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Sigurd
Hebenstreit
Martin
Luther (1483 bis 1546):
„daß der Apfel bei der Rute sei“
Er
handelt konsequent und aus prinzipiellen
Überlegungen heraus, aber er hält sich
den pragmatischen Blick für das politisch
Machbare offen; er besitzt einen klaren
Glauben an die Allmächtigkeit Gottes,
aber er wittert überall den Teufen;
er lebt in der Gewissheit eines gnädigen,
den Menschen wohlwollenden Gottes, aber
er fürchtet sich vor dessen Strafgericht
bis hin zum Fegefeuer; er argumentiert
für die individuelle Glaubensfreiheit
eines jeden Menschen, aber er empfiehlt
Eltern die Verstoßung ihrer Kinder,
wenn diese den Katechismus nicht lernen
wollen; er wird mit seiner Bibelübersetzung
sprachbildend für die deutsche Sprache,
aber er schreckt auch vor Vulgärausdrücken
nicht zurück; mit der Veröffentlichung
seiner 95 Thesen wird er schnell zu
einem deutschen Volkshelden, aber er
läuft wegen seiner Stellungnahmen zum
Bauernkrieg kurze Zeit später Gefahr,
das Kapital wieder zu verspielen; er
fordert Schulbildung für Jungen und
Mädchen gleichermaßen, aber er hält
Klugheit und Beredsamkeit für Eigenschaften,
die Frauen übel anstehen; er wird noch
zu Lebzeiten zu einer deutschen, dann
europäischen Gestalt, aber seinen sächsisch-thüringischen
Lebensraum verlässt er nur selten.
Jeder
Mensch hat seine emotionalen Schwankungen,
intellektuellen Widersprüche und glaubensmäßigen
Zweifel. Martin Luther stellt in dieser
Hinsicht nichts besonderes dar, wenngleich
man in seiner Person die menschlichen
Spannungen gut studieren kann. Hinzu
kommt, dass er in einer Zeit lebt, in
der alle Lebensbereiche einem grundsätzlichen
Wandel unterliegen. Von Geburt und Erziehung
her ist er ein Mann des Mittelalters,
und auch nachdem er eine wichtige Säule
dieser alten Lebenswelt zerbrochen hat,
hält er an mittelalterlichen Überzeugungen
fest und fühlt wohl auch in mittelalterlich-irrationalen
Bahnen. Aber das ist die spannende Frage:
warum wird ausgerechnet ein Sohn einfacher
Leute, warum wird ausgerechnet dieser
kleine Mönch Kaiser und Papst herausfordern
und nicht nur herausfordern, sondern
eine Plattform für eine neue gesellschaftliche
Entwicklung schaffen? Für viele der
uns heute beschäftigenden politischen,
sozialen, ökonomischen, bildungsmäßigen
Fragen lohnt es sich, auf Martin Luther
zurückzugehen. Dabei ist er nicht der
Visionär, der ein detailliertes Bild
der gesellschaftlichen Zukunft vor Augen
hat, sondern die von ihm aus persönlichen
Glaubensüberzeugungen initiierte und
mitgestaltete Reformation zerschlägt
das gesamte alte Glaubens-, Menschen-
und Weltbild und erfordert eine neue
Basis in vielen Lebensbereichen. Von
der religiösen Neuorientierung aus müssen
die Fragen neu gestellt und nach veränderten
Antworten gesucht werden. Dies gilt
auch für den pädagogischen Bereich -
wie zu zeigen sein wird.
a)
Biographisches
Am
10. November 1483 wird Martin Luther
in Eisleben geboren, einer damals 2000
Einwohner zählenden Kleinstadt. Eisleben
ist nicht nur der Ort seines beginnenden
Lebens, sondern auch der seines Todes.
Erst 62 Jahre später wird er wieder
dorthin zurückkehren. Als Martin noch
ein kleines Baby ist, zieht die Familie
in das nahegelegene Mansfeld, ein Grafenstädtchen,
das in seinen Kupferbergwerken Arbeit
bietet. Auch Mansfeld wird für den alten
Luther nochmals von Bedeutung: hier
versucht er kurz vor seinem Tode zwischen
den verfeindeten Grafen-Brüdern zu vermitteln
- mit Erfolg.
·
Der Vater
Prägend
ist für Martin Luther die Beziehung
zu seinem Vater. Dieser stammt aus einer
Bauernfamilie, doch da er den Hof nicht
erbt, wird er Bergarbeiter im Kupferbergbau.
Später macht er sich in diesem Beruf
selbständig, was jedoch nicht mit kapitalistischer
Gewinnsucht gleichzusetzen ist. Die
Familie ist vielmehr über lange Zeit
eher arm, abhängig von den großen Verlagsfirmen
und der schwankenden Konjunktur des
Kupferabsatzes. Hart sind die Erziehungsmethoden
in der Familie; der alte Luther berichtet
von Schlägen, die selbst bei Kleinigkeiten
so heftig waren, dass das Blut floss.
Er selbst gibt deshalb die Empfehlung,
mit den Strafen mäßig umzugehen, damit
die Kinder nicht so verhärtet würden,
dass sie sich von ihren Erziehern abwendeten.
Mit seinem Vater muss dies so gewesen
sein, wobei der kleine Luther sich danach
sehnt, dass es der Vater wieder gut
werden lässt. Dieser ist Analphabet,
doch er will dem Sohn eine gute Schulbildung
vermitteln, am besten ein Studium der
Juristerei, weil dies gesicherte Berufsaussichten
verspricht. Martin Luther besucht deshalb
die örtliche Klosterschule und ab seinem
15. Lebensjahr - entfernt von den Eltern
- die Schulinstitute in Magdeburg und
Eisenach. Dann beginnt er sein Grundstudium
in Erfurt, das er im 22. Lebensjahr
mit der Prüfung als Magister artium
abschließt. Jetzt erst kann das Fachstudium
beginnen und Martin Luther studiert,
entsprechend väterlichem Beschluss,
Jura, ein Vorhaben jedoch, das er nach
kurzer Zeit abbricht. Über seine Entscheidung,
ins Kloster einzutreten, entzweit sich
die Beziehung zu dem Vater, der dies
als Verweigerung des kindlichen Gehorsams
vor den Eltern - von Gott geboten -
ansieht. An einer Stelle schreibt Martin
Luther rückblickend, daß sein Klostereintritt
durch die Flucht vor der Strenge des
Vaters motiviert gewesen sei. Erst als
er aus religiösen Gründen mit dem Klosterleben
bricht, nähern sich Vater und Sohn wieder
an. Als der 42-jährige Martin heiratet,
gibt er als einen der Gründe dieses
Schrittes den Wunsch seines Vaters nach
Enkelkindern an, ein nicht uninteressantes
Datum für einen Mann, der dem Kaiser
und Papst in direkter Konfrontation
widerstanden hat, und der im Gegensatz
zu dem Mansfelder Bergmann europaweit
bekannt ist. Als sein Vater stirbt -
Martin Luther ist 46 Jahre alt - spürt
er seine Trauer und gedenkt „der überaus herzlichen Liebe“, durch die er das geworden sei, was
er ist, aber er spricht auch davon,
dass es „billig und gottgefällig“ sei, den toten Vater zu betrauern. (Luther,
1521, S. 303)
·
Religiöse
Krise
1483
|
10. Nov.:
Geburt Luthers in Eisleben
|
1497
|
Besuch
der Schule in Magdeburg
|
1498
|
Besuch
der Schule in Eisenach
|
1501
|
Studienbeginn
in Erfurt
|
1505
|
Abschluss:
Magister artium
17. Juli:
Klostereintritt in Erfurt
|
1507
|
Beginn
des Studiums der Theologie
|
1511
|
Versetzung
in das Wittenberger Kloster
|
1512
|
Promotion
zum Doktor der Theologie
Professor
für Theologie in Wittenberg
|
1517
|
31. 10.:
Anschlag der 95 Thesen
|
1520
|
Bannandrohung
durch den Papst und
deren Verbrennung
durch Luther
|
1521
|
Endgültige
Verhängung des Banns
Vorladung
vor den Reichstag in Worms
Reichsacht
gegen Luther
Flucht
als Junker Jörg auf die Wartburg
|
1522
|
Rückkehr
nach Wittenberg
|
1524
|
Ablegung
der Mönchskutte
|
1525
|
Eheschließung
mit Katharina von Bora
|
1546
|
18. Februar:
Tod in Eisleben
|
Der
Studienanfänger der Jurisprudenz wandert
mitten im Semester von Erfurt zum väterlichen
Haus nach Mansfeld (Luftlinie immerhin
mehr als 70 km). Auf dem Rückweg wird
er unweit von Erfurt von einem heftigen
Gewitter überrascht, und er ruft in
Todesangst: „Hilf
du, hl. Anna, ich will Mönch werden“.
Dass er die Heilige Anna, die Schutzpatronin
der Bergleute, anruft, wirft wiederum
einen Blick auf die Beziehung zum Vater.
Schon zwei Wochen später tritt Martin
Luther in das Augustiner Kloster in
Erfurt ein. Er hält sich an die Fraktion,
die mit Härte die traditionellen Ordensregeln
einhält, er beichtet in geradezu übertriebener
Weise und hält die Regeln (z.B. beim
Fasten) peinlich ein. Innerhalb des
Ordens macht er rasch Karriere: Zwei
Jahre nach Klostereintritt beginnt er
mit dem Theologiestudium, das er fünf
Jahre später mit der Promotion abschließt,
und er wird gleichzeitig - in der Zwischenzeit
von Erfurt nach Wittenberg versetzt
- Professor in der theologischen Fakultät
(der Beruf, den er bis zu seinem Lebensende
ausführt). Im Wittenberger Kloster wird
er schnell Probprior und schließlich
Aufseher über zehn Klöster. Doch trotz
dieser Karriere und trotz der zwanghaften
Befolgung der Rituale findet Martin
Luther keine Ruhe. Seine grundlegenden
Gewissenskonflikte bleiben. Deshalb
wendet er das Rezept des „Mehr von demselben“
an: er steigert
seine Ritualisierungsbemühungen
bis zur Selbstverleugnung und ist- kaum
von der einen Beichte zurück - wieder
bereit zur nächsten. Das Herz findet
aber keine Ruhe; mit den Worten Martin
Luthers: „Ich
aber betrieb die Sache mit Ernst; denn
ich hatte furchtbare Angst vor dem jüngsten
Tage und begehrte doch von Herzens Grund
selig zu werden.“ (Luther, 1545,
S. 8) Im Mittelpunkt seiner psychischen
Spannung steht dabei die religiöse Frage
nach der Gerechtigkeit Gottes. Er „haßte“
den „den Sünder strafenden Gott“ (ebenda, S.
15), denn obwohl er alle religiösen
Rituale bis aufs äußerste erfüllt, fühlt
er sich als „Sünder“ und deshalb durch
Gott gestraft - was hat es da mit der
Gerechtigkeit Gottes auf sich? Martin
Luther erlebt diese Frage nicht als
theologisch-akademische Streitfrage,
sondern sie ist Ausdruck dessen, was
er tief in seinem Persönlichsten als
drängend fühlt. Schließlich kommt es
zu einer Lösung des Problems, die Martin
Luther als Bekehrungserlebnis beschreibt.
Er sieht, dass die Gerechtigkeit Gottes
keine „aktive“,
sondern eine „passive“
ist. Sind die bisherigen Bemühungen,
das Herz durch immer mehr eigene Aktivität
zu beruhigen, vergebens gewesen, so
sieht er jetzt klar vor Augen, dass
es nicht um sein eigenes Tun geht, sondern
um ein Gewährenlassen, ein sich Verlassen
auf Gott, der „die Sünden vergibt“ und
„alle Gebrechen heilt“. Die Folgen dieses
Erlebnisses sind zunächst einmal für
Martin Luther unmittelbar persönlich
spürbar. Mit seinen eigenen Worten:
„Nun
fühlte ich mich ganz und gar neugeboren:
die Tore hatten sich mir aufgetan; ich
war in das Paradies selber eingegangen.
Da zeigte mir sogleich auch die ganze
Heilige Schrift ein anderes Gesicht.“
(ebenda) Sein Herz kann sich beruhigen,
weil die eigene Aktivität nicht immer
gesteigert werden muss, sondern von
solchem Zwang befreit ist. Dass sich
für Martin Luther daraus nicht die Konsequenz
des passiven sich Fügens ergibt, sondern
im Gegenteil die Freiheit einen Aktivitätsschub
bewirkt, der jetzt jedoch nicht mehr
zwanghaft ist, werden wir später noch
hören. In diesem „Bekehrungserlebnis“
liegt der Kern dessen, was die folgende
Reformationsgeschichte ausmacht. Benennen
wir wenige Stichworte dazu.
·
Reformation
Am
31. 10. 1512 veröffentlicht Martin Luther
seine 95 Thesen wider das Ablassunwesen,
gedacht als Einladung zur kircheninternen
Diskussion. Zu dieser kommt es nicht,
doch rasch verbreitet sich der Text
- mittels der neu erfundenen Buchdruckerkunst
macht die zahlreiche Reproduktion eines
Textes keine Schwierigkeit mehr. Die
Ablassthesen - noch eine punktuelle
und gemäßigte Kritik an der katholischen
Kirche - beziehen sich auf das Eintreiben
großer Geldsummen, um Kirchenbau und
persönlichen Stellenkauf zu finanzieren,
wobei den Ablasskunden und deren verstorbenen
Angehörigen ein Freikauf von Sündenqualen
im Fegefeuer versprochen wird. Der Ablass
ist ein offener Skandal einer korrupten
Kirche, und dies ist wohl der Grund
für die breite Zustimmung, die der Mönch
von großen Bevölkerungskreisen erhält.
Den Ablass muss Martin Luther aber auch
auf Grund seiner neu gewonnenen Glaubenseinsicht
grundsätzlich in Zweifel ziehen, d.
h. selbst wenn er nicht in so pervertierten
Formen aufträte: Vergebung der Sünden,
ein beruhigtes Herz, erhält der Mensch
nicht durch seine Aktivität, sondern
in dem er passiv den Glauben an Gott
und Christus annimmt.
Die
95 Thesen finden nicht nur Beifall,
sondern stoßen auch auf eine scharfe
Reaktion der offiziellen Kirche. Vielleicht
hat diese hier - betrachtet man es unter
taktisch-strategischen Gesichtspunkten
- überreagiert: Kirchlicherseits droht
Rom Martin Luther den Bann an, falls
er nicht widerrufe; und als er dies
nicht tut, sondern vielmehr öffentlich
das päpstliche Schreiben verbrennt,
wird der Kirchenbann vollzogen. Dann
folgt die Vorladung vor den Wormser
Reichstag, auf dem Martin Luther vor
dem Kaiser nochmals Gelegenheit zum
Widerruf erhält. Der Legende nach schließt
er seinen diesbezüglichen Vortrag mit
den bekannt gewordenen Worten:
„Hier
stehe ich, ich kann nicht anders, Gott
helfe mir, Amen.“ Weil Martin Luther
zu seinen bisherigen Schriften steht,
wird die Reichsacht über ihn verhängt,
dass heißt, er kann von jedermann gefangen
genommen und getötet werden. Martin
Luther flieht und wird von seinem Landesherren
auf der Wartburg zum eigenen Schutz
gefangen gehalten, eine Zeit der Abgeschiedenheit,
die er zur Übersetzung des Neuen Testaments
nutzt. Die Sache des rebellischen Mönches
Martin Luther ist in das Konfliktfeld
der großen Politik zwischen Kaiser und
erstarkenden Landesfürsten hineingeraten.
Dabei ist der Kaiser nicht mächtig genug,
den Flammenherd so auszulöschen, wie
er es gern möchte, so dass sich das
Anliegen der Reformation in Windeseile
über ganz Deutschland verbreiten kann.
Dies treibt auch radikale Kräfte (Bilderstürmer,
Schwärmer) nach oben, die das Kind mit
dem Bade auszuschütten drohen. Allein
die Autorität Martin Luther scheint
in der Lage, die Situation in geordnete
Bahnen zu lenken. So kehrt er aus seinem
Exil auf der Wartburg nach Wittenberg
zurück. Seine Arbeit besteht jetzt bis
zu seinen Tode darin:
·
durch die
Publikation von Schriften die Grundlage
des evangelischen Glaubens zu stabilisieren,
·
an der Erarbeitung
einer theologischen Plattform mitzuwirken,
auf die breite reformatorische Kreise
sich stellen können,
·
Fürsten zu
beraten in den Angelegenheiten, die
sich aus der Reformation für den politischen
Bereich zwingend ergeben,
·
die Ordnungen
der entstehenden „protestantischen“
Kirche zu erarbeiten, die den neu entstehenden
Glauben binden und ihm Festigkeit verleihen,
·
den Theologennachwuchs
auszubilden und in den Gemeinden zu
predigen.
Martin
Luther verbringt die letzten 25 Jahre
seines Lebens mit diesen Arbeiten. Er
ist dabei oft angefochten durch persönliche
Krisen und bedroht von äußeren Angriffen.
Kraft zu diesem Leben im Kampf gibt
ihm seine starke Glaubensüberzeugung
- noch in seiner Todesstunde ist er
sich gewiss, für die richtige, Gott
wohlgefällige Sache gekämpft zu haben,
und dass der Papst der Antichrist und
des Teufels sei -; Kraft gibt ihm seine
Familie und seine Ehefrau - darüber
werden wir weiter unten noch hören,
wenn wir uns mit Luthers Verständnis
von Familie und Ehe befassen -; Kraft
geben ihm der Einsatz der Mehrzahl der
politisch Mächtigen im damaligen Deutschland
für das Anliegen der Reformation und
die breite Zustimmung und das Engagement
großer Bevölkerungskreise, die sich
von alten Bevormundungen befreit fühlen.
b)
Inhaltliches
·
Gott, Staat
und Mensch
Martin
Luther zeichnet ein scharf zweigeteiltes
Bild vom Menschen: einerseits ist er,
so wie Gott ihn geschaffen hat, gut:
er strebt nicht danach, äußerlich in
der Welt zu handeln, sondern in sich
selbst und in seiner Beziehung zu Gott
Ruhe und Gewissheit zu erlangen; dieser
„innere
Mensch“ ist, wie Luther es formuliert,
„ein freier Herr über alle Dinge und
niemand untertan“. (Luther, 1520,
S. 15) Doch dem steht andererseits der
empirische Mensch gegenüber, der „leibliche Mensch“, der in der äußeren Welt
lebt, nach Ruhm strebt und den Mitmenschen
übervorteilen will. Dieser „alte“ Mensch
ist schon auf Grund seiner unermesslichen
Begierden unfrei. Da Martin Luther von
der Sündhaftigkeit eines jeden ausgeht,
kann die zuerst bezeichnete positive
Vorstellung nicht faktische Wirklichkeit
benennen, sondern nur eine Zielvorstellung
darstellen. Ihr soll sich der Mensch
annähern, obwohl klar ist, dass er bis
zum „Jüngsten Gericht“ sie nicht erreichen
wird. Das positive Menschenbild deutet
Martin Luther in religiöser Hinsicht:
er spricht deshalb von dem „geistlichen
Menschen“. Seine „Nahrung“ erhält
er von Gott her, geoffenbart im Neuen
Testament.
„Gute
fromme Werke machen nimmermehr
einen guten frommen Mann,
sondern ein guter frommer
Mann macht gute fromme Werke.
Böse Werke machen nimmermehr
einen bösen Mann, sondern
ein böser Mann macht böse
Werke. So daß allewege die
Person muß zuvor gut und fromm
sein vor allen guten Werken,
und gute Werke folgen und
ausgehen von der frommen Person“
(Luther, 1520, S. 26)
|
Dieses
zweigeteilte Menschenbild hat Konsequenzen
für das richtige Handeln, wie in nebenstehendem
Zitat deutlich wird. Hier fließt das
ein, was Martin Luther in seinem Bekehrungserlebnis
für sich erfahren hat. Wir können es
mit unserer Sprache so formulieren:
Ausschlaggebend ist der Motivationsgrund,
aus dem heraus ein Mensch handelt. Ruht
ein Mensch in sich (in Gott), so wird
ihn dies dazu treiben, in gerechter
und friedvoller Weise in dieser Welt
zu handeln. Hat er in sich selbst aber
keine Ruhe gefunden, dann werden seine
Bedürfnisse ihn nach außen drängen und
hektisch wird er sie zu befriedigen
suchen, in dem er die anderen übervorteilt.
Pädagogisch
ergibt sich daraus: Wollen wir wirklich
einen Menschen erziehen, dann dürfen
wir nicht auf die äußere Erscheinung
blicken und oberflächlich-anständiges
Verhalten antrainieren. Dadurch könnten
wir in dem Kind nur eine Angepasstheit
erreichen, die dann zusammenbricht und
dem Egoismus Platz macht, wenn die Erwachsenenautorität
nicht mehr mit Gewalt wirkt. Gerichtet
sein muss die Erziehung vielmehr auf
den „inneren Menschen“, wir würden vielleicht
heute formulieren, auf die Selbstwerdung
des Kindes. Für Martin Luther kann diese
jedoch keine pädagogische Leistung sein,
sondern für ihn ist sie ein Geschenk
Gottes, das der Mensch sich nicht aktiv
erarbeiten kann, sondern das er passiv
geschehen lassen muss.
Aus
dem zweigeteilten Menschenbild folgt
auch das Staatsverständnis Martin Luthers.
Wenn der Mensch gut wäre, dann bedürfte
es keiner staatlichen Gewalt, weil der
christliche Mensch so „genaturt“
(Luther, 1523, S. 36) ist, dass er von
selbst auch in seinen sozialen Beziehungen
zu anderen Menschen sich richtig verhält.
Doch davon auszugehen ist naiv. Martin
Luther bringt hier das Bild von dem
Hirten, der wilde und zahme Tiere in
einen Stall zusammenbringt und dabei
die Erwartung hegt, sie würden schon
friedlich miteinander umgehen, da Nahrung
hinreichend für alle vorhanden sei:
„Hier
würden die Schafe wohl Frieden halten
..., aber sie würden nicht lange leben.“
(ebenda, S. 38) Weil der empirische
Mensch nicht gut ist, bedarf es der
staatlichen Gewalt, die ein gerechtes,
friedvolles Miteinanderleben der Menschen
erzwingt. Da der Staat also notwendig
ist, muss auch der Christ sich ihm fügen,
ja er muß sogar aktiv die weltliche
Macht (bis hin zum Kriegs- und Henkerdienst)
ausüben, damit sie in rechter Weise
benutzt wird.
„Welcher
nun ein christlicher Fürst
sein will, der muß wahrlich
die Meinung ablegen, daß er
herrschen und mit Gewalt verfahren
wolle. Denn verflucht und
verdammt ist alles Leben,
das ihm selbst zu Nutz und
zugut gelebt und gesucht wird,
verflucht alle Werke, die
nicht in der Liebe gehen.
Dann aber gehen sie in der
Liebe, wenn sie nicht auf
eigene Lust, Nutzen, Ehre,
Gemach und Heil, sondern auf
anderer Nutzen, Ehre und Heil
gerichtet sind von ganzem
Herzen.“ (Luther. 1523, S.
55f)
|
Aus
dem zweigeteilten Menschenbild ergibt
sich, dass jeder Mensch in „zwei Welten“
gleichzeitig lebt: Einerseits in sich
selbst und in seiner Beziehung zu Gott
und andererseits in der sozialen Welt
des Miteinanderlebens mit anderen. Staatliche
Gewalt darf sich dabei nur auf diesen
zweiten Bereich beziehen, während im
religiösen Feld keinerlei Gewalt Platz
haben darf. Hier gilt ausschließlich
die Gewissensfreiheit eines jeden Einzelnen.
In zweifacher Hinsicht zeigt sich ein
neuzeitlicher Charakter im Denken Martin
Luthers: einerseits die Legitimation
der staatlichen Gewalt dadurch, dass
der gesellschaftliche Kampf aller gegen
alle unterbunden und so ein friedliches
soziales Leben ermöglicht wird, andererseits
die Heraushebung der Individualität
- zumindest im religiösen Bereich -
und der von jedem einzelnen selbst zu
verantwortenden Gewissensentscheidung.
Beides - Beschränkung der legitimen
Gewalt auf den „dienenden“ Staat und
damit Einschränkung der Gewaltausübung
des Einzelnen sowie die individuelle
Gewissensentscheidung - werden der Pädagogik
neue, weitere Spielräume geben.
·
Ehe und Familie
Beginnen
wir mit einem biographischen Bezug:
Martin Luther ist 41 Jahre alt, als
er die 16 Jahre jüngere, ehemalige Benediktinernonne
Katharina von Bora heiratet. Es ist
nicht Liebe auf den ersten Blick, vielmehr
versucht er zunächst Katarina, die mit
acht Mitnonnen zu Martin Luther geflohen
ist, an einen anderen zu vermitteln,
und da diesem von seinen Eltern die
Ehe verboten wird, an einen weiteren.
Doch schließlich setzt Katharina sich
mit ihrer Forderung durch: entweder
Martin oder keinen. Zu diesem Zeitpunkt
haben einige der evangelisch gewordenen
Pfarrer geheiratet, und Martin Luther
hat es befürwortet, doch für sich selbst
ist der ehemalige Mönch vor diesem Schritt
zurückgeschreckt. Wie gesagt, es ist
keine Liebesheirat, noch 13 Jahre später
berichtet Luther, er hätte damals lieber
eine andere der Mitnonnen genommen,
denn: „Meine
Käthe hatte ich dazumal nicht lieb“
(Luther, 1531ff, S. 349). Aber im Verlauf
der Ehe entstehen Respekt und Anerkennung
vor den Leistungen seiner Frau und auch
so etwas wie zärtliche, fürsorgende
Liebe, wie die Briefe an die Gattin
uns noch heute vermitteln. Sechs Kinder
entstammen dieser Ehe, von denen eins
als Säugling und eine Tochter im 14.
Lebensjahr sterben. Martin Luther kann
kompromisslos hart in der Erziehung
sein - bekannt geworden ist sein Ausspruch:
„Ich wollt lieber einen toten denn einen ungezogenen Sohn haben“ (ebenda,
S. 356) -, aber es überwiegen doch eindeutig
zärtliche Beschreibungen: seine Betrachtung
zu dem an der Mutterbrust saugenden
Kinde (ebenda, S. 357); die Beschreibung
seiner Trauer angesichts des Todes des
Säuglings: „Nie vorher hätte ich geglaubt, daß ein väterliches
Herz wegen des Kindes so weich sein
könne“ (Luther, 1521, S 302); sein
trauerndes, leidenschaftlich-kämpfendes
Leiden im Sterben der 13-jährigen Tochter
(Luther, 1531, S. 358f). Der Apfel steht
vor der Rute. Ein eindrückliches Dokument
ist der Brief, den er an seinen Sohn
Hans schreibt. In ihm kommt die Ambivalenz
der Erziehungsvorstellungen Luthers
exemplarisch zum Ausdruck: Er ermahnt
ihn, gut zu lernen und fleißig zu beten,
und verspricht als Belohnung einen Besuch
in einem „Vergnügungspark“, den er fast
in paradiesischen Zügen ausmalt. Man
spürt noch heute die Zärtlichkeit und
Liebe, mit der der Vater an dem Sohn hängt, um dessen Wohlergehen
er besorgt ist, und man wird noch heute
aufgeschreckt durch die eingerahmten
Belehrungen, sich entsprechend den Vorstellungen
des Vaters wohl zu verhalten.
Die
große Bedeutung, die Ehe und Familie
für Martin Luther persönlich haben,
und gleichermaßen die Ambivalenzen,
die wir beobachten können, spiegeln
sich auch in seinen grundsätzlichen
Äußerungen zu diesem Themenkreis wieder.
Auf der einen Seite befreit er die Ehe
von ihrem Charakter als kirchliches
Sakrament und verweist sie so in den
politischen Bereich, so dass er etwa
zur Ehescheidung eine andere Position
als die katholische Kirche einnimmt
(„Wir
heißen weder Scheidung gut noch verwehren
wir sie, sondern vertrauen der Obrigkeit,
darin zu handeln und lassen danach gehen,
wie weltliches Recht hierin entscheidet“
- in: Aland, 1956, S. 76). Gleichzeitig
aber hebt Martin Luther die Ehe in einen
von Gott gewollten „Stand“ - neben Kirche
und Obrigkeit. Weil er Sexualität als
einen natürlichen Trieb anerkennt, den
der Mensch (von wenigen Ausnahmen abgesehen)
nicht verleugnen kann, bedarf es der
Ehe, um den Gefahren der Prostitution
auszuweichen.
Eine
besondere Aufgabe, aber auch ein besonderes
„Geschenk Gottes“ erhalten die Eheleute
durch die Erziehung ihrer Kinder, denn
nach Martin Luther ist erster und wichtigster
Ort der Erziehung die Familie. Die damit
verbundenen Aufgaben - vom Waschen der
Windeln bis zur religiösen Erziehung
- weist er den Eltern zu, und er spricht
ausdrücklich auch den Vater an, selbst
wenn er sich als Wäsche waschender und
kinderpflegender Hausmann der Lächerlichkeit
der Mitwelt preisgibt.
„Es
ist nichts mit Wallfahrten
gen Rom, gen Jerusalem, zu
S. Jakob. Es ist nichts, Kirchen
bauen, Messe stiften, oder
was für Werke genannt werden
mögen, gegen diesem einigen
Werke, daß die Eheleute ihre
Kinder ziehen. Denn dasselbe
ist ihre richtigste Straße
gen Himmel, sie mögen auch
den Himmel nicht eher und
besser erlangen, denn mit
diesem Werk. Es ist auch ihr
eigen Werk; und wo sie sich
desselbigen nicht befleißigen,
so ist es gleich ein verkehrt
Ding, als wenn Feuer nicht
brennt, Wasser nicht netzet.“
(Luther, 1519, S. 107)
|
Es
sind Aufgaben, die von Gott geboten
sind, und deren Erfüllung deshalb, auch
in den banalsten Verrichtungen „Gottes
Dienst“ ist. Martin Luther propagiert
so etwas, was später (erst zustimmend,
dann teilweise mit abfälligem Unterton
versehen) die „bürgerliche Familie“
genannt werden wird. Duch sie, durch
die Individualität in der Familie, wird
das einzelne Kind als unterstützungswürdig,
schutzbedürftig gesehen. Und ein zweites
kommt bei Martin Luther hinzu: durch
seine theologische Begründung verweist
er gleichzeitig auf die Grenzen elterlicher
Gewalt. So schreibt er im Großen Katechismus:
„denke nicht, daß solchs (die elterliche Erziehung)
zu deinem Gefallen und eigener Willkür
stehe“ Luther, 1530, S. 135). Die
Erziehungsaufgaben der Eltern, und damit
die Macht, die sie über ihre Kinder
haben, sind begrenzt durch ihren „Dienst“charakter.
Sie haben Gott darüber Rechenschaft
abzulegen.
Den
elterlichen Pflichten, die nicht Last,
sondern Freude bedeuten und deren Erfüllung
den Himmel verheißen, deren Versagen
aber die Hölle zur Folge haben, entspricht
die „Ehre“,
die die Kinder den Eltern gegenüber
schuldig sind. So schreibt Martin Luther
in der Auslegung des Vierten Gebotes:
„So
lerne nun zum ersten: was die Ehre gegen
die Eltern heiße, in diesem Gebot gefordert;
nämlich, daß man sie vor allen Dingen
herrlich und wert halte, als den höchsten
Schatz auf Erden. Darnach auch mit Worten
sich züchtig gegen sie stelle, nicht
übel anfahre, poche und poltere; sondern
lasse sie recht haben und schweigen,
ob sie gleich zuviel tun. Zum dritten
auch mit Werken, das ist mit Leib und
Gut, solche Ehre beweise, daß man ihnen
diene, helfe und versorge, wenn sie
alt, krank, gebrechlich oder arm sind,
und solches alles nicht allein gerne,
sondern mit Demut und Ehrerbietung,
als für Gott getan.“ (ebenda, S.
127f) Generationen von Eltern haben
mit solchen Zitaten die Forderung nach
Unterwürfigkeit der Kinder begründet
und ihre willkürliche Gewaltherrschaft
legitimiert. Doch wenn man Martin Luther
verstehen will, muss man beides zur
gleichen Zeit sehen: der Ermahnung an
die Kinder, die Eltern zu „ehren“, steht
die Forderung an die Eltern, die Kinder
zu erziehen, ihnen Schutz und Bildung
zu geben, gegenüber.
·
Schulbildung
Martin
Luther ist Kirchenmann und Politiker,
d.h.: auch wenn er über die Fragen der
Bildung nachdenkt, geht es ihm um das
Fundament der neuen gesellschaftlichen
Ordnung, die sich aus der Reformation
notwendiger Weise ergeben muss; er ist
nicht Pädagoge, der von den Erziehungsansprüchen
und -bedürfnissen des einzelnen Kindes
ausgeht. Der entstehende Staat und die
neue Kirche bedürfen des Nachwuchses,
der gebildet werden muss, um deren Aufgaben
erfüllen zu können. Mit dem Bildungswesen,
den höheren Schulen und der Universität,
stand es in den Ländern der Reformation
nicht zum besten: die Schüler- und Studentenzahlen
waren stark rückläufig, die Finanzierung
ungesichert. Galten früher geistliche
Ämter als Aufstiegsmöglichkeit, weil
mit ihnen Privilegien und eine gesicherte
Existenzgrundlage verbunden waren, so
ist jetzt der neue Pfarrerberuf ökonomisch
und auch sozial noch ungesichert; verstanden
sich ehemals finanzielle Zuwendungen
für die Kirche, ihre Bildungs- und Sozialleistungen,
als Bringschuld für das eigene Seelenheil
und das der Verwandten, so scheint jetzt
die Finanzierung der neuen Kirche ungewiss.
Die neue christliche Freiheit kann als
Freifahrtschein und Hinwendung zu eigenem
Wohlstand verstanden werden. Wenn gute
Werke nicht gerecht vor Gott machen,
warum dann „gute Werke“ tun?
„Darum
wache hie, wer wachen kann!
Die Obrigkeit, wo sie einen
tüchtigen Knaben siehet, daß
sie den zur Schule halten
lasse; ist der Vater arm,
so helfe man mit Kirchengütern
dazu. Hie sollten die Reichen
ihre Testamente zugeben, wie
denn die getan haben, die
etliche Stipendia gestifetet
haben; das hieße recht zur
Kirche dein Geld bescheiden.
Hie lösest du nicht der Verstorbenen
Seelen aus dem Fegfeuer, sondern
hilfest durch Erhaltung der
göttlichen Ämter beiden, den
Lebendigen und den Zukünftigen,
die noch nicht geboren sind,
daß sie nicht hinein ins Fegfeuer
kommen, ja, daß sie aus der
Hölle erlöset werden und gen
Himmel fahren, und die Lebendigen,
daß sie Frieden und Gemach
haben. Das möchte ein löblich
christlich Testament sein,
da hätte Gott Lust zu und
Gefallen dran und würde dich
wiederum segnen und ehren,
daß du auch Lust und Freude
an ihm haben würdest.“ (Luther,
1530a,, S. 106)
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Dies ist der kritische Ausgangspunkt,
von dem aus sich Martin Luther an die
Obrigkeit (1524) und die Eltern selbst
(1530a) wendet, um für den Erhalt, ja
erst wirklich möglichen Aufbau des Bildungswesens
zu plädieren. Schulbildung ist nicht
notwendig zur Erlangung beruflicher
Qualifikationen in Handwerk, Landwirtschaft
und Handel (Martin Luther nennt sie
„Bauchsorgen“), weil derartige Fähigkeiten
in der unmittelbaren Teilhabe an den
Alltagsgeschäften erlernt werden. Sie
ist aber dringend erforderlich für die
Positionen, die jetzt notwendiger denn
je werden: für die Pfarrer, die Juristen,
die Lehrer. Die Herausbildung des modernen
Staates, die den Bürgern Rechtssicherheit
gibt und innerhalb des Gemeinwesens
ein friedliches Miteinander verspricht,
kann sich nicht nur auf die Gewalt stützen,
sondern bedarf fähiger Juristen, die
das Recht gelernt haben und auszulegen
wissen. Und die neue Kirche, als Gemeinschaft
aller Gläubigen, bedarf Pfarrer, die
jeden einzelnen über den rechten Glauben
in der Predigt durch das Wort belehren,
damit er für sich selbst zu begründeten
Gewissensentscheidungen gelangen kann.
Es gibt also sowohl im politischen wie
im kirchlichen Bereich einen Bedarf
an qualifizierten Menschen. Diese können
nicht naturwüchsig entstehen, sondern
sie müssen von Lehrern (durch Sprachstudien,
historische Kenntnisse, Musik und Mathematik,
1524, S. 75f) gebildet werden. In der
Sprache Martin Luthers: „Ochsen und Pferde, Hund und Säu werden’s nicht tun. Holz und Steine auch
nicht. Es werden wir Menschen tun müssen“
(Luther, 1530a, S. 88).
Der
Mensch kann nicht nur aus eigener Erfahrung
lernen, „denn zu eigener Erfahrung gehört viel Zeit“
(Luther, 1524, S. 76), sondern er muss
planmäßig unterrichtet werden, sollen
die Kinder nicht „wie
das Holz im Wald“ wachsen und dann
„nur
ein unnütz Gehecke und nur zum Feuerwerk
tüchtig“ sein (ebenda, S. 68). Dabei
kommt der gesellschaftlich und kirchlich
gebotenen Bildungsnotwendigkeit entgegen,
dass Kinder gerne lernen, wenn die Erziehungsmethoden
ihrem natürlichen Aktivitätsdrang angepasst
und die Gewalt der Erwachsenen und die
Angst der Kinder, die bisher das Erziehungsgeschehen
geprägt haben, aus der Schule verbannt
werden. Dem Argument der Eltern, sie
bedürften der Mithilfe der Kinder in
Haushalt und Beruf und könnten es deshalb
nicht zur Schule schicken, begegnet
Martin Luther in recht pragmatischer
Art: wenige Stunden am Tag und wenige
Jahre im Leben der Kinder genügten,
um eine allgemeine Grundbildung für
alle (Jungen und Mädchen!) zu schaffen,
so dass noch genügend Zeit für die Mitarbeit
der Kinder bliebe. Nur die für das Prediger-,
Lehr- und Juristenamt befähigten Kinder,
die sich aus dem Kreis der „gemeinen
Leute“ und nicht aus der aristokratischen
Oberschicht rekrutieren sollen, bedürften
einer weiterführenden Bildung.
Erster
Ansprechpartner der Forderung, „die Kinder zur Schule zu halten“ (1530a) sind die Eltern. Sie dürfen
ihre Kinder nicht zurückhalten, nur
weil ein handwerklicher oder bäuerlicher
Beruf mehr wirtschaftlichen Erfolg verspricht.
Vielmehr gilt auch hier: Gemeinnutz
geht vor Eigennutz, und Martin Luther
zieht alle Register des Versprechens
göttlicher Verheißung (bei Erfüllung)
und göttlicher Strafe (bei Nichterfüllung
dieser Forderung), die wir an ihm bereits
kennengelernt haben. Gleichzeitig appelliert
er an den Staat, für Aufbau und Erhalt
des Bildungswesens zuständig zu sein,
und er fordert von ihm die Durchsetzung
der Schulpflicht gegenüber den Eltern
- in Parallele zur Militärpflicht, die
durchzusetzen ihm doch auch selbstverständlich
sei. Durchaus in Entsprechung zu Argumenten,
die wir in unserer Zeit zur institutionellen
Erziehung im frühkindlichen Bereich
wiederfinden, begründet Luther das Engagement
des Staates für die Bildung: Einerseits
gäbe es Eltern, die ihrer Erziehungspflicht
nicht nachkommen würden, und es bedürfe
deshalb des gesellschaftlichen Einsatzes,
solche Kinder nicht verloren zu geben,
andererseits hätten Eltern keine Zeit
oder nicht die notwendigen pädagogischen
Fähigkeiten, um ihre Kinder selbst zu
erziehen. Weil die Bildung des Kindes
in der Familie ungesichert und unvollständig
ist, bedarf es des Eingreifens des Staates.
Dieses ist durchaus auch in seinem eigenen
Interesse, weil die Bildung des Volkes
eher als die militärische Stärke für
das Wohlergehen der Gesellschaft als
Ganzer ausschlaggebend ist.
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