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Sigurd
Hebenstreit
1. Entwicklungspädagogik:
Das kleine Kind zwischen eigener und
Außenwelt
a)
Geistiger Embryo
Ein
Kind wird geboren. Seine beschützende
Welt im Mutterleib hat es verlassen.
Es muss ein Schock sein, sich jetzt
in die neuen Welten einzufinden, wie
menschenfreundlich auch immer der Übergang
gestaltet wird. Maria Montessori nennt
es die Phase des „geistigen Embryos“,
die jetzt bevorsteht. In den vergangenen
neun Monaten hat es seinen Körper aus
einer befruchteten Eizelle aufgebaut,
jetzt ist er in der Lage, selbständig
zu atmen, zu schlucken und die von Außen
kommende Muttermilch zum weiteren Aufbau
seines Körpers zu nutzen. In den vor
ihm stehenden Jahren muss der Neugeborene
seine individuelle Persönlichkeit aufbauen;
er hat einen Geist zu schaffen, der
die große Außenwelt in den kleinen Kinderkopf
bekommt und der gleichzeitig in der
Lage ist, Spuren in dem Außen zu hinterlassen.
Dieser
Aufbauprozess ist die Arbeit des Kindes
selbst. Seine Mutter hat den Körper
nicht geschaffen, indem sie Arme und
Beine, Hände und Füße formte und an
den Rumpf klebte, sondern in der befruchteten
Eizelle lag ein Programm, das aus sich
selbst in der sicheren Umhüllung des
Mutterleibes einen Menschen entstehen
ließ. So ähnlich wird es nach der Geburt
auch mit dem Aufbau der kindlichen Persönlichkeit
gehen. Die Eltern können nicht durch
den Nürnberger Trichter die große Welt
dem Kind einflößen; in unserem Computerzeitalter
würden wir vielleicht sagen: Die Eltern
können nicht einen Chip in seinen Kopf
implantieren, der Denken und Fühlen
steuert und eine Landkarte des Außen
enthält. Der Aufbau der kindlichen Persönlichkeit,
seine Möglichkeit, die Welt zu verstehen
und in sie einzugreifen, ist ausschließlich
Werk des Kindes selbst.
Durch
dieses Wunder, dass ein hilflos zappelndes,
3000 Gramm wiegendes Wesen aus dem Nichts
seine Person aufbaut, entsteht gleichermaßen
auch die Welt immer wieder neu. Nehmen
Sie als Beispiel Ihre Auseinandersetzung
mit der Außenwelt „Maria Montessori“.
Sie ist seit jetzt fast fünfzig Jahren
tot, ihre Einsatzzylinder sind Holzstücke,
deren Wahrenwert mit 7,50 DM zu veranschlagen
ist, und ihre Schriften sind mit vielen
Buchstaben bedrucktes Papier. Lebendig
wird die Außenwelt „Maria Montessori“
dadurch, dass diese Buchstaben durch
den Kopf der Teilnehmerinnen Ihres Kreises
hindurchgehen, dass Sie sich bemühen
zu verstehen, was Maria Montessori zu
sagen hat, dass Sie ihren Werken Bedeutung
zumessen und dass Sie Ihr Leben und
Ihre Praxis mit den Aussagen Maria Montessoris
in Beziehung setzen. Maria Montessori
wäre tot, wie ihr Körper tot ist, wenn
es nicht einzelne Menschen gäbe, die
ihr durch ihren Geist Leben geben würden.
Damit
die 3000 Gramm Fleisch eine individuelle
Persönlichkeit und eine lebendige Welt
schaffen können, bedarf es des Schutzes
einer geeigneten Umgebung, die Zeit
und Raum zum Wachsen bietet; und es
benötigt entsprechende Nahrung, um die
Bausteine zur Selbstentwicklung zur
Verfügung zu stellen. Dies ist bei dem
geistigen Embryo nicht anders als bei
dem physischen, der ohne den schützenden
Mutterleib und die Blutzufuhr von Außen
zu Grunde ginge. Doch die Verhältnisse
sind richtig darzustellen: Der Mutterleib
und das mütterliche Blut schaffen nicht
den körperlichen Embryo, sondern sie
ermöglichen ihn nur. Ebenso bedarf der
geistige Embryo der geeigneten erzieherischen
Atmosphäre und der Anregungen von Außen.
Sind sie nicht vorhanden, sind Fehlentwicklungen
die Folge. Aber die Pädagogik erschafft
das Kind, seinen Geist und Kopf und
seine Hand, nicht.
b)
Absorbierender Geist
Wie
kommen nun dieser kleine kindliche Kopf
und die große Welt – Gegensätze, wie
wir größer sie uns nicht denken können
– überhaupt miteinander in Kontakt,
was gibt den Anfangspunkt für die notwendige
Interaktion? Maria Montessori spricht
von dem absorbierenden Geist, der darauf
ausgerichtet ist, alles in sich aufzunehmen,
was er um sich herum findet. Wie der
Körper der Milch bedarf, die er aus
der Mutterbrust aufsaugt, so holt sich
der Geist seine Nahrung aus der das
Kind umgebenden Welt. Zweierlei ist
für Maria Montessori dabei wichtig:
Zunächst einmal betont sie, dass der
Neugeborene von Anfang an nicht nur
körperliches Wesen ist Von Beginn des
Lebens an muss er als geistiger Mensch
betrachtet werden, auch wenn der sprachlose
Säugling nicht über Bewusstsein verfügt.
Dies ist zu betonen, weil Unabhängigkeit
und Freiheit den Menschen vom ersten
Tage an kennzeichnen. Wir können auch
mit Janusz Korczak sagen: „Kinder werden
nicht erst zu Menschen – sie sind bereits
welche.“ (Der Frühling und das Kind,
S. 24f) Das zweite ist, dass das Kind
von Anfang an ein aktives Wesen ist:
Der absorbierende Geist öffnet nicht
einfach die Schleusentüre der Wahrnehmungskanäle,
so dass passiv die äußere Welt in das
Innere des Kindes strömen kann, sondern
aktiv saugt das Kind das Außen in sich
hinein.
Für
den Jugendlichen gibt es häufig einen
Konflikt zwischen der eigenen Welt und
der der Erwachsenen. Es kann sein, dass
er sich als allmächtig träumt, er will
nach den Sternen greifen, aber dann
erlebt er sich ohnmächtig, zurückgedrängt
in die Kinderrolle. Der Weg in das verantwortungsbewusste
Leben ist ihm versperrt. So kritisiert
Maria Montessori, dass der Heranwachsende
in der Schule festgehalten, dass ihm
Mündigkeit vorenthalten wird, wo es
doch sein Streben ist, Spuren in der
richtigen Welt zu hinterlassen: Maria
Montessori fordert deshalb für dieses
Alter eine Pädagogik, die Lernen und
Arbeiten miteinander verbindet. Oder
der Jugendliche erlebt in sich eine
idealistische eigene Welt, voll von
Frieden, Gerechtigkeit und Menschenliebe.
An deren Maßstab gemessen ist die Welt
der Erwachsenen korrupt, verdorben,
kleinkariert. Wie lässt sich diese Jugendlichenwelt
mit dem Zugang, in das wirkliche Leben
hineinzuwachsen, in Übereinstimmung
bringen?
All
dieses ist für das kleine Kind noch
kein Problem. Es hat weder sein eigenes
Selbst sicher im Blick, noch eine festgefügte
Vorstellung von der Welt außen. Beide
Aspekte bedingen sich vielmehr: Indem
es sich in seine Umwelt hineinarbeitet,
baut es sein Selbstbewusstsein auf;
und indem es sich seines Selbst zunehmend
gewisser wird, gewinnt es immer mehr
Kontakt zu den vielen Aspekten seiner
Umwelt. Jean Piaget hat von dem ursprünglichen
Egozentrismus des Kindes gesprochen
und hinzugefügt, es sei ein „Egozentrismus“
ohne „Ego“. Wir können dies in Parallele
zu dem setzen, was Maria Montessori
über die Wirkungsweise des absorbierenden
Geistes sagt: „Man könnte ... sagen,
daß wir unser Wissen mit Hilfe unserer
Intelligenz aufnehmen, während es das
Kind mit seinem psychischen Leben absorbiert.
... Wir sind Aufnehmende; wir füllen
uns mit Eindrücken und behalten sie
in unserem Gedächtnis, werden aber nie
eins mit ihnen, so wie das Wasser vom
Glas getrennt bleibt. Das Kind hingegen
erfährt eine Veränderung: Die Eindrücke
dringen nicht nur in seinen Geist ein,
sondern formen ihn. Die Eindrücke inkarnieren
sich in ihm. Das Kind schafft gleichsam
sein 'geistiges Fleisch' im Umgang mit
den Dingen seiner Umgebung. Wir haben
seine Geistform absorbierenden Geist
genant.“ (Absorbierender Geist,
S. 23)
c)
Egozentrismus des Kindes
und der Familie
Kleine
Kinder lieben ihre Umwelt, fühlen sich
mit ihr eins, und sie bedürfen ihrer
als Nahrung, um beides zugleich zu tun:
sich selbst aufzubauen und ein Bild
von der Außenwelt zu entwickeln. Dabei
sind sie außergewöhnlich egozentrische
Menschen. Der Säugling hat noch keine
Grenze zwischen Innen und Außen gewonnen,
und die Psychoanalytiker vermuten, dass
sie diese nicht nach den realen Gegebenheiten
ziehen, sondern sich durch Lust und
Unlust leiten lassen: die Mutterbrust
ist, weil sie die wohltuende Milch gibt,
Innen, während der grummelnde, schmerzende
Bauch außen sei. Dies ist sehr spekulativ,
denn es setzt voraus, der Säugling habe
überhaupt ein Bewusstsein, zumindest
eine Ahnung von der Grenze des eigenen
Selbst zu der umgebenden Welt.
Auch
die sich in die Welt der Sprache einarbeitenden
Zweijährigen sind noch außergewöhnlich
egozentrische Menschen. „Was ich nicht
weiß, macht mich nicht heiß“, sagt das
Sprichwort, und so kümmert sich das
Kind nicht um die Einteilungen in Farben,
Zahlen, Klassifikationen, Relativierungen.
„Die Welt ist so, wie ich sie habe“,
sagt es sich. Unser zweijähriger Sohn
hat aus der Fülle der ihn umschwirrenden
Wörter sich „links“ als eins seiner
Lieblingsworte ausgesucht. Er benutzt
es korrekt als Angabe einer Richtungsänderung.
Aber das „links“ eigentlich erst Sinn
macht, wenn es auch „rechts“ gibt, kümmert
ihn gar nicht, und er widersteht jedem
Bestreben der Eltern, auch „rechts“
in seinen Wortschatz einzuverleiben.
Der
Egozentrismus des Kindes ist das eine,
was Sie beachten müssen, wenn die Kinder
zu Ihnen in den Kindergarten kommen.
Das andere ist der Egozentrismus seiner
Familie. Egal unter welchen Bedingungen
das Kind seine ersten Jahre verlebt
hat, es war die erste Welt, mit der
es in Kontakt kam, und diese prägt seine
Vorstellungen von Normalität unverändert.
Das nimmt für unsere Vorstellungen des
Erwachsenendenkens unvorstellbare Züge
an. Ich erinnere mich meiner eigenen
Erschütterung, als ich vor Jahren einmal
zwei Kinder von ihrem zu Hause in unsere
Spielstube in einer Obdachlosensiedlung
abholte. Sie spielten in der Kotze ihrer
im Rausch eingeschlafenen Mutter. Für
mich war das unvorstellbar, es musste
etwas geschehen. Doch für die beiden
Kinder war dies die normale Welt. Gerne
gingen sie mit mir in den Kindergarten,
aber ebenso selbstverständlich wollten
sie danach nach Hause zurück.
Sie
werden dies aus Ihrer Praxis kennen:
25 Kinder mit ihren 25 verschiedenen
Familien, und jedes bringt seine Vorstellungen
von normaler Welt mit in das Kinderhaus.
Es gibt misshandelte, missbrauchte Kinder
neben den behüteten oder sogar überbehüteten,
diejenigen, die das fünfte Rad am Wagen
sind, neben denen, um die sich alles
dreht. Kleine Kinder sind sehr anpassungsfähig.
Egal aus welchem Milieu sie kommen,
sie werden sich in die neue Welt des
Kindergartens fügen und sie als ebenso
selbstverständlich erleben wie ihre
Familie. Doch ihre erste Welt wirkt,
weil sie der Maßstab der Beurteilung
aller folgenden ist, viel tiefer. Bis
ins hohe Alter hinein hinterlässt die
erste Welt eines Menschen Spuren. Was
und wie man etwas als Heimat erlebt,
dies wird hier geprägt, auch wenn es
eine Welt ist, in der Schmutz, Verzweiflung,
Desorientierung überwiegen.
d)
Schöpfung und Perfektionierung
Ein
letzter Punkt für heute zu den entwicklungspsychologischen
Grundlagen. Maria Montessoris Erziehungslehre
lässt sich als „Entwicklungspädagogik“
charakterisieren. Dies wird manchmal
übersehen, wenn ihre didaktischen Materialien
für das Ganze ihrer Pädagogik genommen
werden. So bedeutsam diese auch heute
noch sind, wichtiger erscheint mir ihre
Erziehungstheorie, und diese geht von
dem Rousseauschen Grundsatz aus, dass
jede Erziehung in ihren Grundsätzen
und konkreten Vorgehensweisen die Bedingungen
der jeweiligen Altersstufe zur Grundlage
haben muss.
Für
das Kind von der Geburt bis zum Eintritt
in die Schule unterscheidet Maria Montessori
dabei zwei deutlich voneinander abgegrenzte
Abschnitte, die sie einerseits „Periode
der Schöpfung“ (1992, S. 87) und
andererseits „Periode der Realisierung
und der Perfektionierung“ (1975,
S. 161) nennt. Über die erste, charakterisiert
durch die Wirkungsweise des absorbierenden
Geistes, haben wir gesprochen. In Bezug
auf unser Thema: „Das Kind und seine
und unsere Welt“, sagt Maria Montessori,
dass es in den ersten Lebensjahren wichtig
sei, das Kind in der realen Welt leben
zu lassen. Die Mutter soll es überall
mithin nehmen, wohin ihre Geschäfte
sie treibt; sie soll sich aber auch
die Frage stellen, ob ihre Welt hilfreich
für ein sinnerfülltes Menschenleben
ist.
Die
Grundlagen der Persönlichkeit sind in
den ersten drei Lebensjahren gelegt.
Der geistige Embryo ist geboren. Die
Entwicklungsaufgabe der folgenden drei
Jahre beschreibt Maria Montessori des
öfteren mit „Fixierung“: Das,
was in den ersten Jahren als Möglichkeiten
geschaffen worden ist, wird jetzt in
eine festere Form gegossen. Der Kern
der Persönlichkeitsbildung wird dauerhaft
festgehalten, so dass er unveränderbarer
Bestandteil der Individualität dieses
Menschen wird. In der Zeit des Kinderhauses
lassen sich Fehlentwicklungen, die in
der vorangehenden Familienkindheit vielleicht
entstanden sind, noch korrigierten (Maria
Montessori spricht von „Normalisation“),
später ist dies nur noch begrenzt und
mit großem Kraftaufwand möglich.
Für
die zweiten drei Lebensjahre gibt es
einen radikalen Wechsel des Lernortes.
Jetzt kommt das Kind in einen unter
didaktischen Gesichtspunkten gestalteten
Raum, eine künstliche Gegenwelt. Die
Schleife lernt es nicht am eigenen Schuh,
sondern vermittelt durch den Schleifenrahmen,
die Farben werden nicht in der Buntheit
der Welt erworben, sondern mit Hilfe
der Farbtäfelchen, Lesen lernt das Kind
nicht durch die Tageszeitung, sondern
mittels spezieller Materialien. Warum
dieser künstliche Zwischenschritt? Mit
ihm steht die Montessoripädagogik im
deutlichen Gegensatz zu den in der heutigen
Kindergartendiskussion herausgehobenen
Forderungen nach Lernen in realen Lebenssituationen
und nach Öffnung des Kindergartens zum
sozialen Umfeld hin. Ich denke, dies
hat mit der Radikalität des kindzentrierten
Denkens Maria Montessoris zu tun.
Ihr
geht es nicht darum, dass Kind an die
Welt anzupassen, sondern sie fragt von
den Entwicklungsbedürfnissen des Menschen
her. Die reale Welt ist bunt und vielschichtig,
alles dringt auf einmal auf den Kopf
ein, und so lenkt die eine Wahrnehmung
von der anderen ab. Es ist schwierig,
sich auf ein Ereignis wirklich einzulassen,
wenn gleichzeitig auch andere die Aufmerksamkeit
beanspruchen. Das sich entwickelnde
Kind ist dieser Flut der Überfülle schutzlos
ausgeliefert, es droht von ihr überrollt
zu werden, weil es zwar zunehmend mehr
auf die Dinge aufmerksam wird, aber
noch keine inneren Mechanismen hat,
diese zu verarbeiten. Das Kind von drei
bis sechs bedarf eines Schutzraumes,
um in seinem Kopf ein „Alphabet“ der
Sinnesdimensionen aufzubauen, und um
die Ordnung elementarer Handlungen zu
erlernen. Außerdem ist dieser Raum künstlichen
didaktischen Arrangements notwendig,
weil die Abläufe in der realen Welt
für das Kind weder durchschaubar noch
handgreiflich sind sowie vielerlei Gefahren
bereithalten. Noch mehr als Maria Montessori
es sicherlich vorausgeahnt hat, leben
wir heute in einer virtuellen Welt des
Computers und Internet, die viele Chancen
bieten, aber für die Lernmöglichkeiten
kleiner Kinder wenig geeignet sind.
Das Kindergartenkind muss ganzheitlich
wahrnehmen – nicht nur sehen und hören,
sondern auch schmecken, riechen und
fühlen -, und es muss in unmittelbaren
körperlichen Kontakt mit den Gegenständen
kommen – handelnd mit ihnen umgehen
können. Die Hand spielt in dem pädagogischen
Denken Maria Montessoris eine zentrale,
auch anthropologisch begründete Rolle.
Weil
unsere Welt nicht den Entwicklungsbedürfnissen
der Kinder angemessen ist, bedarf es
einer pädagogisch gestalteten Kinderwelt.
Diese ist nicht der Zielpunkt, sondern
ein notwendiger Zwischenschritt, um
das Kind in Kontakt mit der Welt zu
bringen. Sie ist notwendig, damit der
Mensch nicht instinktmäßig von seiner
Umwelt angezogen wird und deren Reizen
blind folgt, sondern von einer Position
des Selbstbewusstseins aus in seine
Welt aktiv eingreift. Nehmen Sie den
Schleifenrahmen nochmals als Beispiel:
Sein Ziel ist nicht erreicht, wenn das
Kind an ihm fehlerfrei Schleifen binden
kann, sondern wenn es diese Fähigkeit
auf seine Schuhe übertragen kann, so
dass es frei von dem Zwang nach Klettverschluss-Schuhen
wird.
Weil
Maria Montessori radikal von den kindlichen
Entwicklungsbedürfnissen aus denkt,
kommt sie in Bezug auf die Beziehung
von Kind und Welt zu einer anderen Reihenfolge,
als es sowohl die pädagogische Logik
wie das erzieherische Alltagshandeln
nahe legen:
-
Schritt 1: Ungehinderter
Zugang des Kindes zu der realen Welt,
um seinem Geist vielfältigen Kontakt
zu der Differenziertheit des Lebens
zu ermöglichen;
-
Schritt 2: Stundenweises
Leben in einer künstlichen Kinderwelt,
um den Aufbau elementarer Wahrnehmungs-
und Handlungsleistungen zu schaffen;
-
Schritt 3: Pädagogische
Aktion in der realen Welt, um Selbstbestimmung
und Freiheit einzuüben.
2.
Erziehungskritik: Der Egozentrismus
der Erwachsenen
a) Die prinzipiell
anklagende Haltung
Lassen
Sie uns nun von der Betrachtung der
Entwicklungsnotwendigkeiten seitens
des Kindes wegkommen und einen Blick
auf die Realität der Beziehungsgestaltung
zwischen Erwachsenen und Kindern werfen.
Maria Montessori hat nicht gerade ein
vorteilhaftes Bild von uns Großen. Dass
in ihrer Pädagogik Umgebung und Material
viel von der traditionellen Funktion
des Erziehers übernehmen, hat auch mit
ihrer Skepsis gegenüber Erwachsenen
zu tun. Salopp formuliert: Der Erwachsene
ist so kaputt, dass er das Kind mehr
zerstört als aufbaut, und die Pädagogik
muss es deshalb unabhängig von den Erwachsenen
machen.
Maria
Montessoris Vorwurf, der Erwachsene
unterdrücke das Kind, er sei in seinem
Verhalten egozentrisch, richtet sich
nicht an einzelne Eltern oder Erzieher,
sondern an alle. In Parallele zu den
großen sozialen Fragen des 19. und 20.
Jahrhunderts, der Ausbeutung von Arbeitern
und Frauen, müssen wir von einem Klassenkampf
der Großen gegenüber den Kleinen reden;
und während die Arbeiter- und Frauenemanzipation
gewisse Erfolge gezeigt habe, seien
die Kinder die letzte sozial benachteiligte
und unterdrückte Gruppe. Die Kritik
richtet sich zudem nicht nur gegen eine
autoritäre Prügelpädagogik, mit der
einzelne Eltern ihr Kind misshandeln,
sondern auch gegen eine scheinbar kinderliebende
Einstellung. Wir können also schlecht
mit Maria Montessori als professionelle
Pädagogen mit dem Finger auf die unwissenden,
bösartigen Eltern zeigen, wir haben
vielmehr den Kern der Kritik auf uns
selbst zu richten. Wir müssen in unsere
Erziehungskonzeption die selbstkritische
Frage aufnehmen, ob wir die Individualität
der kindlichen Persönlichkeit achten,
ob wir sie als unabhängig und frei sehen,
ob wir sie nicht nur auf ein menschenwürdiges
Leben vorbereiten, sondern auch ihre
unveräußerbaren Menschenrechte hier
und jetzt achten. Maria Montessori sagt:
„Wer
für das Kind eintritt, muß dauernd diese
anklagende Haltung gegen den Erwachsenen
einnehmen und darf hierbei weder Nachsicht
walten lassen noch Ausnahmen machen.“
(Montessori, 1989, S. 21)
Der
Kern der Erziehungskritik besteht darin,
dass der Erwachsene die Andersartigkeit
des Kindes nicht respektiert, dass er
in egozentrischer Weise vielmehr mit
seinen Maßstäben misst. Ein Beispiel
dafür sind die unterschiedlichen Zeitrhythmen
von Kindern und Erwachsenen. Ein Kind
ist unendlich langsam. Vorsichtig macht
es seine Bewegungen, es zögert, ist
umständlich, wirkt unbeholfen und wiederholt
die Winzigkeit eines Teilschrittes viele
Male. Für den beobachtenden Erwachsenen
ist dies eine große Geduldsprobe, er
möchte dem Kind helfen, erledigt die
scheinbaren Vorbereitungen geschwind
mit eigener Hand, damit das Kind sich
dem Eigentlichen zuwenden kann. Gerade
für kinderliebende Erzieher, denen es
nicht egal ist, was mit den Kindern
ist, lässt sich die Geduldsprobe schwer
gewinnen. In bester Absicht greifen
wir ein, wollen eine Hilfe für das Kind
sein, verhindern aber ihre Unabhängigkeit.
Malen Sie sich nur einmal aus, wie Sie
ein kleines, dreijähriges Kind im Umgang
mit einem Messer beobachten.
Manchmal
sind Kinder aber auch viel schneller
als wir. Wenn Sie so alt sind wie ich,
können Sie sich vielleicht noch an Ihre
Übergangsschwierigkeiten von der elektrischen
Schreibmaschine hin zum Computer erinnern.
Es war mühsam, seine liebgewordenen
Verhaltensweisen zu verlernen und sich
in eine neue Welt hineinzudenken. Da
gab es viele Anläufe von Versuch und
Irrtum, und auf mehreren Spickzetteln
wurden die Grundschritte aufnotiert.
Wir haben versucht, mit der Logik der
Schreibmaschine an den Computer heranzugehen,
und mussten notgedrungen scheitern.
Der Computer – dass war eine Wissenschaft
für sich, schwierig und undurchschaubar,
und der Apparat schien mehr uns zu beherrschen
als wir ihn. Und dann können Sie heute
selbst kleine Kinder sehen, die mit
Leichtigkeit und Gewandtheit mit Maus
und Tastatur umgehen, so dass Sie nur
staunen können. Ich erinnere mich noch,
dass ich vor Jahren meinem Neffen meinen
alten Computer schenkte. Als Onkel klärte
ich ihn großmütig über meine elementaren
Kenntnisse auf, sagte ihm, er könne
mich anrufen, falls er Schwierigkeiten
habe. Doch dies geschah nur ein- oder
zweimal. Bald hatte er mich mit seinen
Fähigkeiten ein, und jetzt ist er mir
auf diesem Gebiet schon lange und deutlich
überlegen.
Der
Erwachsene unterdrückt das Kind, manchmal
in böser Absicht, häufiger, weil die
Kleinen störend in unsere Welt eingreifen,
vor allem aber, weil wir egozentrisch
sind und das Kind deshalb nicht verstehen
können. Dabei, so sagt Maria Montessori,
wäre es für uns so leicht, die Zuneigung
des Kindes zu gewinnen. Kinder sind
ungeheuer anpassungsfähig, viel mehr
als wir, die wir in unseren eingefahrenen
Gleisen stecken, aus denen wir nur schwer
herauskommen. Und die Kinder vergöttern
die Großen, sie bewundern uns, wollen
in unsere Welt hineinwachsen. Doch dann
verlangt dieser Erwachsenen-Gott etwas,
was dem Kind unmöglich ist: Es soll
seinen inneren Entwicklungsimpuls aufgeben,
damit Platz für das Belehrungsprogramm
des Erziehers ist. Im Streit liegen
hier also der Lebensdrang des Kindes
und die Forderungen der Außenwelt, ein
Dilemma, aus dem das Kind nicht herauskommt.
Für einen Erwachsenen ist es so leicht,
die Zuneigung der Kinder zu gewinnen;
Erzieher brauchen sich nichts einzubilden,
wenn die Kinder sie lieben. Die Frage
ist, ob wir Erwachsene uns als würdig
erweisen, die Liebe der Kinder zu verdienen.
Maria
Montessori hat oft eine bildreiche Sprache.
An einer Stelle vergleicht sie den Erwachsenen
mit einem „Frosch, der seine Kaulquappe aus dem Wasser ziehen, ihr unter Aufbietung
aller Kräfte das Lungenatmen beibringen
und ihr unschönes Schwarz in ein sympatischeres
Grün verwandeln wollte“ (Montessori
1989, S. 208). Kinder sind anders, anders
als Erwachsene. Wenn Erziehung diese
Andersartigkeit nicht in den Blick nimmt,
wenn sie das Eigenrecht des Kindes nicht
heraushebt, wenn Pädagogik nur als Beschleunigungsprogramm
angesehen wird, damit das Kleine möglichst
rasch vorwärts kommt und aus dem unmündigen
Kind der kompetente Erwachsene wird
- dann wird Erziehung zu einem Kampffeld,
und dann ist Erziehung Gewalt, auch
wenn ihre Methoden wohlgefällig und
sanft sind.
b)
Mit Jasmine und ihrer
Mutter in der Eisenbahn
Meine
lieben Zuhörerrinnen und Zuhörer. Ich
möchte Sie jetzt auf eine Reise mitnehmen,
um Ihnen mit der pädagogischen Brille
Maria Montessoris ein winziges Stückchen
der Kinder-Erwachsenen-Realität, aufgenommen
im September 2001, zu präsentieren.
Wir besteigen den InterRegio in Erfurt
und fahren Richtung Westen ins Ruhrgebiet.
In einem Raucher-Großraumabteil finden
wir an der Rückwand des Wagons Platz.
Zwei Sitzreihen vor uns sitzt eine Mutter
mit ihrer vielleicht vier Jahre alten
Tochter, diesen gegenüber ein junger
Mann. Wir sind früh aufgestanden und
wollen deshalb die vor uns liegenden
gut vier Stunden zum Dösen nutzen. Doch
kaum ist der Zug angefahren, da wird
unser Plan durch das hektische Getreibe
von Mutter und Kind zunichte gemacht.
Der Zufall hat es so gewollt, dass wir
für einige Stunden gemeinsam mit den
beiden auf vielleicht 25 qm zusammen
sein müssen.
Ich
kann Ihnen nicht alle Einzelheiten schildern.
Zum einen würde Sie das langweilen,
zum anderen hätte es eines breiten technischen
Arsenals von Videokameras und Mikrophonen
bedurft, um alles aufzuzeichnen, und
die Verschriftlichung von drei Stunden
Kinder-Erwachsenen-Realität benötigte
den Platz eines Thomas-Mann-Romans.
Unsere Sicht auf die Szene ist durch
zwei Rücksitze versperrt, und die Geräuschkulisse
des fahrenden Zuges verschluckt viele
Gesprächsanteile. Doch das, was wir
sehen und hören, reicht. Jasmine heißt
das Mädchen, und ihre Füße wachsen über
die Schuhgröße 28 hinaus. Die Mutter
ist allein erziehend, ihr geschiedener
Mann terrorisiert sie und das Kind.
Sie hat einen neuen Freund, der sie
hoffentlich vom Bahnhof abholen wird.
Es ist für uns nicht auszumachen, ob
Mutter, Kind und Freund in einer gemeinsamen
Wohnung leben, aber das ist jetzt auch
egal. Der Sprachakzent lässt vermuten,
die Mutter stamme aus Thüringen, habe
am Wochenende ihre Eltern besucht und
reise jetzt in die neue Heimat Westfalen
zurück.
Wie
gesagt, ich will Sie nicht mit Einzelheiten
belästigen und führe nur einige Aktivitäten
auf, die im Abstand von noch nicht einmal
einer Minute wechseln:
-
Eine Spange
wird im Haar des Kindes befestigt und
wieder gelöst;
-
ein Butterbrot
wird ausgepackt – hineinbeißen - wieder
einpacken;
-
Mutter und Kind
kabbeln sich um ein Spielzeugschwein,
an dem eine lange Schnur befestigt ist;
-
das Handy klingelt,
und die Mutter gibt ihre Ankunftszeit
bekannt;
-
die Mutter holt
Pixi-Bücher aus einer Tasche und gibt
sie dem Kind;
-
das Kind zeichnet
Formen von einem Schablonenlineal nach,
die Mutter fragt: „Soll ich vormalen
und Du malst aus?“ Kind: „Nein!“;
-
die Mutter steckt
sich eine Zigarette an;
-
das Kind fragt
„Fernsehen?“, die Mutter antwortet:
„Du kannst heute gucken, Video“, und
darauf das Kind: „Mit dem Hund! Wau,
wau!“;
-
wir fahren über
eine große, hohe Brücke, Kind: „Wasser!“,
Mutter: „Du kannst da aber nicht rein,
Schlingpflanzen drin“;
-
Mutter: „Ich
kauf dir morgen ne riesig große Glocke“;
-
das Kind benutzt
einen Kugelschreiber als Zigarette;
-
das Kind sagt
fordernd zur Mutter: „Gib mir Tasse
(= Tasche)!“, die Mutter gibt sie ihm
und es packt zu den Haufen der Spiele
weitere Sachen aus, die Mutter räumt
sie wieder ein;
-
das Kind herrscht
die Mutter an: „Ei, lass das!“, die
Mutter: „Ich klatsch dir eine!“;
-
das Kind: „Mama,
Kacke bist du!“, darauf die Mutter:
„Danke“.
Wie
gesagt: Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt
aus einer Überfülle von Ereignissen.
Ständig wird etwas getan, und es ist
dabei zufällig, was gerade gemacht wird.
Wichtig ist nur, dass irgend etwas geschieht.
Und dieses Tun wird fortlaufend von
einem Wortschwall begleitet, wobei es
wiederum egal ist. was gesagt wird,
Hauptsache, es wird etwas gesagt. Wenn
dem Kind die Wortgedanken ausgehen,
fängt es an zu singen, und sein Repertoire
besteht aus zwei Liedern: Wie ein Schlagerstar
brüllt es: „Hey, baby – Juuh!“, oder
es singt zwei Zeilen des Kindergartengeburtstagsliedes:
„Wie schön das du geboren bist“. Doch
auch dieses Lied hat es nicht verstanden
und so wiederholt es die beiden Zeilen
in sinnentstellender Weise. Neben dem
Reden von Mutter und Kind ist noch eine
quäkende Computerstimme zu hören. Zuerst
tippen wir auf einen Kassettenrekorder,
doch als wir schließlich aufstehen,
um die Szene einmal aus freier Sicht
zu betrachten, sehen wir, dass eine
ca. 40 cm hohe Pikatscho-Puppe die Geräuschquelle
ist.
Überhaupt
bietet unser freier Blick von oben auf
die gesamte Szene erstaunliches: Der
Tisch, die Bank von Mutter und Kind
und der vor ihnen im Gang stehende Kinderwagen
bieten den Anblick eines Schlachtfeldes:
eine Überfülle von Spielmaterialien,
von Essens- und Trinkangeboten, über
allen thronend – nicht das Kind -, sondern
eine quäkende, knallgelbe Pilkatschofigur.
Die Tüten in dem Kinderwagen scheinen
noch mehr Munition bereitzuhalten. Und
wir sehen den Gesichtsausdruck des Kindes
und können unsere Vermutung nicht zurückhalten:
Ein glückliches Kind sieht anders aus.
Wir möchten der Mutter sagen: „Kauf
morgen keine große Glocke und leg heute
Abend nicht den Videofilm ein.“ Doch
was würde dies ändern?
Also
setzen wir uns schweigend, der Bahnhof
Kassel-Wilhelmshöhe naht. Viele Menschen
steigen aus und ein. Der Kinderwagen
steht den Koffer tragenden Reisenden
im Weg. Ein älterer Herr ist hilflos
und ärgerlich; er fordert die Mutter
auf, den Kinderwagen beiseite zu schieben.
Er wird etwas hin- und hergerollt, aber
es ist einfach zu wenig Platz. Eine
junge Frau kommt mit ihrem Koffer ebenfalls
nicht vorbei. Sie bittet den jungen
Mann, der der Mutter gegenüber sitzt,
den Koffer herüber zu heben. Der Kinderwagen
ist Ausdruck der Trutzburg, die die
Mutter sich gebaut hat. Als Verteidigungswaffe
gegen die bösen Blicke der Vorübergehenden
hat sie sich ein gezieltes, unbeteiligtes
Weggucken zurechtgelegt. Der Kinderwagen
hat nicht die Funktion, das Kind zu
transportieren, die vierjährige Jasmine
ist zu groß für ihn. Er dient dem Transport
des Nachschubs – Plastiktüten, Stoffbeuten
und Taschen, die das Waffenarsenal von
Spielzeug beinhalten. Der Zug fährt
weiter und noch haben wir über eine
Stunde gemeinsamer Fahrt vor uns. Ich
möchte Ihnen nur noch vier Szenen beschreiben:
-
Szene 1: Der
junge Mann steht auf, und das Kind fragt:
„Wo geht der Onkel jetzt hin?“, Mutter:
„Toilette“. Der Mann kommt zurück, und
die Mutter fragt das Kind, ob es auch
mal müsse und ob es allein gehen würde.
Das Kind geht, die Mutter ruft ihm hinterher:
„Kommst aber gleich zurück!“ Jetzt entsteht
für wenige Minuten eine menschliche
Sprachpause in unserem Abteil, die Pikatscho-Puppe
ist so genauer zu vernehmen. Das Kind
kommt zurück, die Hosen hängen herunter,
und während die Mutter sie hochzieht,
sagt das Kind: „Ich hab’ Kaki und Pipi
gemacht.“ Keine Reaktion der Mutter
und das Kind wiederholt seinen Satz
deshalb zwei Mal mit lauter werdenden
Stimme, bis die Mutter schließlich sagt:
„Ich will es nicht so genau wissen!“
-
Szene 2: Die
Mutter sagt: „Du hast Langeweile wohl?“,
das Kind schreit daraufhin laut singend
durch den Zug; die genervte Mutter:
„Bist Du wohl fertig?“ Doch das Kind
schreit singend weiter, darauf die Mutter:
„Ich glaub ich hab’s wohl!“ Das Kind
macht weiter seine Geräusche und schreit
der Mutter schließlich irgend eine Frage
zu, die diese ihr kurz beantwortet,
um sich mit dem gegenüber sitzenden
Mann zu unterhalten, und das Kind setzt
dabei seinen schreienden Singsang fort.
-
Szene 3: Wir
erreichen einen weiteren Bahnhof. Das
Kind fragt: „Warum steigen wir hier
nicht aus?“, und die Mutter antwortet:
„Weil wir hier nicht aussteigen können.“
Darauf hin sagt das Kind: „Ich steig
hier aber aus!“, und, weil keine Reaktion
seitens der Mutter erfolgt, wiederholt
es die letzte Bemerkung noch zwei Mal.
-
Szene 4: Das
Kind knibbelt einen Pickel in seinem
Gesicht auf und sagt weinerlich: „Blut
raus“. Die Mutter: „Nein“; das Kind:
„Tut so weh! Taschentuch!“. Die Mutter
holt ein Tempo und will dann dem Kind
Creme auf den Pickel machen. Das Kind
wehrt sich. Die Mutter: „Ich mach nur
was drauf.“ Kind: „Was hast Du hier
draufgetan?“, Mutter: „Das ist gut für
dein Gesicht.“ Im weinerlichen Ton wiederholt
das Kind noch zwei Mal seine Frage,
bis die Mutter sagt: „Creme!“
Ich
möchte nicht, dass Sie glauben, ich
karikiere die Mutter. Wären wir ihr
gefolgt, als sie an Ihrem Zielbahnhof
Hamm in Westfalen ausstieg, und hätten
wir sie nach ihrer Beziehung zu Jasmine
befragt, so wäre sie erstaunt gewesen.
Selbstverständlich liebe sie ihre Tochter,
sie bedeute ihr alles auf der Welt,
und alles würde sie für deren Glück
hingeben. Und je mehr wir uns mit ihr
unterhielten, je mehr müssten wir ihr
Recht geben. Als alleinerziehende Mutter
hat sie es schwer genug: Nicht nur,
dass ihr Mann sie mit dem Kind im Stich
ließ, jetzt noch greift er störend und
gewaltsam in ihr Leben ein. Dazu hat
sie ihre Heimat verlassen, die Infrastruktur
von Großeltern, Verwandten und Freunden
fehlen ihr, nur die Stunden im Kindergarten
bringen eine gewisse Entlastung. Wir
können auch nicht sagen, dass es nur
die materiellen Dinge seien, die sie
ihrem Kind als Ausdruck ihrer Liebe
und vielleicht auch zur Beruhigung ihres
schlechten Gewissens böte. Sie gibt
sich vielmehr ganz ihrer Tochter hin,
baut für sie eine Trutzburg auf und
reagiert auch auf Beschimpfungen des
Kindes gelassen. Sie hat es nicht leicht
in ihrer Welt, und sie lebt von der
Hoffnung, dass es Jasmine in ihrer Zukunft
besser habe. Vielleicht gilt für sie
das Motto, mit dem Friedrich Fröbel
seine Kindergartenaufrufe und Spielschriften
überschrieb: „Kommt, lasst uns unsern
Kindern leben!“
Warum
aber ist Jasmine trotzdem nicht glücklich,
warum kommen Mutter und Tochter nicht
zusammen? Angesichts des Wortschwalls,
der uns auf unserer gemeinsamen Zugfahrt
begleitet hat, komme ich zu einer scheinbar
paradoxen Antwort: Die beiden finden
nicht zu einer gemeinsamen Sprache.
Zwar wird ständig geredet, vielleicht
sollte ich besser sagen: „geplappert“,
und auf einer oberflächlichen Ebene
gelingt auch die Verständigung. Jasmine
sagt „Fernsehen“, und die Mutter übersetzt
das Wort richtig in die Bitte: „Wenn
ich nachher endlich zu Hause bin, möchte
ich einen Videofilm anschauen.“ Doch
auf der Tiefenschicht misslingt die
Kommunikation. „Fernsehen“, das könnte
bedeuten: „Ich will einen Ort, wo ich
bei mir sein kann. Ich will Heimat.“
Oder
nehmen wir die zuletzt geschilderte
Szene mit dem aufgeknibbelten Pickel.
Vielleicht spürt das Kind: „Etwas, was
bei mir ist, was ich aber nicht sehen
kann, ist nicht in Ordnung.“ Und hinter
dem Blut mag die Angst stehen: „Ich
zerfließe.“ Für die Mutter aber ist
das Blut der rote Saft, und weil noch
nicht einmal kleinste Spuren davon zu
entdecken sind, kann ihre Antwort nur
„Nein!“ lauten. Für das Kind ist das
Blut als Ausdruck seines Innersten das
Problem, für die Mutter ist es der Pickel.
Sie will dem Kind mit der Creme helfen,
und mit ihrer großen Hand wischt sie
in dem Gesicht des Kindes herum. Deshalb
wehrt es sich gegen den Eingriff. Um
sich über die gefährliche Situation
aufzuklären, fragt es danach, was die
Mutter da gemacht habe. Schließlich
zeigt die Antwort der Mutter, das sei
gut für Jasmines Gesicht, das dritte
Missverständnis in dieser kurzen, noch
nicht einmal eine Minute dauernden Sequenz.
Deshalb muss das Kind drei Mal seine
Frage. wiederholen, bis die Mutter schließlich
die sachliche Antwort darauf gibt und
nicht mehr ihre gute Absicht kund tut.
c)
Kinder und Erwachsene
heute
Lassen
Sie uns die Reise beenden und in die
Realität des 6. Oktober zurückkehren.
Dies ist schon deshalb geboten, weil
die mir zustehende Redezeit bald erschöpft
ist. Wenn wir nach dem 11. September
2001 eine Umfrage über das Großwerden
von Kindern in unserer Welt gemacht
hätten, dann nähmen die Ereignisse um
die Zerstörung des Word-Trade-Center
wohl einen breiten Raum ein. Wenige
Jahre davor wäre es der Rechtsextremismus
gewesen, Ende der 80er Jahre die atomare
Bedrohung angesichts der Ereignisse
in Tschernobyl. Und jedes Mal die besorgten
Fragen: Welche Welt hinterlassen wir
unseren Kindern? Werden sie in der Lage
sein, Probleme zu lösen, die wir gemacht
haben? Ich erinnere mich noch, dass
es in meiner Kinderzeit die Kuba-Krise
war, die den Großen Besorgnis machte,
und dass Chruschtschow wie heute bin
Laden der Teufel war. Dann kam der Mauerbau
in Berlin, und wir mussten eine Kerze,
die auf der Freiheitsglocke stand, in
unserem Wohnzimmer anzünden. Verstanden
habe ich von alldem wenig. Die Welt
der Großen, dies war nicht meine Welt;
mich berührten meine Schwester, Oma
und Eltern, die Eroberung der nächsten
Straßen, das schwierige Zurechtkommen
in der Welt der Schule.
Ich
will Ihnen mit dem Beispiel heute sagen,
dass wir unsere Kinder mit den von uns
geschaffenen Problemen mehr in Ruhe
lassen sollten. Wir haben die politische
Aufgabe, ihnen eine Welt zu hinterlassen,
die ihre Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit
nicht zerstört; pädagogisch gesehen
aber sollen wir sie in ihrer Welt leben
lassen. Es ist nicht richtig, unsere
Ängste und Probleme auf die kommende
Generation zu übertragen, nur weil wir
unsere Hausaufgaben nicht machen wollen
oder können. Unsere Kinder werden in
ihrer Welt leben, und sie werden ihren
immerwährenden Kampf um Frieden und
Gerechtigkeit kämpfen müssen. Diese
Zukunft wird uns verschlossen sein,
weil wir tot sind oder uns als Rentner
in der Hand unserer Kinder befinden.
Jetzt geht es um die Gegenwart, und
in ihr haben wir pädagogisch die Aufgabe,
Kindern in ihrer kleinen Welt ein Leben
zu ermöglichen, dass so glücklich ist,
dass ein Vorschuss an Optimismus, Sicherheit,
Heimat entsteht. Bin Laden, dass ist
eine aufgebaute Schreckensfigur unserer
Erwachsenenwelt, für unsere Kinder ist
er nicht mehr als eine historische Randnotiz,
wie es für mich Nikita Chruschtschow
war.
Würden
wir unsere fiktive Umfrage über die
Sichtweise des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses
heute fortsetzen, so würden wir wahrscheinlich
häufig auf eine zweite Antwort stoßen:
Kindheit heute, dass ist Medien-, Computer-,
Konsumkindheit. Wieder aus dem weiten
Feld nur eine kurze Anmerkung meinerseits.
Unser Erwachsenenleben in Westeuropa
geschieht in einer Welt von Luxus und
Überfluss. Unsere Kinder bekommen die
Brotkrumen, die vom Tisch des Herrn
fallen. Die Menge materieller Güter,
die Kindern heute zur Verfügung haben,
ist steigend, für die Relation der Verteilung
zwischen Erwachsenen und Kindern gilt,
was Janusz Korczak zu Beginn des 20.
Jahrhunderts schrieb: „Wenn ein Drittel
der Warschauer Bevölkerung Kinder und
Jugendliche sind, dann sollte jedes
dritte Haus, jedes dritte Geschäft,
jede dritte Straßenbahn zu ihrem Nutzen
sein.“ (Janusz Korczak, Von Kindern
und anderen Vorbildern Gütersloh 1985,
S. 106)
Ich
habe Ihnen nur eine kurze Anmerkung
versprochen, und deshalb lese ich Ihnen
nur noch eine Notiz aus meiner örtlichen
Tageszeitung vor. Unter der Überschrift:
„Kanzler ernennt Konsum zur Bürgerpflicht“
ist auf der ersten Seite der Ausgabe
vom 19. September zu lesen: „Kanzler
Schröder hat die Bürger aufgefordert,
auf die Terroranschläge nicht mit Kaufzurückhaltung
zu reagieren. Zwar stünden schwierige
Zeiten und harte Entscheidungen bevor,
aber die Terroristen dürften die Weltwirtschaft
nicht gefährden, sagte Schröder am Dienstag
auf der IAA. Wenn sich in der Wirtschaft
alle vernünftig verhielten, werde es
auch nicht zu einer weltweiten Rezession
kommen.“ Das ist eine andere Sprache
als zu meiner Kinderzeit. Von damals
ist mir noch in Erinnerung, dass Ludwig
Ehrhardt sich mit seinem Appell „Maßhalten“
an die Bevölkerung des aufkeimenden
Wirtschaftswunders wandte. Wenn Ihnen
das nächste Mal in Ihrem Kinderhaus
ein Kind wie Jasmine begegnet, ärgern
Sie sich nicht, und reichen Sie Ihre
kritischen Kommentare nicht an die Mutter
weiter. Denken Sie daran, beide erfüllen
nur ihre Bürgerpflicht.
d)
Abschließender Gedanke
Sie
merken, ich drohe ins Ironische oder
sogar Sarkastische abzugleiten. Also
komme ich lieber zum Schluss. Ich habe
Ihnen das Kaulquappen-Frosch-Beispiel
von Maria Montessori vorgetragen. Beziehen
wir es auf unser heutiges Thema, so
können wir zweierlei sagen:
(1)
Unsere Froschwelt ist
nicht die reale Welt des Kindes, und
(2)
wir haben die Aufgabe,
unseren Kindern eine wohltuende Kaulquappenwelt
anzubieten.
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