[ newsletter ]
Newsletter
Jetzt kostenlos
hier abonnieren:



*

netnovate.de - innovate the internet


 
 
Arbeiten zur Kindergartenkonzeption
2001 - 2

  Home / Texte / I / 2001 / 2

Sigurd Hebenstreit

1. Entwicklungspädagogik: Das kleine Kind zwischen eigener und Außenwelt

a)    Geistiger Embryo

Ein Kind wird geboren. Seine beschützende Welt im Mutterleib hat es verlassen. Es muss ein Schock sein, sich jetzt in die neuen Welten einzufinden, wie menschenfreundlich auch immer der Übergang gestaltet wird. Maria Montessori nennt es die Phase des „geistigen Embryos“, die jetzt bevorsteht. In den vergangenen neun Monaten hat es seinen Körper aus einer befruchteten Eizelle aufgebaut, jetzt ist er in der Lage, selbständig zu atmen, zu schlucken und die von Außen kommende Muttermilch zum weiteren Aufbau seines Körpers zu nutzen. In den vor ihm stehenden Jahren muss der Neugeborene seine individuelle Persönlichkeit aufbauen; er hat einen Geist zu schaffen, der die große Außenwelt in den kleinen Kinderkopf bekommt und der gleichzeitig in der Lage ist, Spuren in dem Außen zu hinterlassen.

Dieser Aufbauprozess ist die Arbeit des Kindes selbst. Seine Mutter hat den Körper nicht geschaffen, indem sie Arme und Beine, Hände und Füße formte und an den Rumpf klebte, sondern in der befruchteten Eizelle lag ein Programm, das aus sich selbst in der sicheren Umhüllung des Mutterleibes einen Menschen entstehen ließ. So ähnlich wird es nach der Geburt auch mit dem Aufbau der kindlichen Persönlichkeit gehen. Die Eltern können nicht durch den Nürnberger Trichter die große Welt dem Kind einflößen; in unserem Computerzeitalter würden wir vielleicht sagen: Die Eltern können nicht einen Chip in seinen Kopf implantieren, der Denken und Fühlen steuert und eine Landkarte des Außen enthält. Der Aufbau der kindlichen Persönlichkeit, seine Möglichkeit, die Welt zu verstehen und in sie einzugreifen, ist ausschließlich Werk des Kindes selbst.

Durch dieses Wunder, dass ein hilflos zappelndes, 3000 Gramm wiegendes Wesen aus dem Nichts seine Person aufbaut, entsteht gleichermaßen auch die Welt immer wieder neu. Nehmen Sie als Beispiel Ihre Auseinandersetzung mit der Außenwelt „Maria Montessori“. Sie ist seit jetzt fast fünfzig Jahren tot, ihre Einsatzzylinder sind Holzstücke, deren Wahrenwert mit 7,50 DM zu veranschlagen ist, und ihre Schriften sind mit vielen Buchstaben bedrucktes Papier. Lebendig wird die Außenwelt „Maria Montessori“ dadurch, dass diese Buchstaben durch den Kopf der Teilnehmerinnen Ihres Kreises hindurchgehen, dass Sie sich bemühen zu verstehen, was Maria Montessori zu sagen hat, dass Sie ihren Werken Bedeutung zumessen und dass Sie Ihr Leben und Ihre Praxis mit den Aussagen Maria Montessoris in Beziehung setzen. Maria Montessori wäre tot, wie ihr Körper tot ist, wenn es nicht einzelne Menschen gäbe, die ihr durch ihren Geist Leben geben würden.

Damit die 3000 Gramm Fleisch eine individuelle Persönlichkeit und eine lebendige Welt schaffen können, bedarf es des Schutzes einer geeigneten Umgebung, die Zeit und Raum zum Wachsen bietet; und es benötigt entsprechende Nahrung, um die Bausteine zur Selbstentwicklung zur Verfügung zu stellen. Dies ist bei dem geistigen Embryo nicht anders als bei dem physischen, der ohne den schützenden Mutterleib und die Blutzufuhr von Außen zu Grunde ginge. Doch die Verhältnisse sind richtig darzustellen: Der Mutterleib und das mütterliche Blut schaffen nicht den körperlichen Embryo, sondern sie ermöglichen ihn nur. Ebenso bedarf der geistige Embryo der geeigneten erzieherischen Atmosphäre und der Anregungen von Außen. Sind sie nicht vorhanden, sind Fehlentwicklungen die Folge. Aber die Pädagogik erschafft das Kind, seinen Geist und Kopf und seine Hand, nicht.

b)   Absorbierender Geist

Wie kommen nun dieser kleine kindliche Kopf und die große Welt – Gegensätze, wie wir größer sie uns nicht denken können – überhaupt miteinander in Kontakt, was gibt den Anfangspunkt für die notwendige Interaktion? Maria Montessori spricht von dem absorbierenden Geist, der darauf ausgerichtet ist, alles in sich aufzunehmen, was er um sich herum findet. Wie der Körper der Milch bedarf, die er aus der Mutterbrust aufsaugt, so holt sich der Geist seine Nahrung aus der das Kind umgebenden Welt. Zweierlei ist für Maria Montessori dabei wichtig: Zunächst einmal betont sie, dass der Neugeborene von Anfang an nicht nur körperliches Wesen ist Von Beginn des Lebens an muss er als geistiger Mensch betrachtet werden, auch wenn der sprachlose Säugling nicht über Bewusstsein verfügt. Dies ist zu betonen, weil Unabhängigkeit und Freiheit den Menschen vom ersten Tage an kennzeichnen. Wir können auch mit Janusz Korczak sagen: „Kinder werden nicht erst zu Menschen – sie sind bereits welche.“ (Der Frühling und das Kind, S. 24f) Das zweite ist, dass das Kind von Anfang an ein aktives Wesen ist: Der absorbierende Geist öffnet nicht einfach die Schleusentüre der Wahrnehmungskanäle, so dass passiv die äußere Welt in das Innere des Kindes strömen kann, sondern aktiv saugt das Kind das Außen in sich hinein.

Für den Jugendlichen gibt es häufig einen Konflikt zwischen der eigenen Welt und der der Erwachsenen. Es kann sein, dass er sich als allmächtig träumt, er will nach den Sternen greifen, aber dann erlebt er sich ohnmächtig, zurückgedrängt in die Kinderrolle. Der Weg in das verantwortungsbewusste Leben ist ihm versperrt. So kritisiert Maria Montessori, dass der Heranwachsende in der Schule festgehalten, dass ihm Mündigkeit vorenthalten wird, wo es doch sein Streben ist, Spuren in der richtigen Welt zu hinterlassen: Maria Montessori fordert deshalb für dieses Alter eine Pädagogik, die Lernen und Arbeiten miteinander verbindet. Oder der Jugendliche erlebt in sich eine idealistische eigene Welt, voll von Frieden, Gerechtigkeit und Menschenliebe. An deren Maßstab gemessen ist die Welt der Erwachsenen korrupt, verdorben, kleinkariert. Wie lässt sich diese Jugendlichenwelt mit dem Zugang, in das wirkliche Leben hineinzuwachsen, in Übereinstimmung bringen?

All dieses ist für das kleine Kind noch kein Problem. Es hat weder sein eigenes Selbst sicher im Blick, noch eine festgefügte Vorstellung von der Welt außen. Beide Aspekte bedingen sich vielmehr: Indem es sich in seine Umwelt hineinarbeitet, baut es sein Selbstbewusstsein auf; und indem es sich seines Selbst zunehmend gewisser wird, gewinnt es immer mehr Kontakt zu den vielen Aspekten seiner Umwelt. Jean Piaget hat von dem ursprünglichen Egozentrismus des Kindes gesprochen und hinzugefügt, es sei ein „Egozentrismus“ ohne „Ego“. Wir können dies in Parallele zu dem setzen, was Maria Montessori über die Wirkungsweise des absorbierenden Geistes sagt: „Man könnte ... sagen, daß wir unser Wissen mit Hilfe unserer Intelligenz aufnehmen, während es das Kind mit seinem psychischen Leben absorbiert. ... Wir sind Aufneh­mende; wir füllen uns mit Eindrücken und behalten sie in unserem Gedächtnis, werden aber nie eins mit ihnen, so wie das Wasser vom Glas getrennt bleibt. Das Kind hinge­gen erfährt eine Veränderung: Die Eindrücke dringen nicht nur in seinen Geist ein, sondern formen ihn. Die Eindrücke inkarnieren sich in ihm. Das Kind schafft gleichsam sein 'geistiges Fleisch' im Umgang mit den Dingen seiner Umgebung. Wir haben seine Geistform absorbierenden Geist genant.“ (Absorbierender Geist, S. 23)

c)    Egozentrismus des Kindes und der Familie

Kleine Kinder lieben ihre Umwelt, fühlen sich mit ihr eins, und sie bedürfen ihrer als Nahrung, um beides zugleich zu tun: sich selbst aufzubauen und ein Bild von der Außenwelt zu entwickeln. Dabei sind sie außergewöhnlich egozentrische Menschen. Der Säugling hat noch keine Grenze zwischen Innen und Außen gewonnen, und die Psychoanalytiker vermuten, dass sie diese nicht nach den realen Gegebenheiten ziehen, sondern sich durch Lust und Unlust leiten lassen: die Mutterbrust ist, weil sie die wohltuende Milch gibt, Innen, während der grummelnde, schmerzende Bauch außen sei. Dies ist sehr spekulativ, denn es setzt voraus, der Säugling habe überhaupt ein Bewusstsein, zumindest eine Ahnung von der Grenze des eigenen Selbst zu der umgebenden Welt.

Auch die sich in die Welt der Sprache einarbeitenden Zweijährigen sind noch außergewöhnlich egozentrische Menschen. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, sagt das Sprichwort, und so kümmert sich das Kind nicht um die Einteilungen in Farben, Zahlen, Klassifikationen, Relativierungen. „Die Welt ist so, wie ich sie habe“, sagt es sich. Unser zweijähriger Sohn hat aus der Fülle der ihn umschwirrenden Wörter sich „links“ als eins seiner Lieblingsworte ausgesucht. Er benutzt es korrekt als Angabe einer Richtungsänderung. Aber das „links“ eigentlich erst Sinn macht, wenn es auch „rechts“ gibt, kümmert ihn gar nicht, und er widersteht jedem Bestreben der Eltern, auch „rechts“ in seinen Wortschatz einzuverleiben.

Der Egozentrismus des Kindes ist das eine, was Sie beachten müssen, wenn die Kinder zu Ihnen in den Kindergarten kommen. Das andere ist der Egozentrismus seiner Familie. Egal unter welchen Bedingungen das Kind seine ersten Jahre verlebt hat, es war die erste Welt, mit der es in Kontakt kam, und diese prägt seine Vorstellungen von Normalität unverändert. Das nimmt für unsere Vorstellungen des Erwachsenendenkens unvorstellbare Züge an. Ich erinnere mich meiner eigenen Erschütterung, als ich vor Jahren einmal zwei Kinder von ihrem zu Hause in unsere Spielstube in einer Obdachlosensiedlung abholte. Sie spielten in der Kotze ihrer im Rausch eingeschlafenen Mutter. Für mich war das unvorstellbar, es musste etwas geschehen. Doch für die beiden Kinder war dies die normale Welt. Gerne gingen sie mit mir in den Kindergarten, aber ebenso selbstverständlich wollten sie danach nach Hause zurück.

Sie werden dies aus Ihrer Praxis kennen: 25 Kinder mit ihren 25 verschiedenen Familien, und jedes bringt seine Vorstellungen von normaler Welt mit in das Kinderhaus. Es gibt misshandelte, missbrauchte Kinder neben den behüteten oder sogar überbehüteten, diejenigen, die das fünfte Rad am Wagen sind, neben denen, um die sich alles dreht. Kleine Kinder sind sehr anpassungsfähig. Egal aus welchem Milieu sie kommen, sie werden sich in die neue Welt des Kindergartens fügen und sie als ebenso selbstverständlich erleben wie ihre Familie. Doch ihre erste Welt wirkt, weil sie der Maßstab der Beurteilung aller folgenden ist, viel tiefer. Bis ins hohe Alter hinein hinterlässt die erste Welt eines Menschen Spuren. Was und wie man etwas als Heimat erlebt, dies wird hier geprägt, auch wenn es eine Welt ist, in der Schmutz, Verzweiflung, Desorientierung überwiegen.

d)   Schöpfung und Perfektionierung

Ein letzter Punkt für heute zu den entwicklungspsychologischen Grundlagen. Maria Montessoris Erziehungslehre lässt sich als „Entwicklungspädagogik“ charakterisieren. Dies wird manchmal übersehen, wenn ihre didaktischen Materialien für das Ganze ihrer Pädagogik genommen werden. So bedeutsam diese auch heute noch sind, wichtiger erscheint mir ihre Erziehungstheorie, und diese geht von dem Rousseauschen Grundsatz aus, dass jede Erziehung in ihren Grundsätzen und konkreten Vorgehensweisen die Bedingungen der jeweiligen Altersstufe zur Grundlage haben muss.

Für das Kind von der Geburt bis zum Eintritt in die Schule unterscheidet Maria Montessori dabei zwei deutlich voneinander abgegrenzte Abschnitte, die sie einerseits „Periode der Schöpfung“ (1992, S. 87) und andererseits „Periode der Realisierung und der Perfektionierung“ (1975, S. 161) nennt. Über die erste, charakterisiert durch die Wirkungsweise des absorbierenden Geistes, haben wir gesprochen. In Bezug auf unser Thema: „Das Kind und seine und unsere Welt“, sagt Maria Montessori, dass es in den ersten Lebensjahren wichtig sei, das Kind in der realen Welt leben zu lassen. Die Mutter soll es überall mithin nehmen, wohin ihre Geschäfte sie treibt; sie soll sich aber auch die Frage stellen, ob ihre Welt hilfreich für ein sinnerfülltes Menschenleben ist.

Die Grundlagen der Persönlichkeit sind in den ersten drei Lebensjahren gelegt. Der geistige Embryo ist geboren. Die Entwicklungsaufgabe der folgenden drei Jahre beschreibt Maria Montessori des öfteren mit „Fixierung“: Das, was in den ersten Jahren als Möglichkeiten geschaffen worden ist, wird jetzt in eine festere Form gegossen. Der Kern der Persönlichkeitsbildung wird dauerhaft festgehalten, so dass er unveränderbarer Bestandteil der Individualität dieses Menschen wird. In der Zeit des Kinderhauses lassen sich Fehlentwicklungen, die in der vorangehenden Familienkindheit vielleicht entstanden sind, noch korrigierten (Maria Montessori spricht von „Normalisation“), später ist dies nur noch begrenzt und mit großem Kraftaufwand möglich.

Für die zweiten drei Lebensjahre gibt es einen radikalen Wechsel des Lernortes. Jetzt kommt das Kind in einen unter didaktischen Gesichtspunkten gestalteten Raum, eine künstliche Gegenwelt. Die Schleife lernt es nicht am eigenen Schuh, sondern vermittelt durch den Schleifenrahmen, die Farben werden nicht in der Buntheit der Welt erworben, sondern mit Hilfe der Farbtäfelchen, Lesen lernt das Kind nicht durch die Tageszeitung, sondern mittels spezieller Materialien. Warum dieser künstliche Zwischenschritt? Mit ihm steht die Montessoripädagogik im deutlichen Gegensatz zu den in der heutigen Kindergartendiskussion herausgehobenen Forderungen nach Lernen in realen Lebenssituationen und nach Öffnung des Kindergartens zum sozialen Umfeld hin. Ich denke, dies hat mit der Radikalität des kindzentrierten Denkens Maria Montessoris zu tun.

Ihr geht es nicht darum, dass Kind an die Welt anzupassen, sondern sie fragt von den Entwicklungsbedürfnissen des Menschen her. Die reale Welt ist bunt und vielschichtig, alles dringt auf einmal auf den Kopf ein, und so lenkt die eine Wahrnehmung von der anderen ab. Es ist schwierig, sich auf ein Ereignis wirklich einzulassen, wenn gleichzeitig auch andere die Aufmerksamkeit beanspruchen. Das sich entwickelnde Kind ist dieser Flut der Überfülle schutzlos ausgeliefert, es droht von ihr überrollt zu werden, weil es zwar zunehmend mehr auf die Dinge aufmerksam wird, aber noch keine inneren Mechanismen hat, diese zu verarbeiten. Das Kind von drei bis sechs bedarf eines Schutzraumes, um in seinem Kopf ein „Alphabet“ der Sinnesdimensionen aufzubauen, und um die Ordnung elementarer Handlungen zu erlernen. Außerdem ist dieser Raum künstlichen didaktischen Arrangements notwendig, weil die Abläufe in der realen Welt für das Kind weder durchschaubar noch handgreiflich sind sowie vielerlei Gefahren bereithalten. Noch mehr als Maria Montessori es sicherlich vorausgeahnt hat, leben wir heute in einer virtuellen Welt des Computers und Internet, die viele Chancen bieten, aber für die Lernmöglichkeiten kleiner Kinder wenig geeignet sind. Das Kindergartenkind muss ganzheitlich wahrnehmen – nicht nur sehen und hören, sondern auch schmecken, riechen und fühlen -, und es muss in unmittelbaren körperlichen Kontakt mit den Gegenständen kommen – handelnd mit ihnen umgehen können. Die Hand spielt in dem pädagogischen Denken Maria Montessoris eine zentrale, auch anthropologisch begründete Rolle.

Weil unsere Welt nicht den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder angemessen ist, bedarf es einer pädagogisch gestalteten Kinderwelt. Diese ist nicht der Zielpunkt, sondern ein notwendiger Zwischenschritt, um das Kind in Kontakt mit der Welt zu bringen. Sie ist notwendig, damit der Mensch nicht instinktmäßig von seiner Umwelt angezogen wird und deren Reizen blind folgt, sondern von einer Position des Selbstbewusstseins aus in seine Welt aktiv eingreift. Nehmen Sie den Schleifenrahmen nochmals als Beispiel: Sein Ziel ist nicht erreicht, wenn das Kind an ihm fehlerfrei Schleifen binden kann, sondern wenn es diese Fähigkeit auf seine Schuhe übertragen kann, so dass es frei von dem Zwang nach Klettverschluss-Schuhen wird.

Weil Maria Montessori radikal von den kindlichen Entwicklungsbedürfnissen aus denkt, kommt sie in Bezug auf die Beziehung von Kind und Welt zu einer anderen Reihenfolge, als es sowohl die pädagogische Logik wie das erzieherische Alltagshandeln nahe legen:

-         Schritt 1: Ungehinderter Zugang des Kindes zu der realen Welt, um seinem Geist vielfältigen Kontakt zu der Differenziertheit des Lebens zu ermöglichen;

-         Schritt 2: Stundenweises Leben in einer künstlichen Kinderwelt, um den Aufbau elementarer Wahrnehmungs- und Handlungsleistungen zu schaffen;

-         Schritt 3: Pädagogische Aktion in der realen Welt, um Selbstbestimmung und Freiheit einzuüben.


2. Erziehungskritik: Der Egozentrismus der Erwachsenen

a)    Die prinzipiell anklagende Haltung

Lassen Sie uns nun von der Betrachtung der Entwicklungsnotwendigkeiten seitens des Kindes wegkommen und einen Blick auf die Realität der Beziehungsgestaltung zwischen Erwachsenen und Kindern werfen. Maria Montessori hat nicht gerade ein vorteilhaftes Bild von uns Großen. Dass in ihrer Pädagogik Umgebung und Material viel von der traditionellen Funktion des Erziehers übernehmen, hat auch mit ihrer Skepsis gegenüber Erwachsenen zu tun. Salopp formuliert: Der Erwachsene ist so kaputt, dass er das Kind mehr zerstört als aufbaut, und die Pädagogik muss es deshalb unabhängig von den Erwachsenen machen.

Maria Montessoris Vorwurf, der Erwachsene unterdrücke das Kind, er sei in seinem Verhalten egozentrisch, richtet sich nicht an einzelne Eltern oder Erzieher, sondern an alle. In Parallele zu den großen sozialen Fragen des 19. und 20. Jahrhunderts, der Ausbeutung von Arbeitern und Frauen, müssen wir von einem Klassenkampf der Großen gegenüber den Kleinen reden; und während die Arbeiter- und Frauenemanzipation gewisse Erfolge gezeigt habe, seien die Kinder die letzte sozial benachteiligte und unterdrückte Gruppe. Die Kritik richtet sich zudem nicht nur gegen eine autoritäre Prügelpädagogik, mit der einzelne Eltern ihr Kind misshandeln, sondern auch gegen eine scheinbar kinderliebende Einstellung. Wir können also schlecht mit Maria Montessori als professionelle Pädagogen mit dem Finger auf die unwissenden, bösartigen Eltern zeigen, wir haben vielmehr den Kern der Kritik auf uns selbst zu richten. Wir müssen in unsere Erziehungskonzeption die selbstkritische Frage aufnehmen, ob wir die Individualität der kindlichen Persönlichkeit achten, ob wir sie als unabhängig und frei sehen, ob wir sie nicht nur auf ein menschenwürdiges Leben vorbereiten, sondern auch ihre unveräußerbaren Menschenrechte hier und jetzt achten. Maria Montessori sagt: „Wer für das Kind eintritt, muß dauernd diese anklagende Haltung gegen den Erwachsenen einnehmen und darf hierbei weder Nachsicht walten lassen noch Ausnahmen machen.“ (Montessori, 1989, S. 21)

Der Kern der Erziehungskritik besteht darin, dass der Erwachsene die Andersartigkeit des Kindes nicht respektiert, dass er in egozentrischer Weise vielmehr mit seinen Maßstäben misst. Ein Beispiel dafür sind die unterschiedlichen Zeitrhythmen von Kindern und Erwachsenen. Ein Kind ist unendlich langsam. Vorsichtig macht es seine Bewegungen, es zögert, ist umständlich, wirkt unbeholfen und wiederholt die Winzigkeit eines Teilschrittes viele Male. Für den beobachtenden Erwachsenen ist dies eine große Geduldsprobe, er möchte dem Kind helfen, erledigt die scheinbaren Vorbereitungen geschwind mit eigener Hand, damit das Kind sich dem Eigentlichen zuwenden kann. Gerade für kinderliebende Erzieher, denen es nicht egal ist, was mit den Kindern ist, lässt sich die Geduldsprobe schwer gewinnen. In bester Absicht greifen wir ein, wollen eine Hilfe für das Kind sein, verhindern aber ihre Unabhängigkeit. Malen Sie sich nur einmal aus, wie Sie ein kleines, dreijähriges Kind im Umgang mit einem Messer beobachten.

Manchmal sind Kinder aber auch viel schneller als wir. Wenn Sie so alt sind wie ich, können Sie sich vielleicht noch an Ihre Übergangsschwierigkeiten von der elektrischen Schreibmaschine hin zum Computer erinnern. Es war mühsam, seine liebgewordenen Verhaltensweisen zu verlernen und sich in eine neue Welt hineinzudenken. Da gab es viele Anläufe von Versuch und Irrtum, und auf mehreren Spickzetteln wurden die Grundschritte aufnotiert. Wir haben versucht, mit der Logik der Schreibmaschine an den Computer heranzugehen, und mussten notgedrungen scheitern. Der Computer – dass war eine Wissenschaft für sich, schwierig und undurchschaubar, und der Apparat schien mehr uns zu beherrschen als wir ihn. Und dann können Sie heute selbst kleine Kinder sehen, die mit Leichtigkeit und Gewandtheit mit Maus und Tastatur umgehen, so dass Sie nur staunen können. Ich erinnere mich noch, dass ich vor Jahren meinem Neffen meinen alten Computer schenkte. Als Onkel klärte ich ihn großmütig über meine elementaren Kenntnisse auf, sagte ihm, er könne mich anrufen, falls er Schwierigkeiten habe. Doch dies geschah nur ein- oder zweimal. Bald hatte er mich mit seinen Fähigkeiten ein, und jetzt ist er mir auf diesem Gebiet schon lange und deutlich überlegen.

Der Erwachsene unterdrückt das Kind, manchmal in böser Absicht, häufiger, weil die Kleinen störend in unsere Welt eingreifen, vor allem aber, weil wir egozentrisch sind und das Kind deshalb nicht verstehen können. Dabei, so sagt Maria Montessori, wäre es für uns so leicht, die Zuneigung des Kindes zu gewinnen. Kinder sind ungeheuer anpassungsfähig, viel mehr als wir, die wir in unseren eingefahrenen Gleisen stecken, aus denen wir nur schwer herauskommen. Und die Kinder vergöttern die Großen, sie bewundern uns, wollen in unsere Welt hineinwachsen. Doch dann verlangt dieser Erwachsenen-Gott etwas, was dem Kind unmöglich ist: Es soll seinen inneren Entwicklungsimpuls aufgeben, damit Platz für das Belehrungsprogramm des Erziehers ist. Im Streit liegen hier also der Lebensdrang des Kindes und die Forderungen der Außenwelt, ein Dilemma, aus dem das Kind nicht herauskommt. Für einen Erwachsenen ist es so leicht, die Zuneigung der Kinder zu gewinnen; Erzieher brauchen sich nichts einzubilden, wenn die Kinder sie lieben. Die Frage ist, ob wir Erwachsene uns als würdig erweisen, die Liebe der Kinder zu verdienen.

Maria Montessori hat oft eine bildreiche Sprache. An einer Stelle vergleicht sie den Erwachsenen mit einem „Frosch, der seine Kaulquappe aus dem Wasser ziehen, ihr unter Aufbietung aller Kräfte das Lungenatmen beibringen und ihr unschönes Schwarz in ein sympatischeres Grün verwandeln wollte“ (Montessori 1989, S. 208). Kinder sind anders, anders als Erwachsene. Wenn Erziehung diese Andersartigkeit nicht in den Blick nimmt, wenn sie das Eigenrecht des Kindes nicht heraushebt, wenn Pädagogik nur als Beschleunigungsprogramm angesehen wird, damit das Kleine möglichst rasch vorwärts kommt und aus dem unmündigen Kind der kompetente Erwachsene wird - dann wird Erziehung zu einem Kampffeld, und dann ist Erziehung Gewalt, auch wenn ihre Methoden wohlgefällig und sanft sind.

b)   Mit Jasmine und ihrer Mutter in der Eisenbahn

Meine lieben Zuhörerrinnen und Zuhörer. Ich möchte Sie jetzt auf eine Reise mitnehmen, um Ihnen mit der pädagogischen Brille Maria Montessoris ein winziges Stückchen der Kinder-Erwachsenen-Realität, aufgenommen im September 2001, zu präsentieren. Wir besteigen den InterRegio in Erfurt und fahren Richtung Westen ins Ruhrgebiet. In einem Raucher-Großraumabteil finden wir an der Rückwand des Wagons Platz. Zwei Sitzreihen vor uns sitzt eine Mutter mit ihrer vielleicht vier Jahre alten Tochter, diesen gegenüber ein junger Mann. Wir sind früh aufgestanden und wollen deshalb die vor uns liegenden gut vier Stunden zum Dösen nutzen. Doch kaum ist der Zug angefahren, da wird unser Plan durch das hektische Getreibe von Mutter und Kind zunichte gemacht. Der Zufall hat es so gewollt, dass wir für einige Stunden gemeinsam mit den beiden auf vielleicht 25 qm zusammen sein müssen.

Ich kann Ihnen nicht alle Einzelheiten schildern. Zum einen würde Sie das langweilen, zum anderen hätte es eines breiten technischen Arsenals von Videokameras und Mikrophonen bedurft, um alles aufzuzeichnen, und die Verschriftlichung von drei Stunden Kinder-Erwachsenen-Realität benötigte den Platz eines Thomas-Mann-Romans. Unsere Sicht auf die Szene ist durch zwei Rücksitze versperrt, und die Geräuschkulisse des fahrenden Zuges verschluckt viele Gesprächsanteile. Doch das, was wir sehen und hören, reicht. Jasmine heißt das Mädchen, und ihre Füße wachsen über die Schuhgröße 28 hinaus. Die Mutter ist allein erziehend, ihr geschiedener Mann terrorisiert sie und das Kind. Sie hat einen neuen Freund, der sie hoffentlich vom Bahnhof abholen wird. Es ist für uns nicht auszumachen, ob Mutter, Kind und Freund in einer gemeinsamen Wohnung leben, aber das ist jetzt auch egal. Der Sprachakzent lässt vermuten, die Mutter stamme aus Thüringen, habe am Wochenende ihre Eltern besucht und reise jetzt in die neue Heimat Westfalen zurück.

Wie gesagt, ich will Sie nicht mit Einzelheiten belästigen und führe nur einige Aktivitäten auf, die im Abstand von noch nicht einmal einer Minute wechseln:

-         Eine Spange wird im Haar des Kindes befestigt und wieder gelöst;

-         ein Butterbrot wird ausgepackt – hineinbeißen - wieder einpacken;

-         Mutter und Kind kabbeln sich um ein Spielzeugschwein, an dem eine lange Schnur befestigt ist;

-         das Handy klingelt, und die Mutter gibt ihre Ankunftszeit bekannt;

-         die Mutter holt Pixi-Bücher aus einer Tasche und gibt sie dem Kind;

-         das Kind zeichnet Formen von einem Schablonenlineal nach, die Mutter fragt: „Soll ich vormalen und Du malst aus?“ Kind: „Nein!“;

-         die Mutter steckt sich eine Zigarette an;

-         das Kind fragt „Fernsehen?“, die Mutter antwortet: „Du kannst heute gucken, Video“, und darauf das Kind: „Mit dem Hund! Wau, wau!“;

-         wir fahren über eine große, hohe Brücke, Kind: „Wasser!“, Mutter: „Du kannst da aber nicht rein, Schlingpflanzen drin“;

-         Mutter: „Ich kauf dir morgen ne riesig große Glocke“;

-         das Kind benutzt einen Kugelschreiber als Zigarette;

-         das Kind sagt fordernd zur Mutter: „Gib mir Tasse (= Tasche)!“, die Mutter gibt sie ihm und es packt zu den Haufen der Spiele weitere Sachen aus, die Mutter räumt sie wieder ein;

-         das Kind herrscht die Mutter an: „Ei, lass das!“, die Mutter: „Ich klatsch dir eine!“;

-         das Kind: „Mama, Kacke bist du!“, darauf die Mutter: „Danke“.

Wie gesagt: Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Überfülle von Ereignissen. Ständig wird etwas getan, und es ist dabei zufällig, was gerade gemacht wird. Wichtig ist nur, dass irgend etwas geschieht. Und dieses Tun wird fortlaufend von einem Wortschwall begleitet, wobei es wiederum egal ist. was gesagt wird, Hauptsache, es wird etwas gesagt. Wenn dem Kind die Wortgedanken ausgehen, fängt es an zu singen, und sein Repertoire besteht aus zwei Liedern: Wie ein Schlagerstar brüllt es: „Hey, baby – Juuh!“, oder es singt zwei Zeilen des Kindergartengeburtstagsliedes: „Wie schön das du geboren bist“. Doch auch dieses Lied hat es nicht verstanden und so wiederholt es die beiden Zeilen in sinnentstellender Weise. Neben dem Reden von Mutter und Kind ist noch eine quäkende Computerstimme zu hören. Zuerst tippen wir auf einen Kassettenrekorder, doch als wir schließlich aufstehen, um die Szene einmal aus freier Sicht zu betrachten, sehen wir, dass eine ca. 40 cm hohe Pikatscho-Puppe die Geräuschquelle ist.

Überhaupt bietet unser freier Blick von oben auf die gesamte Szene erstaunliches: Der Tisch, die Bank von Mutter und Kind und der vor ihnen im Gang stehende Kinderwagen bieten den Anblick eines Schlachtfeldes: eine Überfülle von Spielmaterialien, von Essens- und Trinkangeboten, über allen thronend – nicht das Kind -, sondern eine quäkende, knallgelbe Pilkatschofigur. Die Tüten in dem Kinderwagen scheinen noch mehr Munition bereitzuhalten. Und wir sehen den Gesichtsausdruck des Kindes und können unsere Vermutung nicht zurückhalten: Ein glückliches Kind sieht anders aus. Wir möchten der Mutter sagen: „Kauf morgen keine große Glocke und leg heute Abend nicht den Videofilm ein.“ Doch was würde dies ändern?

Also setzen wir uns schweigend, der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe naht. Viele Menschen steigen aus und ein. Der Kinderwagen steht den Koffer tragenden Reisenden im Weg. Ein älterer Herr ist hilflos und ärgerlich; er fordert die Mutter auf, den Kinderwagen beiseite zu schieben. Er wird etwas hin- und hergerollt, aber es ist einfach zu wenig Platz. Eine junge Frau kommt mit ihrem Koffer ebenfalls nicht vorbei. Sie bittet den jungen Mann, der der Mutter gegenüber sitzt, den Koffer herüber zu heben. Der Kinderwagen ist Ausdruck der Trutzburg, die die Mutter sich gebaut hat. Als Verteidigungswaffe gegen die bösen Blicke der Vorübergehenden hat sie sich ein gezieltes, unbeteiligtes Weggucken zurechtgelegt. Der Kinderwagen hat nicht die Funktion, das Kind zu transportieren, die vierjährige Jasmine ist zu groß für ihn. Er dient dem Transport des Nachschubs – Plastiktüten, Stoffbeuten und Taschen, die das Waffenarsenal von Spielzeug beinhalten. Der Zug fährt weiter und noch haben wir über eine Stunde gemeinsamer Fahrt vor uns. Ich möchte Ihnen nur noch vier Szenen beschreiben:

-         Szene 1: Der junge Mann steht auf, und das Kind fragt: „Wo geht der Onkel jetzt hin?“, Mutter: „Toilette“. Der Mann kommt zurück, und die Mutter fragt das Kind, ob es auch mal müsse und ob es allein gehen würde. Das Kind geht, die Mutter ruft ihm hinterher: „Kommst aber gleich zurück!“ Jetzt entsteht für wenige Minuten eine menschliche Sprachpause in unserem Abteil, die Pikatscho-Puppe ist so genauer zu vernehmen. Das Kind kommt zurück, die Hosen hängen herunter, und während die Mutter sie hochzieht, sagt das Kind: „Ich hab’ Kaki und Pipi gemacht.“ Keine Reaktion der Mutter und das Kind wiederholt seinen Satz deshalb zwei Mal mit lauter werdenden Stimme, bis die Mutter schließlich sagt: „Ich will es nicht so genau wissen!“

-         Szene 2: Die Mutter sagt: „Du hast Langeweile wohl?“, das Kind schreit daraufhin laut singend durch den Zug; die genervte Mutter: „Bist Du wohl fertig?“ Doch das Kind schreit singend weiter, darauf die Mutter: „Ich glaub ich hab’s wohl!“ Das Kind macht weiter seine Geräusche und schreit der Mutter schließlich irgend eine Frage zu, die diese ihr kurz beantwortet, um sich mit dem gegenüber sitzenden Mann zu unterhalten, und das Kind setzt dabei seinen schreienden Singsang fort.

-         Szene 3: Wir erreichen einen weiteren Bahnhof. Das Kind fragt: „Warum steigen wir hier nicht aus?“, und die Mutter antwortet: „Weil wir hier nicht aussteigen können.“ Darauf hin sagt das Kind: „Ich steig hier aber aus!“, und, weil keine Reaktion seitens der Mutter erfolgt, wiederholt es die letzte Bemerkung noch zwei Mal.

-         Szene 4: Das Kind knibbelt einen Pickel in seinem Gesicht auf und sagt weinerlich: „Blut raus“. Die Mutter: „Nein“; das Kind: „Tut so weh! Taschentuch!“. Die Mutter holt ein Tempo und will dann dem Kind Creme auf den Pickel machen. Das Kind wehrt sich. Die Mutter: „Ich mach nur was drauf.“ Kind: „Was hast Du hier draufgetan?“, Mutter: „Das ist gut für dein Gesicht.“ Im weinerlichen Ton wiederholt das Kind noch zwei Mal seine Frage, bis die Mutter sagt: „Creme!“

Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich karikiere die Mutter. Wären wir ihr gefolgt, als sie an Ihrem Zielbahnhof Hamm in Westfalen ausstieg, und hätten wir sie nach ihrer Beziehung zu Jasmine befragt, so wäre sie erstaunt gewesen. Selbstverständlich liebe sie ihre Tochter, sie bedeute ihr alles auf der Welt, und alles würde sie für deren Glück hingeben. Und je mehr wir uns mit ihr unterhielten, je mehr müssten wir ihr Recht geben. Als alleinerziehende Mutter hat sie es schwer genug: Nicht nur, dass ihr Mann sie mit dem Kind im Stich ließ, jetzt noch greift er störend und gewaltsam in ihr Leben ein. Dazu hat sie ihre Heimat verlassen, die Infrastruktur von Großeltern, Verwandten und Freunden fehlen ihr, nur die Stunden im Kindergarten bringen eine gewisse Entlastung. Wir können auch nicht sagen, dass es nur die materiellen Dinge seien, die sie ihrem Kind als Ausdruck ihrer Liebe und vielleicht auch zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens böte. Sie gibt sich vielmehr ganz ihrer Tochter hin, baut für sie eine Trutzburg auf und reagiert auch auf Beschimpfungen des Kindes gelassen. Sie hat es nicht leicht in ihrer Welt, und sie lebt von der Hoffnung, dass es Jasmine in ihrer Zukunft besser habe. Vielleicht gilt für sie das Motto, mit dem Friedrich Fröbel seine Kindergartenaufrufe und Spielschriften überschrieb: „Kommt, lasst uns unsern Kindern leben!“

Warum aber ist Jasmine trotzdem nicht glücklich, warum kommen Mutter und Tochter nicht zusammen? Angesichts des Wortschwalls, der uns auf unserer gemeinsamen Zugfahrt begleitet hat, komme ich zu einer scheinbar paradoxen Antwort: Die beiden finden nicht zu einer gemeinsamen Sprache. Zwar wird ständig geredet, vielleicht sollte ich besser sagen: „geplappert“, und auf einer oberflächlichen Ebene gelingt auch die Verständigung. Jasmine sagt „Fernsehen“, und die Mutter übersetzt das Wort richtig in die Bitte: „Wenn ich nachher endlich zu Hause bin, möchte ich einen Videofilm anschauen.“ Doch auf der Tiefenschicht misslingt die Kommunikation. „Fernsehen“, das könnte bedeuten: „Ich will einen Ort, wo ich bei mir sein kann. Ich will Heimat.“

Oder nehmen wir die zuletzt geschilderte Szene mit dem aufgeknibbelten Pickel. Vielleicht spürt das Kind: „Etwas, was bei mir ist, was ich aber nicht sehen kann, ist nicht in Ordnung.“ Und hinter dem Blut mag die Angst stehen: „Ich zerfließe.“ Für die Mutter aber ist das Blut der rote Saft, und weil noch nicht einmal kleinste Spuren davon zu entdecken sind, kann ihre Antwort nur „Nein!“ lauten. Für das Kind ist das Blut als Ausdruck seines Innersten das Problem, für die Mutter ist es der Pickel. Sie will dem Kind mit der Creme helfen, und mit ihrer großen Hand wischt sie in dem Gesicht des Kindes herum. Deshalb wehrt es sich gegen den Eingriff. Um sich über die gefährliche Situation aufzuklären, fragt es danach, was die Mutter da gemacht habe. Schließlich zeigt die Antwort der Mutter, das sei gut für Jasmines Gesicht, das dritte Missverständnis in dieser kurzen, noch nicht einmal eine Minute dauernden Sequenz. Deshalb muss das Kind drei Mal seine Frage. wiederholen, bis die Mutter schließlich die sachliche Antwort darauf gibt und nicht mehr ihre gute Absicht kund tut.

c)    Kinder und Erwachsene heute

Lassen Sie uns die Reise beenden und in die Realität des 6. Oktober zurückkehren. Dies ist schon deshalb geboten, weil die mir zustehende Redezeit bald erschöpft ist. Wenn wir nach dem 11. September 2001 eine Umfrage über das Großwerden von Kindern in unserer Welt gemacht hätten, dann nähmen die Ereignisse um die Zerstörung des Word-Trade-Center wohl einen breiten Raum ein. Wenige Jahre davor wäre es der Rechtsextremismus gewesen, Ende der 80er Jahre die atomare Bedrohung angesichts der Ereignisse in Tschernobyl. Und jedes Mal die besorgten Fragen: Welche Welt hinterlassen wir unseren Kindern? Werden sie in der Lage sein, Probleme zu lösen, die wir gemacht haben? Ich erinnere mich noch, dass es in meiner Kinderzeit die Kuba-Krise war, die den Großen Besorgnis machte, und dass Chruschtschow wie heute bin Laden der Teufel war. Dann kam der Mauerbau in Berlin, und wir mussten eine Kerze, die auf der Freiheitsglocke stand, in unserem Wohnzimmer anzünden. Verstanden habe ich von alldem wenig. Die Welt der Großen, dies war nicht meine Welt; mich berührten meine Schwester, Oma und Eltern, die Eroberung der nächsten Straßen, das schwierige Zurechtkommen in der Welt der Schule.

Ich will Ihnen mit dem Beispiel heute sagen, dass wir unsere Kinder mit den von uns geschaffenen Problemen mehr in Ruhe lassen sollten. Wir haben die politische Aufgabe, ihnen eine Welt zu hinterlassen, die ihre Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit nicht zerstört; pädagogisch gesehen aber sollen wir sie in ihrer Welt leben lassen. Es ist nicht richtig, unsere Ängste und Probleme auf die kommende Generation zu übertragen, nur weil wir unsere Hausaufgaben nicht machen wollen oder können. Unsere Kinder werden in ihrer Welt leben, und sie werden ihren immerwährenden Kampf um Frieden und Gerechtigkeit kämpfen müssen. Diese Zukunft wird uns verschlossen sein, weil wir tot sind oder uns als Rentner in der Hand unserer Kinder befinden. Jetzt geht es um die Gegenwart, und in ihr haben wir pädagogisch die Aufgabe, Kindern in ihrer kleinen Welt ein Leben zu ermöglichen, dass so glücklich ist, dass ein Vorschuss an Optimismus, Sicherheit, Heimat entsteht. Bin Laden, dass ist eine aufgebaute Schreckensfigur unserer Erwachsenenwelt, für unsere Kinder ist er nicht mehr als eine historische Randnotiz, wie es für mich Nikita Chruschtschow war.

Würden wir unsere fiktive Umfrage über die Sichtweise des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses heute fortsetzen, so würden wir wahrscheinlich häufig auf eine zweite Antwort stoßen: Kindheit heute, dass ist Medien-, Computer-, Konsumkindheit. Wieder aus dem weiten Feld nur eine kurze Anmerkung meinerseits. Unser Erwachsenenleben in Westeuropa geschieht in einer Welt von Luxus und Überfluss. Unsere Kinder bekommen die Brotkrumen, die vom Tisch des Herrn fallen. Die Menge materieller Güter, die Kindern heute zur Verfügung haben, ist steigend, für die Relation der Verteilung zwischen Erwachsenen und Kindern gilt, was Janusz Korczak zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb: „Wenn ein Drittel der Warschauer Bevölkerung Kinder und Jugendliche sind, dann sollte jedes dritte Haus, jedes dritte Geschäft, jede dritte Straßenbahn zu ihrem Nutzen sein.“ (Janusz Korczak, Von Kindern und anderen Vorbildern Gütersloh 1985, S. 106)

Ich habe Ihnen nur eine kurze Anmerkung versprochen, und deshalb lese ich Ihnen nur noch eine Notiz aus meiner örtlichen Tageszeitung vor. Unter der Überschrift: „Kanzler ernennt Konsum zur Bürgerpflicht“ ist auf der ersten Seite der Ausgabe vom 19. September zu lesen: „Kanzler Schröder hat die Bürger aufgefordert, auf die Terroranschläge nicht mit Kaufzurückhaltung zu reagieren. Zwar stünden schwierige Zeiten und harte Entscheidungen bevor, aber die Terroristen dürften die Weltwirtschaft nicht gefährden, sagte Schröder am Dienstag auf der IAA. Wenn sich in der Wirtschaft alle vernünftig verhielten, werde es auch nicht zu einer weltweiten Rezession kommen.“ Das ist eine andere Sprache als zu meiner Kinderzeit. Von damals ist mir noch in Erinnerung, dass Ludwig Ehrhardt sich mit seinem Appell „Maßhalten“ an die Bevölkerung des aufkeimenden Wirtschaftswunders wandte. Wenn Ihnen das nächste Mal in Ihrem Kinderhaus ein Kind wie Jasmine begegnet, ärgern Sie sich nicht, und reichen Sie Ihre kritischen Kommentare nicht an die Mutter weiter. Denken Sie daran, beide erfüllen nur ihre Bürgerpflicht.

d)   Abschließender Gedanke

Sie merken, ich drohe ins Ironische oder sogar Sarkastische abzugleiten. Also komme ich lieber zum Schluss. Ich habe Ihnen das Kaulquappen-Frosch-Beispiel von Maria Montessori vorgetragen. Beziehen wir es auf unser heutiges Thema, so können wir zweierlei sagen:

(1)               Unsere Froschwelt ist nicht die reale Welt des Kindes, und

(2)               wir haben die Aufgabe, unseren Kindern eine wohltuende Kaulquappenwelt anzubieten.

 


 drucken  zu favouriten hinzufügen  email