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Sigurd
Hebenstreit
Kinder sind anders -
Wie anders sind unsere Kindergärten?
Ø
Vorbemerkungen
Die
Sichtweise von Kindern steht am Anfang
meiner kindzentrierten Position von
Kindergartenarbeit, und die kindlichen
Entwicklungsbedürfnisse bilden ihren
Mittelpunkt. „Das ist doch selbstverständlich“,
werden Sie vielleicht denken. Doch wenn
ich mir die konzeptionelle Landschaft
anschaue und wenn ich einen Blick auf
die Praxis der Regeleinrichtungen werfe,
dann finde ich etwas anderes: Die gesellschaftliche
Situation, der Natur- und Umweltgedanke,
das Ausbrechen aus dem Trott des ständig
Gleichen, die Offenheit für alles, Frauenförderung,
ausgedehntere Betreuungszeiten und Qualitätsmanagement
– dies sind Themen, die Konjunktur haben.
Sicherlich auch überall dort kommen
Kinder vor, als Randbedingungen, die
zu berücksichtigen notwendig sind –
schließlich muß man sein Programm ja
an das Kind bringen. Bei Friedrich Fröbel,
dem Schöpfer des Wortes „Kindergarten“, war das noch anders: „Kommt lasst uns unsern
Kindern leben“ – überschrieb er seine
Kindergartenaufrufe und spielpädagogischen
Schriften.
Ich
stelle meinen heutigen Vortrag unter
die Überschrift des deutschen Titels
eines der bekanntesten Bücher Maria
Montessoris: „Kinder sind anders“. Anders
als wer oder was? Diese Frage möchte
ich mir vorlegen, und ich möchte Sie
bitten, bei Ihrem Zuhören immer eine
zweite mitzubedenken: Wenn Kinder anders
sind, wie anders müssen dann unsere
Kindergärten sein.
I.
Kinder sind anders – als wir Erwachsene
Jede
Konzeption und jegliche Kindergartenpraxis
enthalten ein Bild der Erwachsenen von
dem Kind. Er sieht es als kompetent
oder hilfsbedürftig, als zu bekämpfendes
Monster oder als Ausdruck der Hoffnung,
als ähnlich zu sich selbst oder als
das ganz Andere, als beliebig formbar
oder als festgelegt durch seine Erbanlagen.
Häufig legt man sich über sein Kinderbild
keine Rechenschaft ab, es bedarf hier
keiner Verständigung, denn, was ein
Kind ist, dass ist jedermann klar. Es
steht doch vor uns, und ist so einfach
zu verstehen. Schließlich waren wir
selbst alle einmal Kind und dann das
breite Feld der Entwicklungspsychologien.
Wichtiger als die Frage nach dem Kind
erscheint die Zielsetzung der Erziehung:
Was soll aus dem Kind werden, und welche
didaktischen und methodischen Konzepte
brauchen wir, um das Kind von A nach
B zu bringen?
Ich
vertrete hier eine andere Auffassung
und behaupte, dass wir Erwachsenen ein
Kind nicht verstehen können und dass
mehr als 50 % unserer erzieherischen
Arbeit darin besteht, uns vorsichtig
dem Kind anzunähern. Weil vorhandene,
vielfach aber unbewusste Vorstellungen
über Kinder und Kind wie blinde Flecken
sind, die oft gegen die eigenen Absichten
sich negativ auf das Erziehungshandeln
auswirken, stelle ich diesen Aspekt
in den Mittelpunkt.
Ø
Maria Montessori: Die Arbeit des Kindes
Maria
Montessori, deren Gedanken ich heute
mit meiner kindzentrierten Position
der Kindergartenarbeit verbinden soll,
Maria Montessori also sieht den Menschen
unter dem Aspekt der Arbeit, und es
hat angesichts unserer hohen Zahl lang
andauernder Arbeitslosigkeit eminent
politische Bedeutung, wenn sie betont,
dass durch Arbeit der Mensch sich als
Mensch schafft, dass sie Teil nicht
veräußerbarer Menschenrechte ist. Menschen
ohne Arbeit zu lassen, heißt, sie in
ihrer Würde zu verletzen. Kinder sind
Menschen, und sie sind mit ihrer Arbeit
ebenso ernsthaft beschäftigt wie der
Zahnarzt, der einen kranken Zahn heilt,
die Altenpflegerin, die einen dementen
Menschen pflegt oder der LKW-Fahrer,
der seinen 20-Tonner sicher über die
Autobahn bringt. Doch in wichtigen Punkten
unterscheidet sich die Arbeit der Kinder
von der des Erwachsenen. Während dieser
mit der Herstellung eines äußeren „Produktes“
beschäftigt ist, geht die Arbeit des
Kinder nach Innen. Es baut aus den ihm
angeborenen und angebotenen Möglichkeiten
die eigene Persönlichkeit auf. Aus 3
kg Fleisch, ausgestattet mit einem Reflexhaushalt,
der gegenüber dem Tier als defizitär
zu kennzeichnen ist, wird sich ein individueller
Mensch bilden, der auf der Höhe seiner
Zeit steht, ja der sogar geistige und
körperliche Kräfte hat, um mitzuhelfen,
über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft
hinauszugelangen. Dieser individuelle
und zugleich gemeinschaftsfähige Mensch
ist nicht das Produkt seiner Erzieher,
sondern Resultat der Arbeit des Kindes.
Äußeres
Produkt vs. eigener Persönlichkeitsaufbau
- dies ist der erste Unterschied der
beiden Arbeitsarten. Ein weiterer liegt
darin, dass die Arbeit einen Erwachsenen
erschöpft, weil sie seine Energien verbraucht,
während das Kind durch die Arbeit seine
Lebensenergie steigert. Wenn Sie nach
einem achtstündigen Arbeitstag nach
Hause kommen, sind Sie erschöpft, und
ein Kind, das jetzt mit einer Anforderung
auf Sie zukäme, würden Sie wahrscheinlich
auf später verweisen, wenn Sie sich
ein wenig ausgeruht haben. Betrachten
Sie dagegen die Kinder Ihrer Gruppe,
mit denen Sie eine anstrengende Wanderung
gemacht haben. Kaum sind sie, die vielleicht
vorher quengelten, an dem Rastplatz
angelangt, werden die meisten von ihnen
sich nicht wie die Kindergärtnerin hinsetzen,
sondern ausgelassen umherlaufen, über
einen Baumstamm balancieren oder auf
der Wiese Fußball spielen.
Ø
Spiel und Arbeit
Maria
Montessori ist an der Arbeit des Kindes
interessiert, während sie das Spiel
als Ausdruck der Unterdrückung des Kindes
ablehnt. Spiel erschien ihr als Spielerei,
als unnütze Tätigkeit, die die Zeit
der Kinder verplempere. Und das Spiel
ist für sie Ausdruck der Armut des Kindes.
Sie sagte einmal, ein Pferdchen spielendes
Kind sei ein armes Kind, das ein Surrogat
nähme, weil ihm das richtige Pony des
reichen vorenthalten würde. Oder nehmen
Sie ein anderes Beispiel. Stellen Sie
sich vor, Ihre ständig Mutter-Kind spielende
Mädchengruppe hätte plötzlich die Möglichkeit,
dass ein reales Baby im Raum ihrer Einrichtung
sei. Wie viele, schätzen Sie, ließen
ihre Puppen links liegen und würden
sich begeistert um Mithilfe beim Wickeln
des Säuglings bemühen?
Wir
wollen nicht einen Streit um Worte führen.
Wenn wir die konzentrierte, selbst motivierte
Tätigkeit eines Kindes, das Raum und
Zeit zur freien Entscheidung hat, als
Spiel bezeichnen, dann verwischen sich
die Unterschiede, und es erscheint gerechtfertigt,
das „Spiel“ als die „Arbeit“ des Kindes
zu bezeichnen. Wir meinen dann nicht
das lustige Umherflattern, das mal hier-,
mal dorthin Greifen, nicht den fünfminütigen
Wechsel von Puzzle, Bilderstellen, Domino.
Das Ziel des Kindergartens ist es, jedes
Kind zu seiner Spielwelt zu führen,
damit es eintauchend in seine Innenwelt
diese nach außen darstellen kann. Dadurch
wird es seine Fähigkeiten ausbilden,
sein Wissen erweitern, seine Gefühle
differenzieren. Diese dominierende Tätigkeit
des Spiels ist es, die das Kind von
dem Erwachsenen unterscheidet. Hier
zeigt sich, dass Kinder anders denken,
fühlen und handeln. Fünf ist nicht gleich
fünf, widersprüchliche Gefühle schließen
sich nicht gegenseitig aus, und das
Handeln folgt nicht einer äußeren Logik,
sondern bringt Bedürfnisse hier und
sofort zum Ausdruck.
Ø
Die eigene Sprache des Kindes
Kinder
leben in einer anderen Welt, einer Welt,
die uns verschlossen ist, und sie sprechen
eine andere Sprache, eine Sprache, die
wir nicht verstehen. Wir waren einmal
Kinder, und haben in dieser Welt gelebt
und die Kindersprache gesprochen. Aber
das ist lange her. Wir haben uns bemüht,
groß zu werden, die Kindheit hinter
uns zu lassen, die Gesetze der Logik
kennen zu lernen. Wir waren erfolgreich
damit: Wir wissen, dass ein Huhn nicht
grün , dass ein kleiner Plüschaffe kein
Monster ist und dass wir die Schokolade
nicht gleichzeitig essen und aufbewahren
können. Gut so! Nur wir haben dafür
auch einen Preis bezahlt. Wir haben
das Land der Kindheit verlassen und
seine Sprache verlernt. Es ist nicht
wahr, dass man zweisprachig leben kann,
und man wird schizophren, wenn man in
zwei Welten gleichzeitig zu Hause sein
will. Für viele, insbesondere Erzieher,
mag es eine verlockende Illusion sein,
sich - wie der Lehrer in Janusz Korczaks
Roman „Wenn ich wieder klein bin“ -
abwechselnd in der Welt der Kinder und
der der Großen aufzuhalten, aber es
ist eine Illusion. Man kann die Schokolade
nicht essen und gleichzeitig aufbewahren.
Kinder
sind anders als Erwachsene, und Erwachsene
sind anders als Kinder. Sie leben in
getrennten Welten und sprechen verschiedene
Sprachen. Wenn beide Welten sich überschneiden,
dann sind viele Übersetzungsarbeiten
notwendig. Diese muten wir zum größten
Teil den Kindern zu. Sie müssen lernen,
ruhig zu sein, wenn ernsthafte Dinge
anstehen; sie müssen lustig sein, um
unsere Illusion von der fröhlichen Kinderwelt
aufrechtzuerhalten; sie müssen sich
uns als hilflos zeigen, damit wir von
der Position der Stärke aus uns ihnen
zuwenden können; sie müssen sich zanken,
damit wir ihnen einen befriedeten Raum
garantieren. Das Gewaltmonopol gilt
nicht nur für den Staat, sondern auch
für die Großen gegenüber den Kleinen.
Ich
nehme noch einmal das Bild von der Übersetzertätigkeit
auf. Wir können sagen, Kindergärtnerinnen
sind professionelle Dolmetscher, die
gelernt haben, zwischen der Sprache
des Kindes und der der Erwachsenen zu
vermitteln. Ein guter Dolmetscher weiß
vor allem, wie schwierig es ist, einen
Sachverhalt von der einen in die andere
Sprache zu übertragen. Ich habe einmal
gelesen, dass es in der Sprache der
Eskimos mehr als zwanzig verschiedene
Wörter von „Eis“ geben soll. Wie viele
Wörter gibt es in der kindlichen Sprache
für „Angst“? Und wenn Erwachsene von
einem Kind sagen, es habe „Angst“, dann
sind sie genau so undifferenziert wie
ein Deutscher, der aussagt, die Eskimos
lebten im ewigen Eis.
Oder
nehmen Sie ein anderes Beispiel: Ein
Expertenteam von Großen hat sich darauf
geeinigt, ein bestimmtes Kind habe ein
„Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“, kurz:
ADS. Jetzt übersetzen Sie, als Expertin
für Kinderdolmetschen, dies in die Kindersprache.
Probieren Sie dies einmal in Ihrem Mitarbeiterteam
aus. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie
bald merken werden, wie nichtssagend
das Wort „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“
ist. Eine Erwachsenenexpertenrunde meint
etwas über ein Kind gesagt zu haben,
aber sie hat nur heiße Luft geblasen.
Ø
Die Vergrößerung der Kluft
Kinder
sind anders als Erwachsene, und diese
Andersartigkeit vergrößert sich mit
jedem Schritt, den die gesellschaftliche
Entwicklung macht. Gerade in unserer
Zeit nimmt die Kluft dramatisch zu.
Denken Sie z.B. an den Computer, das
Internet, die neuen Medien insgesamt.
Schon viele Erwachsene haben Schwierigkeiten
mit der neuen Welt, wenn sie sich etwa
vorstellen, die frische Milch nicht
mehr beim Kaufmann um die Ecke zu erwerben,
sondern sie automatisch angeliefert
zu bekommen, wenn ein Chip im Kühlschrank
gemeldet hat: „Milch geht zur Neige“.
Als Erwachsene leben wir gegenwärtig
in einer Übergangswelt, die die Kluft
zwischen elementaren, nachvollziehbaren
Handlungsabläufen und automatisierten
Prozessen dramatisch erhöht. Die neue
Welt mag zukünftigen Generationen ein
Paradies auf Erden versprechen oder
zur Vernichtung der Menschheit führen,
wir wissen es nicht, und so betrachten
wir mit einem Wechselbad von Spannung
und Angst die sich abzeichnenden Veränderungen.
Und
die Kinder, mit denen Sie im Kindergarten
leben? Sie wissen von unserer Erwachsenenwelt
so wenig wie wir, als wir klein waren,
von der Erwachsenenwelt unserer Eltern.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind
die Erwachsenen ängstlich davon reden
hörte, ein böser Mensch namens Chruschtschow
habe in einem Haus in Amerika mit dem
Schuh auf den Tisch geklopft und laut
„Niet“ geschrieen. Das besorgte die
Großen. Mich erregte vor allem die Geschichte
mit dem Schuh. Das konnte ich mir vorstellen;
und das tat man zu meiner Kinderzeit
nicht: mit den Schuhen auf den Tisch.
Heute könnte ich mir als Kind diese
Szene in der Tagesschau ansehen, und
in einer Kindersendung würde ein lustiger
(denn lustig scheinen wir Großen irgendwie
mit den Kindern zu verbinden) Kinderanimateur
mit den Vorgang didaktisch geschickt
aufbereiten. Nur verstehen würde ich
immer noch nichts. Allein die Entfernen:
Rußland – Amerika; wo doch schon von
mir zu Hause bis zur nächsten Klümpchenbude
ein schwieriger Weg voller Abenteuer
ist.
Ø
Konsequenzen
Kinder
sind anders als Erwachsene, und Erwachsene
sind anders als Kinder, dies wollte
ich Ihnen mit meinem ersten Punkt sagen,
und ich möchte Sie auffordern, die Dramatik
der Diskrepanz zwischen diesen beiden
Welten zu verstehen. Da gibt es keinen
leichten Sprung für das Kind, sondern
mühsam muß es sich eine Brücke bauen,
und diese Arbeit läßt sich nicht abkürzen.
Sie dauert die Zeit der Kindheit, und
kein noch so raffiniertes Didaktikprogramm
kann sie abkürzen. Auch deshalb sollen
wir den Kindern das Recht auf ihre Welt
lassen. Den Kindergarten verstehe ich
deshalb primär als Ort der Kindlichkeit,
der nicht vorschnell von all den gesellschaftlichen
Situationen überschwemmt wird, sondern
der sich das Ziel gibt, Kindern ein
Leben in ihrer Welt zu ermöglichen.
Ich bin deshalb gegen den frühen Einsatz
des Computers, gegen zu viel technischen
Schnickschnack und das krampfhafte Bemühen,
Kinder mit unseren Erwachsenenproblemen
– von der Umweltzerstörung, der Friedensgefährdung
bis zur Emanzipation der Frau – zu belästigen.
Kinder benötigen einen Raum von Unmittelbarkeit,
elementarer Auseinandersetzung, vorbehaltloser
Stabilität und vor allem naiver Simplizität.
Die
Kluft zwischen der Welt der Kinder und
der der Erwachsenen läßt sich – und
dies ist die zweite Schlußfolgerung
meines ersten Punktes - aber auch nicht
durch einen romantischen Spring rückwärts
aufheben. Wir sollten uns bewußt machen,
dass wir als Erwachsene Kinder nicht
verstehen können. Wir können uns Ihnen
vorsichtig annähern, aber sie nicht
verstehen. Das mag wie unnötige Wortklauberei
aussehen, aber ich meine, dass die Unterscheidung
von Annäherung und Verstehen eine wichtige
pädagogische Konsequenz enthält: den
Respekt vor der Eigengesetzlichkeit
der Kinderwelt. Es ist ein wichtiger
Aspekt der Arbeit der Kindergärtnerin,
Dolmetscherdienste zwischen der Sprache
des Kindes und der des Erwachsenen zu
leisten. Dabei sollte ihr bewusst sein,
dass es einfacher ist, zwischen zwei
Sprachen vergleichbarer Gesellschaften
zu übersetzen, sagen wir vom Deutschen
ins Englische,
als zwischen dem Deutschen und
der Sprache eines steinzeitlichen Volkes
im verborgenen Regenwald Südamerikas.
II.
Kinder sind anders – als wir Erwachsenen
meinen
Der
Montessorische Ausdruck „Kinder sind
anders“ lässt sich noch in einer zweiten
Bedeutung verstehen: Kinder sind anders,
als wir Erwachsenen glauben, dass sie
sind.
Ø
Maria Montessori: Polarisation der Aufmerksamkeit
Manchmal
sind es kleine, scheinbar zufällige
Begebenheiten, die unseren Kopf zwingen,
eine ganz neue Richtung einzuschlagen.
Nehmen wir an, Sie hätten Ihren Ehepartner
oder Freund immer als starken Menschen
erfahren, den nichts aus der Bahn wirft.
Sie richten Ihre Beziehung entsprechend
ein: für die Probleme sind Sie zuständig,
für deren Lösung Ihr Partner; Sie sind
hilfebedürftig, und er gibt die Hilfe.
Nehmen wir weiter an, Ihr Mann würde
krank, nichts schlimmes, eine ganz gewöhnliche
Grippe. Aber plötzlich zeigt er sich
wehleidig wie ein kleines Kind. Wahrscheinlich
ist, dass Sie zunächst einmal alles
versuchen werden, Ihr bisheriges Bild
von Ihrem Mann und Ihrer Beziehung aufrechtzuerhalten.
Vielleicht werden Sie sich erklären,
es sei das Fieber, das die Schwäche
bedinge, aber nicht die Persönlichkeit
Ihres Mannes. Doch nehmen wir weiter
an, so einfach ließe sich das Problem
nicht aus der Welt schaffen, er hielte
an seiner Wehleidigkeit auch nach Abklingen
des Fiebers fest. Vielleicht gerät jetzt
Ihr Bild von Ihrem Mann ins Wanken,
vielleicht entdecken Sie, dass Sie ihn
in Ihrem Kopf so stark haben machen
müssen, weil Sie einen Partner benötigen,
an dem Sie sich anlehnen können. Es
war nur eine harmlose Grippe, aber Ihr
Bild von Ihrem Mann, von Ihnen selbst
und von Ihrer Beziehung hat sich grundlegend
gewandelt. Das wird Ihre Zukunft verändern,
und auch Ihre Interpretationen vergangener
Ereignisse wird eine andere.
Ähnlich
erging es Maria Montessori. Sie war
geprägt von dem traditionellen Kinderbild:
unruhig herumflatternde Wesen, die von
allen grellen Anreizen angezogen irgend
etwas tun, sich aber sofort einem anderen
Ereignis zuwenden, das zufällig in ihren
Aufmerksamkeitskreis tritt. Vor allem
an lustigen Abwechselungen sind sie
interessiert, nur nicht etwas sinnvolles
lernen wollen sie. Also: Wir Erwachsenen
müssen uns bemühen, sie zwingen oder
uns einen didaktisch-methodischen Apparat
erarbeiten, um das Kind zu motivieren
und zu konzentrieren. Doch dann sah
Maria Montessori in ihrem ersten Kinderhaus
ein dreijähriges Mädchen, das von sich
aus konzentriert mit einer Aufgabe beschäftigt
war und das sich von allen Störungen
seitens der Erwachsenen nicht ablenken
ließ. Es setzte seine Arbeit fort, bis
es sie selbst für beendet hielt. Dann
schaute es „zufrieden um sich, als erwachte
es aus einem erholsamen Schlaf.“
Maria
Montessori hätte nun denken können:
ein besonderes, außergewöhnliches Kind.
Doch sie tat etwas anderes. Sie richtete
ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung:
Was wäre, wenn das Verhalten dieses
Kindes nicht die Ausnahme wäre, sondern
der Regelfall? Was wäre, wenn unsere
gewöhnliche Art der Erziehung es ist,
die Kinder daran hindert, konzentrierte
Arbeiter zu sein? Das kleine dreijährige
Mädchen hat das Denken Maria Montessoris
grundlegend verändert und über diese
die Kindergartenpädagogik insgesamt.
Nur stichwortartig will ich andeuten,
wie Maria Montessori beschrieb, dass
Kinder anders sind, als wir Erwachsenen
gewöhnlich meinen:
·
Das Kind ist von innen heraus konzentriert
und nicht unruhig hin- und herflatternd,
·
das Kind ist aktiv und nicht passiv,
·
das Kind ist stark und nicht schwach,
·
das Kind baut durch seine Entwicklung
den neuen Menschen auf, und es wird
nicht durch den Erwachsenen geformt.
Diese,
wie Maria Montessori es nannte, Kraft
der „Polarisation der Aufmerksamkeit“
ist das Kennzeichen der „Normalisation“
des Kindes, eines Menschen, der auf
dem richtigen Weg ist, seine Persönlichkeit
aufzubauen. Alle Erscheinungen hingegen,
die gewöhnlich bei einem Kind für normal
gehalten werden – Unkonzentriertheit,
Egoismus, Anhänglichkeit, Abgleiten
in eine irreale Phantasiewelt -, sind
hingegen Ausdruck eines „devianten“
Kindes, und ein deviantes Kind ist ein
unglückliches und verletztes. Aus diesem
anderen Kinderbild entwickelte Maria
Montessori ihre andere Pädagogik, die
ihren Kern in der Umkehrung der Rollen
hat: Sie ist dann erfolgreich, wenn
das Kind aktiv und die Erzieherin passiv
ist. Passivität zu erlernen, sie aber
nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln
– dies halte ich unverändert für eine
der schwierigsten Aspekte der Erzieherarbeit.
Ø
Bildbetrachtung (1): Zwei Gesichter
Ich
mache jetzt einen Einschnitt, bleibe
aber bei der These, dass Kinder anders
sind, als wir Erwachsenen meinen. Ich
möchte Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit
auf das erste Bild zu lenken, das Sie
in Ihren Unterlagen finden. Ich habe
es auf einer Postkarte gefunden, und
in einigen Punkten finde ich es für
unsere heutige Frage interessant.
Das
Kind hat zwei Gesichter, sein wahres:
traurig, mit großen Augen in die Welt
blickend, und eine Maske, fröhlich grinsend,
einem Clown ähnlich. Ich habe es vorher
schon angedeutet: Das gewöhnliche Bild
möchte in dem Kind vor allem Fröhlichkeit,
Lustigkeit, Pfiffigkeit, Schalk sehen.
Wir wissen, es gibt traurige Kinder,
schade drum, wir bemühen uns sie aufzuheitern.
Tränen kommen den Kindern schneller
als uns Erwachsenen, aber sie sitzen
nicht so tief. Ein kleiner Scherz nur,
und die ursprüngliche Fröhlichkeit kehrt
zurück. Frage Sie sich einmal selbst,
wie lange Sie es aushalten, ein Kind
in Ihren Armen weinen zu lassen, ohne
ein vorschnelles Tröstungsmanöver zu
starten.
Ich
möchte nicht falsch verstanden werden
und setze deshalb hinzu: Es kann nicht
das Ziel der Erziehung sein, Kinder
möglichst traurig zu sehen, vielmehr
geht es darum, in ihnen einen großen
Vorrat an Lachen, Selbstvertrauen, Optimismus
anzulegen, der für ein langes Leben
reicht. Doch zwei Zusätze: Dieses Lachen
soll keine Maske sein, die wir dem Kind
aufdrängen, damit unsere Illusionen
nicht zerstört werden. Und: Eine konzentrierte
Arbeit ermöglichst selten herzhaftes
Lachen. Der Arzt, der zu seinem Schnitt
ansetzt, der Fußballer, der einen Pass
schlägt, die Büroangestellte, die einen
Text in den Computer eingibt, sie alle
werden kein Lachen, sondern Aufmerksamkeit
in ihrem Gesicht tragen. So auch das
Kind, das mit seiner Arbeit beschäftigt
ist.
Ø
Bildbetrachtung (2): Marionette
Etwas
zweites fällt bei dem Kind auf dem Bild
auf: Es ist eine Marionette. Wir müssen
uns den Puppenspieler denken, der an
den Fäden zieht. Doch das wollen wir
Erwachsenen nicht sein: Strippenzieher;
und so sehen wir das Kind nicht: uns
vollkommen passiv ausgeliefert. Das
sind Bilder aus dunklen, aber längst
vergangenen Tagen.
Doch
ist dieses Denken wirklich verstaubter
Rest böser Geschichte? Wie viel trauen
wir der Selbstentwicklungskraft des
Kindes zu? Ein eineinhalbjähriges Kind,
das noch nicht läuft, ein bald dreijähriges,
das noch nicht spricht, ein vierjähriges,
das einnässt, ein fünfjähriges, das
die Farben nicht kennt, ein sechsjähriges,
das immer noch am Rockzipfel der Mutter
hängt. Wann rufen wir das ganze Heer
der Therapeuten zu Hilfe, weil unser
gewöhnliches pädagogisches Arsenal nicht
mehr ausreicht? Vielleicht erleben wir
unsere Erzieherkunst als ohnmächtig,
aber der Kinderpsychotherapeut, die
Logopädin, die Krankengymnastin, die
Ergotherapeutin, der Kinderarzt – sie
werden doch Mittel haben, den Schaden
zu beheben, das Störende zu beseitigen,
die Maschine wieder zum Laufen zu bringen.
Vielleicht
wollen wir nicht mehr die Fäden ziehen,
weil wir es nicht mehr können. Dann
aber wenigstens die Experten, vor denen
wir Hochachtung haben. Und Kindheit
ist immer mehr zu Expertenkindheit geworden.
Ein immer kleinerer Ausschnitt aus dem
Gesamt des Kindes wird mit immer mehr
Professionalität behandelt. Schauen
Sie sich das Marionettenkind noch einmal
an: für jede Schnüre ein Experte; vielleicht
denken Sie sich auch fast alle Bänder
weg, aber an der Hand, da ist noch eine,
und an ihr zieht ein ganzes Heer von
Fachleuten. Was kümmert es, dass dabei
die anderen Körperteile schlaff herunterhängen?
Ø
Bildbetrachtung (3) Zeigefinger
Noch
ein dritter Aspekt zu dem Bild. Sie
sehen den linken Zeigefinger des Jungen
erhoben. Diesen Zeigefinger kennen wir
aus der Pädagogik. Nur kommt er eigentlich
nicht dem Kind zu, sondern seinen Erziehern.
Ich habe Ihnen deshalb noch ein anderes,
bekanntes Bild mitgebracht, den Lehrer
Lämpel aus Wilhelm Busch’s „Max und
Moritz“. „Ihr Kinder, seid aufmerksam!“
Und: „Ich, Kinder, weise Euch den Weg,
denn ich weiß, wo ihr im Leben langgehen
müsst!“ Doch Max und Moritz scheinen
zunächst stärker. Ihr Pulver in die
Pfeife des Lehrers gestopft zeigt seine
Wirkung. Und so sehen wir Lämpel zum
letzten Mal:
„Nase,
Hand, Gesicht und Ohren
Sind
so schwarz als wie die Mohren,
Und
des Haares letzter Schopf
Ist
verbrannt bis auf den Kopf.“
Auch
jetzt noch erhebt er wieder seine Hände,
und der linke Zeigefinger behält seine
herausgehobene Stellung. Droht er den
bösen Buben oder zeigt er sich selbst
den Vogel? Max und Moritz erscheinen
stärker, doch Sie kennen auch das Ende
der Geschichte: Zu Schrot werden sie
gemahlen, und das Federvieh füllt sich
seine Bäuche mit ihnen.
Auf
dem abgebildeten Kinderbild erhebt der
Junge seinen Zeigefinger, oder vielmehr:
der Marionettenspieler zieht an der
Strippe, so dass der Zeigefinger gehoben
wird. Ich nehme das jetzt als Ausdruck
für ein Bild, das zugegebenermaßen in
Bezug auf den Marionettenjungen etwas
weit hergeholt ist, aber etwas aussagt,
dass m.E. nicht untypisch ist für unseren
Blick auf die Kinder ist. Wir nehmen
scheinbar einen Rollenwechsel vor, wenn
wir das Kind vergöttlichen. Den Glauben
an die Erbsünde, der Generationen früherer
Pädagogen geprägt hat, haben wir auf
den Schutthaufen der dunklen Geschichte
geworfen, und wir erklären das Kind
zu unserem Messias. Alles Gute ist von
ihm zu erwarten, es ist kreativ, sozial
verantwortlich, in seiner Naivität schlau.
Erziehung ist eigentlich überflüssig,
allenfalls ein wenig Begleitung noch
notwendig. Wir sind nicht mehr der Lehrer
Lämpel, der dem Kind den Weg weist,
sondern das Kind weist uns die Richtung
an.
Ist
man einmal auf eine solche Fährte eines
scheinbar positiven Kinderbildes geraten,
dann gehen die Pferde mit einem durch.
Immer höher wird das Kind erhoben, man
glaubt immer mehr Verständnis zu haben,
je mehr positive Wertschätzung man in
das Kind hineinlegt. Und weil man einmal
auf diesem pseudoreligiösen Gleis ist,
liegt auch ein missionarischer Eifer
nicht fern: Unwissende Eltern sind zu
dem neuen Glauben zu bekehren wie der
Heide vom Christentum. Man sieht gar
nicht mehr, dass man immer noch der
Marionettenspieler ist, der den Zeigefinger
des Kindes hebt.
Es
tut dem Menschen nicht gut, wenn er
auf einen göttlichen Sockel gehoben
wird. Die Lichtgestalt des deutschen
Fußballs, Franz Beckenbauer, muss dies
gegenwärtig in der bundesdeutschen Presselandschaft
erfahren: ein uneheliches Kind, ungerechtfertigte
Kritik gegenüber der eigenen Mannschaft.
So schnell wie ein Mensch zum Gott erklärt
wurde, so schnell wird er auch wieder
gestürzt. Und: Hat jemand einmal ein
vergöttlichtes Kind gefragt, ob es selbst
so erhoben werden will? Vielleicht würde
es zu seinen Eltern nur sagen: „Lasst
mich doch mit euren Problemen und enttäuschten
Hoffnungen in Ruhe! Ich habe genug mit
mir selbst zu tun!“
Ø
Entwicklung der Erzieherin
Erlauben
Sie mir, noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit
des erhobenen Zeigefingers anzufügen.
Er könnte auch bedeuten: In der Erziehung
hat der Erwachsene nicht nur Bedeutung
für das Kind, sondern das Kind auch
für den Erwachsenen. Vielleicht ist
es noch nicht einmal ausgemacht, wer
sich durch die Jahre des Zusammenlebens
mehr wandelt. Wir gehen davon aus, dass
in den drei Kindergartenjahren das Kind
sich in vielfacher Hinsicht ändert und
dass wir Erzieher einen wichtigen Beitrag
zu dem Entwicklungsfortschritt leisten.
Als Erzieherin kann man dabei den Eindruck
haben, nacheinander Generationen von
Kindern betreuen zu können. Sicherlich,
man wird auch älter, aber die qualitativen
Sprünge liegen auf der Seite des Kindes,
während man sich selbst nur im Schneckentempo
wähnt.
Doch
wenn man dann die ersten Kindergenerationen
hinter sich hat, dann gewinnt man ein
neues Lebensgefühl. Es ist nicht das
Gleiche, ob einem Kinder als idealistische,
fast noch Jugendliche begegnen, oder
in der Zeit, in der man sich mit der
Möglichkeit eigener Mutterschaft beschäftigt,
oder später, wenn man eigene Kinder
im Kindergartenalter hat, die dann größer
werden, in der Schule Erfolg haben oder
Anlass zur Sorge geben. Der Blick auf
die immer noch drei- bis sechsjährigen
Kinder im Beruf ist immer ein ganz anderer.
Sie können sich diese Reihe jetzt fortsetzen
bis zu der Zeit, in der die Erzieherin
vor ihrer Pensionierung steht und Großmutter
älterer Enkel ist.
Wenn
wir es so betrachten, dann bleiben die
Kinder gleich, während wir es sind,
die sich ständig wandeln. Vielleicht
und hoffentlich können wir dann auf
verschiedene Kinder blicken, von denen
wir sagen können, dass wir dankbar sind,
dass sie uns gerade in diesem oder jenem
Abschnitt unseres Lebens begegnet sind.
Wir haben Entwicklungspsychologien des
Kindesalters, die uns bei unserer Arbeit
behilflich sein können. Was uns aber
fehlt, ist eine Entwicklungspsychologie
des Erzieherlebens: Welche Seite berührt
das Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt
in uns? Was machen wir aus den Chancen,
die das Kind uns bietet? Entwickeln
wir unser Denken, Fühlen und Handeln
durch das Leben mit unseren Kindern?
Janusz Korczak sagt: „Es ist einer der
bösartigsten Fehler anzunehmen, die
Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind
- und nicht zuerst die Wissenschaft
vom Menschen.“
Ø
Konsequenzen
Kinder
sind anders, als wir Erwachsenen meinen.
Sie sind nicht unkonzentriert, hilflos,
oberflächlich naiv, sie sind keine Hampelmänner,
keine Klienten unseres professionellen
Expertentums, sie sind keine Teufel
und keine Götter. Wir leben ein Stück
mit ihrer und unserer Wegstrecke zusammen,
und was wir ihnen bedeuten, lässt sich
so wenig vorausplanen wie das, was sie
uns bedeuten. Das Leben ist kein zweckrationales
Anwenden von Wenn-dann-Beziehungen und,
sondern eine einmalige, nicht wiederholbare
Etappe eines endlichen Prozesses, der
seinen Sinn in sich selbst und in der
Gestaltung von unverwechselbaren Beziehungen
findet.
Ich
habe Ihnen vor allem von den falschen
Kinderbildern berichtet, denen wir unterliegen,
wenn wir glauben, etwas von dem Kind
zu verstehen. Nun mögen Sie mit Erich
Kästner fragen: „Wo bleibt denn das
Positive?“ Doch das, was ich Ihnen sagen
wollte, war ja gerade dies: Wir sollten
vorsichtig sein mit allen, auch noch
so gut gemeinten Bildern, die wir in
unserem Kopf entwickeln. Oder, um es
pointierter mit Paul Watzlawick zu sagen:
„Nur der Schizophrene isst die Speisekarte
statt der Speise.“ Sicherlich kommen
wir in unserem Umgang mit den Kindern
nicht ohne ein Bild von ihnen aus. Dies
gilt generell für menschliche Beziehungen,
ja vielleicht auch für das Verhalten
des Herrchens gegenüber seinem Hund
– und umgekehrt. Doch wir sollten, gerade
wenn wir professionelle Erzieher sind,
in einer Ecke unseres Kopfes immer die
kritische Frage aufbewahren: „Stimmt
mein Bild von diesem Kind mit dessen
Wirklichkeit überein? Zwinge ich ihm
ein Bild auf, weil es mir zu unbequem
ist, mich selbst zu verändern?“
Lassen
Sie mich, dieses zweite Drittel meines
Vortrags abschließend, Ihnen noch eine
weitere – durchaus praktisch gemeinte
– Konsequenz nennen. Sie können das,
was ich von der Andersartigkeit der
Kinder gegenüber unserem Bild gesagt
habe, auch auf das Kind selbst beziehen.
In dem Alter, in dem die Kinder bei
Ihnen sind, erwerben sie erstmals so
viel Selbstbewusstsein, dass sie ein
Bild von sich selbst entwickeln. Junge
oder Mädchen, Tollpatsch oder Alleskönner,
Störenfried oder Friedensengel, dumm
oder wissbegierig. Kinder sind sehr
abhängig von uns Großen, also übernehmen
sie unsere Kinderbilder. Sie sind im
Kindergartenalter sehr sensibel für
die Frage: „Wer bin ich?“, also suchen
sie angestrengt nach Zeichen, die ihnen
Antwort auf diese Frage geben können.
Dabei vergröbern sie die ihnen von den
Erwachsenen angebotenen Hinweise manchmal
bis zur Karikatur. Man muss sich als
Großkotz aufführen, weil Junge sein,
etwas positives ist. Oder man spielt
das hilflose, zart besaitete Kind, weil
jeder Träne nachgeweint wird. Manchmal
sind Eltern erschrocken, wie sehr Kinder
ihre Bilder realisieren.
Im
Kindergarten wird es oft notwendig sein,
diesen sich beim Kind verfestigenden
Selbstbildnissen Gegenentwürfe kompensatorisch
entgegenzusetzen. Kinder sind noch dabei,
herauszufinden, wer sie selber sind.
Dies braucht Zeit, und es bedarf des
Ausprobierens, welche Möglichkeiten
in einem stecken. Ich will jetzt nicht
mehr viele Worte machen, sondern Ihnen
nur eine praktische Empfehlung geben:
Wenn Sie ein sehr aggressives Kind in
Ihrer Gruppe haben, vertrauen Sie ihm
– ohne Kontrolle Ihrerseits – die Fürsorge
eines Säuglings an. Falls Ihnen dies
als zu gefährlich erscheint, oder wenn
Sie über kein Baby verfügen: Kaufen
Sie ein Gedeck teuren Meißener Porzellans,
und schenken Sie dieses dem tollpatschigsten
Kind Ihrer Gruppe als Frühstücksgeschirr.
III.
Ein Kind ist anders – als andere Kinder
Ich
komme jetzt zu dem dritten meiner vier
Vortragsteile. Doch keine Angst, Sie
haben schon weit mehr als die Hälfte
Ihrer Zuhörenszeit geschafft. Sie müssen
sich das wie bei einem Fußballspiel
denken: Es hat zwei Halbzeiten, und
die haben wir jetzt hinter uns. Wenn
es sich aber um ein Entscheidungsspiel
handelt, dann gibt es bei unentschiedenem
Ausgang eine Verlängerung von zwei kürzeren
Hälften. Und bei dieser Verlängerung
sind wir jetzt angekommen.
Ø
Eigentümlichkeit
Wir
können die Montessorische Wendung –
„Kinder sind anders“ – noch in einem
dritten Sinne verstehen: Jedes Kind
ist anders als die anderen. Es hat seine
einmalige Geschichte und unverwechselbare
Identität. Ein Kind ist nicht der konkrete
Anwendungsfall der allgemeinen Kategorie
„Kinder“, es passt in kein Raster. Schon
die Kombinationsmöglichkeit verschiedener
Gene ist groß, noch umfangreicher ist
die Differenziertheit verschiedener
gesellschaftlicher Umwelten. Unendlich
offen sind dagegen die Möglichkeiten,
die das Kind selbst ergreift, um aus
dem Material seiner Anlagen und seiner
Umwelt einen eigenständigen Menschen
zu bilden. Der Theologe und Pädagoge
aus dem 19. Jahrhundert, Friedrich Daniel
Ernst Schleiermacher, benutzte ein für
unsere Ohren altertümliches Wort, um
die individuelle Seite des Erziehungsprozesses
zu beschreiben: Er spricht von der „Eigentümlichkeit“
des Kindes.
Ein
eigentümlicher Mensch ist ein sonderbarer.
Das muss nicht in die Nähe von „irgendwie
komisch“ gebracht werden, sondern man
kann es auch wörtlich nehmen: man sondert
sich von allen anderen ab und baut sich
so als einmaligen Menschen auf. In „eigentümlich“
steckt das Substantiv „Eigentum“, es
ist also die Dimension, in der jeder
Mensch ganz und gar sein eigenes Eigentum
wird.
Ich
führe das jetzt ein wenig aus und beziehe
mich dabei indirekt auf das Menschenbild
Johann Heinrich Pestalozzis. Eine zusammenfassende
Originalstelle finden Sie in Ihren Unterlagen.
Zu unseren Erbanlagen können wir nichts:
Es ist Zufall, dass wir das Produkt
dieses Mannes und dieser Frau wurden,
und noch mehr Zufall ist es, dass wir
gerade in diesem Moment gezeugt wurden,
dass es diese Eizelle war, die eine
einzelne Samenzelle von Millionen, die
gleichzeitig ausgesandt wurden, traf.
Stellen Sie sich vor, sie wären einen
Monat später oder früher gezeugt worden,
als Sie es tatsächlich sind. Dann wäre
Ihre genetische Ausstattung ähnlich
der Ihres Bruders oder Ihrer Schwester.
Wir sind nicht verantwortlich für unsere
Gene, also kann in Ihnen auch nicht
unsere Eigentümlichkeit liegen.
Ebenso
zufällig ist die gesellschaftliche Umwelt,
mit der wir konfrontiert werden. Mein
Vater war ein Jahr alt, als der I. Weltkrieg
begann, fünf Jahre, als er zu Ende ging.
Die neue Republik, die „goldenen Zwanziger“,
der wirtschaftliche Zusammenbruch: das
waren die politischen Umstände der Zeit
seiner Kindheit. Und die standen nicht
nur in der Zeitung, sie wirkten sich
sichtbar und handgreiflich bis in das
Eisenbahnerdorf meines Vaters aus. Mein
Vater war zwanzig Jahre als das nationalsozialistische
Unrecht sich gewaltsam Recht verschaffte.
Ein Theologiestudium in dieser Zeit
der Spannung von Staat und Kirche. Dann
der Einzug ins Militär, Kriegsdienst
im II. Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft.
Mein Vater war schon 35 Jahre, als er
Gelegenheit hatte, meine Mutter kennen
zu lernen und zu heiraten, und es war
die schwere Nachkriegszeit, als sie
ihre Kinder bekamen.
Ich
erzähle Ihnen dies heute, um auf folgenden
Punkt aufmerksam zu machen: Es ist nicht
mein Verdienst, dass ich Krieg nur aus
dem Fernseher kenne, dass ich keinen
Hunger habe leiden müssen, dass ich
der nationalsozialistischen Versuchung
nicht ausgesetzt war. Jeder Mensch lebt
sein kleines Leben an einem Ort und
während einer kurzen Etappe der Menschheitsgeschichte.
Von der Gesellschaft her gesehen ist
das Einzelschicksal gleichgültig, es
ich nicht mehr als Material für gewaltsame
Zerstörungs- und Aufbauprozesse. Aber
von dem Einzelnen her gesehen ist dies
alles andere als gleichgültig. Jeder
hat die nicht wiederholbaren Jahre seines
Lebens, in denen er fühlt, denkt und
handelt.
So
unverantwortlich ich für meine Erbausstattung
und meine mir zugewiesene Umgebung bin,
so verantwortlich bin ich für das, was
ich aus ihnen mache. Natürlich prägen
mich Anlage und Umwelt, aber sie schaffen
mich nicht. Sie sind nicht mehr als
Material, das ich benutzen, um meine
unverwechselbare Persönlichkeit aufzubauen.
Es
ist diese Einmaligkeit jedes Kindes,
auf die die Erziehung zielt. Sie als
Erzieherin im Kindergarten bilden für
das drei- bis sechsjährige Kind eine
Umwelt, in der es eine Hilfe erfahren
soll, zu sich selbst zu werden. Es ist
nur eine kurze Etappe im Gesamt des
menschlichen Lebenslaufes, aber eine
wichtige. Sie legt die Grundlage für
einen Prozess des Selbstbewusstseins,
der in diesen Jahren beginnt, und auf
diesem Fundament wird das Kind sein
Leben lang aufbauen.
Ø
Schafe
Lassen
Sie mich das Gesagte noch von einer
anderen Seite aus andeuten. In unserer
Zeit der Maul- und Klauenseuche können
wir häufig Bilder von Schafen in der
Zeitung sehen. Als neulich in der Tagesschau
der Nachrichtensprecher eine entsprechende
Notiz verlas, blickte mich auf dem Hintergrundbild
so ein Tier an. Keine Herde, sondern
ein einzelnes Schaf, und es hatte einen
so treuen Gesichtsausdruck, er erschien
mir so nach Hilfe schreiend, dass er
mich an kleine Kinder erinnerte. Dazu
die Nachricht, wie viele Tausend Schafe
einer Herde getötet wurden, weil einige
Tiere aus Holland importiert wurden.
Dann ein passender Film: Der Kameramann
fing aus dem Hubschrauber Bulldozer
ein, die riesige Mengen Tiere auf dem
Scheiterhaufen zusammentrugen. Und schließlich
stieg Rauch aus dem Tierberg auf. Wenn
ich mir jetzt vorstellte, mein eben
noch treu in die Kamera blickendes Schaf
würde auf diesem Haufen liegen!
Es
ist schon Wahnsinn, was da in unserer
Welt abläuft. Aber wir sind hier nicht
auf einer landwirtschaftlichen Veranstaltung,
und wir sollten Tiere auch nicht vermenschlichen.
Ich setze mein Schafbild also in anderer
Richtung fort. Wenn ich in Holland auf
meiner Lieblingsinsel Texel bin, dann
kann ich viele Schafherden sehen, und
ich muss ehrlich sein, für mich sehen
sie alle gleich aus. Sie haben alle
den treuherzigen Gesichtsausdruck. Ein
Schaf ist wie das andere. Es hat keine
Individualität, sondern ist austauschbares
Exemplar einer Gattung. Wenn ich als
Schafhirte mit der Herde lebte, dann
würde vielleicht auch für mich jedes
Schaf eine Einmaligkeit gewinnen. Ich
könnte sie unterscheiden, ich würde
ihnen einen Namen geben. Jeder Tourist,
der an meiner Schafherde vorbeiradelte
und ein Schaf wie das andere ansähe,
wäre für mich ein Ignorant. Als Schäfer
müsste ich meine Schafe lieben – was
wäre ich selbst, wenn ich als Schafhirte
sie mir alle wegdächte.
Was
ich mit dieser ganzes Schafgeschichte
sagen möchte: Wir erarbeiten uns unsere
Einmaligkeit nicht nur selbst, sondern
wir entwickeln sie, weil es andere einzelne
Menschen gibt, für die wir einmalig
sind. Es ist ihnen nicht egal, was aus
mir wird, wie es mir geht, was ich fühle,
denke und tue. Jeder Mensch ist auf
andere Menschen angewiesen, für die
er etwas ganz besonderes, einmaliges,
eigentümliches ist. Dies gilt auch für
uns Große. Unser Leben würde seinen
Sinn verlieren, wenn es nicht einzelne
Menschen gäbe, für die wir mehr als
austauschbare Rollenträger sind.
Ein
Kind im Kindergartengartenalter macht
erste Schritte hin auf sein Selbstbewusstsein,
auf die Ausbildung seiner Eigentümlichkeit.
Und weil erste Schritte immer die Gefahr
des Hinfallens in sich tragen, sind
die kleinen Kinder noch mehr als wir
Großen darauf angewiesen, von anderen
Menschen Besonderheit zugesprochen zu
bekommen. Sie sind verletzlich, weil
sie noch nicht so viel Verlässlichkeit
in sich haben ausbilden können.
Mutter
und Vater, die gesamte Familie sind
die wichtigsten Personen, die dem Kind
Eigentümlichkeit zusprechen, weil sie
durch ihre Kinder selbst eigentümlich
werden. Doch für das Kindergartenalter
gilt dies auch für die Erzieherin. Diese
Aufgabe nimmt zu, weil Familienverhältnisse
teilweise brüchig werden. Auch wenn
die Kindergärtnerin Mutter und Vater
nicht ersetzen kann, so ist ihr persönliches
Identifizieren mit dem Kind doch von
großer Bedeutung. Wie gesagt, Kinder
sind auf der Suche nach der Antwort
auf die Frage, wer sie selber sind,
und dies verlangt nach Menschen, die
dem Kind Einmaligkeit zusprechen. Eine
Erzieherin mag mit ihrer Professionalität
zu weit gehen und Ansprüche auf Individualität
abwehren wollen (sich z.B. hinter einem
technisch guten Frühförderprogramm verstecken),
doch jedes der 25 Kinder in der Gruppe
wird seine Suche nach Einmaligkeit nicht
an der Eingangstür des Kindergartens
ablegen, er hängt sie nicht wie die
Jacke an den Garderobenhaken, der mit
seinen Bildchen noch Einmaligkeit zu
versprechen scheint.
Ø
Konsequenz
Ich
komme zum Schluss meiner ersten Nachspielhälfte
und unterscheide zwischen
-
Kindern,
-
Kindheit und
-
Kind.
Mit
„Kindern“ bezeichne ich das, was alle
auf einer bestimmten Altersstufe gemeinsam
haben. Die Entwicklungspsychologien
geben gute Hinweise, dies zu begreifen,
und wir brauche dieses Wissen, um uns
pädagogisch den konkreten Kindern unserer
Einrichtung anzunähern. Wir könnten
kein sinnvolles didaktisches Programm
für den Kindergarten entwerfen, wenn
wir an den Entwicklungsbedürfnissen
von Kindern vorübergingen. Wir müssen
versuchen zu verstehen, wie Kinder im
Kindergartenalter anders denken, fühlen
und handeln als wir Erwachsene.
Mit
„Kindheit“ bezeichne ich die soziale
Dimension des Großwerdens. Die Sozialisationsforschung
bietet uns einiges hierfür an. Natürlich
ist ein Kindergartenkind, das in dem
Dschungel der Großstadt groß wird, anders
als eins im Dschungel des Urwaldes.
Ein Kind, das mit einer Übersättigung
von Spielzeug, Medien, Angeboten von
zu Hause zu Ihnen in den Kindergarten
kommt, benötigt etwas anderes als dasjenige,
das Armut in unserer Überflussgesellschaft
erleiden muss. Sich Wissen über Kinderwelten
in unserer Zeit, vor allem auch über
die soziokulturellen Differenziertheit
von Kindheit heute anzueignen, hilft
der Erzieherin, sich einem Kind anzunähern.
Aber
mit diesen beiden notwendigen Dimensionen
von „Kindern“ und „Kindheit“ ist m.E.
das pädagogisch Wichtigste noch nicht
erfasst. Deshalb gebrauche ich das Wort
„Kind“. Es gibt Dinge, für die gibt
es keinen Plural. „Heimat“ ist ein Beispiel:
Sie können in unterschiedlichen Ländern
leben, aber Heimat haben Sie nur eine.
Wenn nicht, dann werden Sie heimatlos,
und dies schadet Ihrer Gesundheit. „Kind“
ist auch so ein Wort, für das es pädagogisch
betrachtet nur den Singular geben sollte.
Im Kindergarten ist es für jedes Mädchen
und jeden Jungen notwendig, dass die
Erzieherin sich darauf einrichtet, für
jedes von ihnen eine Ausdrucksform einer
einmaligen Beziehung zu finden. Das
Kind braucht das, weil es nur so bei
der Suche nach seiner Eigentümlichkeit
weiter kommt.
Lassen
Sie mich noch einen konkreten Hinweis
geben. In Mitarbeiterbesprechungen von
Kindergärten ist es manchmal beliebt,
ein einzelnes Kind durchzusprechen.
Jede Erzieherin schildert es aus ihrer
Perspektive, und man einigt sich schließlich
darauf, was jetzt notwendig sei. Ich
habe dies öfter beobachtet, und ich
habe meine Schwierigkeit damit. Da ist
meiner Erfahrung nach zum ersten, dass
häufig nicht unterschiedliche Sichtweisen
des gleichen Kindes ausgebreitet werden,
sondern dass eine bestimmte Perspektive
sich schnell durchsetzt und alle Teilnehmerinnen
der Dienstbesprechung bestätigende Beispiele
aus ihrem Wahrnehmungskreis suchen.
Wenn so sechs Erwachsene zusammengetragen
haben, was ihrer Meinung nach die Charakterisierung
eines Kindes als schwierig rechtfertige,
dann muss das Kind wohl wirklich verhaltensauffällig
sein. Welche Außenseiterin von Erzieherin
hätte jetzt noch den Mut zu sagen, dass
Kind sei nicht schwierig, vielmehr besonders
sensibel und rücksichtsvoll. Die Macht
der scheinbaren Fakten scheint sie zu
widerlegen. Vielleicht ist es aber auch
nur die Macht kreisförmig bestätigter
Vorurteile. In Ihren Unterlagen finden
Sie die Geschichte von dem andorranischen
Juden, die Max Frisch geschrieben hat.
Vielleicht lesen sie diese zu Hause
durch.
Und
noch eine zweite Schwierigkeit habe
ich mit dem Durchsprechen von Kindern.
Seine Urteile laufen immer auf eine
vergleichende Beurteilung mit anderen
Kindern hinaus. Ein Kind ist besser
oder schlechter, in seiner Entwicklung
voraus oder zurück in Sprache, Denken,
Handeln Spiel als die meisten anderen.
Das Urteil mag ja durchaus richtig sein,
nur die Individualität dieses Kindes
wird dadurch verfehlt. Denken Sie an
sich selbst, würden Sie den Kern Ihrer
Persönlichkeit dadurch beschreiben,
dass Sie schlechter basteln, dafür aber
schöner singen können als Ihre Kollegin,
dass Sie zwar nicht so gut kochen können,
dafür aber hübscher aussehen?
Um
Sie nicht mit meiner Kritik an dem doch
so beliebten „Durchsprechen“ von Kindern
alleine zu lassen, füge ich noch einen
praktischen Hinweis hinzu: Versuchen
Sie Ihren individuellen Zugang zu einem
einzelnen Kind dadurch Ausdruck zu geben,
dass Sie eine Geschichte schreiben.
Stellen Sie sich das nervigste Kind
Ihrer Gruppe vor, und schreiben Sie
einen Aufsatz: „Hans, der erfolgreiche
Autoverkäufer“. Gehen Sie ruhig mit
Ihrer Phantasie durch, und beschreiben
Sie das Aussehen von Hans, seine Ehefrau
und seine Kinder, stellen Sie sich ihn
vor in einer Gruppe Skat Spielender
im Wirtshaus, machen Sie mit ihm eine
Wanderung auf einen Berg, und erleben
Sie viele Abenteuer dabei. Je weiter
Sie mit Ihrer Geschichte kommen, desto
vertrauter werden Sie mit ihm werden,
und was man sich vertraut gemacht hat,
das findet man nicht nervig, sondern
liebt es als ein einzigartiges Exemplar.
Oder
ein weiterer Vorschlag: Schreiben Sie
eine Fortsetzungsgeschichte von Max
und Moritz, jetzt ist es Hans, der Streiche
ausführt. Und seien Sie ehrlich, finden
Sie die beiden Buben nicht auch lustig,
fröhlich und pfiffig und ihr Ende eher
traurig und ungerecht? Wenn Sie nach
Ihrer Geschichte von dem fiktiven Hans
zu dem realen Hänschen zurückkehren,
bin ich sicher, dass Sie mehr von ihm
verstanden haben als bei jedem Durchsprechen
in Ihrem Mitarbeiterkreis. Und vor allem
bin ich mir sicher, dass Sie Ihrem Hänschen
am nächsten Morgen mit frischer Liebe
begegnen werden. Und wer weiß, vielleicht
wird Ihre fiktive Geschichte viel mehr
Richtiges enthalten als die scheinbar
sachlichen Prognosen in Dienstbesprechungen.
Machen Sie doch mal die Probe aufs Exempel.
IV.
Wie anders müssen unsere Kindergärten
sein?
Jetzt
habe ich die erste Hälfte der Nachspielzeit
schon wieder kräftig überzogen. Um dem
drohenden Abpfiff zuvor zu kommen, sage
ich Ihnen nur noch stichwortartig, was
ich Ihnen sagen wollte, jetzt aber nicht
mehr ausführe.
1.
Meine Kindergartenkritik: Kindergärten
sind sich bis hin ins Äußerliche hinein
sehr ähnlich. Ich hätte Ihnen zur Illustration
dieser These die Geschichte von einem
siebenjährigen Jungen erzählt, der mit
dem Auto an einem ihm unbekannten, etwa
400 Meter entfernten Gebäude vorüberfährt
und es spontan als Kindergarten identifiziert
– wohl weil die großen Scheiben mit
Kindertümeleien beklebt sind.
2.
Meine Konzeptionskritik: Viele vorgeschlagene
Neuerungen laufen nach dem Prinzip:
Nicht besser soll der Kindergarten sein,
sondern hauptsächlich anders. Ich hätte
Ihnen zu diesem Zweck das Bilderbuch
„Der Superhase“ von Helme Heine vorgelesen:
„’Wer berühmt ist, ist anders als die
andern – also: wer anders ist als die
andern, wird berühmt!’ So dachte Hans
Knabberrabber in seinem Hasenhirn und
beschloß, anders zu werden als die andern.“
So steht es auf dem Einbanddeckel.
3.
Mein erster konstruktiver Vorschlag:
Alle Kindergärten müssen untereinander
gleich sein, um Kindern gerade in unserer
Zeit einen geschützten Raum zur Bewahrung
von notwendiger Kindlichkeit anzubieten.
Vielleicht sind die Uniform von Jeanshose
und Markenturnschuhen ja nur Äußerlichkeiten,
aber in pädagogischer Hinsicht hätte
ich Ihnen zu zeigen versucht, dass –
weil Kinder anders als Erwachsene sind
- sie Angebote benötigen, die anders
sind als das, was wir für unsere Erwachsenenwelt
schaffen.
4.
Und schließlich mein zweiter konstruktiver
Vorschlag: Alle Kindergärten müssen
sich voneinander unterscheiden, um der
Eigentümlichkeit und Einmaligkeit jedes
Kindes gerecht zu werden. Ich hätte
Ihnen berichtet von meinem zweijährigen
Sohn, dem ich für seine bevorstehende
Kindergartenzeit vor allem eins wünsche:
dass er auf eine Kindergärtnerin trifft,
die ihn so liebt, wie er ist.
Doch
das jetzt auszuführen, würde zu weit
führen. Zu lange schon haben Sie mir
geduldig zugehört. Dafür bedanke ich
mich herzlich.
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