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Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
1999 - 2

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Sigurd Hebenstreit

Ein immer währendes Thema: Erziehung zwischen Freiheit und Schutz

Es ist jetzt schon längere Zeit her, dass ich auf einer Fortbildungsveranstaltung für Erzieherinnen in einem größeren Tagungshaus war. Außer uns war noch eine Gruppe von Mitarbeitern der Gewerbeaufsichtsämter im Haus. Am Abend lief ein Fußballspiel im Fernsehen, und so trafen sich die Männer. Als einziger der Pädagogengruppe war ich in einer Runde von Gewerbeaufsichtsbeamten. Das Spiel war langweilig, und so begannen die ersten beiläufigen Gespräche. Mein Nachbar und ich, wir stellten uns vor: Herkunft, Arbeitsgebiet, Thema des Seminars. Als er merkte, dass ich mit Erzieherinnen hier war, wurde er hellhörig. Nicht nur, dass er am Rande auch beruflich mit ihnen zu tun hatte, sondern auch weil seine Frau selbst Erzieherin war, weckte ich sein Interesse. So berichtete ich über unsere Inhalte: die Konzeptionsentwicklung in Kindergärten. Er hatte ein Detail zu diesem Thema beizutragen: Der ungeheure Lärm, denen die Erzieherinnen in Kindergärten ausgesetzt seien, beschäftigte ihn. Sein berufliches Engagement als Aufsichtsbeamter, der es gewohnt war, unnötige Lärmquellen im Arbeitsleben aufzuspüren und zu minimieren, traf mit der persönlichen Betroffenheit in Liebe zu seiner Frau zusammen. Und er hatte auch eine Lösungsmöglichkeit parat: Die Erzieherinnen sollten Ohropax in die Ohren stopfen, um vor den stärksten Belästigungen abgeschirmt zu sein. Ich hatte damals kein Interesse, mich mit dem offensichtlich absurden Vorschlag auseinander zusetzen. Dann lieber doch einem langweiligen Fußballspiel folgen.

Warum fällt mir diese längst vergessen geglaubte Szene wieder ein, als ich diesen Artikel über die pädagogische Zurückweisung einer übertriebenen, verordneten Gefahrenminimierung schreiben soll: Vielleicht ist es das Verallgemeinerbare, das neben dem Skurrilen in der Begebenheit liegt. Dass der Arbeiter am Presslufthammer Ohrenschützer trägt, erscheint vernünftig, denn er wird seine Arbeit dadurch nicht schlechter verrichten und gleichzeitig seine Ohren schützen. Und wenn dieser Arbeiter sich mit seinen Kollegen verständigen muss oder will, wird er die Ohrenschützer ablegen, denn für eine Kommunikation sind sie hinderlich. Für die Erzieherin ist im Vergleich zu dem Arbeiter am Presslufthammer charakteristisch, dass sie ihre Ohren ständig gebrauchen muss, denn Kommunikation ist zentraler Bestandteil ihrer Arbeitstätigkeit. Wenn wir also nach Schutzbestimmungen fragen, so müssen wir immer die Besonderheiten des jeweiligen Berufsfeldes im Auge haben. Ein Zahnarzt mit Bauhandschuhen wäre ebenso hilflos wie ein Bauarbeiter mit den Latexhandschuhen, durch die der Zahnarzt sich vor AIDS schützt.

Doch was ist die Besonderheit des Berufes der Erzieherin? Es ist die zentrale These meiner kindzentrierten Kindergartenarbeit (Sigurd Hebenstreit: Kindzentrierte Kindergartenarbeit, Freiburg 19995), dass es in der Erziehung immer wieder darum geht, widersprüchliche Ansprüche miteinander zu vereinbaren. Gegenwart und Zukunft, Selbstwerdung und kulturelle Aneignung, Freiheit und Anpassung, Spiel und Förderung, Passivität und Aktivität – welchen Aspekt wir auch herausgreifen, immer wieder zeigen sich im Erziehungsgeschäft gegensätzliche Pole, von denen jeder seine Berechtigung hat. Wenn wir über Erziehung reden, tauchen häufig Formulierungen wie: „einerseits – andererseits“, „sowohl – als auch“ auf. Diese Redewendungen deuten darauf hin, dass Erziehung eine Tätigkeit ist, in der Widersprüchlichkeiten miteinander zum Ausgleich gebracht werden müssen. Dies gilt auch für das hier in Rede stehende Thema: Die Erzieherin muss sowohl Gefahren zulassen wie Schutz gewähren können.

Betrachten wir die eine Seite. Jede langjährig im Beruf tätige Erzieherin wird dies schon einmal erlebt haben: den Schreck, wenn ein Kind sich die Finger in der Tür eingequetscht hat, die Sorge, wenn ein anderes unbestimmt krank erschienen ist, die Aufregung, wenn sie einem heftig blutenden Jungen die Wunde am Kopf hat versorgen müssen, den Ärger, wenn sie aufgeregten Eltern erklären musste, wie es passieren konnte, dass die Mädchen sich heimlich in der Puppenecke gegenseitig die Haare abgeschnitten haben. Wenn die Erzieherin all dies verhindern wollte, müsste sie die Kinder in Watte packen, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie darin erstickten, wäre groß. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, sagt der Volksmund, und wo Kinder leben, da geschehen Unfälle. Dies ist nicht nur eine bedauerliche Tatsache, sondern eine pädagogische Notwendigkeit. Das Kind soll lernen, selbständig mit Gefahren umzugehen und sie zu meistern, und dies erfordert blaue Flecke, Beulen und Blessuren. In dem wichtigsten Buch, das die Geschichte der Pädagogik hervorgebracht hat, dem „Emile oder Von der Erziehung“ schreibt Jean-Jacques Rousseau: „Anstatt dass ich ängstlich verhindere, dass Emile sich verletzt, würde ich sehr verängstigt sein, wenn er sich niemals verletzte und wenn er groß würde, ohne dass er den Schmerz kennt. Leiden ist das erste, was er lernen muss und was zu begreifen er am nötigsten hat. Es scheint, dass die Kinder nur deshalb klein und schwach sind, um diese wichtigen Lehren ohne Gefahr zu fassen.“ (Zürich 1989, S. 65)

Aber es gilt, auch die andere Seite zu betrachten: Erziehung hat die Aufgabe, dem Kind Sicherheit zu geben. Wie ein Schutzengel behütet die Erzieherin das Kind vor Gefahren, denen es sonst hilflos ausgeliefert wäre. In Psalm 91 ist von dem Schutz Gottes die Rede, und darin finden sich die schönen Verse: „Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen ... Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“

Die Erzieherin schützt das Kind, dass erst dadurch frei werden kann, Spuren in die Welt einzugraben, und dass erst dadurch Selbstvertrauen entwickeln kann, um sich auf die Welt einzulassen. Diese Schutzfunktion der Erzieherin gilt sowohl im körperlichen wie im psychischen Bereich. Das Kind muss nicht von Anfang an all dem Schmutz ausgeliefert sein, den unsere Erwachsenenwelt produziert; wir müssen seinen Kopf nicht mit all dem ängstigen, was wir Großen an Probleme in die Welt bringen. Wie sollte ein Kind Selbstbewusstsein entwickeln, wenn es hilflos all dem ausgesetzt würde, was Erwachsene zerbrechen lässt? So wie die Erzieherin versucht, die Angst des Kindes zu vermindern, damit es Boden unter den Füßen gewinnt, so wird sie es auch körperlich beschützen. In Fortführung der eben zitierten Stelle schreibt Jean-Jacques Rousseau: „Ich wüsste nicht, dass man jemals ein Kind in der Freiheit sich hat töten, verstümmeln oder sonst einen beträchtlichen Schaden zufügen sehen, wofern man es nicht unvorsichtigerweise auf einen hohen Platz oder allein an ein Feuer gesetzt oder gefährliche Werkzeuge in seiner Nähe gelassen hat, die es erreichen konnte.“ (a.a.O.)

Die Erzieherin muss einerseits also Gefahren zulassen, weil sie sonst die Freiheit des Kindes verhindern würde, und sie muss andererseits Schutz gewähren, um Angst zu mindern und Schaden von dem Kind fernzuhalten. Betrachten wir Faktoren, die einer gesunden, selbstverständlichen Entscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Risikobereitschaft im Wege stehen. Wir können objektive und subjektive Bedingungen trennen. Es wird die These vertreten, dass der Kindergartenbereich zunehmend verrechtlicht und durch Erlasse eingeschnürt wird. Diese gingen bei unserem in Rede stehenden Thema so weit, dass in den letzten Jahrzehnten erworbene, pädagogisch begründete Standards der Arbeit mit Kindern stark behindert würden. Die Pädagogik verschwinde zunehmend mehr hinter Schutzbestimmungen aus dem nicht-pädagogischen Bereich. Ich kann die Berechtigung der These nicht nachprüfen, aber wenn es zutrifft, wie ich es aus Erfahrungsberichten von Betroffenen höre, dass Erzieherinnen zunehmend durch außerpädagogische Normierungen verunsichert werden, dass sie sich nicht mehr frei zu einem spontanen Umgang mit Kindern fühlen, dass sie insbesondere Ängste entwickeln, wenn sie mit ihren Kindern die Mauern der Einrichtung verlassen, dann geht in der Tat ein zentrales Stück Pädagogik verloren. Die Klage darüber ist nicht neu: Früher wurde sie unter dem Stichwort „Aufsichtspflicht“ geführt. Jede neue Erziehergeneration muss auf ihre Weise den Weg zwischen vermeidbarer Fahrlässigkeit und Verlust erzieherischer Spontaneität finden.

Neben den objektiven Faktoren von Gesetzen, Erlassen, Richtlinien sind aber auch subjektive Bedingungen in den Blick zu nehmen. Erzieherinnen unterscheiden sich wie alle Menschen in dem Maß ihrer Ängstlichkeit einerseits und Sorglosigkeit andererseits. Jede einseitige Perspektive führt zu Problemen. Es kann nicht sein, dass eine Erzieherin nach der Parole „Augen zu und durch“ jeden Blick für reale Gefährdungen des Kindeswohls verliert; es kann aber auch nicht sein, dass die Erzieherin ihre für sie berechtigten Ängste auf die Kinder projiziert. Nehmen wir ein Beispiel: Die Beurteilung der Frage, ob die Gefahr für ein Kind, das auf ein hohes Gerüst klettert, zu groß ist, sollte nicht abhängig von der Sorglosigkeit der Erzieherin sein, es werde irgendwie schon gut gehen, aber auch nicht von ihrer Ängstlichkeit, das Kind nicht in Schwindel erregender Höhe sehen zu können. Sondern der Maßstab kann nur die Frage sein, ob das Gerüst für das Kind eine bewältigbare Herausforderung darstellt. Denn es geht im Kindergarten um beides: Er muss für die Kinder neue Herausforderungen darstellen, die Provokation für ihre Entwicklung sind; und diese Herausforderungen müssen für das Kind meisterbar sein, denn Verletzungen und Enttäuschungen wären sonst die Folge.

Ohne empirischen Beleg, sondern nur aus meiner subjektiven Wahrnehmung heraus beurteilt, vermute ich, dass in der Mehrzahl der Fälle nicht in der Sorglosigkeit das Problem liegt. Vielmehr scheint es mir häufiger, dass wir Kindern aus eigener Ängstlichkeit heraus viel zu wenig zutrauen. Unsere Einrichtungen sind meistens zu kindersicher, sie enthalten zu wenig Überraschendes, das jenseits der Norm normaler Erwartungen läge. Vielleicht wird im Praktischen zu wenig gesehen, dass der Kindergarten für die Kinder eine Herausforderung zur Selbständigkeit sein muss. Dies gilt nicht nur in geistiger und sozialer, sondern gerade auch in körperlicher Hinsicht.

Betrachten wir abschließend einige Kriterien eines pädagogisch begründeten Maßstabes für erzieherisches Handeln zwischen Risikobereitschaft und Gefahrenverhütung. Alle Schutzbestimmungen haben ihr zentrales Ziel darin, Kinder frei zu machen. Verhütungsvorschriften dienen nicht dazu, ein Kind einzuhegen, seine Aktivität still zu legen, sondern im Gegenteil: Weil das Kind spürt, hier gibt es Netz und doppelten Boden, kann es sich an Aktivitäten herantrauen, zu denen es sonst keinen Mut hätte; weil es weiß, dass Blessuren vorkommen, aber nicht so schlimm ausgehen, kann es Ängstlichkeit verlieren; weil es erfährt, dass es auf den Schoß der Erzieherin zurückklettern kann, kann es sich Meilen weilt von ihr entfernen.

Weiterhin ist bei der Abschätzung der Weite der Sicherheitsbestimmungen das Alter der Kinder und ihre Individualität ausschlaggebend. Für Kinder im Kindergarten habe ich immer die These vertreten, dass der Zaun um das Außengelände die nicht übersteigbare Grenze ist, innerhalb derer sie sich im Freispiel nach eigener Entscheidung selbständig bewegen können müssen. Für die älteren Kinder im Hort reicht diese Grenze nicht aus. Sie müssen die Einrichtung verlassen, auf den Spielplatz, zu Freunden in das Einkaufszentrum gehen können, wenn sie es wollen. Dies setzt Arrangements und Regelungen voraus, die nicht so weit gehen sollten, dass Außenkontakte für Hortkinder nur eine Sonntagssituation sind. Hortkinder dürfen nicht weniger Freiheiten haben, als eine durchschnittliche Mutter sie ihrem Schulkind gewährt.

Doch nicht nur das Lebensalter, auch der unterschiedlichen Charakter des Kindes ist zu beachten. Ich erinnere mich an Tobias, ein wirklich herzensguter Junge, phantasiebegabt und das, was man sich unter einem Lausebengel vorstellt. Doch leider war er auch sehr jähzornig, eine kleine Enttäuschung konnte bei ihm einen vulkanhaften Ausbruch zur Folge haben. Ihn unbeobachtbar an die Werkbank im Flurbereich zu lassen, wäre mir zu Recht als grobe Fahrlässigkeit  ausgelegt worden. Und deshalb galten für Tobias in dieser Hinsicht andere Spielregeln als für die übrigen 74 Kinder des Kindergartens, die selbstverständlich im Freispiel auch ohne Aufsicht zur Werkbank gehen konnten. An diesem Beispiel wird vielleicht auch deutlich: Wir müssen uns von dem Gieskannenprinzip – „Allen das Gleiche“ – verabschieden und auch die Regelungen zur Sicherheit der Kinder auf deren Individualität beziehen.

Und ein letzter Punkt: Die Sicherheitsbestimmungen müssen von den Erzieherinnen als wertvolle Hilfen verstanden werden, auf kritische Gefahrenpunkte aufmerksam zu machen, aber sie dürfen eine Erzieherin nicht einschnüren, sie nicht verängstigen. Würde der Blick auf Sicherheitsvorschriften eingeengt, dann wird der Kopf durch den Gedanken geprägt, immer schon im voraus zu überlegen, was passieren könnte. Eine solche Erzieherin wäre verkrampft und unfähig, eine erzieherische Beziehung zu den Kindern einzugehen. Im Gegensatz zu diesem negativen Kreislauf sollten Sicherheitsbestimmungen dazu dienen, die Erzieherinnen frei zu machen von unnötigen Ängsten. Denn nur eine freie Erzieherin kann dem Kind geben, was es zu seiner positiven Entwicklung benötigt: Freiheit.


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