichte. Als Mike Tyson
zum ersten Mal Boxweltmeister im Schwergewicht
wurde, habe ich den Kindern meiner Gruppe
den Sportteil der Zeitung gezeigt. Dies
geschah weniger geplant denn zufällig.
Die Kinder betrachteten die Photos,
die wir später an einer Pinnwand aufhängten.
Und ich konnte sehen, dass jetzt des
öfteren insbesondere die Jungen zu dem
Bild gingen. Sie waren fasziniert: Mike
Tyson war so stark, und er hatte solche
Muskeln. Er war stärker als der Papa,
vielleicht als die Papas aller Kinder
zusammen. Und er war schwarz. Er hatte
eine andere Hautfarbe als die Kinder,
aber er war so bedeutsam. Ich glaube,
dieses Bild von Mike Tyson und die Geschichten
über ihn haben mehr bewirkt, als das
Projekt zu „Kindern in der Einen Welt“,
das wir damals auch durchführten. Dieser
„Boxweltmeister aller Klassen“ war so
lebendig, man konnte zu ihm hingehen
und sehen: „Er ist so anders als ich!“,
und man konnte sich wünschen: „So stark
möchte ich auch einmal werden!“
Ich
muss jetzt noch einen Absatz für diejenigen
hinzufügen, die Mike Tyson nicht kennen.
Er wurde später zu mehrjähriger Gefängnisstrafe
verurteilt, weil er eine Frau vergewaltigt
hatte. Nachdem er entlassen wurde, kämpfte
er gegen Evander Holyfield erneut um
die Weltmeisterschaft, und als er merkte,
dass er auf der Verliererstraße war,
biss er seinem Gegner im Ring ein Stück
seines Ohres ab. Gegenwärtig lassen
sich im Internet die psychiatrischen
Gutachten nachlesen, die erstellt wurden,
um die Zurechnungs- und erneute Kampffähigkeit
Mike Tysons zu überprüfen. Ich glaube,
all diese Geschichten hätte ich meinen
Kindern im Kindergarten nicht präsentiert.
Kinder müssen nicht allen Schmutz mitbekommen,
den wir in unserer Erwachsenenwelt so
produzieren. Dies zu erörtern, würde
jetzt ein „weites Feld“ eröffnen. Doch
ich vermute, Ihre Konzentrationskraft
ist erschöpft, und ich bedanke mich
deshalb für Ihr Zuhören.
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