Sigurd
Hebenstreit
Friedrich
Schleiermacher (1768 bis 1834): „Dem
Übergewicht des Homogenen muß durch
Erregung des Individuellen das Gleichgewicht
gehalten werden.“
a)
Lebensstationen
Mit
der Pädagogikvorlesung des Professors
für Evangelische Theologie, Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher, die im
Mittelpunkt der Darstellung dieses
Kapitels steht, machen wir einen großen
Schritt auf die heutige Erziehungswissenschaft
zu. Für den Autor selbst stellt die
Pädagogik nur eines der vielen Nebengleise
seiner wissenschaftlichen Beschäftigungen
dar, in denen die Theologie und Philosophie
im Vordergrund gestanden haben, aber
für die Geschichte der Pädagogik ist
seine diesbezügliche Vorlesung ein
Meilenstein. Über Wilhelm Dilthey
führt ein direkter Weg zu der geisteswissenschaftlichen
Pädagogik, die trotz des Abgesangs,
den man in den 60er Jahren des 20.
Jahrhunderts auf sie gehalten hat,
auch heute noch nicht „am Ende ihrer
Epoche“ ist. Mit dem Text Friedrich
Schleiermachers liegt ein Versuch
vor, auf theoretische Weise das Gesamtfeld
der Pädagogik auszumessen und in wissenschaftlich
handhabbare Segmente zu untergliedern.
Hier schreibt kein Praktiker der Erziehung,
der seinen reformerischen Ideen ,Verbreitung
geben will, sondern ein Professor,
der die Pädagogik als Wissenschaft
zu begründen versucht.
Betrachten
wir Leben und Werk dieses Mannes,
so läßt sich der Eindruck nicht verwehren,
daß viel Emotionalität in eine abstrakte
Sprache gebannt wird, und in dieser
Hinsicht wird er modellgebend für
einige Generationen von Pädagogikprofessoren
bis heute, deren persönliche Gefühle
und inhaltlich erzieherisches Engagement
hinter einem Begriffsapparat komplexen
Ausmaßes zum Verschwinden gebracht
wird. Nur läßt sich bei Friedrich
Schleiermacher auch der Eindruck nicht
zurückweisen, daß das Bemühen um formal-logische
Intellektualität doch nicht verhindern
kann, daß hinter dieser Decke das
Persönliche und die engagierte Betroffenheit
durchscheinen. Am stärksten ist dies
wohl bei seinen Reden „Über die Religion“
der Fall, auf die wir noch eingehen
werden, aber auch in Bezug auf die
Inhalte seiner „Theorie der Erziehung“
ließe sich an vielen Stellen nachweisen,
inwieweit sie unmittelbare Wiederholungen
seiner eigenen Kindheitserfahrungen
sind, noch mehr aber deren kompensatorische
Wiedergutmachungen. Doch diesen Nachweis
wollen wir hier nicht führen, sondern
uns nach der Beschreibung einiger
biographischer Daten auf die Analyse
seiner Pädagogikvorlesung konzentrieren.
·
Kindheit,
Jugend und Studium
1768
|
21.
November Geburt in Breslau
|
1783
|
Schulen
der Brüdergemeinde inNiesky
und Barby
|
1787
|
Studium
der Theologie in Halle
|
1790
|
Hauslehrer
in Schlobitten
|
1793
|
Lehrer
in Berlin
|
1794
|
Hilfsprediger
in Landsberg
|
1796
|
Prediger
an der Berliner Charité
|
1802
|
Hofprediger
in Stolp
|
1804
|
Theologieprofessor
in Halle
|
1807
|
Übersiedlung
nach Berlin
|
1809
|
Heirat
mit Henriette von Willich
|
1810
|
Theologieprofessor
in Berlin
|
1829
|
Tod
des neunjährigen Sohnes Nathanael
|
1834
|
12.
Februar Tod Friedrich Schleiermachers
|
Unter
den Vorfahren Friedrich Schleiermachers
finden sich viele Pfarrer, die Großväter
beider Seiten gehören dazu, selbstverständlich
auch der Vater, und der Sohn wird
auch den geistlichen Beruf wählen.
Am 21. November 1768 wird er in Breslau
geboren. Der Vater ist als Feldprediger
beruflich viel unterwegs, so daß die
Erziehung weitgehend in den Händen
der Mutter liegt, ergänzt durch den
Besuch einer öffentlichen Schule,
in der der fünfjährige bereits mit
gutem Erfolg Latein lernt. Folgt man
der Selbstbiographie, die der sechsundzwanzigjährige
Friedrich Schleiermacher geben wird,
dann ist seine Kindheit bestimmt durch
den „sehr frühen Ruhm eines guten Kopfes“ (SB, S. 252f). Er macht so schnelle
Fortschritte im Lernen, daß er auch
die älteren Mitschüler rasch überrundet;
aber dadurch ergibt sich auch die
Neigung zur Hoffärtigkeit, die die
Mutter durch religiöse Erziehung mindern
will. Der Stolz erhält schließlich
für das Kind dadurch einen Dämpfer,
daß es bei dem Versuch, einen lateinischen
Autor lesen zu wollen, feststellen
muß, daß es zwar die einzelnen Vokabeln
übersetzen kann, den Text selbst aber
trotzdem nicht versteht, weil ihm
der Zusammenhang verborgen bleibt.
Mögen die anderen ihn für einen „guten
Kopf“ halten, Friedrich selbst spürt,
daß er es nicht ist. Deshalb muß er
seine Unwissenheit verstecken. Statt
auffahrend und heftig wird er jetzt
eher zurückgezogen und verschlossen.
Als
die Familie bedingt durch den beruflichen
Wechsel des Vaters nach Oberschlesien
umzieht, wird der Zehnjährige zunächst
nicht mehr in eine öffentliche Schule
geschickt, weil, wie die Mutter schreibt,
„er für sein Alter schon genug weiß;
wir möchten gern, daß sein Herz so
gut wäre, als sein Verstand schon
Kräfte hat“ (in: Biographie, S. 12).
Zeitweise kümmert der Vater sich selbst
um die Bildung seines Sohnes, dann
wird ein Privatlehrer angestellt.
Der Vater hat in seinem Leben heftige
Glaubenskämpfe durchgestanden, bis
er schließlich in der Hinwendung zum
Pietismus eine gewisse Beruhigung
gefunden hat. Nachdem die Eltern auf
diese Weise in Kontakt zu der Herrenhuter
Brüdergemeinde des Grafen Zinsendorf
gekommen sind, wünschen sie, daß ihre
Kinder in diesem Geist erzogen werden,
und sie vertrauen deshalb die Kinder
den Schulen der Brüdergemeinde an.
Als der Vierzehnjährige in die Schule
in Gnadenfrei eintritt, ist es das
letzte Mal, daß Eltern und Kinder
sich sehen. Die Mutter stirbt bereits
kurze Zeit später, und trotz des schriftlichen
Austausches zwischen Vater und Sohn,
auf den wir gleich noch zurückkommen
werden, leben die beiden nie mehr
unmittelbar miteinander.
Friedrich
Schleiermacher durchläuft das Bildungssystem
der Herrenhuter Brüdergemeinde. Bereits
1783 wird er gemeinsam mit seinem
Bruder in das Pädagogium nach Niesky
geschickt und gut zwei Jahre später
auf das Seminar in Barby. Diese Stationen
sind typisch für jemanden, der als
zukünftiger Geistlicher der Brüdergemeinde
vorgesehen ist. Anfänglich freut sich
Friedrich Schleiermacher über das
Internatsleben: das Leben auf dem
Land, die Gemeinschaft mit den Kameraden,
das Entfliehen vor dem „sittlichen Verderben (der) meisten großen Schulen“ (SB, S. 254). Doch
dann wird ihm das alles zu eng: aus
der Erweckung des religiösen Lebens
wird Gesinnungsschnüffelei, das Lernen
bleibt innerhalb der engen Grenzen,
die die Frömmigkeit steckt. Der Schüler
ahnt, daß außerhalb der Schulmauern
ein neues geistiges Leben entsteht,
aber er erfährt außer den Drohungen
vor der bösen Welt nichts davon. Das
Bestreben des kleinen Freundeskreises,
der das Ganze gerade noch erträglich
macht, ein wenig die Mauern zu lockern,
um beispielsweise sich die „Leiden
des jungen Werthers“ von Goethe zu
beschaffen, endet im Fiasko. Je höher
die Mauern, je enger die Grenzen werden,
desto mehr gerät Friedrich Schleiermacher
in eine Glaubenskrise, weil ihm das
Medium genommen wird, dessen er schon
als Kind bedurfte und das für sein
weiteres Leben zentral bleibt: Autoritäten
sind nicht unhinterfragt zu übernehmen,
sondern in dem Selbstdenken liegt
die Quelle zu ihrer Zustimmung oder
Ablehnung. Die eigene Vernunft muß
befragt werden.
So
selbstbewußt sich dies anhören mag,
für den jugendlichen Friedrich Schleiermacher
hat der Glaubenszweifel alle Anzeichen
einer existentiellen Krise: alle Menschen,
alle Stimmungen, alle Lebensäußerungen
außerhalb von ihm scheinen einen Glauben
zu bestätigen, den nur er in seinem
Inneren nicht finden kann. Und dabei
will er doch glauben, wenn dieser
sich nur mit dem eigenen Selbst decken
würde. Hinzu kommt der Vater, von
dessen langem Glaubenskämpfen er weiß,
und
dem er trotz der Trennung in
kindlicher Liebe anhängt. Der Vater
ist die einzige Person, an die er
sich wenden kann, wenn die Herrenhuter
Brüder ihn aus dem Seminar werfen
werden, denn der die Göttlichkeit
Christi und die übermenschliche Gnadenwirkung
des Todes am Kreuz Bezweifelnde kann
schwerlich Priester, ja noch nicht
einmal Lehrer der Gemeinde werden.
Jetzt drohen sie ihm nicht nur an,
ihn zu exkommunizieren, sondern sagen
voraus, daß der Vater ihn selbst verstoßen
werde. Auf „Schonung“
und „Mitleid“
kann der Gottlose nicht mehr rechnen.
„Ich
kann nicht glauben, daß
der ewiger, wahrer Gott
war, der sich selbst nur
den Menschensohn nannte,
ich kann nicht glauben,
daß sein Tod eine stellvertretende
Versöhnung war, weil er
es selbst nie ausdrücklich
gesagt hat, und weil ich
nicht glauben kann, daß
sie nötig gewesen; denn
Gott kann die Menschen,
die er offenbar nicht zur
Vollkommenheit, sondern
nur zum Streben nach derselben
geschaffen hat, unmöglich
darum ewig strafen wollen,
weil sie nicht vollkommen
geworden sind. ... Ich bitte
Sie, enthalten Sie mir Ihre
stärksten Gründe zur Widerlegung
derselben nicht vor, aber
aufrichtig zu gestehen,
glaube ich nicht, daß Sie
mich jetzt überzeugen werden,
denn ich stehe fest darauf.“
(262f)
|
Als
Friedrich Schleiermacher 18 Jahre
alt ist, spitzt sich die Situation
zu: er wird aus Barby verwiesen und
schreibt dringende Notbriefe an den
Vater, der ihn aus der Situation retten
soll. Liest man heute diese Briefe,
so kann man ihnen das Urteil, psychologische
Meisterstücke des jugendlichen Friedrichs
zu sein, nicht versagen. Zunächst
wünscht er dem Vater das Beste - und
„Freude
zu erleben an Ihren Kindern“ gehört
sicherlich dazu - um sofort hinzuzusetzen,
daß er jetzt, nach halbjährlichem
Schweigen, etwas mitzuteilen habe,
das diesem Wunsch zuwiderlaufe. Dann
folgt in wenigen Zeilen (siehe nebenstehenden
Ausschnitt) das Bekenntnis des Unbekenntnisses
mit einer Massivität, die jedoch beabsichtigt,
nicht das Strafgericht des Vaters,
sondern sein Mitgefühl mit dem leidenden
Sohn hervorrufen zu sollen. Möge der
Vater eingedenk seiner eigenen langen
Glaubenskrise doch das Vertrauen,
daß sein Sohn trotzdem ein „rechtschaffender und nützlicher Mensch“
werden könne, nicht aufgeben. Jetzt
folgt die Mitteilung der Androhung
des Rausschmisses aus dem Herrenhuter
Bildungsinstitut und unmittelbar danach
die Äußerung des Wunsches, in Halle
Theologie studieren zu wollen. Dieser
Wunsch wird untermauert mit dem Hinweis,
ein dort lebender Onkel könne hilfreich
sein und vielleicht Unterkunft gewähren,
auf jeden Fall aber den jungen Mann
vor dem „Verderben
der Universität“ schützen. Schließlich
folgt die Bitte, ob der Vater nicht
auch noch bei den geistlichen Oberen
der Brüdergemeinde intervenieren könne,
damit sie ihm eine Rückkehrmöglichkeit
offenhielten, falls er zum rechten
Glauben zurückkehre. In der Schlußformel
drückt Friedrich seine Hoffnung aus,
der Vater möge „diese Nachricht ohne Schaden Ihrer Gesundheit“ aufnehmen. Knapp drei
Wochen später schickt Friedrich Schleiermacher
einen zweiten Brief hinterher, noch
bevor er eine Antwort des Vaters erhalten
hat. Jetzt wird der äußere Druck,
der auf dem Jugendlichen lastet,
klar: in noch nicht einmal
zwei Monaten muß er das Seminar der
Brüdergemeinde verlassen haben, alle
Interventionen seitens des Vaters
gegenüber den Brüdern wären nutzlos,
denn es herrsche die Meinung vor,
mit seinem „schädlichen Gift“ könne er hier nicht länger
geduldet werden. Dem Vater gegenüber
bleibt zu begründen, warum gerade
der Ungläubige Theologie studieren
wolle, und eine Aufstellung der von
ihm benötigten Geldsummen ist zu machen,
wobei er sich deutlich um Bescheidenheit
bemüht: Kaffee trinke er nicht, und
Abends müsse er „nicht viel essen“.
Der
Vater ist entsetzt, es kommt zu einer
tiefen und lang andauernden Entfremdung
zwischen ihm und seinem Sohn, von
der der 34jährige acht Jahre nach
dem Tod des Vaters schreiben wird,
daß er als Sohn an ihr unschuldig
gewesen sei. Viel gelitten habe er
an dem Zerbrechen des kindlich-elterlichen
Verhältnisses, auch weil die „zärtlich sorgende Liebe“ des Vaters für ihn nie im Zweifel stand,
und er schließt: „Nach
und nach nun folgte sein Urteil und
sein Verstand seinem Herzen; aber
nur eben hatte ich das vollste und
sicherste Zeugnis in Händen, daß er
ganz wieder mein war, als er mir genommen
wurde.“ (Biog. S. 39)
Trotz
des Zerwürfnisses zwischen Vater und
Sohn kann Friedrich Schleiermacher
seinem eigenen Wunsch folgend ab dem
Frühjahr 1797 in Halle Theologie studieren,
eine Lebensphase, die wiederum zwei
Jahre dauern wird. Er selbst schildert
diese Zeit trotz der Entlastung, die
sie für ihn bedeutet haben muß, nicht
in sonnigen Farben. Wenig zielstrebig
und systematisch habe er studiert,
und sein „Eigendünkel“
als Autodidakt zu meinen, „es
käme gar nicht darauf an, was man
wisse, sondern nur wie man es wisse“
(SB, 258) habe ihn das Lernen verachten
lassen. Auch sozial beschreibt er
sich als zurückgezogen, da er durch
die lange Zeit der Absonderung in
den Anstalten der Brüdergemeinde keine
sozialen Fähigkeiten erworben habe.
·
Erste berufliche
Stationen
Der
Bruder der Mutter, bei dem Friedrich
Schleiermacher in Halle untergekommen
ist und der ihm nicht nur Unterkunft
gewährt, sondern der sich auch den
geistigen Diskussionen des jungen
Studenten gestellt hat, ist von dem
Amt des Professors der Theologie auf
das des Pfarrers in Dossen in der
Neumark gewechselt. Hierhin folgt
der Heranwachsende dem Onkel, auch
um sich auf die 1. Theologische Prüfung
in Berlin vorzubereiten, die er im
Mai 1790 besteht. Jetzt ist es an
den Oberen der reformierten Kirche,
ihm eine geeignete Stelle zuzuweisen,
die als erste Berufstätigkeit für
die Pfarrerlaufbahn qualifiziert.
Häufig ist dies eine Hauslehrerstelle,
so auch bei Friedrich Schleiermacher,
der zu dem Grafen Dohna nach Ostpreußen
geschickt wird. Zweieinhalb Jahre
bleibt er in dieser Stelle, in der
er vor allem den vierzehnjährigen
Sohn des Grafen zu lehren hat. Höhen
und Tiefen weist diese Zeit auf: Einerseits
wird schnell klar, daß zwischen dem
Dienstherrn und dessen Angestellten
politische (es ist die Zeit der Französischen
Revolution) und pädagogische Differenzen
bestehen, und Friedrich ist nicht
bereit, sich den Anweisungen des Grafen
in Bezug auf die Erziehung zu fügen;
doch der junge Lehrer stellt sich
auch nicht der klärenden Auseinandersetzung,
so daß der Konflikt im Untergrund
weiterschwelt, mit dem Ergebnis, daß
das „Verhältnis von Anfang an ... keine lange Dauer
zu versprechen schien“ (SB, S.
260f). Andererseits wird Friedrich
Schleiermacher mit hineingenommen
in das adelige Familienleben, und
er scheint eine menschliche Wärme
gespürt zu haben, die ihm bisher fehlte.
Nach
dem Ausscheiden aus der ersten Stelle
folgt für ein halbes Jahr eine kurze
Episode, in der Friedrich Schleiermacher
sich als Lehrer an einer öffentlichen
Schule versucht, ein Vorhaben, dem
kein Erfolg beschienen ist, so daß
er froh ist, als Hilfsprediger bei
dem Schwager des vorher bereits erwähnten
Onkels unterzukommen. Er legt das
zweite theologische Examen ab, und
die zweijährige Zeit in Landsberg
an der Warthe wird erfolgreich: er
beginnt sich mit den Tätigkeiten eines
reformierten Pfarrers zu identifizieren,
und die Gemeinde ist so zufrieden
mit ihm, daß sie ihn gerne als Pfarrer
behalten möchte, nachdem der Amtsvorgänger
gestorben ist. Doch die Kirchenoberen
halten Friedrich Schleiermacher für
dieses Amt noch nicht für reif genug
und bestimmen statt dessen, daß der
erwähnte Onkel die Stelle bekommen
solle.
Friedrich
Schleiermacher tritt 1796, es ist
das Todesjahr des Vaters, deshalb
eine Stelle als Pfarrer an der Charité
in Berlin an, eine damals etwas heruntergekommene,
außerhalb der Stadtgrenzen liegende
Kranken- und Sozialanstalt. Die folgenden
Jahre werden für Friedrich Schleiermacher
weniger in beruflicher Hinsicht entscheidend
als in dem Erwerb eines neuen, anregenden
Freundeskreises. Es ist die Zeit der
beginnenden Romantik, die gerade in
Berlin ein Zentrum hat. Nochmals weitet
sich der Kreis in einer Weise, an
der der in engen Mauern Eingeschlossene
knapp zehn Jahre zuvor nicht zu denken
gewagt hätte. Jetzt gewinnt er Freunde
in den Salons von Henriette Herz,
die Mittelpunkt eines gesellschaftlichen
Lebens ist, in dem die Kirchenoberen
den jungen Herrn Pfarrer nicht gerne
sehen. Friedrich und Henriette verbindet
eine intensive Freundschaft, „wobei von Mann und Frau aber gar nicht die Rede ist“ (Biog. 42ff).
Und Schleiermacher gewinnt Freundschaft
zu Friedrich Schlegel, der einige
Jahre jünger ist, aber sich bereits
einen Namen gemacht hat. Die beiden
beschließen, zusammenzuziehen, und
sie entwickeln den Plan, gemeinsam
die Werke Platons zu übersetzen, ein
Vorhaben, an das Friedrich Schlegel
sich wenig gebunden fühlt, das Friedrich
Schleiermacher aber sein Leben lang
beschäftigen wird. Noch heute lassen
sich Übersetzungen der Werke Platons
aus der Hand Schleiermachers kaufen.
Doch
die teilweise atheistische Stimmung
unter den neuen Freunden beobachtet
Friedrich Schleiermacher mit Mißtrauen.
Er, der selbst unter einer schweren
religiösen Krise gelitten hat, sieht
sich gezwungen, sich mit dem auseinanderzusetzen,
was mit „Religion“ bezeichnet wird;
und er verfertigt eine Schrift, die
er als „Reden“ an seine Freunde anlegt,
um sie von der Notwendigkeit der Religion
jenseits dogmatischer Kirchenfrömmigkeit
zu überzeugen. Er läßt die Schrift
anonym erscheinen, eine Vorsichtsmaßnahme
gegenüber der Reaktion der beruflich
Vorgesetzten. Da trotzdem seine Autorenschaft
bald bekannt wird, bekommt er aber
von denen schnell die Vorhaltungen,
die zu befürchten waren. Doch dazu
gleich. Versuchen wir vorweg einige
Sätze zur Charakterisierung
der Schrift, die den Titel
trägt: „Über
die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern“.
·
Über die Religion
Um
sich der Beschreibung des Wesens der
Religion anzunähern, geht Friedrich
Schleiermacher von einem Verständnis
aus, das auch heute im Alltagsbewußtsein
weit verbreitet ist. Religion: das
ist der Versuch der Erklärung dessen,
was vor der Welt war, was außerhalb
von ihr ist und was nach dieser Welt
sein wird. Mit vielen Worten wird
versucht zu ergründen, was der menschliche
Geist nicht ergründen kann; es werden
Hypothesen aufgestellt, es wird analysiert,
und an all den Stellen, wo der Mensch
nicht weiterkommt, wird „Gott“ eingesetzt.
Ein anderes Alltagsverständnis von
Religion geht dahin, sie uns als den
erhobenen Zeigefinger zu zeigen, der
uns sagt, was wir zu tun und zu lassen
haben. Es läßt sich geradezu eine
Relation aufstellen: je mehr die Moral
einschränkt, je weniger sie an dem
dran ist, was menschlich ist, um so
religiöser ist die Forderung. Gott
ist dann der gestrenge Richter, der
über die Einhaltung der Gebote wacht,
die Sünder bestraft und die Gerechten
mit dem ewigen Leben belohnt.
Beide
Alltagsverständnisse von Religion
gehen nach Friedrich Schleiermacher
aber an deren Wesen vorbei: Religion
ist nicht die Metaphysik, die Philosophie,
die nach letztendlichen Ursachen für
die Erscheinung der Welt und des Menschen
sucht, die mit unendlichen Deduktionen
versucht, „ewige Wahrheiten auszusprechen“ (43f).
Religion ist nicht das sprachliche
System, das in Wörter gefaßte Gedankengebäude,
das die eine Anschauung für wahr und
die andere für falsch erklärt. Religion
ist andererseits auch nicht die Moral,
die „aus der Natur des Menschen und seines Verhältnisses
gegen das Universum ein System von
Pflichten“ (ebenda) entwickelt,
sie darf „keinen
Kodex von Gesetzen enthalten“
(ebenda). Zwar soll und kann der Mensch
moralisch handeln, aber diese Forderung
hat nicht in der Religion ihre Ursache.
In einem schönen Bild bestimmt Friedrich
Schleiermacher das Verhältnis von
Religion und Moral: „Die
religiösen Gefühle sollen wie eine
heilige Musik alles Tun des Menschen
begleiten; er soll alles mit Religion
tun, nichts
aus Religion.“ (60f)
Wenn
weder die Suche nach den letzten Ursachen
noch die Begründung einer für alle
verpflichtenden Moral Religion ist,
was ist sie dann? Friedrich Schleiermachers
kurz zusammengefaßte Antwort: „Anschauung und Gefühl“. (49) „Religion
ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“
(51) Dies ist sicherlich nicht ohne
weiteres verständlich, weshalb einige
Erklärungen zu „Anschauung“, „Gefühl“
und „Universum“ folgen müssen. Mit
dem letzten Begriff - „Universum“
- bezeichnet er nicht in unserem Wortsinn
das Weltall, die Summe der Sterne,
die wir mit unseren Augen oder mit
Hilfe technischer Apparaturen sehen
können, sondern vielmehr das Unendliche.
Über das, was man sich darunter vorstellt,
kann leicht eine falsche Ansicht herrschen.
Dies gilt für ein räumliches Verständnis,
wenn das Unendliche jenseits der uns
bekannten Welten gesehen wird. Doch
dann würde mit jeder neuen Generation,
die mit Hilfe neuer Forschungsmethoden
weitere Welten entdeckt, die uns nicht
erschlossen sind, der Bereich des
Unendlichen immer kleiner. Das gleiche
Mißverständnis gilt auch im zeitlichem
Sinne, wenn die Ewigkeit als unendliche
Ausdehnung der Zeit vor und nach der
jetzigen Welt gedacht wird. Das Unendliche,
das „Universum“, liegt für Friedrich
Schleiermacher nicht jenseits des
faktisch Bestehenden. Das Endliche
und das Unendliche, das Zeitliche
und das Ewige sind keine voneinander
getrennten Welten (was auch unlogisch
wäre, da es dann mit der realen, erfahren
Welt einen Bezirk gäbe, der dem Unendlichen
und Ewigen entzogen wäre), sondern
die gegenwärtige Welt und Zeit ist
Teil der Unendlichkeit, des Universums:
„Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung
seiner Grenzen, die aus dem Universum
gleichsam herausgeschnitten werden
müssen. Nur so kann es innerhalb dieser
Grenzen selbst unendlich sein.“
(51)
Philosophie
(Metaphysik), Moral und Religion haben
es alle drei mit dem Verhältnis des
einzelnen Individuums zu dem Universum
zu tun: Mit Hilfe von Physik und den
anderen Naturwissenschaften kann der
Mensch sich einen großen Teil der
Welt erklären; stoßen diese an ihre
Grenzen hilft die Metaphysik als Erklärung
dessen, was jenseits der Physik liegt,
weiter. Die Moral weist den Horizont
der Werteentscheidungen auf, innerhalb
dessen der einzelne sich frei entscheiden
muß. In der Religion steht der Mensch
dagegen in einer eher passiven Haltung
dem Universum gegenüber. Er schaut
dessen Erscheinungen an und läßt sich
von dessen Vielfältigkeiten und Mannigfachigkeiten
ergreifen. Er sieht in dem Einzelnen
das Ganze.
Alles,
was ich anschaue, ist etwas Einzelnes,
das Außerhalb von mir besteht. Wenn
ich dieses nicht mit Hilfe meines
Verstandes bearbeite, es analysiere,
nach Ursachen und Folgen frage - alles
Möglichkeiten meiner Aktivität -,
sondern wenn ich mich ergreifen lasse
von den Bewegungen, die dieses äußere
Stück Welt auf mich macht - ich also
mich nicht selbst aktiv verhalte,
sondern passiv bleibe -, dann lasse
ich Bewegungen zu, die über meine
Grenzen hinausgehen. Die Anschauung
dieser Einzelheit wird deshalb mehr
als die Wahrnehmung dieses Einzelteils.
„Alles
Einzelne als einen Teil des Ganzen,
alles Beschränkte als eine Darstellung
des Unendlichen hinnehmen, das ist
Religion.“ (52f)
Jede
Wahrnehmung löst in mir ein Gefühl
aus, und dies gilt auch für die Anschauung
im religiösen Sinn. Durch das Gefühl
reagiere ich auf das, was von Außen
auf mich zukommt. Diese gefühlsmäßige
Haltung, nicht das denkerische Verarbeiten
von Informationen, ist für das religiöse
Empfinden spezifisch. Angesichts der
Anschauung des Universums, so sagt
Friedrich Schleiermacher, regen sich
die Gefühle der Ehrfurcht und Demut,
der Liebe und Dankbarkeit, des Mitleides
und der Reue. Auch bei diesen reaktiven
Gefühlen geht es nicht um die aus
ihr folgenden Handlungen; „sie (die Gefühle) kommen für sich selbst und endigen in sich selbst als
Funktion Eures innersten und höchsten
Lebens.“ (86f)
Um
diesen Gedanken - „Religion
ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“
- zu konkretisieren, beschreibt Friedrich
Schleiermacher einige mögliche Wege
solcher Anschauungen in der äußeren
Natur einerseits und im Menschheitsleben
andererseits. Diese können hier nicht
nachgezeichnet werden, und wir beschränken
uns auf einen Gedanken: In der religiösen
Anschauung normiere ich nicht den
einzelnen Menschen, wie dies in der
moralischen Haltung geschieht („Du
sollst dich so und so verhalten“),
sondern hebe gerade die Individualität
hervor, auch wenn sie moralisch vielleicht
anstößig ist. Ich betrachte „jedes Individuum seinem inneren Wesen nach (als) ein notwendiges Ergänzungsstück
zur vollkommenen Anschauung der Menschheit.“
(76f) So wie die Wechselseitigkeit
der Betrachtung des einzelnen Menschen
und der Menschheit insgesamt betont
wird so sehe ich mich selbst als einen
Spiegel alles dessen, was ich außen
angeschaut habe. Alle Erscheinungen,
die dort vorkommen, die positiven
ebenso wie die negativen, finde ich
in mir selbst wieder. Und so wie gegenüber
der Außenwelt so soll ich in der religiösen
Haltung auch gegenüber den Einzelelementen
von mir selbst keine zensierende Haltung
einnehmen: sich die Fehler nicht wegwünschen
und die Stärken perfektionieren, sondern
in der passiven Anschauung verbleiben
und alles als ein notwendiges Element
des Universums betrachten.
Wenn
Religion die Anschauung und das Gefühl
eines Einzelnen gegenüber dem Universum
ist, so ergibt sich daraus die Haltung
der Toleranz. Mein religiöses Empfinden
ist nicht das eines anderen; vielleicht
kann ich von seiner Haltung etwas
für mich lernen, aber alle Beurteilungen
von falsch und richtig haben hier
keinen Platz. Es geht nicht darum,
religiös überzeugt zu werden, oder
selber zu überzeugen; mehr als einen
Hinweis, wie ich selbst mich in eine
Haltung religiöser Anschauung und
religiösen Gefühls bringen kann, läßt
sich von den anderen nicht entnehmen.
Noch weniger macht es Sinn, im Sinne
der Religion Kriege zu führen, Gewalt
anzuwenden, Psychoterror auszuüben.
Philosophische Systeme neigen dazu,
Anhänger zu suchen, die Welt in Freund
und Feind aufzuteilen, in der Religion
kann ich die Anschauung des anderen
nur tolerieren, sie stehen lassen
und als Ergänzung meiner eigenen Sichtweise
betrachten, die mir zu etwas mehr
Vollständigkeit verhilft. Unterschiede
in der Religion sind also eher willkommen,
als daß sie bekämpft werden müssen.
„Man
hat aber doch Systeme von
allen Schulen? Ja, eben
von Schulen, die nichts
anders sind als der Sitz
und die Pflanzstätte des
toten Buchstabens, denn
der Geist läßt sich weder
in Akademien festhalten,
noch der Reihe nach in bereitwillige
Köpfe ausgießen, er verdampft
gewöhnlich auf dem Wege
aus dem ersten Munde in
das erste Ohr.“ (34)
|
Religion
ist nicht das für-wahr-Halten, was
ein anderer gesagt hat, nicht der
Glaube an den schwarz-auf-weiß in
einem Buch festgehaltene Bericht.
Sie ist „kein
Sklavendienst und keine Gefangenschaft“
(92f), sondern in der Religion kommt
jeder einzelne zu sich selbst, gewinnt
sie in einer selbsttätigen Aktivität,
auch wenn diese primär aus einer passiven,
zulassenden Haltung besteht. Dieser
Grundgedanke Friedrich Schleiermachers
hat Konsequenzen für den Prozeß der
Aneignung der Religion, und an dieser
Stelle seiner Reden äußert der noch
junge Schleiermacher pädagogische
Ideen, die über den Bereich der Religion
hinaus für all die Felder Gültigkeit
beanspruchen können, die durch Erziehung
auf etwas Wesentliches zielen.
Religion
kann nicht gelehrt werden, und „Unterricht in ihr (ist) ein abgeschmacktes
und sinnleeres Wort.“ (102f) Jeder
Mensch wird mit einer „religiösen Anlage geboren“, die nicht gestört,
„unterdrückt,
gesperrt und verrammelt“ (105f)
werden darf, sondern sie muß sich
entfalten können, damit sie den Weg
weisen wird, wie dieses Kind auf seine
Weise Religion entwickeln kann. Zu
diesen religiösen Anlagen kommt die
frühkindliche Erlebnisweise hinzu,
die dem Kind ein besonderes Verlangen
nach „dem Wunderbaren und Übernatürlichen“ (107f)
gibt, denn jedes kleine Kind wird
neben dem Einleben in seine faktische
Welt stark von allem angezogen, was
phantastisch zu sein verspricht. Diesem
Verlangen des Kindes muß etwa durch
geeignete Geschichten und Erzählungen
Nachschub gegeben werden, damit dieser
Mechanismus nicht abgeblockt, sondern
weiter erhalten wird, denn mit diesem
Glauben an das Wunderbare und Übernatürliche
ist das Kind schon nahe an der Religion.
Im Grunde ist durch vorsichtige „Pfleger
der Religion“ nur noch die kindliche
„Täuschung,
das Unendliche gerade außerhalb des
Endlichen, das Entgegengesetzte außerhalb
dessen zu suchen“ (107f) zu beseitigen,
damit das Kind sich dem religiösen
Selbstleben zuwenden kann.
Das
dritte, was zu der religiösen Anlage
und der spezifisch kindlichen Erlebnisweise
des Wunderbaren hinzukommt, ist ein
bestimmtes Verhältnis von „Meistertum
und Jüngerschaft“. Wenn auch die
religiöse Anschauung selbst und noch
mehr natürlich das auf ihr folgende
Gefühl nicht lehrbar ist, so kann
man von denen, die über religiöse
Erfahrungen verfügen, doch wichtige
Wegweiser erhalten, auf welchen Pfaden
man selbst zu seiner Religion finden
kann. Dieses Verhältnis zwischen Meiser
und Jünger ist kein autoritäres, eigentlich
ist es noch nicht einmal ein erzieherisches,
denn es kehrt dessen Perspektive um:
die Jünger sind nicht Jünger, „weil
ihr Meister sie dazu gemacht hat;
sondern der ist ihr Meister, weil
sie ihn dazu gewählt haben.“ (104f)
Der Meister kann in seinen Jüngern
die Religion „aufregen“, aber er kann sie nicht bestimmen, und er kann die „Jünglinge“
nicht gegen ihren Willen festhalten:
„Sobald der heilige Funke aufglüht in einer Seele, breitet er sich aus
zu der freien und lebendigen Flamme,
die aus ihrer eignen Atmosphäre ihre
Nahrung saugt.“ (104f)
Aus
dieser dreifachen Bestimmung des Bildungsprozesses
zur Religion, bei der vor allem die
Freiheit und Selbsttätigkeit der Kinder
und Jugendlichen betont wird, folgt
eine heftige Kritik an der Erziehungswirklichkeit,
die Friedrich Schleiermacher vor allem
an der Aufklärungspädagogik festmacht.
Schon die ersten Anlagen werden verschüttet,
so daß die Selbstentfaltungskräfte
des Kindes nicht zum Tragen kommen
können, vor allem weil „die Wut des Verstehens den Sinn gar nicht aufkommen läßt“ (105f). Die kindliche Phantasiekraft wird unterdrückt,
indem alles, was das Kind lernt und
tut, eine Bedeutung haben muß, die
auf das gegenwärtige bürgerliche Leben
bezogen ist. „Absicht und Zweck muß alles
sein, sie (die Kinder) müssen immer
etwas verrichten ... das Was und Wie
liegt ihnen (den Erwachsenen) zu weit,
denn sie meinen, es besteht nur in dem Wohin und Wozu, in welchem
sie sich ewig herumdrehen“ (108f).
Eine auf oberflächliches Verstehen,
moralische Belehrung, tugendhaftes
Verhalten und praktische Nutzanwendung
im täglichen Leben abzielende Erziehung
kann aber nur verhindern, daß der
natürliche Sinn des Kindes für das
„Höhere“ unterdrückt wird. Religion,
aber auch Kunst, Sittlichkeit und
Wissenschaftlichkeit können so nicht
entstehen. Das Ganze, das Universum,
gerät aus dem Blick in einer Welt,
in der nur noch die kleinkarierte
Sorge um das Überleben, der Erfolg
im Beruf und die bürgerliche Moral
zählen.
„Nicht
der hat Religion, der an eine heilige
Schrift glaubt, sondern der, welcher
keiner bedarf und selbst eine machen
könnte.“ (92f) - Solche Sätze
sind nicht gerade dazu angetan, den
Beifall der Kirchenoberen für den
jungen Herrn Pfarrer herauszufordern.
Die Vorgesetzten reagieren mit Verweis
auf diese Schrift, und aus ihrer Sicht
heraus ist dies auch verständlich.
Der Oberkonsistorialrat Sack, ein
Freund der Familie Schleiermacher
und Friedrich selbst durchaus gewogen,
schreibt, er halte das Buch „für eine
geistvolle Apologie des Pantheismus“
und ein Mann mit diesen Ansichten
könne kein „redlicher Lehrer des Christentums“
(Biographie, S. 65ff) sein, weil Schleiermacher
die Vorstellung eines persönlichen,
sich selbst bewußten, allmächtigen
Gottes bestreite.
Die
entscheidende Krise seiner Berliner
Zeit ereilt Friedrich Schleiermacher
jedoch von einer persönlichen Seite
her. Er verliebt sich in die Frau
eines Kollegen, die unglücklich verheiratet
ist. Friedrich geht so weit, daß er
Eleononre angesichts der Ausweglosigkeit
ihrer Ehe sogar zur Scheidung rät
und sich selbst als neuen Ehemann
anbietet. Eleonore schwankt lange
Zeit, schließlich zieht sie aus der
gemeinsamen Wohnung mit dem Ehemann
aus, kehrt dann jedoch weder zurück.
Doch zwischenzeitlich hat Friedrich
Schleiermacher auf Grund der persönlichen
Krise Berlin verlassen und ist nach
Stolp in Pommern als Hofprediger gegangen.
Die räumliche Distanz soll ihm den
unerträglichen Konflikt erträglicher
machen, aber auch die Frau zu einer
Entscheidung motivieren. Er hofft
immer noch auf eine Verbindung, muß
dann aber an dem neuen Lebensort erfahren,
daß die Auserwählte ihre moralischen
Bedenken gegenüber der Scheidung nicht
hat überwinden können und sich gegen
Friedrich entschieden hat. Sein Leben
ist jetzt „hoffnungslos“
und sein Inneres „zerstört“.
Hinzu kommt, daß die Bedingungen in
Stolp ungünstig sind, es fehlen die
Freunde, und er versucht alsbald eine
neue Stelle zu finden. Nach einigen
Absagen erhält der 36jährige schließlich
einen Ruf an die Theologische Fakultät
der Universität Halle.
·
Halle und
Berlin
Der
36jährige ist froh, durch den Ruf
als Professor für Theologie an die
Universität Halle, seine ehemalige
Studentenstadt, der beruflich und
persönlich unbefriedigenden Situation
in Stolp entfliehen zu können, auch
wenn er als Reformierter an der lutherisch
geprägten Theologischen Fakultät und
als „Freund der Romantiker“ an der
ungebrochen vom Geist der Aufklärung
beherrschten Universität eher ein
Außenseiter ist. Langsam kann er sich
eine gesicherte bürgerliche Existenz
aufbauen, wenngleich dies erst endgültig
durch die Übersiedelung nach Berlin
gelingt. Der Wechsel von Halle nach
Berlin hat politische Gründe: Napoleon
hat Halle besetzt und die Stadt zu
dem Königreich Westfalen geschlagen.
Der Preuße Friedrich Schleiermacher,
der vor dem Einmarsch Napoleons auch
von der Kanzel aus zum Widerstand
aufgerufen hat, kann nicht länger
bleiben.
Aktiv
nimmt Friedrich Schleiermacher an
den Plänen zur Gründung der neuen
Berliner Universität teil. Im Sinne
des Kreises der Neuhumanisten um Wilhelm
von Humboldt fordert er eine Universität,
die nicht in erster Linie an der Berufsausbildung
orientiert ist, sondern an der allgemeinwissenschaftlichen
Bildung der Studenten, die zum Selberdenken
gebracht werden sollen. Die Universität
muß dabei unabhängig vom Staat sein,
um die Freiheit des Geistes verwirklichen
zu können. Nur eine so konzipierte
Universität kann für den Staat, der
an Reformen in allen gesellschaftlichen
Bereichen orientiert ist (und das
mußten die damaligen Staaten in Deutschland,
um den Modernisierungszwängen angesichts
des politischen und militärischen
Vorsprungs des Frankreichs der Revolution
und Napoleons entsprechen zu können),
den Dienst leisten, der geboten ist.
1810 wird Friedrich Schleiermacher
Professor an der Universität Berlin,
gleichzeitig übt er das Amt des Predigers
an der Berliner Dreifaltigkeitskirche
aus, und 1811 wird er Mitglied der
Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Zu
diesem doppelten Arbeitspensum kommt
noch eine bildungspolitische Beratertätigkeit
hinzu: zunächst für die Sektion Kultus
und Unterricht im Innenministerium,
dann in dem neugeschaffenen eigenständigen
Kultusministerium beteiligt er sich
an der Erstellung von Gutachten, durch
die das gesamte Bildungssystem des
preußischen Staates modernisiert werden
soll. Friedrich Schleiermacher ist
aktives Mitglied der Patriotenpartei,
die durch eine Reform des Preußischen
Staates im Sinne liberaler Ideen für
die Neugestaltung ganz Deutschlands
arbeiten will. In den Befreiungskriegen
erreicht diese Bewegung ihren Höhepunkt
und gleichzeitig ihr rasches, vorläufiges
Ende durch die Epoche der Restauration.
Zwar erringen die Bürger den Sieg
gegen Napoleon, aber die alten Machteliten
sehen keine Veranlassung, die Versprechen
einer Verfassung und vorsichtigen
Demokratisierung zu halten. Statt
dessen sehen sie in einem Zurück zu
den alten Zeiten monarchischer und
aristokratischer Machtvollkommenheit
ihr Ziel.
Friedrich
Schleiermacher gerät so auf die andere,
unterlegene Seite der politischen
Auseinandersetzung. Er wird denunziert,
bespitzelt und einmal sogar aufs Polizeipräsidium
vorgeladen. Daß er als politischer
Berater im Ministerium abgesetzt wird,
ergibt sich selbstverständlich aus
dieser Lage. Doch das Ansinnen, ihn
aus dem Amt des Professors der Universität
zu vertreiben, mißlingt. Er ist in
der Zwischenzeit zu einem arrivierten
Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaft
geworden, und als überzeugter Preuße
läßt er keinen Zweifel an seiner Loyalität
zu dem preußischen König. Auch als
Theologieprofessor und Prediger ist
er in der Kirchenpolitik nicht ohne
Einfluß. An den Bestrebungen zu einer
Union der lutherischen und reformierten
Kirche (der König will sie, weil er
als lutherischer Christ gemeinsam
mit seiner reformierten Ehefrau gemeinsam
das Abendmahl feiern will) nimmt Friedrich
Schleiermacher aktiven Anteil.
Die
beruflichen Stationen und politischen
Einflußchancen Friedrich Schleiermachers
weisen Höhen und Tiefen auf. Dies
gilt auch für sein privates Leben,
worauf wir - diesen Abschnitt abschließend
- noch kurz eingehen wollen. Es war
noch in Halle, wo Friedrich Schleiermacher
herzlichen Anteil an der Ehe der Freunde
Ehrenfried und Henriette von Willig
gewonnen hatte. Deren erstes Kind
wird geboren und das zweite ist im
Bauch, als der junge Vater stirbt.
Henriette sucht Trost bei Friedrich,
der dem „armen lieben süßen Kind“
diesen als ihr „Vater“ (in Biog.,
88/90) gerne gibt, und angesichts
des Altersunterschiedes von 21 Jahren
mag eine solche Wortwahl gerechtfertigt
sein. Doch es wird schnell mehr als
Beistandschaft aus der Beziehung.
Bereits ein Jahr später verloben sich
die beiden, inzwischen ist der jüngste
Sohn aus der vorangegangenen Ehe der
Frau geboren, und man hat ihm den
Namen des leiblichen Vaters „Ehrenfried“
gegeben. Nochmals ein Jahr später
heirat der vierzigjährige Professor
die neunzehnjährige Witwe.
Neben
den beiden Stiefkindern werden noch
vier eigene Kinder in der Ehe zwischen
Henriette und Friedrich geboren, drei
Töchter und ein Sohn. Der letzte,
Nathanael, erleidet ein besonderes
Schicksal: er stirbt neunjährig, und
Friedrich Schleiermacher hält selbst
die Beerdigungsansprache. Es ist sein
61. Geburtstag. „Es kostete ihn eine
fast übermenschliche Anstrengung,
die von Tränen und von tiefstem Herzweh
erstickte Stimme zum Sprechen zu bringen“
(Biog., S. 111f), so schreibt sein
Stiefsohn später. Die Traueransprache
vermittelt dem Leser bis heute die
Tiefe der Erschütterung des Vaters,
und die existentielle Erfahrung läßt
ihn das Verhältnis der Eltern zu ihren
Kindern klar sehen: Kinder sind „teure,
von Gott uns anvertraute Pfänder,
für welche wir Rechenschaft zu geben
haben“ (31). Doch sie sind nicht
nur eine Pflicht, sondern
gleichermaßen „ein
unmittelbarer Segen für das Haus;
sie geben leicht ebensoviel als sie
empfangen; sie erfrischen das Leben
und erfreuen das Herz“ (ebenda).
Aber gerade weil er so viel Freude
an dem Jungen hatte, muss er alle
voreiligen, auch scheinbar religiös
begründeten Trostgedanken von sich
weisen, die die Tiefe des Schmerzes
nicht treffen können. Erst der Glaube,
der nicht in konkreten Bildern Ausflucht
sucht, sondern der in die Tiefenschicht
hineinragt, in der auch der Schmerz
seinen Grund hat, mag Halt geben.
Mit liebevollen Worten charakterisiert
der Vater-Pfarrer den Sohn, und er
dankt allen, die dazu beigetragen
haben, daß das Leben des Sohnes hier
auf Erden lebensvoll war. Er schließt
mit einer „christlichen Ermahnung“, mit der der tote
Sohn den Überlebenden zurückgeben
kann, war er von anderen empfangen
hat: Es gelte zu lernen, angesichts
der Möglichkeit des raschen Todes
das Leben auf der Erde sich und den
anderen nicht durch nichtige Kleinigkeiten
zu verderben, sondern man soll die
Ratschläge beherzigen: „Laßt uns doch uns alle untereinander lieben als solche, die uns bald,
und ach, wie bald! könnten entrissen
werden.“ (34) Und: „Laß uns alle immermehr zu der Weisheit reifen,
die, über das Nichtige hinwegsehend,
in allem Irischen und Vergänglichen
nur das Ewige sieht und liebt“.
(35)
Friedrich
Schleiermacher ist über den Tod des
jungen Sohnes nicht hinweggekommen.
Traurigkeit bestimmt den Rest seines
Lebens, und knapp viereinhalb Jahre
später stirbt er an einer Lungenentzündung.
Den Ruhm, den er sich zu Lebzeiten
erworben hat, dokumentiert die Tatsache,
daß zwanzig- bis dreißigtausend Menschen
die Straßen Berlins säumen, als der
Sarg Friedrich Schleiermachers zu
seiner letzten Ruhestätte getragen
wird.
b)
Theorie der Erziehung
Noch
stärker als durch seine schriftstellerischen
Arbeiten hat Friedrich Schleiermacher
auf seine Zeitgenossen durch seine
mündliche Rede gewirkt. Dies gilt
für seine Predigttätigkeit, die er
regelmäßig wahrnahm. Seine Gottesdienste
waren späterhin in Berlin regelrechte
gesellschaftliche Ereignisse, die
die intellektuelle Elite versammelte.
Dabei verlangten seine Predigten den
Zuhörern große geistige Fähigkeiten
ab, so dass Gottesdienstbesucher,
die eher schwärmerische Erbauung und
religiöse Erweckung suchten, sich
abgestoßen fühlten. Zur letzteren
Gruppe gehörte auch Schleiermachers
eigene Ehefrau. Zweites Betätigungsfeld
der rednerischen Faszinationskraft
Schleiermachers waren seine Vorlesungen
an der Universität. Neben seinem Hauptarbeitsgebiet,
der Evangelischen Theologie, handelte
er eine breite Palette philosophischer
Themen ab, und auch die Psychologie
und Pädagogik gehörten zu seinem Vorlesungskanon.
Bei seinen universitären Vorträgen
- und auch bei den Predigten war es
nicht anders - fixierte er kein schriftliches
Manuskript, sondern in seiner Studierstube
dachte er über den zu behandelnden
Gegenstand intensiv nach und verfertigte
ein knappes Exposé, das als roter
Faden für die Vorlesung diente. Beim
mündlichen Vortrag konnte es dann
passieren, dass er vom eigenen Gedankengang
hingerissen abschweifte, und einige
Male müssen die „Pferde mit ihm durchgegangen“
sein.
Die
Pädagogikvorlesung Friedrich Schleiermachers,
die wir jetzt behandeln wollen, ist
auf diese Weise entstanden: Er hat
sie mündlich vorgetragen, und eifrige
Studenten haben Mitschriften davon
erstellt. Aus einer vergleichenden
Analyse mehrerer solcher Zusammenfassungen
sowie aus einer erhalten gebliebenen
älteren Zusammenfassung Schleiermachers
selbst ist das das Buchmanuskript
der „Theorie der Erziehung“ entstanden,
das uns heute vorliegt. Obwohl der
Text im großen und ganzen gut lesbar
ist, schon weil ihm eine streng logische
Gliederung zugrunde liegt, merkt man
ihm seine Entstehungsgeschichte an.
Er ist teilweise sehr formal und hält
die zusammenfassenden Kernaussagen
additiv hintereinander fest, und an
einigen Stellen würde man sich etwas
mehr „Fleisch“ an das Gerippe wünschen.
Die Vorlesungen sind intellektuell
hoch interessant, aber die vorliegende
Darstellung ist nicht immer ein durchgehendes
Lesevergnügen. Trotz dieser etwas
ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte:
die Pädagogikvorlesung Schleiermachers
ist wohl der Text des 19. Jahrhunderts,
der für die Pädagogik als Wissenschaft
am wichtigsten geworden ist. Über
den Philosoph Wilhelm Dilthey hat
er auf die geisteswissenschaftliche
Pädagogik des 20. Jahrhunderts gewirkt,
und damit die Strömung erziehungswissenschaftlichen
Denkens beeinflusst, die trotz mehrfacher
Konkurrenten aufs Ganze gesehen für
dieses Jahrhundert die wichtigste
war. Doch genug der Vorbemerkungen,
springen wir in die Inhalte der Theorie.
·
Denkwege
Doch
bevor wir diese verstehen können,
erscheint es hilfreich, einen knappen
Exkurs voranzustellen, um die Denk-
und Argumentationslinien Friedrich
Schleiermachers verstehen zu können.
Stellen wir uns vor, wir seien nach
einem Umzug vor die Aufgabe gestellt,
unsere Bücher in die neue Regalwand
einzusortieren. Unter pragmatischen
Gesichtspunkten könnten wir dies nach
der Größe der Bücher tun. Dies würde
uns zwar die bestmögliche Ausnutzung
der vorhandenen Stellfläche sichern,
doch wenn wir über eine Vielzahl von
Büchern verfügen, würde es auf die
Dauer sehr unpraktisch sein, schnell
das gesuchte Buch zu finden. Den gleichen
Nachteil hätte die Aufteilung nach
Farben, durch die vielleicht eine
dekorative Schrankwand entstünde,
aber kein geordnetes System der Einordnung.
Also müssen wir in unserem Kopf ein
inhaltlich bedeutsames Einteilungsprinzip
entwickeln. Dies könnte etwa so aussehen:
Wir gliedern die Gesamtmenge in Fach-
und belletristische Bücher, die Fachbücher
dann in unmittelbar pädagogische und
solche der Hilfsdisziplinen. Die letzteren
teilen wir ein in psychologische und
soziologische und die ersteren nochmals
in allgemeine und pädagogische Psychologie.
Für die letzteren bilden wir entsprechend
unseres Interessenschwerpunktes die
Gruppe der psychoanalytischen Titel
und die Bücher über die kognitive
Entwicklungspsychologie. Bei letzterer
unterscheiden wir schließlich nochmals
die Sekundärdarstellungen und die
Originalschriften Jean Piagets. Wenn
wir für jede dieser Teilungsebenen
die Aufteilung bis zum Schluss durchführen,
können wir schließlich für jedes Buch
aus unseren Bücherkisten genau das
Regalbrett bezeichnen, wo es zu stehen
kommen muss. Mit unserem Einteilungssystem
haben wir gedanklich Schneisen in
unseren Wust von Büchern geschlagen,
ohne diese wären sie ein chaotischer
Haufen, die nicht einzustellen wir
wüssten, wollten wir nicht zu den
äußerlichen Kriterien der Größe oder
Farbe Hilfe nehmen. Unser Einteilungssystem
ist dabei nicht „objektiv“ in dem
Sinne, dass es in den „Objekten“,
hier den Büchern, steckte, sondern
es ist „subjektiv“, weil wir als Subjekte
es in unserem Kopf konstruiert haben.
Getragen wird unser Büchereinteilungssystem
von einem praktischen Interesse: Wir
wollen für unsere Bücher den notwendigen
Platz reservieren, um ein möglichst
rasches Wiederauffinden zu ermöglichen.
Der Chemiker, der Freund historischer
Kriminalromane: sie würden zu anderen
Aufteilungen kommen, und selbst die
ausführliche Systematik der großen
wissenschaftlichen Bibliothek taugen
für deren Bedürfnis, sie auf unsere
Privatbibliothek anzuwenden wäre töricht.
Wir
haben die Aufgabe der Büchereinteilung
hier als Beispiel für die Denkweise
Friedrich Schleiermachers referiert.
Vergleiche hinken bekanntlich, doch
damit wollen wir uns nicht aufhalten,
sondern vielmehr auf das Illustrierende
hinweisen. Um das ganze Gebiet der
Erziehung - und betrachten wir alle
Einzelheiten, die hier hin gehören,
ist es ein großes Chaos, gegen das
unsere unsortierten Bücherkisten noch
leicht überschaubar sind - zu gliedern,
schlägt Friedrich Schleiermacher gedankliche
Schneisen, die uns helfen sollen,
so zentrale Fragen zu beantworten
wie: Was ist Erziehung und was kann
sie sein? Woraufhin und wie soll erzogen
werden? Wie hängt die Erziehung zusammen
mit dem Menschen - dem einzelnen und
der Menschheitsgesellschaft? Friedrich
Schleiermacher denkt in etwa so: Er
stellt sich eine Frage, und er versucht
sich einer Antwort anzunähern, indem
er das Gebiet in zwei Bereiche aufgliedert.
Danach ergibt sich eine Präzisierung
der Fragestellung für die zwei Teilbereiche,
die wieder durch eine weitere Aufgliederung
in ein Einerseits und Andererseits
oder Entweder oder in Angriff genommen
wird. Dieses Verfahren wird ständig
fortgesetzt, bis man zu Antworten
gelangt, mit denen etwas anzufangen
ist. Das Entscheidende für uns heute
ist nun dabei, dass es weniger darauf
ankommt, ob die Antworten Friedrich
Schleiermachers richtig oder falsch
sind, weil in vielen Fällen jeder
Erzieher in der Praxis die Frage für
sich selbst beantworten muß. Wirksam
ist die pädagogische Theorie vielmehr
durch die Art ihrer Fragestellung.
Indem Friedrich Schleiermacher seine
Schneisen in das unüberschaubare Gebiet
der Erziehung schlägt, wirkt er auf
diejenigen, die sich mit seiner Theorie
beschäftigen. Auch wenn letztere in
ihrer pädagogischen Praxis eine andere
Antwort finden wird und muss, die
Art der Fragestellung hat ihren Kopf
beeinflusst, indem durch die Teilung
bestimmte Dinge hervorgehoben werden
und andere als nebensächlich zurückbleiben.
Ziehen
wir nochmals unser Büchereinteilungssystem
als Vergleich heran. Wir sagten, es
beruhe auf einem praktischen Interesse,
hier: unsere Bücher aus den Kisten
in einer sinnvollen Ordnung in die
Regale zu bekommen. Auch das Gliederungssystem
für den Bereich der Erziehung, das
Friedrich Schleiermacher uns vorlegt
und das wir gleich betrachten wollen,
verfolgt ein praktisches Interesse,
und angesichts des charakteristischen
Denkweges wäre es ein Wunder, wenn
wir hier nicht eine Zweiteilung -
oder wie er es mit Vorliebe nennt:
„Duplizität“ - erwarten würden. Indem
der angehende Pädagoge sich mit der
Theorie der Erziehung beschäftigt,
soll er fähig werden, zwei Aufgaben,
die ihm „obliegen“ zugleich wahrnehmen
zu können: Er soll die neue Generation
der Erzieher bilden, die so wie die
Väter und Vorväter mithelfen, aus
„jung alt zu machen“ (Bernfeld), er
soll sich also in das fügen, was er
als erzieherisches System vorfindet.
Gleichzeitig aber soll er mithelfen,
die Erziehung selbst zu verbessern,
denn wenn Erziehungstheorie diese
Aufgabe nicht hätte, würden wir unsere
Kinder immer noch so nach eigenem
Gutdünken behandeln wie ehemals. Funktionieren
innerhalb des gegebenen Systems und
Mitarbeit an der Verbesserung des
Vorhandenen sind die beiden gleichberechtigten,
wenngleich auch manchmal widersprüchlichen
Aspekte der pädagogischen Aufgabe.
Dieses praktische Erkenntnisinteresse
hat eine für Friedrich Schleiermacher
zentrale ethische und anthropologische
Dimension: der Mensch ist nicht nur
sinnliches Triebwesen, das auf immer
gleichen Bahnen seinen Weg verfolgt,
sondern er hat die Kraft seines Denkens,
so dass er überlegen kann, was sein
soll, und er hat damit die Kraft seiner
Willensfreiheit, um das, was ist,
so umzugestalten, dass es dem, was
sein soll, entspricht. Dies geht nicht
auf einmal, der Mensch findet nicht
in einem Sprung von der Hölle in das
Paradies, sondern es bedarf der kontinuierlichen
Arbeit, die langsam, ausgehend von
der momentanen Gegenwart sich dem
annähert, was sein kann. Die Pädagogik
hat an diesem Prozess zum Besseren
mitzuwirken: dies wird
zu zeigen sein. Dieser Doppelcharakter
der Antworten Friedrich Schleiermachers
- anknüpfen an das, was ist, und mitarbeiten
an dem, was sein soll - bedingt es,
dass seine Theorie der Erziehung konservative
und reformerische Impulse gleichzeitig
enthält.
·
Erziehungstheorie
Um
die Grundlagen einer Erziehungstheorie
entwickeln zu können, bedarf es einer
näheren Bestimmung der beiden Wortteile:
„Erziehung“ und „Theorie“. Beginnen
wir mit dem letzten. Zwei Kriterien
müssen erfüllt sein, um von einer
wissenschaftlichen im Gegensatz zu
einer alltagstheoretischen Aussage
sprechen zu können: die wissenschaftliche
Aussage muss allgemeingültig sein,
d.h. sie sagt etwas Generelles aus,
das nicht durch eine unübersichtliche
Zahl von Ausnahmen eingeschränkt wird,
und sie muss in bestimmter Weise praxisrelevant
sein (der Satz: „Wenn der Hahn kräht
auf dem Mist, ändert sich das Wetter,
oder es bleibt wie es ist!“ ist sicherlich
immer gültig, aber anfangen lässt
sich mit ihm nichts). Im 20. Jahrhundert
hat es einen anhaltenden Streit gegeben,
ob die Erziehungswissenschaft eine
empirische oder eine philosophische
sein müsse. Auf die Frage, die diesen
manchmal bis zum Glaubenskampf ausgearteten
Streit berührte, geht auch Friedrich
Schleiermacher ein. Einerseits ist
es für ihn auf Grund des Allgemeingültigkeitskriteriums
völlig klar: die Wissenschaft von
der Erziehung ist eine theoretische,
mit seinem Wort: eine „spekulative“,
weil die entscheidende Frage, woraufhin
der Mensch zu erziehen sei, nur unter
Bezugnahme auf die Ethik als entscheidende
Leitwissenschaft beantwortet werden
kann. Empirie, die Beobachtung der
Erziehungswirklichkeit, ist nur dazu
in der Lage, vereinzelte Gegebenheiten
ans Licht zu fördern, wobei auch aus
1000 Beobachtungen nicht geschlossen
werden kann, dass das auf dieser Basis
gefundene Gesetz auch noch im 1001
Falle Geltung haben wird. Auch lässt
sich aus der Tatsache, daß in der
Wirklichkeit faktisch etwas so ist,
nicht schließen, dass es so sein müsse.
Wissenschaftliche Aussagen lassen
sich so nicht herausfinden. So sehr
Friedrich Schleiermacher einerseits
also für den philosophischen Charakter
der wissenschaftlichen Pädagogik plädiert,
so stellt er jedoch andererseits auch
fest, dass eine „für alle Zeiten und Räume“ (51f) aufgestellte
Theorie zwar zu sehr allgemeinen,
aber auch zu sehr inhaltsleeren Aussagen
kommen müsste (wie die Geschichte
mit dem krähenden Hahn oben). Also
gilt es in der Erziehungswissenschaft
auch, empirisch zu ermitteln, was
ist und wie die Gesellschaft aussehen
wird, auf die hin das Kind erzogen
wird. Diese Erwägung des Einerseits-Andererseits
bringt Friedrich Schleiermacher zu
der „Formel“ (mit diesem Wort bezeichnet er
seine zusammengefassten Denkergebnisse):
„Die
Theorie der Erziehung ist ... die
Anwendung des spekulativen Prinzips
der Erziehung auf gewisse gegebene
faktische Grundlagen.“ (51f)
Wissenschaft
ist kein Selbstzweck für weltenthobene
Geister, sondern sie ist in ihrer
Verpflichtung bezogen auf die Praxis,
im Falle der Erziehungswissenschaft
auf die gesellschaftliche Praxis der
Erziehung. Menschen haben ihre Kinder
schon erzogen, bevor sie das erste
Mal über das nachdachten, was sie
taten, und sie würden auch jetzt ihr
Kind erziehen, wenn es keinen Wissenschaftler
gäbe, der über dieses Gebiet forschen
würde. Anders herum können diese beiden
Sätze nicht formuliert werden: wenn
es die Praxis der Erziehung nicht
gäbe, gäbe es auch keine Theorie der
Erziehung. Die Praxis hat also die
Vorrangstellung vor der Theorie. Die
Wissenschaft hat auch nicht die Aufgabe,
dem praktizierenden Erzieher Vorschriften
zu machen, was er zu tun und zu lassen
habe, sie vermittelt keine Rezepte
und kann nicht den Anspruch erheben,
abgesicherte und nachzuahmende Ratschläge
zu geben. Die Wirksamkeit der Theorie
für die Praxis besteht vielmehr in
ihrer Aufklärung: der sich die Erziehungstheorie
aneignende Pädagoge weitet seinen
Reflexionshorizont aus, und dieser
weitere Blick wird ihm erhalten bleiben,
wenn er in der Praxis vor einem erzieherischen
Problem steht, so daß er nicht nur
aus einer momentanen Gefühlsstimmung
heraus reagieren muß. Nicht eine „Erziehungstechnologie“
meint also die Schleiermachersche
Forderung an die Theorie, sie müsse
„anwendbar“ für die Praxis sein, sondern
ihre Wirkungsweise ist nur indirekt,
vermittelt über den Kopf des Pädagogen,
der seine eigene, persönlich verantwortete
Entscheidung treffen mß. Eine solche
Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft
und Praxis kann entlastend sein -
für den Wissenschaftler ebenso wie
für den Praktiker.
„Ein
großer Teil der Tätigkeit
der älteren Generation erstreckt
sich auf die jüngere, und
sie ist um so unvollkommener,
je weniger gewußt wird was
man tut, und warum man es
tut. Es muß also eine Theorie
geben, die von dem Verhältnis
der älteren Generation zur
jüngeren ausgehend sich
die Frage stellt, Was will
denn eigentlich die ältere
Generation mit der jüngeren?
Wie wird die Tätigkeit dem
Zweck, wie das Resultat
der Tätigkeit entsprechen?
Auf diese Grundlage des
Verhältnisses der älteren
zur jüngeren Generation,
was der einen in Beziehung
auf die andere obliegt,
bauen wir alles was in das
Gebiet dieser Theorie fällt."
(S. 38f)
|
Neben
der Angabe der Kriterien von Wissenschaftlichkeit
steht die Bestimmung des Zentralwortes
jeder Pädagogik: „Erziehung“. Der
erste Satz der Vorlesung von Friedrich
Schleiermacher lautet lapidar: „Was man im allgemeinen unter Erziehung versteht,
ist als bekannt vorauszusetzen.“
(36) Eine Mutter erzieht ihr Kind,
wenn sie ihm beibringt, nach rechts
und links zu schauen, bevor es die
Straße überquert, eine Erzieherin
erzieht das Kind im Kindergarten,
wenn sie ihm die Technik vermittelt,
wie man die Hände zu waschen habe,
ein Lehrer erzieht das Kind in der
Schule, wenn er ihm das ABC lehrt.
Unbestreitbar Einzelbeispiele von
Erziehung, aus denen sich aber kein
Erziehungsbegriff entwickeln ließe,
der wissenschaftlich fruchtbar wäre.
Keine Mutter erzieht ihr Kind nach
wissenschaftlichen Grundsätzen, auch
die nicht, die von Beruf Pädagogikprofessorin
ist, selbst wenn einige moderne Elternratgeber
sich zur Verkaufsförderung gerne das
Prädikat „wissenschaftlich“ geben.
Das, was an Einzelentscheidungen auf
die Erzieherin und den Lehrer zukommt,
geschieht in einer solchen Blitzesschnelle,
dass eine wissenschaftliche Analyse
nicht möglich und hilfreich wäre,
und die professionelle Erziehung enthält
so viele unterschiedliche Situationen,
dass eine Wissenschaft, die Allgemeines
aussagen will, nicht darauf bauen
kann. Der Ausgangspunkt eines für
die Theorie fruchtbaren Erziehungsbegriffes
liegt für Friedrich Schleiermacher
vielmehr in einem historisch-gesellschaftlichen
Tatbestand: dem kontinuierlichen Wechsel
der Generationen. Die Teilung in „die ältere und die jüngere Generation“
gibt der ersten ein wichtiges Aufgabenfeld:
sie muss dafür sorgen, daß die Nachwachsenden
an den Stand gesellschaftlicher Fähigkeiten
und Einsichten, der zu einem bestimmten
Zeitpunkt entwickelt ist, angepasst
werden, um die Stafette von der Elterngeneration
übernehmen zu können. Gleichzeitig
muss sie dafür sorgen, dass in den
Jüngeren Möglichkeiten angelegt werden,
dass sie den gesellschaftlichen Stand
insgesamt verbessern können. Denn
wie der einzelne Mensch sich entwickelt,
so entwickelt sich auch die Menschheit
insgesamt, und durch die Erziehung
kann mitgeholfen werden, daß dieses
geschichtlich-gesellschaftliche Niveau
nicht „absinkt“, sondern „steigt“.
Erziehung ist für Friedrich Schleiermacher
so die bewusste Tätigkeit der älteren
Generation für die jüngere, damit
diese in die Lage versetzt wird, ihre
Angelegenheiten für sich zufriedenstellend
und zum Wohle der Gesellschaft zu
regeln. Diese „Einwirkung“ der älteren
Generation auf die jüngere ist eine
„sittliche Aufgabe“, die sich an dem „Guten“,
das es zu erreichen gilt, orientiert
ist, die Erziehungstheorie ist somit
eine an der „Ethik“ orientierte Wissenschaft.
Wo
immer Menschen sozial miteinander
verbunden sind, wirken sie aufeinander
ein, beeinflussen sich gegenseitig,
verändern sich entsprechend der Anstöße
anderer, so dass „Einwirkung“ der
einen auf die anderen bis zum Tode
des Menschen andauert. Die Spezifität
der erzieherischen Einwirkungen im
Vergleich zu anderen ist die, dass
Erziehung in einem Verhältnis der
Ungleichheit geschieht, das sich in
Gleichheit auflösen soll und wird.
Das Kind ist von dem Erwachsenen abhängig,
es ist schwächer als er, so dass die
Einwirkung der beiden aufeinander
keine Wechselseitigkeit ist, sondern
auf Seiten der Erwachsenen stärker
als auf der Seite des Kindes. Auch
das Verhältnis des Sklaven zu seinem
Herren ist ein Verhältnis der Ungleichheit,
aber im Unterschied zum pädagogischen
bleibt diese das Leben lang bestehen,
wenn nicht eine politische Umwälzung
eine Veränderung herbeiführt. Die
„Natur“ des pädagogischen Verhältnisses
ist es dagegen, dass es sich auflöst,
dass am Ende der Jugendliche erwachsen
und gleichberechtigt mit der Elterngeneration
wird. Dabei ist dieser Prozess ein
kontinuierlicher: das Neugeborene
ist vollkommen von den Eltern abhängig,
noch nicht einmal die elementarsten
Bedürfnisse kann es selbst befriedigen;
je mehr aber seine Fähigkeiten sich
entwickeln, desto unabhängiger wird
es, so dass die Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen sich als eine Geschichte
zunehmender Selbständigkeit darstellt.
Weil Friedrich Schleiermacher die
gesellschaftlichen Formen gleichberechtigten
Handelns unabhängiger Individuen als
„politisches“ Handeln bezeichnet,
kann er folgende zusammenfassende
Definition der Erziehungswissenschaft
geben: „Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhangende,
aus ihr abgeleitete angewandte Wissenschaft,
der Politik koordiniert.“ (41f)
Die
Erzieherin überlegt sich, mit dem
ständig unruhigen und unzufriedenen
Franz ein Gespräch zu führen, um ihm
einen Weg aus seiner schlechten Lage
zu weisen. Ort und Zeit ihrer Intervention
überlegt sie sich, und auch die Worte,
die sie sagen wird, hat sie sich in
ihrem Kopf zurechtgelegt, ebenso die
Gründe, warum sie sich so verhalten
wird, wie sie es vorhat. Die gleiche
Erzieherin kann zu dem Franz, als
er sie wieder einmal nervt, spontan
ausrufen: „Nun chaote hier mal nicht
so rum!“ Das gleiche kann man nicht
nur für das individuelle Erziehungsverhältnis
sagen, sondern auch für das gesellschaftliche
erzieherische Handeln: Der Spielplatzausschuss
des Rates der Stadt überlegt, welche
Spielgeräte für Kinder aus einem benachteiligten
Wohngebiet wo aufgestellt und wie
angeordnet werden sollen, um den dort
wohnenden Kindern einen Bewegungsausgleich
für die beengten Wohnverhältnisse
zu verschaffen. Der Rat der gleichen
Gemeinde kann den Bau einer Schnellstraße
beschließen, die gerade einen Großteil
der betroffenen Kinder von dem eigenständigen
Besuch dieses neuen Spielplatzes ausschließt.
In allen viel Beispielen handelt die
ältere Generation in bezug auf die
jüngere, das, was die erste tut, wirkt
auf das Leben der zweiten unmittelbar
ein. Aber der Unterschied zwischen
dem ersten und dritten Beispiel im
Vergleich zu dem zweiten und vierten
ist der: die Reaktionen geschehen
hier mit dem Bewusstsein der Erwachsenen,
auf die Kinder einzuwirken, während
dies Bewusstsein in den anderen Fällen
nicht vorhanden ist. Die Erziehung
wird von Friedrich Schleiermacher
dann mit dem Begriff „pädagogisch“
charakterisiert, „wenn sie absichtlich sind“ (136), so dass
sich das erzieherische Feld in „unabsichtliche“
und „absichtliche
pädagogische Einwirkung“ (ebenda)
teilt. Im 20. Jahrhundert hat man
diesen Unterschied mit den Begriffen
„funktionale und intentionale Erziehung“
bezeichnet.
Warum
aber bedarf es neben den ungeplanten
Reaktionen und Aktionen der Erwachsenen
auf Kinder überhaupt der absichtlichen
pädagogischen Handlung? Mit anderen
Worten, was leistet die bewusste Erziehung,
worin besteht ihre Bedeutung? Für
Friedrich Schleiermacher ist es unbestreitbar,
dass die Erziehung einen wichtigen
Beitrag zum Erhalt und zur Verbesserung der Gesellschaft leistet, und er fordert deshalb
eine Pädagogik, die sich ihres großen
Stellenwertes bewusst ist und nicht
im Dickicht von Kleinigkeiten und
Nebensächlichkeiten sich verstrickt.
Die Bedeutung der pädagogischen erzieherischen
Einwirkung steigt dabei, je weiter
eine Gesellschaft entwickelt ist.
Das Maß an Fähigkeiten in „primitiven“
Gesellschaften war geringer und das
Sozialverhalten häufig durch unmittelbares
Ausleben der Gefühle bestimmt, während
es in unserer Gesellschaft einen großen
Komplex von Fähigkeiten gibt, die
die Kinder sich aneignen müssen, um
in der Welt bestehen zu können; und
das soziale Miteinander erfordert
zunehmend die Bereitschaft und Fähigkeit,
sich nicht nur der eigenen Bedürfnisse,
sondern auch denen der anderen bewusst
zu werden, um sie bei der eigenen
Entscheidung berücksichtigen zu können.
Dieser zunehmenden Komplexität kann
nur eine Erziehung gerecht werden,
die sich ihrer eigenen Handlungen
bewusst wird, die ihre Ziele reflektiert
und die geeigneten Erziehungsmittel
auswählt. Pädagogik als Wissenschaft
wird gesellschaftlich notwendig, weil
der Teilbereich des erzieherischen
Handelns quantitativ steigt und qualitativ
immer mehr zur „Kunst“ wird. Bewusste
Erziehung kann diesem wachsenden Anspruch
gerecht werden, weil sie sich gegenüber
der unbewussten Einwirkung auf Kinder
durch die Merkmale des Zusammenhangs,
der Vollständigkeit, der Stetigkeit
und der Bewusstheit auszeichnet. Je
bewusster die Erziehung wird, desto
mehr gibt es einen Plan, der in die
Fülle einzelner Handlungen eine Ordnung
bringt, der über die Gesamtheit der
notwendigen Hilfen für Kinder nachdenkt,
der auf die Kontinuität der Entwicklungsschritte
bei Kindern bedacht ist und der auch
dem Kind das Bewusstsein vermittelt,
dass das
Verhältnis des Erwachsenen
zu dem Kind nicht zufälliges Reagieren
auf Grund der momentanen Situation
ist, sondern absichtliches
Handeln zum Wohle des Kindes. Mit
diesem pädagogischen Plan ist im Sinne
Friedrich Schleiermachers nicht ein
pedantisches Schulcurriculum gemeint,
aber darauf werden wir noch zu sprechen
kommen.
·
Pädagogische
Grundfragen
Friedrich
Schleiermacher hat durch das Generationenverhältnis
mit seiner Entwicklung von der Abhängigkeit
zur Unabhängigkeit seinen Erziehungsbegriff
begründet, er hat die Notwendigkeit
aufgezeigt, dass mit der zunehmenden
gesellschaftlichen Komplexität die
Notwendigkeit der bewusst pädagogisch
reflektierten Erziehungskunst steigt,
in deren Zusammenhang die Wissenschaft
von der Erziehung entsteht, und er
hat mit den Stichworten „Allgemeingültigkeit“
und „Anwendbarkeit“ die wissenschaftstheoretischen
Grundlagen fundiert. Was er in seiner
Pädagogikvorlesung im folgenden tut,
ist eine Heraushebung von zentralen
Fragestellungen, denen jede Pädagogik
sich zu stellen hat. Weil es ihm treffsicher
gelungen ist, zentrale Dimensionen
zu bezeichnen, die jede Erziehergeneration
aufs Neue herausfordern, räumen wir
seiner Darstellung hier breiteren
Platz ein. Erich Kästner hat einmal
geschrieben:
1.
Die ethisch-anthropologische Frage:
Allmacht und Ohnmacht der Erziehung
Egal
wie die genetische Ausstattung eines
Neugeborenen ist: läßt sich aus ihm
alles machen, würde er nur in die
geeignete Umgebung versetzt werden
und würden die richtigen Trainingsprogramme
angewandt - Albert Einstein, Wolfgang
Amadeus Mozart, Boris Becker oder
aber Al Capone, Adolf Hitler, ein
nichtsnutziger gesellschaftlicher
Schmarotzer? Und wenn das Erziehungsprogramm
diese Macht hätte, darf sie dann diese
Macht ausnutzen, und wer legt fest,
welche soziale Position und damit
Macht und Geld der einzelne bekommt?
Oder ist mit den Erbanlagen bereits
festgelegt, wer welche Fähigkeiten
ausprägen oder nicht entfalten kann,
wer welche Charaktereigenschaften
entwickeln oder psychische Störungen
erleiden wird, wer sozial erfolgreich,
verträglich oder kriminell werden
wird? Kann man also nur durch eugenische
Maßnahmen wirken, während man nach
der Befruchtung der Eizelle pädagogisch
hilflos ist, nur möglichst schnell
herausfinden kann, welches Potential
ein jeder hat, um diesem den Raum
zur Entfaltung zu geben? Wohin der
Glaube an die „Zuchtwahl“ des Menschen
führt, hat der Nationalsozialismus
mit Brutalität vor Augen geführt.
Heißt die Ohnmacht der Erziehung für
die gesellschaftlichen Unterschichten:
„Schuster bleib bei deinem Leisten“,
und ergibt sich für die gesellschaftlichen
Randgruppen (Kriminelle, Obdachlose,
psychisch Kranke, Behinderte) die
Konsequenz der Einschließung, Abschiebung
und Verwahrung, weil sich bei ihnen
ohnehin nichts ändern lässt?
Friedrich
Schleiermacher beschäftigt sich mit
diesen beiden für die Pädagogik zentralen
Fragen, die er so formuliert: „Darf die Erziehung darauf ausgehen, alles aus dem Menschen zu machen was
man etwa will; und Kann sie es der
Natur der Sache nach.“ (46f) Für
die zweite Frage stellt er für seine
Zeit fest, dass sie sich auch mit
Hilfe der Anthropologie nicht sicher
beantworten lasse, und auch in unserer
Zeit muss man sagen, dass trotz des
Bemühens um wissenschaftliche Absicherung
die Antworten mehr von vorweg entschiedenen
ethisch-anthropologischen Grundannahmen
abhängen, denn von einem empirischen
Nachweis der Einflussnahme der Erziehung.
Auch die als wissenschaftlicher Nachweis
gern herangezogene Zwillingsforschung
liefert keine Beweise: Ihre Zahlen
werden je nach der getroffenen Vorentscheidung
unterschiedlich interpretiert. In
Zeiten des „pädagogischen Optimismus“
setzt man den Prozentanteil der Macht
der Erbanlagen niedrig, die Erfolgschancen
des erzieherischen Beeinflussungsprogramms
hoch an, in Zeiten des „pädagogischen
Pessimismus“ ist es umgekehrt. Die
Zeiträume der Schwankungsbewegungen
zwischen der einen und der anderen
Position scheinen dabei immer kürzer
zu werden, und das einzig Konstante
in der Diskussion ist die Überzeugungskraft,
mit der die jeweilige Position behauptet
wird.
Auch
die ethische Frage, ob die Erziehung,
ihre große Einflusschance vorausgesetzt,
überhaupt das Recht habe, aus den
Kindern zu machen, was der Erwachsene
will, lässt sich nicht so einfach
beantworten. Das, was ethisch betrachtet
das „Böse“ ist, darf die Erziehung
nicht anstreben, das „Gute“ muss sie
verfolgen. Dies verweist wieder darauf,
dass für Friedrich Schleiermacher
die Ethik die entscheidende Disziplin
ist, aus der die Pädagogik hervorgeht.
Doch eine gesellschaftstunabhängige
Ethik gibt es nicht, und zu unterschiedlichen
Zeiten und an unterschiedlichen Orten
werden die Antworten auf die Frage,
was das „Gute“ sei, inhaltlich sehr
verschieden gefüllt. Das einzige,
was wir also haben, ist ein Negativkriterium:
die Erziehung darf keine Ziele verfolgen
und ihre Macht dahingehend benutzen,
das Böse zu verfolgen.
In
Bezug auf die beiden oben genannten
Fragen kann Friedrich Schleiermacher
aber noch eine weitere Antwort geben.
Egal ob die Erziehung allmächtig oder
ohnmächtig ist (oder wie immer wir
die Prozentangaben zwischen Null und
Einhundert verteilen, die Überspitzung
verdeutlicht nur das Problem), es
ist einleuchtend, dass die Eigenständigkeit
der Kinder ein eigener Faktor ist,
den es zu berücksichtigen gilt. Das
Kind entscheidet selbst, wer es werden
will, und keine Macht der Erziehung
kann gegen diese Freiheit des Kindes
sich durchsetzen, und ethisch ist
einleuchtend, dass sie es auch nicht
darf, aus dem Kind einen Menschen
zu machen, der es selbst nicht sein
will. Doch betrachten wir jetzt das
Neugeborene in seinem Körbchen: Nicht
nur, dass es uns nicht sagen und zeigen
kann, wer er sein will, er selbst
weiß es auch noch nicht, und erst
im Prozess der Erziehung wird diese
Eigenständigkeit sich ausprägen. Friedrich
Schleiermachers zusammenfassende „Formel“
auf die beiden gestellten Fragen lautet
dementsprechend: Erziehung ist eine
Tätigkeit, „die im Anfange erregend, im Fortgange leitend,
sich an die Idee des Guten anzuschließen
habe, mit Rücksicht auf die Unentschiedenheit
der anthropologischen Voraussetzungen.“
(50f) Wollten wir nämlich sagen, bevor
die Eigenständigkeit des Kindes sich
ausgeprägt und dem Erzieher sichtbar
gemacht habe, dürften wir die Macht
der Erziehung nicht zur Anwendung
bringen, würde nicht nur wertvolle
Zeit verloren gehen, sondern wir würden
bis zum St. Nimmerleinstag warten
müssen, weil sich ohne die Erziehung
auch die Selbstentscheidungskraft
des Kindes nicht entwickeln kann.
An einem Beispiel gesagt: Wenn wir
mit dem Musikunterricht warten wollten,
bis sich die musikalische Begabung
und der musikalische Wunsch des Kindes
offenbaren würde, dann wäre selbst
Johann Sebastian Bach nie das Musikgenie
geworden, und wir hätten seine Selbstentwicklung
mit der scheinbar das Kind respektierenden
Haltung verhindert.
2.
Die Zielfrage: Universelle und individuelle
Erziehung
Nochmals
der Blick auf das Neugeborene in seinem
Körbchen. Auch wenn es jetzt vielleicht
noch weit weg ist: eines Tages soll
es sich selbständig in der großen,
weiten Welt zurechtfinden, in ihr
seinen Platz finden, um ein lebenswertes
Leben führen zu können. Es soll einen
Beruf haben, um sich ernähren und
seine Fähigkeiten gestalten zu können,
es soll politisch aktiv sein, sei
es als Gestaltender oder nur als informierter
Wähler, es soll in seinem Umfeld mithelfen,
dass ein befriedigtes Gemeinwesen
fortbesteht. Im Ganzen betrachtet:
es soll die Stafette fortführen, soll
in die Schuhe der Eltern und Erzieher
schlüpfen, um deren Aufgaben zu übernehmen,
wenn sie alt werden. Doch das ist
nicht genug, denn würde der Heranwachsende
nur „in getragene Schuhe schlüpfen“,
gäbe es keine gesellschaftliche Weiterentwicklung,
er könnte nur Wege gehen, die bereits
ausgetreten sind. Also soll er auch
fähig sein, das soziale Leben zu verbessern,
für ein Mehr an Frieden, Freiheit
und Gerechtigkeit sich einzusetzen
- für sich selbst und für andere.
Diese Seite der Erziehung, die Übernahme
vorhandener sozialer Rollen und ihre
Weitergestaltung, wird häufig als
„Sozialisation“ bezeichnet. Doch was
den Bereichen der Zielsetzung der
Pädagogik angeht, müssen wir noch
eine zweite Seite betrachten: Der
Neugeborene soll eine einmalige, unverwechselbare
Identität entwickeln, denn es ist
sein Leben, das er in dieser Welt
lebt und das mit seinem Tode enden
wird. Das sein Leben sinnvoll war,
für ihn glücklich, ist seine einmalige
Aufgabe. Der palästinensische Selbstmordattentäter,
der bei dem Terrorakt sein Leben für
die befohlene oder selbst eingesehene
vermeidlich gute Sache des Staates
opfert, erregt nicht nur aus politisch-sozialen
Gründen unser Unverständnis, sondern
auch wegen seiner Selbstaufgabe. Diese
zweite Seite der Zielsetzung der Erziehung
können wir mit „Individualisierung“
bezeichnen.
Auch
Friedrich Schleiermacher betrachtet
beide Dimensionen: „Das
Geschäft der Erziehung (teilt sich)
in die mehr universelle und die mehr
individuelle Seite.“ (68) Die
erste bezeichnet er häufig als „Abliefern
an die sittlichen Lebensgemeinschaften“,
die zweite als „Ausprägung der persönlichen Eigentümlichkeit“, wobei er für die erste
vier große Bereiche unterscheidet,
auf die hin ein Kind vorbereitet werden
muss: der Staat, die Kirche, der freie
gesellige Verkehr und die Wissenschaft.
In Bezug auf diese vier Hauptbetätigungsfelder
des erwachsenen Menschen ergibt sich
in Bezug auf die Zielsetzung der Erziehung
vordringlich die Frage: Sollen die
Kinder in das bestehende Leben so
eingepasst werden, wie es sich gegenwärtig
zeigt, oder sollen sie ausgerüstet
werden, dieses zu verändern? Beide
Extrempositionen würden zu Schwierigkeiten
führen: die reine Anpassung des Kindes
würde die gesellschaftlichen Mängel
verfestigen, und die vordringliche
Vorbereitung auf Veränderung würde
vor allem mit dem Selbstbestimmungsrecht
der kommenden Generation streiten.
Die zusammenfassende Antwortformel
Friedrich Schleiermachers kann also
nur eine Verschränkung beider Positionen
zur Konsequenz haben: „Die
Erziehung soll so eingerichtet werden,
daß beides in möglichster Zusammenstimmung
sei, daß die Jugend tüchtig werde,
einzutreten in das, was sie vorfindet,
aber auch tüchtig, in die sich darbietenden
Verbesserungen mit Kraft einzutreten.“
(63f) Sinnvoller gesellschaftlicher
Fortschritt ist für Friedrich Schleiermacher
nur denkbar als kontinuierliche Reform,
die sowohl die Verfestigung der schlechten
Realität wie die gewaltsame Revolution
ausschließt. Durch eine Erziehung,
die sich an der gerade zitierten „Formel“
orientiert, wird dies gewährleistet,
weil Stabilität und Wandel gleichermaßen
intendiert ist. Würde das Kind nur
auf das Verändern vorbereitet, würde
„das
Revolutionäre“ angelegt, zu „lautet
Reformatoren“ würde die Jugend
erzogen, was nicht sinnvoll sein könne,
gilt es für jede neue Generation doch,
an das Bestehende anzuknüpfen. Aber
auch das Gegenteil, die Fixierung
auf das Bestehende wäre nicht sinnvoll,
weil die scheinbare Stabilität der
Gesellschaft künstlich verstärkt würde,
so dass ein Reformstau entstünde,
der in gewaltsamen Revolutionen seinen
Ausweg suchen müsste.
Die
beiden gleichberechtigten Erziehungsziele
- Abliefern und Eigentümlichkeit -
haben unterschiedliche Konsequenzen
für den Prozess der Erziehung. Technische
und soziale Kompetenzen im eben beschriebenen
Sinne herauszubilden, verlangt eine
aktive Unterstützung, während dies
für den Bereich der Individualisierung
weniger gilt. Hier ist es ja genau
die Aufgabe des Kindes, herauszufinden,
wer es selber ist, und selbst zu bestimmen,
wer es sein möchte. Der Erwachsene
darf hier weniger prägend wirken,
sondern er muß abwarten, was sich
aus dem Innern des Kindes heraus entwickelt.
Friedrich Schleiermacher übernimmt
deshalb an dieser Stelle einen Begriff,
den wir bereits bei Jean-Jacques Rousseau
gehört haben, den der „negativen Erziehung“,
die sicherstellt, „daß
der Natur kein Hindernis in den Weg
gelegt werde“ (69).
3.
Die soziale Frage: Gleichheit und
Ungleichheit
Die
Frage der sozialen Gleichheit bzw.
Ungleichheit ist von großer Relevanz
sowohl für die Folgen des Erziehungsprozesses
wie für seine Gestaltung. Auf der
einen Seite verfährt die Erziehung
nach dem Prinzip: „Wer hat, dem wird
gegeben!“, auf der anderen Seite liegt
in der Bildung aber auch eine Möglichkeit
großen sozialen Aufstiegs. Das Geld,
das für die Ausbildung eines Arztes
ausgegeben wird, beträgt ein Vielfaches
von dem, was in einen Hilfsarbeiter
gesteckt wird, und weltweit betrachtet
sind die Schulen und sozialpädagogischen
Einrichtungen der industrialisierten
Welt luxuriös ausgestattet, während
für die ärmeren Staaten nur ein Bruchteil
zur Verfügung steht. So wie eine gesellschaftliche
Oberschicht innerhalb eines Staates
meist erfolgreich versucht, ihre Privilegien
an die Kinder auch dadurch weiterzugeben,
dass sie ihnen eine bessere Erziehung
angedeihen lässt, so wird auch der
Vorsprung der reicheren Länder vor
den ärmeren durch das Erziehungssystem
aufrechterhalten. Sind die Unterschiede
zwischen verschiedenen Menschen angeboren,
so dass die Erziehung nichts anderes
tun kann, als das jeweilige genetische
Potential optimal herauszufordern,
oder sind sie gesellschaftlich festgelegt,
so dass durch eine ungleichende Erziehung
diese Differenzen verfestigt, oder
durch eine kompensatorische Erziehung
aufgehoben werden können?
Friedrich
Schleiermacher stellt zunächst fest,
dass es, wohin man auch blicke, faktische
Unterschiede zwischen den Menschen
gibt. Dabei lässt sich die Frage,
ob sie „angestammt“
oder „persönlich
ererbt“ seien, nicht endgültig
beantworten, so dass die Erziehung
so eingerichtet werden muss, dass
sie von der Bewertung der Frage -
angeboren oder sozial vermittelt -
unabhängig ist. Neben der empirischen
Tatsache der allgemeinen Verbreitung
der Ungleichheit gibt es für Friedrich
Schleiermacher jedoch noch eine zweite
geschichtliche Tatsache: Die Entwicklung
der Gesellschaft weist immer den Weg
von größerer Ungleichheit zu größerer
Gleichheit auf - nie umgekehrt.
Drei
Faktoren sind bei der hier zu behandelnden
Frage nach der Gleichheit vs. Ungleichheit
zu betrachten: die sozialen Verhältnisse,
die Erziehung und die Persönlichkeit
des Kindes. In bezug auf erstere hat
die Erziehung nicht die Macht, sich
ihnen entgegenzustellen, weil die
Frage der gesellschaftlichen Privilegierung
anderenorts entschieden wird. Aber
sie sollte es auch nicht, weil eine
Erziehung, die ausschließlich den
Anspruch hätte, kompensatorisch zu
wirken, weiter entwickelte Kinder
wieder zurückstoßen müsste, was weder
pädagogisch sinnvoll noch ethisch
legitim wäre. Den äußeren Verhältnissen
soll und muss die Erziehung Raum gewähren.
Sie selbst allerdings soll die so
entstehenden Ungleichheiten nicht
noch unterstützen: „Die
Ungleichheit soll kein Werk der Erziehung
selbst sein.“ (178) Die Erziehung
wird in stark hierarchischen Gesellschaften
auf Ungleichheit aufgebaut sein. Dies
muss sie akzeptieren, auch wenn sie
durch ihr eigenes Handeln Ungerechtigkeiten
nicht noch zusätzlich verfestigen
darf. In einer Gesellschaft dagegen,
die an der Aufhebung der Differenzen
orientiert ist, muss die Erziehung
diese Tendenz durch ihr Werk unterstützen,
indem sie zu einer Gleichverteilung
der Bildungschancen beiträgt. Als
dritten Faktor bringt Friedrich Schleiermacher
schließlich die Selbständigkeit und
Freiheit des Kindes ins Spiel. Dass
Kinder ungleich von den Angeboten
der Erziehung profitieren, hängt nämlich
auch mit der unterschiedlichen Bereitschaft
der Kinder zusammen, sich auf sie
einzulassen oder sie abzuwehren. Da
pädagogisch gesehen die Freiheit des
Kindes immer ein zu unterstützendes
Gut ist, gilt dies auch hier.
Aus
der vielfachen Verwickeltheit der
Antworten Friedrich Schleiermachers
zur Frage nach Gleichheit und Ungleichheit
folgt für ihn, dass die Erziehung
zu Beginn stärker von der Gleichheit
auszugehen habe und dass, je mehr
sich die unterschiedliche Entwicklung
der Fähigkeiten, aber auch die stärkere
Hervorhebung der Individualität des
Kindes zeigt, die Erziehung diese
Ungleichheiten zu berücksichtigen
habe. Daraus folgt für ihn ein Bildungsmodell,
das bis in unsere Zeit hinein sich
in Deutschland weitgehend erhalten
hat, nämlich eine Zweiteilung in eine
für alle Kinder gemeinsame Erziehung
am Anfang und eine Aufgliederung in
verschiedene Schulformen später, wenn
sich Begabungsunterschiede für verschiedene
Berufe herauskristallisiert haben
und der einzelne selbst in der Lage
ist, seine diesbezüglichen Wünsche
zu äußern.
4.
Die pädagogische Frage: Gegenwart
und Zukunft
In
der alltagstheoretischen Vorstellung
ist es häufig so, dass die Kindheit
als eine Vorbereitungsphase auf das
eigentliche Leben erscheint. Das Lernen
der Kinder ist dann wie die Arbeit
der Erwachsenen: nicht immer vergnüglich
und meistens fremdbestimmt. In bestimmten
Sichtweisen wird dann sogar das Verdrießliche
besonders herausgehoben: Lernen kann
keinen Spaß machen, ist diesem entgegengesetzt
und deshalb gilt: je weniger Spaß,
um so mehr Lernen und um so mehr erzieherische
Qualität. Sicherlich, die Kinder können
nicht nur lernen, sie bedürfen der
Pausen der Erholung im Spiel, aber
die eigentliche Pädagogik beginnt
jenseits davon. In der Alltagsvorstellung
vieler professionell Erziehender ist
es häufig genau anders herum. Kein
Satz, den ich jemals geschrieben habe,
hat so viel Zustimmung erhalten wie
die simple Formulierung „Ein Kind
ist ein Kind“. Das Hier und Jetzt
des Kindes ist entscheidend, leben
will man mit ihm, nicht es erziehen.
Man ist bemüht um das gegenwärtige
Glück des Kindes, wer weiß schon,
wie die Zukunft werden wird. Also
lieber jetzt gut gelebt, als auf ein
ungewisses Versprechen in der Zukunft
zu warten. „Kinder werden nicht erst
Menschen, sie sind es schon“, (Janusz
Korczak), also sollen sie jetzt glücklich
sein und nicht auf Morgen vertröstet
werden. Mit solchen Gedanken, die
Kinderfreundlichkeit auszudrücken
scheinen, wird die ganze Pädagogik
mit ihren schweren Ansprüchen über
Bord geworfen. Erziehung scheint die
Manipulation zu ihrem Inhalt zu haben,.
Doch irgend etwas kann auch an dieser
zweiten Erzieheralltagsvorstellung
nicht stimmen: Viele Kinder sind zufrieden,
wenn sie stundenlang vor dem Fernseher
sitzen, und sie werden glücklich,
wenn die Tüte mit Chips und die Flasche
mit Cola daneben steht. Aber welcher
Erzieher wünscht sich schon auf diese
Weise glückliche Kinder?
Auch
Friedrich Schleiermacher beschäftigt
sich mit dem hier in Rede stehenden
Fragenkreis, und er diskutiert sie
unter dem Stichwort „Aufopferung eines bestimmten Momentes für einen
künftigen“ (82). Erziehung, das
steht für ihn unzweifehlbar fest,
ist auf die Zukunft hin ausgerichtet.
Durch sie soll etwas erreicht werden,
was gegenwärtig noch nicht ist. Jetzt
lernt der Erstklässler das ABC, ob
er es will oder nicht, um später lesen
zu können. Jetzt fordern wir von dem
Kind, seine Lebhaftigkeit zu zügeln,
um sich auf die zu lernende Sache
einstellen zu können, damit es als
Erwachsener kompetent und verantwortungsvoll
handeln kann. Je weiter gesteckt die
Ziele der Erziehung sind - und das
sie es sein müssen, je komplexer die
Gesellschaft ist, in die das Kind
hineingeboren wird, haben wir oben
gesehen - desto mehr geschieht Lernen
nicht im zufälligen Leben des Hier
und Jetzt, sondern bedarf einer zunehmend
ausgenutzten Zeit der kunstvoll gestalteten
Vorbereitung. Bei diese Festlegung
der Erziehungsziele in das Einerseits
- Andererseits stellt sich jedoch
die Frage: „Darf man überhaupt zugestehen, daß ein Lebensaugenblick als bloßes Mittel
für einen anderen diesem anderen könne
aufgeopfert werden?“ (82) Schon
die Art der Fragestellung deutet an,
daß Friedrich Schleiermacher mit einem
eindeutigen „Nein“ auf sie antwortet.
Ethisch ist geboten, daß jeder Lebensmoment
und noch mehr jede Lebensperiode seinen
Sinn in sich selbst habe. Es gibt
keine Rangfolge von eigentlichem Leben,
das erfüllt ist, und unwichtigem Leben,
das seinen Sinn nur als Mittel zu
ersterem hat. Aus diesem „Einerseits
- Andererseits“ ergibt sich ein Dilemma:
Würde man auf die erzieherischen Ansprüche
verzichten, so würde man die Pädagogik
aufgeben, deren große Bedeutung Friedrich
Schleiermacher jedoch im Vorstehenden
begründet hat. Würde man andererseits
sagen, es sei nicht so schlimm, daß
in der Kindheit Widerwille gegen das
zu Lernende herrsche, denn es seien
ja erst Kinder, dann würde man den
ethischen Anspruch verfehlen, und
die Ethik ist für Friedrich Schleiermacher
die zentrale Entscheidungsinstanz.
„Was
in dem Leben des Kindes
Befriedigung des Moments
ohne Rücksicht auf die Zukunft
ist, nennen wir Spiel im
weitesten Sinn; die Beschäftigung
dagegen, die sich auf die
Zukunft bezieht Übung. Soll
also die Erziehung mit dem
sittlichen Zweck vereinbar
sei, so muß unsere Formel
diese sein. Im Anfang sei
die Übung nur an dem Spiel,
allmählich aber trete beides
auseinander in dem Maß,
als in dem Zögling der Sinn
für die Übung sich entwickelt
und die Übung ihn an und
für sich erfreut.“ (S. 86)
|
Um
aus diesem Dilemma herauszugelangen,
stellt Friedrich Schleiermacher zunächst
einmal fest, daß ja nicht erst der
Erwachsene, sondern bereits das Kind
durchaus das Bestreben habe, bestimmte
Fähigkeiten zu entwickeln, und daß
es deshalb Bemühungen zustimme, sich
zur Erreichung dieser Ziele bestimmten
Lernprozessen zu unterwerfen. Doch
durch diese Beobachtung ist das Problem
zwar quantitativ geringer geworden,
aber nicht qualitativ, denn gerade
das kleinere Kind kann in solchen
Zusammenhängen von gegenwärtiger Vorbereitung
auf die eigene Zukunft noch nicht
denken. Wenig hilfreich wäre es auch
zu argumentieren, auch wenn das Kind
jetzt noch Unwillen zeigt, als zukünftiger
Erwachsener wäre es seinem Erzieher
dankbar, sie an die Kandare genommen
zu haben, ja sie wären mit ihrem Erzieher
sogar sehr unzufrieden, würde er die
Dinge einfach laufenlassen. Eine solche
Argumentation würde voraussetzen,
daß „das
Kind auch mit dem Material der pädagogischen
Einwirkung zufrieden wäre; das aber
kann man eben nicht wissen“ (82f).
Wenn
der Nachweis gelänge, daß in einer
bestimmten Tätigkeit die beiden Dimensionen
der Befriedigung der Gegenwart und
der Vorbereitung auf die Zukunft gar
nicht auseinanderfielen, wenn das
Kind also ausgefüllt mit dem Jetzigen
ist und gleichzeitig Wichtiges für
das spätere Leben lernte, dann wäre
in dieser Tätigkeitsform das Problem
gelöst. In dem Spiel des Kindes findet
Friedrich Schleiermacher diese gesuchte
Tätigkeitsform: das Spiel ist aus
der Perspektive des Kindes selbstmotiviert
und gleichzeitig werden durch es die
intellektuellen, sozialen und emotionalen
Tätigkeiten geübt. Je kleiner das
Kind ist, desto mehr wird das Spiel
seine Haupttätigkeit sein, die zu
ermöglichen, die wichtige Aufgabe
des Pädagogen ist. Je älter das Kind
andererseits wird, desto mehr tritt
neben das Spiel die von ihm selbst
gewünschte und gewählte Arbeit, auf
die der Erzieher sich jetzt beziehen
kann.