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Sigurd
Hebenstreit
Ein
immer währendes Thema: Erziehung zwischen
Freiheit und Schutz
Es
ist jetzt schon längere Zeit her, dass
ich auf einer Fortbildungsveranstaltung
für Erzieherinnen in einem größeren
Tagungshaus war. Außer uns war noch
eine Gruppe von Mitarbeitern der Gewerbeaufsichtsämter
im Haus. Am Abend lief ein Fußballspiel
im Fernsehen, und so trafen sich die
Männer. Als einziger der Pädagogengruppe
war ich in einer Runde von Gewerbeaufsichtsbeamten.
Das Spiel war langweilig, und so begannen
die ersten beiläufigen Gespräche. Mein
Nachbar und ich, wir stellten uns vor:
Herkunft, Arbeitsgebiet, Thema des Seminars.
Als er merkte, dass ich mit Erzieherinnen
hier war, wurde er hellhörig. Nicht
nur, dass er am Rande auch beruflich
mit ihnen zu tun hatte, sondern auch
weil seine Frau selbst Erzieherin war,
weckte ich sein Interesse. So berichtete
ich über unsere Inhalte: die Konzeptionsentwicklung
in Kindergärten. Er hatte ein Detail
zu diesem Thema beizutragen: Der ungeheure
Lärm, denen die Erzieherinnen in Kindergärten
ausgesetzt seien, beschäftigte ihn.
Sein berufliches Engagement als Aufsichtsbeamter,
der es gewohnt war, unnötige Lärmquellen
im Arbeitsleben aufzuspüren und zu minimieren,
traf mit der persönlichen Betroffenheit
in Liebe zu seiner Frau zusammen. Und
er hatte auch eine Lösungsmöglichkeit
parat: Die Erzieherinnen sollten Ohropax
in die Ohren stopfen, um vor den stärksten
Belästigungen abgeschirmt zu sein. Ich
hatte damals kein Interesse, mich mit
dem offensichtlich absurden Vorschlag
auseinander zusetzen. Dann lieber doch
einem langweiligen Fußballspiel folgen.
Warum
fällt mir diese längst vergessen geglaubte
Szene wieder ein, als ich diesen Artikel
über die pädagogische Zurückweisung
einer übertriebenen, verordneten Gefahrenminimierung
schreiben soll: Vielleicht ist es das
Verallgemeinerbare, das neben dem Skurrilen
in der Begebenheit liegt. Dass der Arbeiter
am Presslufthammer Ohrenschützer trägt,
erscheint vernünftig, denn er wird seine
Arbeit dadurch nicht schlechter verrichten
und gleichzeitig seine Ohren schützen.
Und wenn dieser Arbeiter sich mit seinen
Kollegen verständigen muss oder will,
wird er die Ohrenschützer ablegen, denn
für eine Kommunikation sind sie hinderlich.
Für die Erzieherin ist im Vergleich
zu dem Arbeiter am Presslufthammer charakteristisch,
dass sie ihre Ohren ständig gebrauchen
muss, denn Kommunikation ist zentraler
Bestandteil ihrer Arbeitstätigkeit.
Wenn wir also nach Schutzbestimmungen
fragen, so müssen wir immer die Besonderheiten
des jeweiligen Berufsfeldes im Auge
haben. Ein Zahnarzt mit Bauhandschuhen
wäre ebenso hilflos wie ein Bauarbeiter
mit den Latexhandschuhen, durch die
der Zahnarzt sich vor AIDS schützt.
Doch
was ist die Besonderheit des Berufes
der Erzieherin? Es ist die zentrale
These meiner kindzentrierten Kindergartenarbeit
(Sigurd Hebenstreit: Kindzentrierte
Kindergartenarbeit, Freiburg 19995),
dass es in der Erziehung immer wieder
darum geht, widersprüchliche Ansprüche
miteinander zu vereinbaren. Gegenwart
und Zukunft, Selbstwerdung und kulturelle
Aneignung, Freiheit und Anpassung, Spiel
und Förderung, Passivität und Aktivität
– welchen Aspekt wir auch herausgreifen,
immer wieder zeigen sich im Erziehungsgeschäft
gegensätzliche Pole, von denen jeder
seine Berechtigung hat. Wenn wir über
Erziehung reden, tauchen häufig Formulierungen
wie: „einerseits – andererseits“, „sowohl
– als auch“ auf. Diese Redewendungen
deuten darauf hin, dass Erziehung eine
Tätigkeit ist, in der Widersprüchlichkeiten
miteinander zum Ausgleich gebracht werden
müssen. Dies gilt auch für das hier
in Rede stehende Thema: Die Erzieherin
muss sowohl Gefahren zulassen wie Schutz
gewähren können.
Betrachten
wir die eine Seite. Jede langjährig
im Beruf tätige Erzieherin wird dies
schon einmal erlebt haben: den Schreck,
wenn ein Kind sich die Finger in der
Tür eingequetscht hat, die Sorge, wenn
ein anderes unbestimmt krank erschienen
ist, die Aufregung, wenn sie einem heftig
blutenden Jungen die Wunde am Kopf hat
versorgen müssen, den Ärger, wenn sie
aufgeregten Eltern erklären musste,
wie es passieren konnte, dass die Mädchen
sich heimlich in der Puppenecke gegenseitig
die Haare abgeschnitten haben. Wenn
die Erzieherin all dies verhindern wollte,
müsste sie die Kinder in Watte packen,
und die Wahrscheinlichkeit, dass sie
darin erstickten, wäre groß. „Wo gehobelt
wird, da fallen Späne“, sagt der Volksmund,
und wo Kinder leben, da geschehen Unfälle.
Dies ist nicht nur eine bedauerliche
Tatsache, sondern eine pädagogische
Notwendigkeit. Das Kind soll lernen,
selbständig mit Gefahren umzugehen und
sie zu meistern, und dies erfordert
blaue Flecke, Beulen und Blessuren.
In dem wichtigsten Buch, das die Geschichte
der Pädagogik hervorgebracht hat, dem
„Emile oder Von der Erziehung“ schreibt
Jean-Jacques Rousseau: „Anstatt dass
ich ängstlich verhindere, dass Emile
sich verletzt, würde ich sehr verängstigt
sein, wenn er sich niemals verletzte
und wenn er groß würde, ohne dass er
den Schmerz kennt. Leiden ist das erste,
was er lernen muss und was zu begreifen
er am nötigsten hat. Es scheint, dass
die Kinder nur deshalb klein und schwach
sind, um diese wichtigen Lehren ohne
Gefahr zu fassen.“ (Zürich 1989, S.
65)
Aber
es gilt, auch die andere Seite zu betrachten:
Erziehung hat die Aufgabe, dem Kind
Sicherheit zu geben. Wie ein Schutzengel
behütet die Erzieherin das Kind vor
Gefahren, denen es sonst hilflos ausgeliefert
wäre. In Psalm 91 ist von dem Schutz
Gottes die Rede, und darin finden sich
die schönen Verse: „Er wird dich mit
seinen Fittichen decken, und Zuflucht
wirst du haben unter seinen Flügeln.
Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,
dass du nicht erschrecken musst vor
dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen,
die des Tages fliegen ... Es wird dir
kein Übel begegnen, und keine Plage
wird sich deinem Hause nahen. Denn er
hat seinen Engeln befohlen, dass sie
dich behüten auf allen deinen Wegen,
dass sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein
stoßest.“
Die
Erzieherin schützt das Kind, dass erst
dadurch frei werden kann, Spuren in
die Welt einzugraben, und dass erst
dadurch Selbstvertrauen entwickeln kann,
um sich auf die Welt einzulassen. Diese
Schutzfunktion der Erzieherin gilt sowohl
im körperlichen wie im psychischen Bereich.
Das Kind muss nicht von Anfang an all
dem Schmutz ausgeliefert sein, den unsere
Erwachsenenwelt produziert; wir müssen
seinen Kopf nicht mit all dem ängstigen,
was wir Großen an Probleme in die Welt
bringen. Wie sollte ein Kind Selbstbewusstsein
entwickeln, wenn es hilflos all dem
ausgesetzt würde, was Erwachsene zerbrechen
lässt? So wie die Erzieherin versucht,
die Angst des Kindes zu vermindern,
damit es Boden unter den Füßen gewinnt,
so wird sie es auch körperlich beschützen.
In Fortführung der eben zitierten Stelle
schreibt Jean-Jacques Rousseau: „Ich
wüsste nicht, dass man jemals ein Kind
in der Freiheit sich hat töten, verstümmeln
oder sonst einen beträchtlichen Schaden
zufügen sehen, wofern man es nicht unvorsichtigerweise
auf einen hohen Platz oder allein an
ein Feuer gesetzt oder gefährliche Werkzeuge
in seiner Nähe gelassen hat, die es
erreichen konnte.“ (a.a.O.)
Die
Erzieherin muss einerseits also Gefahren
zulassen, weil sie sonst die Freiheit
des Kindes verhindern würde, und sie
muss andererseits Schutz gewähren, um
Angst zu mindern und Schaden von dem
Kind fernzuhalten. Betrachten wir Faktoren,
die einer gesunden, selbstverständlichen
Entscheidung zwischen Gefahrenabwehr
und Risikobereitschaft im Wege stehen.
Wir können objektive und subjektive
Bedingungen trennen. Es wird die These
vertreten, dass der Kindergartenbereich
zunehmend verrechtlicht und durch Erlasse
eingeschnürt wird. Diese gingen bei
unserem in Rede stehenden Thema so weit,
dass in den letzten Jahrzehnten erworbene,
pädagogisch begründete Standards der
Arbeit mit Kindern stark behindert würden.
Die Pädagogik verschwinde zunehmend
mehr hinter Schutzbestimmungen aus dem
nicht-pädagogischen Bereich. Ich kann
die Berechtigung der These nicht nachprüfen,
aber wenn es zutrifft, wie ich es aus
Erfahrungsberichten von Betroffenen
höre, dass Erzieherinnen zunehmend durch
außerpädagogische Normierungen verunsichert
werden, dass sie sich nicht mehr frei
zu einem spontanen Umgang mit Kindern
fühlen, dass sie insbesondere Ängste
entwickeln, wenn sie mit ihren Kindern
die Mauern der Einrichtung verlassen,
dann geht in der Tat ein zentrales Stück
Pädagogik verloren. Die Klage darüber
ist nicht neu: Früher wurde sie unter
dem Stichwort „Aufsichtspflicht“ geführt.
Jede neue Erziehergeneration muss auf
ihre Weise den Weg zwischen vermeidbarer
Fahrlässigkeit und Verlust erzieherischer
Spontaneität finden.
Neben
den objektiven Faktoren von Gesetzen,
Erlassen, Richtlinien sind aber auch
subjektive Bedingungen in den Blick
zu nehmen. Erzieherinnen unterscheiden
sich wie alle Menschen in dem Maß ihrer
Ängstlichkeit einerseits und Sorglosigkeit
andererseits. Jede einseitige Perspektive
führt zu Problemen. Es kann nicht sein,
dass eine Erzieherin nach der Parole
„Augen zu und durch“ jeden Blick für
reale Gefährdungen des Kindeswohls verliert;
es kann aber auch nicht sein, dass die
Erzieherin ihre für sie berechtigten
Ängste auf die Kinder projiziert. Nehmen
wir ein Beispiel: Die Beurteilung der
Frage, ob die Gefahr für ein Kind, das
auf ein hohes Gerüst klettert, zu groß
ist, sollte nicht abhängig von der Sorglosigkeit
der Erzieherin sein, es werde irgendwie
schon gut gehen, aber auch nicht von
ihrer Ängstlichkeit, das Kind nicht
in Schwindel erregender Höhe sehen zu
können. Sondern der Maßstab kann nur
die Frage sein, ob das Gerüst für das
Kind eine bewältigbare Herausforderung
darstellt. Denn es geht im Kindergarten
um beides: Er muss für die Kinder neue
Herausforderungen darstellen, die Provokation
für ihre Entwicklung sind; und diese
Herausforderungen müssen für das Kind
meisterbar sein, denn Verletzungen und
Enttäuschungen wären sonst die Folge.
Ohne
empirischen Beleg, sondern nur aus meiner
subjektiven Wahrnehmung heraus beurteilt,
vermute ich, dass in der Mehrzahl der
Fälle nicht in der Sorglosigkeit das
Problem liegt. Vielmehr scheint es mir
häufiger, dass wir Kindern aus eigener
Ängstlichkeit heraus viel zu wenig zutrauen.
Unsere Einrichtungen sind meistens zu
kindersicher, sie enthalten zu wenig
Überraschendes, das jenseits der Norm
normaler Erwartungen läge. Vielleicht
wird im Praktischen zu wenig gesehen,
dass der Kindergarten für die Kinder
eine Herausforderung zur Selbständigkeit
sein muss. Dies gilt nicht nur in geistiger
und sozialer, sondern gerade auch in
körperlicher Hinsicht.
Betrachten
wir abschließend einige Kriterien eines
pädagogisch begründeten Maßstabes für
erzieherisches Handeln zwischen Risikobereitschaft
und Gefahrenverhütung. Alle Schutzbestimmungen
haben ihr zentrales Ziel darin, Kinder
frei zu machen. Verhütungsvorschriften
dienen nicht dazu, ein Kind einzuhegen,
seine Aktivität still zu legen, sondern
im Gegenteil: Weil das Kind spürt, hier
gibt es Netz und doppelten Boden, kann
es sich an Aktivitäten herantrauen,
zu denen es sonst keinen Mut hätte;
weil es weiß, dass Blessuren vorkommen,
aber nicht so schlimm ausgehen, kann
es Ängstlichkeit verlieren; weil es
erfährt, dass es auf den Schoß der Erzieherin
zurückklettern kann, kann es sich Meilen
weilt von ihr entfernen.
Weiterhin
ist bei der Abschätzung der Weite der
Sicherheitsbestimmungen das Alter der
Kinder und ihre Individualität ausschlaggebend.
Für Kinder im Kindergarten habe ich
immer die These vertreten, dass der
Zaun um das Außengelände die nicht übersteigbare
Grenze ist, innerhalb derer sie sich
im Freispiel nach eigener Entscheidung
selbständig bewegen können müssen. Für
die älteren Kinder im Hort reicht diese
Grenze nicht aus. Sie müssen die Einrichtung
verlassen, auf den Spielplatz, zu Freunden
in das Einkaufszentrum gehen können,
wenn sie es wollen. Dies setzt Arrangements
und Regelungen voraus, die nicht so
weit gehen sollten, dass Außenkontakte
für Hortkinder nur eine Sonntagssituation
sind. Hortkinder dürfen nicht weniger
Freiheiten haben, als eine durchschnittliche
Mutter sie ihrem Schulkind gewährt.
Doch
nicht nur das Lebensalter, auch der
unterschiedlichen Charakter des Kindes
ist zu beachten. Ich erinnere mich an
Tobias, ein wirklich herzensguter Junge,
phantasiebegabt und das, was man sich
unter einem Lausebengel vorstellt. Doch
leider war er auch sehr jähzornig, eine
kleine Enttäuschung konnte bei ihm einen
vulkanhaften Ausbruch zur Folge haben.
Ihn unbeobachtbar an die Werkbank im
Flurbereich zu lassen, wäre mir zu Recht
als grobe Fahrlässigkeit
ausgelegt worden. Und deshalb
galten für Tobias in dieser Hinsicht
andere Spielregeln als für die übrigen
74 Kinder des Kindergartens, die selbstverständlich
im Freispiel auch ohne Aufsicht zur
Werkbank gehen konnten. An diesem Beispiel
wird vielleicht auch deutlich: Wir müssen
uns von dem Gieskannenprinzip – „Allen
das Gleiche“ – verabschieden und auch
die Regelungen zur Sicherheit der Kinder
auf deren Individualität beziehen.
Und
ein letzter Punkt: Die Sicherheitsbestimmungen
müssen von den Erzieherinnen als wertvolle
Hilfen verstanden werden, auf kritische
Gefahrenpunkte aufmerksam zu machen,
aber sie dürfen eine Erzieherin nicht
einschnüren, sie nicht verängstigen.
Würde der Blick auf Sicherheitsvorschriften
eingeengt, dann wird der Kopf durch
den Gedanken geprägt, immer schon im
voraus zu überlegen, was passieren könnte.
Eine solche Erzieherin wäre verkrampft
und unfähig, eine erzieherische Beziehung
zu den Kindern einzugehen. Im Gegensatz
zu diesem negativen Kreislauf sollten
Sicherheitsbestimmungen dazu dienen,
die Erzieherinnen frei zu machen von
unnötigen Ängsten. Denn nur eine freie
Erzieherin kann dem Kind geben, was
es zu seiner positiven Entwicklung benötigt:
Freiheit.
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