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Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

  Home / Texte / II / Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

 

Sigurd Hebenstreit

Friedrich Schleiermacher (1768 bis 1834): „Dem Übergewicht des Homogenen muß durch Erregung des Individuellen das Gleichgewicht gehalten werden.“

a) Lebensstationen

Mit der Pädagogikvorlesung des Professors für Evangelische Theologie, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, die im Mittelpunkt der Darstellung dieses Kapitels steht, machen wir einen großen Schritt auf die heutige Erziehungswissenschaft zu. Für den Autor selbst stellt die Pädagogik nur eines der vielen Nebengleise seiner wissenschaftlichen Beschäftigungen dar, in denen die Theologie und Philosophie im Vordergrund gestanden haben, aber für die Geschichte der Pädagogik ist seine diesbezügliche Vorlesung ein Meilenstein. Über Wilhelm Dilthey führt ein direkter Weg zu der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die trotz des Abgesangs, den man in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts auf sie gehalten hat, auch heute noch nicht „am Ende ihrer Epoche“ ist. Mit dem Text Friedrich Schleiermachers liegt ein Versuch vor, auf theoretische Weise das Gesamtfeld der Pädagogik auszumessen und in wissenschaftlich handhabbare Segmente zu untergliedern. Hier schreibt kein Praktiker der Erziehung, der seinen reformerischen Ideen ,Verbreitung geben will, sondern ein Professor, der die Pädagogik als Wissenschaft zu begründen versucht.

Betrachten wir Leben und Werk dieses Mannes, so läßt sich der Eindruck nicht verwehren, daß viel Emotionalität in eine abstrakte Sprache gebannt wird, und in dieser Hinsicht wird er modellgebend für einige Generationen von Pädagogikprofessoren bis heute, deren persönliche Gefühle und inhaltlich erzieherisches Engagement hinter einem Begriffsapparat komplexen Ausmaßes zum Verschwinden gebracht wird. Nur läßt sich bei Friedrich Schleiermacher auch der Eindruck nicht zurückweisen, daß das Bemühen um formal-logische Intellektualität doch nicht verhindern kann, daß hinter dieser Decke das Persönliche und die engagierte Betroffenheit durchscheinen. Am stärksten ist dies wohl bei seinen Reden „Über die Religion“ der Fall, auf die wir noch eingehen werden, aber auch in Bezug auf die Inhalte seiner „Theorie der Erziehung“ ließe sich an vielen Stellen nachweisen, inwieweit sie unmittelbare Wiederholungen seiner eigenen Kindheitserfahrungen sind, noch mehr aber deren kompensatorische Wiedergutmachungen. Doch diesen Nachweis wollen wir hier nicht führen, sondern uns nach der Beschreibung einiger biographischer Daten auf die Analyse seiner Pädagogikvorlesung konzentrieren.

·      Kindheit, Jugend und Studium

1768

21. November Geburt in Breslau

1783

Schulen der Brüdergemeinde inNiesky und Barby

1787

Studium der Theologie in Halle

1790

Hauslehrer in Schlobitten

1793

Lehrer in Berlin

1794

Hilfsprediger in Landsberg

1796

Prediger an der Berliner Charité

1802

Hofprediger in Stolp

1804

Theologieprofessor in Halle

1807

Übersiedlung nach Berlin

1809

Heirat mit Henriette von Willich

1810

Theologieprofessor in Berlin

1829

Tod des neunjährigen Sohnes Nathanael

1834

12. Februar Tod Friedrich Schleiermachers

 

 

 

 

 

 

 

 

Unter den Vorfahren Friedrich Schleiermachers finden sich viele Pfarrer, die Großväter beider Seiten gehören dazu, selbstverständlich auch der Vater, und der Sohn wird auch den geistlichen Beruf wählen. Am 21. November 1768 wird er in Breslau geboren. Der Vater ist als Feldprediger beruflich viel unterwegs, so daß die Erziehung weitgehend in den Händen der Mutter liegt, ergänzt durch den Besuch einer öffentlichen Schule, in der der fünfjährige bereits mit gutem Erfolg Latein lernt. Folgt man der Selbstbiographie, die der sechsundzwanzigjährige Friedrich Schleiermacher geben wird, dann ist seine Kindheit bestimmt durch den „sehr frühen Ruhm eines guten Kopfes“ (SB, S. 252f). Er macht so schnelle Fortschritte im Lernen, daß er auch die älteren Mitschüler rasch überrundet; aber dadurch ergibt sich auch die Neigung zur Hoffärtigkeit, die die Mutter durch religiöse Erziehung mindern will. Der Stolz erhält schließlich für das Kind dadurch einen Dämpfer, daß es bei dem Versuch, einen lateinischen Autor lesen zu wollen, feststellen muß, daß es zwar die einzelnen Vokabeln übersetzen kann, den Text selbst aber trotzdem nicht versteht, weil ihm der Zusammenhang verborgen bleibt. Mögen die anderen ihn für einen „guten Kopf“ halten, Friedrich selbst spürt, daß er es nicht ist. Deshalb muß er seine Unwissenheit verstecken. Statt auffahrend und heftig wird er jetzt eher zurückgezogen und verschlossen.

Als die Familie bedingt durch den beruflichen Wechsel des Vaters nach Oberschlesien umzieht, wird der Zehnjährige zunächst nicht mehr in eine öffentliche Schule geschickt, weil, wie die Mutter schreibt, „er für sein Alter schon genug weiß; wir möchten gern, daß sein Herz so gut wäre, als sein Verstand schon Kräfte hat“ (in: Biographie, S. 12). Zeitweise kümmert der Vater sich selbst um die Bildung seines Sohnes, dann wird ein Privatlehrer angestellt. Der Vater hat in seinem Leben heftige Glaubenskämpfe durchgestanden, bis er schließlich in der Hinwendung zum Pietismus eine gewisse Beruhigung gefunden hat. Nachdem die Eltern auf diese Weise in Kontakt zu der Herrenhuter Brüdergemeinde des Grafen Zinsendorf gekommen sind, wünschen sie, daß ihre Kinder in diesem Geist erzogen werden, und sie vertrauen deshalb die Kinder den Schulen der Brüdergemeinde an. Als der Vierzehnjährige in die Schule in Gnadenfrei eintritt, ist es das letzte Mal, daß Eltern und Kinder sich sehen. Die Mutter stirbt bereits kurze Zeit später, und trotz des schriftlichen Austausches zwischen Vater und Sohn, auf den wir gleich noch zurückkommen werden, leben die beiden nie mehr unmittelbar miteinander.

Friedrich Schleiermacher durchläuft das Bildungssystem der Herrenhuter Brüdergemeinde. Bereits 1783 wird er gemeinsam mit seinem Bruder in das Pädagogium nach Niesky geschickt und gut zwei Jahre später auf das Seminar in Barby. Diese Stationen sind typisch für jemanden, der als zukünftiger Geistlicher der Brüdergemeinde vorgesehen ist. Anfänglich freut sich Friedrich Schleiermacher über das Internatsleben: das Leben auf dem Land, die Gemeinschaft mit den Kameraden, das Entfliehen vor dem „sittlichen Verderben (der) meisten großen Schulen“ (SB, S. 254). Doch dann wird ihm das alles zu eng: aus der Erweckung des religiösen Lebens wird Gesinnungsschnüffelei, das Lernen bleibt innerhalb der engen Grenzen, die die Frömmigkeit steckt. Der Schüler ahnt, daß außerhalb der Schulmauern ein neues geistiges Leben entsteht, aber er erfährt außer den Drohungen vor der bösen Welt nichts davon. Das Bestreben des kleinen Freundeskreises, der das Ganze gerade noch erträglich macht, ein wenig die Mauern zu lockern, um beispielsweise sich die „Leiden des jungen Werthers“ von Goethe zu beschaffen, endet im Fiasko. Je höher die Mauern, je enger die Grenzen werden, desto mehr gerät Friedrich Schleiermacher in eine Glaubenskrise, weil ihm das Medium genommen wird, dessen er schon als Kind bedurfte und das für sein weiteres Leben zentral bleibt: Autoritäten sind nicht unhinterfragt zu übernehmen, sondern in dem Selbstdenken liegt die Quelle zu ihrer Zustimmung oder Ablehnung. Die eigene Vernunft muß befragt werden.

So selbstbewußt sich dies anhören mag, für den jugendlichen Friedrich Schleiermacher hat der Glaubenszweifel alle Anzeichen einer existentiellen Krise: alle Menschen, alle Stimmungen, alle Lebensäußerungen außerhalb von ihm scheinen einen Glauben zu bestätigen, den nur er in seinem Inneren nicht finden kann. Und dabei will er doch glauben, wenn dieser sich nur mit dem eigenen Selbst decken würde. Hinzu kommt der Vater, von dessen langem Glaubenskämpfen er weiß, und  dem er trotz der Trennung in kindlicher Liebe anhängt. Der Vater ist die einzige Person, an die er sich wenden kann, wenn die Herrenhuter Brüder ihn aus dem Seminar werfen werden, denn der die Göttlichkeit Christi und die übermenschliche Gnadenwirkung des Todes am Kreuz Bezweifelnde kann schwerlich Priester, ja noch nicht einmal Lehrer der Gemeinde werden. Jetzt drohen sie ihm nicht nur an, ihn zu exkommunizieren, sondern sagen voraus, daß der Vater ihn selbst verstoßen werde. Auf „Schonung“ und „Mitleid“ kann der Gottlose nicht mehr rechnen.

„Ich kann nicht glauben, daß der ewiger, wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte, ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nötig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind. ... Ich bitte Sie, enthalten Sie mir Ihre stärksten Gründe zur Widerlegung derselben nicht vor, aber aufrichtig zu gestehen, glaube ich nicht, daß Sie mich jetzt überzeugen werden, denn ich stehe fest darauf.“ (262f)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als Friedrich Schleiermacher 18 Jahre alt ist, spitzt sich die Situation zu: er wird aus Barby verwiesen und schreibt dringende Notbriefe an den Vater, der ihn aus der Situation retten soll. Liest man heute diese Briefe, so kann man ihnen das Urteil, psychologische Meisterstücke des jugendlichen Friedrichs zu sein, nicht versagen. Zunächst wünscht er dem Vater das Beste - und „Freude zu erleben an Ihren Kindern“ gehört sicherlich dazu - um sofort hinzuzusetzen, daß er jetzt, nach halbjährlichem Schweigen, etwas mitzuteilen habe, das diesem Wunsch zuwiderlaufe. Dann folgt in wenigen Zeilen (siehe nebenstehenden Ausschnitt) das Bekenntnis des Unbekenntnisses mit einer Massivität, die jedoch beabsichtigt, nicht das Strafgericht des Vaters, sondern sein Mitgefühl mit dem leidenden Sohn hervorrufen zu sollen. Möge der Vater eingedenk seiner eigenen langen Glaubenskrise doch das Vertrauen, daß sein Sohn trotzdem ein „rechtschaffender und nützlicher Mensch“ werden könne, nicht aufgeben. Jetzt folgt die Mitteilung der Androhung des Rausschmisses aus dem Herrenhuter Bildungsinstitut und unmittelbar danach die Äußerung des Wunsches, in Halle Theologie studieren zu wollen. Dieser Wunsch wird untermauert mit dem Hinweis, ein dort lebender Onkel könne hilfreich sein und vielleicht Unterkunft gewähren, auf jeden Fall aber den jungen Mann vor dem „Verderben der Universität“ schützen. Schließlich folgt die Bitte, ob der Vater nicht auch noch bei den geistlichen Oberen der Brüdergemeinde intervenieren könne, damit sie ihm eine Rückkehrmöglichkeit offenhielten, falls er zum rechten Glauben zurückkehre. In der Schlußformel drückt Friedrich seine Hoffnung aus, der Vater möge „diese Nachricht ohne Schaden Ihrer Gesundheit“ aufnehmen. Knapp drei Wochen später schickt Friedrich Schleiermacher einen zweiten Brief hinterher, noch bevor er eine Antwort des Vaters erhalten hat. Jetzt wird der äußere Druck, der auf dem Jugendlichen lastet,  klar: in noch nicht einmal zwei Monaten muß er das Seminar der Brüdergemeinde verlassen haben, alle Interventionen seitens des Vaters gegenüber den Brüdern wären nutzlos, denn es herrsche die Meinung vor, mit seinem „schädlichen Gift“ könne er hier nicht länger geduldet werden. Dem Vater gegenüber bleibt zu begründen, warum gerade der Ungläubige Theologie studieren wolle, und eine Aufstellung der von ihm benötigten Geldsummen ist zu machen, wobei er sich deutlich um Bescheidenheit bemüht: Kaffee trinke er nicht, und Abends müsse er „nicht viel essen“.

Der Vater ist entsetzt, es kommt zu einer tiefen und lang andauernden Entfremdung zwischen ihm und seinem Sohn, von der der 34jährige acht Jahre nach dem Tod des Vaters schreiben wird, daß er als Sohn an ihr unschuldig gewesen sei. Viel gelitten habe er an dem Zerbrechen des kindlich-elterlichen Verhältnisses, auch weil die „zärtlich sorgende Liebe“ des Vaters für ihn nie im Zweifel stand, und er schließt: „Nach und nach nun folgte sein Urteil und sein Verstand seinem Herzen; aber nur eben hatte ich das vollste und sicherste Zeugnis in Händen, daß er ganz wieder mein war, als er mir genommen wurde.“ (Biog. S. 39)

Trotz des Zerwürfnisses zwischen Vater und Sohn kann Friedrich Schleiermacher seinem eigenen Wunsch folgend ab dem Frühjahr 1797 in Halle Theologie studieren, eine Lebensphase, die wiederum zwei Jahre dauern wird. Er selbst schildert diese Zeit trotz der Entlastung, die sie für ihn bedeutet haben muß, nicht in sonnigen Farben. Wenig zielstrebig und systematisch habe er studiert, und sein „Eigendünkel“ als Autodidakt zu meinen, „es käme gar nicht darauf an, was man wisse, sondern nur wie man es wisse“ (SB, 258) habe ihn das Lernen verachten lassen. Auch sozial beschreibt er sich als zurückgezogen, da er durch die lange Zeit der Absonderung in den Anstalten der Brüdergemeinde keine sozialen Fähigkeiten erworben habe.

·      Erste berufliche Stationen

Der Bruder der Mutter, bei dem Friedrich Schleiermacher in Halle untergekommen ist und der ihm nicht nur Unterkunft gewährt, sondern der sich auch den geistigen Diskussionen des jungen Studenten gestellt hat, ist von dem Amt des Professors der Theologie auf das des Pfarrers in Dossen in der Neumark gewechselt. Hierhin folgt der Heranwachsende dem Onkel, auch um sich auf die 1. Theologische Prüfung in Berlin vorzubereiten, die er im Mai 1790 besteht. Jetzt ist es an den Oberen der reformierten Kirche, ihm eine geeignete Stelle zuzuweisen, die als erste Berufstätigkeit für die Pfarrerlaufbahn qualifiziert. Häufig ist dies eine Hauslehrerstelle, so auch bei Friedrich Schleiermacher, der zu dem Grafen Dohna nach Ostpreußen geschickt wird. Zweieinhalb Jahre bleibt er in dieser Stelle, in der er vor allem den vierzehnjährigen Sohn des Grafen zu lehren hat. Höhen und Tiefen weist diese Zeit auf: Einerseits wird schnell klar, daß zwischen dem Dienstherrn und dessen Angestellten politische (es ist die Zeit der Französischen Revolution) und pädagogische Differenzen bestehen, und Friedrich ist nicht bereit, sich den Anweisungen des Grafen in Bezug auf die Erziehung zu fügen; doch der junge Lehrer stellt sich auch nicht der klärenden Auseinandersetzung, so daß der Konflikt im Untergrund weiterschwelt, mit dem Ergebnis, daß das „Verhältnis von Anfang an ... keine lange Dauer zu versprechen schien“ (SB, S. 260f). Andererseits wird Friedrich Schleiermacher mit hineingenommen in das adelige Familienleben, und er scheint eine menschliche Wärme gespürt zu haben, die ihm bisher fehlte.

Nach dem Ausscheiden aus der ersten Stelle folgt für ein halbes Jahr eine kurze Episode, in der Friedrich Schleiermacher sich als Lehrer an einer öffentlichen Schule versucht, ein Vorhaben, dem kein Erfolg beschienen ist, so daß er froh ist, als Hilfsprediger bei dem Schwager des vorher bereits erwähnten Onkels unterzukommen. Er legt das zweite theologische Examen ab, und die zweijährige Zeit in Landsberg an der Warthe wird erfolgreich: er beginnt sich mit den Tätigkeiten eines reformierten Pfarrers zu identifizieren, und die Gemeinde ist so zufrieden mit ihm, daß sie ihn gerne als Pfarrer behalten möchte, nachdem der Amtsvorgänger gestorben ist. Doch die Kirchenoberen halten Friedrich Schleiermacher für dieses Amt noch nicht für reif genug und bestimmen statt dessen, daß der erwähnte Onkel die Stelle bekommen solle.

Friedrich Schleiermacher tritt 1796, es ist das Todesjahr des Vaters, deshalb eine Stelle als Pfarrer an der Charité in Berlin an, eine damals etwas heruntergekommene, außerhalb der Stadtgrenzen liegende Kranken- und Sozialanstalt. Die folgenden Jahre werden für Friedrich Schleiermacher weniger in beruflicher Hinsicht entscheidend als in dem Erwerb eines neuen, anregenden Freundeskreises. Es ist die Zeit der beginnenden Romantik, die gerade in Berlin ein Zentrum hat. Nochmals weitet sich der Kreis in einer Weise, an der der in engen Mauern Eingeschlossene knapp zehn Jahre zuvor nicht zu denken gewagt hätte. Jetzt gewinnt er Freunde in den Salons von Henriette Herz, die Mittelpunkt eines gesellschaftlichen Lebens ist, in dem die Kirchenoberen den jungen Herrn Pfarrer nicht gerne sehen. Friedrich und Henriette verbindet eine intensive Freundschaft, „wobei von Mann und Frau aber gar nicht die Rede ist“ (Biog. 42ff). Und Schleiermacher gewinnt Freundschaft zu Friedrich Schlegel, der einige Jahre jünger ist, aber sich bereits einen Namen gemacht hat. Die beiden beschließen, zusammenzuziehen, und sie entwickeln den Plan, gemeinsam die Werke Platons zu übersetzen, ein Vorhaben, an das Friedrich Schlegel sich wenig gebunden fühlt, das Friedrich Schleiermacher aber sein Leben lang beschäftigen wird. Noch heute lassen sich Übersetzungen der Werke Platons aus der Hand Schleiermachers kaufen.

Doch die teilweise atheistische Stimmung unter den neuen Freunden beobachtet Friedrich Schleiermacher mit Mißtrauen. Er, der selbst unter einer schweren religiösen Krise gelitten hat, sieht sich gezwungen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was mit „Religion“ bezeichnet wird; und er verfertigt eine Schrift, die er als „Reden“ an seine Freunde anlegt, um sie von der Notwendigkeit der Religion jenseits dogmatischer Kirchenfrömmigkeit zu überzeugen. Er läßt die Schrift anonym erscheinen, eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber der Reaktion der beruflich Vorgesetzten. Da trotzdem seine Autorenschaft bald bekannt wird, bekommt er aber von denen schnell die Vorhaltungen, die zu befürchten waren. Doch dazu gleich. Versuchen wir vorweg einige Sätze zur Charakterisierung  der Schrift, die den Titel trägt: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“.

·      Über die Religion

Um sich der Beschreibung des Wesens der Religion anzunähern, geht Friedrich Schleiermacher von einem Verständnis aus, das auch heute im Alltagsbewußtsein weit verbreitet ist. Religion: das ist der Versuch der Erklärung dessen, was vor der Welt war, was außerhalb von ihr ist und was nach dieser Welt sein wird. Mit vielen Worten wird versucht zu ergründen, was der menschliche Geist nicht ergründen kann; es werden Hypothesen aufgestellt, es wird analysiert, und an all den Stellen, wo der Mensch nicht weiterkommt, wird „Gott“ eingesetzt. Ein anderes Alltagsverständnis von Religion geht dahin, sie uns als den erhobenen Zeigefinger zu zeigen, der uns sagt, was wir zu tun und zu lassen haben. Es läßt sich geradezu eine Relation aufstellen: je mehr die Moral einschränkt, je weniger sie an dem dran ist, was menschlich ist, um so religiöser ist die Forderung. Gott ist dann der gestrenge Richter, der über die Einhaltung der Gebote wacht, die Sünder bestraft und die Gerechten mit dem ewigen Leben belohnt.

Beide Alltagsverständnisse von Religion gehen nach Friedrich Schleiermacher aber an deren Wesen vorbei: Religion ist nicht die Metaphysik, die Philosophie, die nach letztendlichen Ursachen für die Erscheinung der Welt und des Menschen sucht, die mit unendlichen Deduktionen versucht, „ewige Wahrheiten auszusprechen“ (43f). Religion ist nicht das sprachliche System, das in Wörter gefaßte Gedankengebäude, das die eine Anschauung für wahr und die andere für falsch erklärt. Religion ist andererseits auch nicht die Moral, die „aus der Natur des Menschen und seines Verhältnisses gegen das Universum ein System von Pflichten“ (ebenda) entwickelt, sie darf „keinen Kodex von Gesetzen enthalten“ (ebenda). Zwar soll und kann der Mensch moralisch handeln, aber diese Forderung hat nicht in der Religion ihre Ursache. In einem schönen Bild bestimmt Friedrich Schleiermacher das Verhältnis von Religion und Moral: „Die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts  aus Religion.“ (60f)

Wenn weder die Suche nach den letzten Ursachen noch die Begründung einer für alle verpflichtenden Moral Religion ist, was ist sie dann? Friedrich Schleiermachers kurz zusammengefaßte Antwort: „Anschauung und Gefühl“. (49) „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ (51) Dies ist sicherlich nicht ohne weiteres verständlich, weshalb einige Erklärungen zu „Anschauung“, „Gefühl“ und „Universum“ folgen müssen. Mit dem letzten Begriff - „Universum“ - bezeichnet er nicht in unserem Wortsinn das Weltall, die Summe der Sterne, die wir mit unseren Augen oder mit Hilfe technischer Apparaturen sehen können, sondern vielmehr das Unendliche. Über das, was man sich darunter vorstellt, kann leicht eine falsche Ansicht herrschen. Dies gilt für ein räumliches Verständnis, wenn das Unendliche jenseits der uns bekannten Welten gesehen wird. Doch dann würde mit jeder neuen Generation, die mit Hilfe neuer Forschungsmethoden weitere Welten entdeckt, die uns nicht erschlossen sind, der Bereich des Unendlichen immer kleiner. Das gleiche Mißverständnis gilt auch im zeitlichem Sinne, wenn die Ewigkeit als unendliche Ausdehnung der Zeit vor und nach der jetzigen Welt gedacht wird. Das Unendliche, das „Universum“, liegt für Friedrich Schleiermacher nicht jenseits des faktisch Bestehenden. Das Endliche und das Unendliche, das Zeitliche und das Ewige sind keine voneinander getrennten Welten (was auch unlogisch wäre, da es dann mit der realen, erfahren Welt einen Bezirk gäbe, der dem Unendlichen und Ewigen entzogen wäre), sondern die gegenwärtige Welt und Zeit ist Teil der Unendlichkeit, des Universums: „Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Universum gleichsam herausgeschnitten werden müssen. Nur so kann es innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein.“ (51)

Philosophie (Metaphysik), Moral und Religion haben es alle drei mit dem Verhältnis des einzelnen Individuums zu dem Universum zu tun: Mit Hilfe von Physik und den anderen Naturwissenschaften kann der Mensch sich einen großen Teil der Welt erklären; stoßen diese an ihre Grenzen hilft die Metaphysik als Erklärung dessen, was jenseits der Physik liegt, weiter. Die Moral weist den Horizont der Werteentscheidungen auf, innerhalb dessen der einzelne sich frei entscheiden muß. In der Religion steht der Mensch dagegen in einer eher passiven Haltung dem Universum gegenüber. Er schaut dessen Erscheinungen an und läßt sich von dessen Vielfältigkeiten und Mannigfachigkeiten ergreifen. Er sieht in dem Einzelnen das Ganze.

Alles, was ich anschaue, ist etwas Einzelnes, das Außerhalb von mir besteht. Wenn ich dieses nicht mit Hilfe meines Verstandes bearbeite, es analysiere, nach Ursachen und Folgen frage - alles Möglichkeiten meiner Aktivität -, sondern wenn ich mich ergreifen lasse von den Bewegungen, die dieses äußere Stück Welt auf mich macht - ich also mich nicht selbst aktiv verhalte, sondern passiv bleibe -, dann lasse ich Bewegungen zu, die über meine Grenzen hinausgehen. Die Anschauung dieser Einzelheit wird deshalb mehr als die Wahrnehmung dieses Einzelteils. „Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion.“ (52f)

Jede Wahrnehmung löst in mir ein Gefühl aus, und dies gilt auch für die Anschauung im religiösen Sinn. Durch das Gefühl reagiere ich auf das, was von Außen auf mich zukommt. Diese gefühlsmäßige Haltung, nicht das denkerische Verarbeiten von Informationen, ist für das religiöse Empfinden spezifisch. Angesichts der Anschauung des Universums, so sagt Friedrich Schleiermacher, regen sich die Gefühle der Ehrfurcht und Demut, der Liebe und Dankbarkeit, des Mitleides und der Reue. Auch bei diesen reaktiven Gefühlen geht es nicht um die aus ihr folgenden Handlungen; „sie (die Gefühle) kommen für sich selbst und endigen in sich selbst als Funktion Eures innersten und höchsten Lebens.“ (86f)

Um diesen Gedanken - „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ - zu konkretisieren, beschreibt Friedrich Schleiermacher einige mögliche Wege solcher Anschauungen in der äußeren Natur einerseits und im Menschheitsleben andererseits. Diese können hier nicht nachgezeichnet werden, und wir beschränken uns auf einen Gedanken: In der religiösen Anschauung normiere ich nicht den einzelnen Menschen, wie dies in der moralischen Haltung geschieht („Du sollst dich so und so verhalten“), sondern hebe gerade die Individualität hervor, auch wenn sie moralisch vielleicht anstößig ist. Ich betrachte „jedes Individuum seinem inneren Wesen nach (als) ein notwendiges Ergänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit.“ (76f) So wie die Wechselseitigkeit der Betrachtung des einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt betont wird so sehe ich mich selbst als einen Spiegel alles dessen, was ich außen angeschaut habe. Alle Erscheinungen, die dort vorkommen, die positiven ebenso wie die negativen, finde ich in mir selbst wieder. Und so wie gegenüber der Außenwelt so soll ich in der religiösen Haltung auch gegenüber den Einzelelementen von mir selbst keine zensierende Haltung einnehmen: sich die Fehler nicht wegwünschen und die Stärken perfektionieren, sondern in der passiven Anschauung verbleiben und alles als ein notwendiges Element des Universums betrachten.

Wenn Religion die Anschauung und das Gefühl eines Einzelnen gegenüber dem Universum ist, so ergibt sich daraus die Haltung der Toleranz. Mein religiöses Empfinden ist nicht das eines anderen; vielleicht kann ich von seiner Haltung etwas für mich lernen, aber alle Beurteilungen von falsch und richtig haben hier keinen Platz. Es geht nicht darum, religiös überzeugt zu werden, oder selber zu überzeugen; mehr als einen Hinweis, wie ich selbst mich in eine Haltung religiöser Anschauung und religiösen Gefühls bringen kann, läßt sich von den anderen nicht entnehmen. Noch weniger macht es Sinn, im Sinne der Religion Kriege zu führen, Gewalt anzuwenden, Psychoterror auszuüben. Philosophische Systeme neigen dazu, Anhänger zu suchen, die Welt in Freund und Feind aufzuteilen, in der Religion kann ich die Anschauung des anderen nur tolerieren, sie stehen lassen und als Ergänzung meiner eigenen Sichtweise betrachten, die mir zu etwas mehr Vollständigkeit verhilft. Unterschiede in der Religion sind also eher willkommen, als daß sie bekämpft werden müssen.

„Man hat aber doch Systeme von allen Schulen? Ja, eben von Schulen, die nichts anders sind als der Sitz und die Pflanzstätte des toten Buchstabens, denn der Geist läßt sich weder in Akademien festhalten, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen, er verdampft gewöhnlich auf dem Wege aus dem ersten Munde in das erste Ohr.“ (34)

Religion ist nicht das für-wahr-Halten, was ein anderer gesagt hat, nicht der Glaube an den schwarz-auf-weiß in einem Buch festgehaltene Bericht. Sie ist „kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft“ (92f), sondern in der Religion kommt jeder einzelne zu sich selbst, gewinnt sie in einer selbsttätigen Aktivität, auch wenn diese primär aus einer passiven, zulassenden Haltung besteht. Dieser Grundgedanke Friedrich Schleiermachers hat Konsequenzen für den Prozeß der Aneignung der Religion, und an dieser Stelle seiner Reden äußert der noch junge Schleiermacher pädagogische Ideen, die über den Bereich der Religion hinaus für all die Felder Gültigkeit beanspruchen können, die durch Erziehung auf etwas Wesentliches zielen.

Religion kann nicht gelehrt werden, und „Unterricht in ihr (ist) ein abgeschmacktes und sinnleeres Wort.“ (102f) Jeder Mensch wird mit einer „religiösen Anlage geboren“, die nicht gestört, „unterdrückt, gesperrt und verrammelt“ (105f) werden darf, sondern sie muß sich entfalten können, damit sie den Weg weisen wird, wie dieses Kind auf seine Weise Religion entwickeln kann. Zu diesen religiösen Anlagen kommt die frühkindliche Erlebnisweise hinzu, die dem Kind ein besonderes Verlangen nach „dem Wunderbaren und Übernatürlichen“ (107f) gibt, denn jedes kleine Kind wird neben dem Einleben in seine faktische Welt stark von allem angezogen, was phantastisch zu sein verspricht. Diesem Verlangen des Kindes muß etwa durch geeignete Geschichten und Erzählungen Nachschub gegeben werden, damit dieser Mechanismus nicht abgeblockt, sondern weiter erhalten wird, denn mit diesem Glauben an das Wunderbare und Übernatürliche ist das Kind schon nahe an der Religion. Im Grunde ist durch vorsichtige „Pfleger der Religion“ nur noch die kindliche „Täuschung, das Unendliche gerade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesetzte außerhalb dessen zu suchen“ (107f) zu beseitigen, damit das Kind sich dem religiösen Selbstleben zuwenden kann.

Das dritte, was zu der religiösen Anlage und der spezifisch kindlichen Erlebnisweise des Wunderbaren hinzukommt, ist ein bestimmtes Verhältnis von „Meistertum und Jüngerschaft“. Wenn auch die religiöse Anschauung selbst und noch mehr natürlich das auf ihr folgende Gefühl nicht lehrbar ist, so kann man von denen, die über religiöse Erfahrungen verfügen, doch wichtige Wegweiser erhalten, auf welchen Pfaden man selbst zu seiner Religion finden kann. Dieses Verhältnis zwischen Meiser und Jünger ist kein autoritäres, eigentlich ist es noch nicht einmal ein erzieherisches, denn es kehrt dessen Perspektive um: die Jünger sind nicht Jünger, „weil ihr Meister sie dazu gemacht hat; sondern der ist ihr Meister, weil sie ihn dazu gewählt haben.“ (104f) Der Meister kann in seinen Jüngern die Religion „aufregen“, aber er kann sie nicht bestimmen, und er kann die „Jünglinge“ nicht gegen ihren Willen festhalten: „Sobald der heilige Funke aufglüht in einer Seele, breitet er sich aus zu der freien und lebendigen Flamme, die aus ihrer eignen Atmosphäre ihre Nahrung saugt.“ (104f)

Aus dieser dreifachen Bestimmung des Bildungsprozesses zur Religion, bei der vor allem die Freiheit und Selbsttätigkeit der Kinder und Jugendlichen betont wird, folgt eine heftige Kritik an der Erziehungswirklichkeit, die Friedrich Schleiermacher vor allem an der Aufklärungspädagogik festmacht. Schon die ersten Anlagen werden verschüttet, so daß die Selbstentfaltungskräfte des Kindes nicht zum Tragen kommen können, vor allem weil „die Wut des Verstehens den Sinn gar nicht aufkommen läßt“ (105f). Die kindliche Phantasiekraft wird unterdrückt, indem alles, was das Kind lernt und tut, eine Bedeutung haben muß, die auf das gegenwärtige bürgerliche Leben bezogen ist. Absicht und Zweck muß alles sein, sie (die Kinder) müssen immer etwas verrichten ... das Was und Wie liegt ihnen (den Erwachsenen) zu weit, denn sie meinen, es besteht nur in dem Wohin und Wozu, in welchem sie sich ewig herumdrehen“ (108f). Eine auf oberflächliches Verstehen, moralische Belehrung, tugendhaftes Verhalten und praktische Nutzanwendung im täglichen Leben abzielende Erziehung kann aber nur verhindern, daß der natürliche Sinn des Kindes für das „Höhere“ unterdrückt wird. Religion, aber auch Kunst, Sittlichkeit und Wissenschaftlichkeit können so nicht entstehen. Das Ganze, das Universum, gerät aus dem Blick in einer Welt, in der nur noch die kleinkarierte Sorge um das Überleben, der Erfolg im Beruf und die bürgerliche Moral zählen.

 

Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und selbst eine machen könnte.“ (92f) - Solche Sätze sind nicht gerade dazu angetan, den Beifall der Kirchenoberen für den jungen Herrn Pfarrer herauszufordern. Die Vorgesetzten reagieren mit Verweis auf diese Schrift, und aus ihrer Sicht heraus ist dies auch verständlich. Der Oberkonsistorialrat Sack, ein Freund der Familie Schleiermacher und Friedrich selbst durchaus gewogen, schreibt, er halte das Buch „für eine geistvolle Apologie des Pantheismus“ und ein Mann mit diesen Ansichten könne kein „redlicher Lehrer des Christentums“ (Biographie, S. 65ff) sein, weil Schleiermacher die Vorstellung eines persönlichen, sich selbst bewußten, allmächtigen Gottes bestreite.

Die entscheidende Krise seiner Berliner Zeit ereilt Friedrich Schleiermacher jedoch von einer persönlichen Seite her. Er verliebt sich in die Frau eines Kollegen, die unglücklich verheiratet ist. Friedrich geht so weit, daß er Eleononre angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Ehe sogar zur Scheidung rät und sich selbst als neuen Ehemann anbietet. Eleonore schwankt lange Zeit, schließlich zieht sie aus der gemeinsamen Wohnung mit dem Ehemann aus, kehrt dann jedoch weder zurück. Doch zwischenzeitlich hat Friedrich Schleiermacher auf Grund der persönlichen Krise Berlin verlassen und ist nach Stolp in Pommern als Hofprediger gegangen. Die räumliche Distanz soll ihm den unerträglichen Konflikt erträglicher machen, aber auch die Frau zu einer Entscheidung motivieren. Er hofft immer noch auf eine Verbindung, muß dann aber an dem neuen Lebensort erfahren, daß die Auserwählte ihre moralischen Bedenken gegenüber der Scheidung nicht hat überwinden können und sich gegen Friedrich entschieden hat. Sein Leben ist jetzt „hoffnungslos“ und sein Inneres „zerstört“. Hinzu kommt, daß die Bedingungen in Stolp ungünstig sind, es fehlen die Freunde, und er versucht alsbald eine neue Stelle zu finden. Nach einigen Absagen erhält der 36jährige schließlich einen Ruf an die Theologische Fakultät der Universität Halle.

·      Halle und Berlin

Der 36jährige ist froh, durch den Ruf als Professor für Theologie an die Universität Halle, seine ehemalige Studentenstadt, der beruflich und persönlich unbefriedigenden Situation in Stolp entfliehen zu können, auch wenn er als Reformierter an der lutherisch geprägten Theologischen Fakultät und als „Freund der Romantiker“ an der ungebrochen vom Geist der Aufklärung beherrschten Universität eher ein Außenseiter ist. Langsam kann er sich eine gesicherte bürgerliche Existenz aufbauen, wenngleich dies erst endgültig durch die Übersiedelung nach Berlin gelingt. Der Wechsel von Halle nach Berlin hat politische Gründe: Napoleon hat Halle besetzt und die Stadt zu dem Königreich Westfalen geschlagen. Der Preuße Friedrich Schleiermacher, der vor dem Einmarsch Napoleons auch von der Kanzel aus zum Widerstand aufgerufen hat, kann nicht länger bleiben.

Aktiv nimmt Friedrich Schleiermacher an den Plänen zur Gründung der neuen Berliner Universität teil. Im Sinne des Kreises der Neuhumanisten um Wilhelm von Humboldt fordert er eine Universität, die nicht in erster Linie an der Berufsausbildung orientiert ist, sondern an der allgemeinwissenschaftlichen Bildung der Studenten, die zum Selberdenken gebracht werden sollen. Die Universität muß dabei unabhängig vom Staat sein, um die Freiheit des Geistes verwirklichen zu können. Nur eine so konzipierte Universität kann für den Staat, der an Reformen in allen gesellschaftlichen Bereichen orientiert ist (und das mußten die damaligen Staaten in Deutschland, um den Modernisierungszwängen angesichts des politischen und militärischen Vorsprungs des Frankreichs der Revolution und Napoleons entsprechen zu können), den Dienst leisten, der geboten ist. 1810 wird Friedrich Schleiermacher Professor an der Universität Berlin, gleichzeitig übt er das Amt des Predigers an der Berliner Dreifaltigkeitskirche aus, und 1811 wird er Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.

Zu diesem doppelten Arbeitspensum kommt noch eine bildungspolitische Beratertätigkeit hinzu: zunächst für die Sektion Kultus und Unterricht im Innenministerium, dann in dem neugeschaffenen eigenständigen Kultusministerium beteiligt er sich an der Erstellung von Gutachten, durch die das gesamte Bildungssystem des preußischen Staates modernisiert werden soll. Friedrich Schleiermacher ist aktives Mitglied der Patriotenpartei, die durch eine Reform des Preußischen Staates im Sinne liberaler Ideen für die Neugestaltung ganz Deutschlands arbeiten will. In den Befreiungskriegen erreicht diese Bewegung ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr rasches, vorläufiges Ende durch die Epoche der Restauration. Zwar erringen die Bürger den Sieg gegen Napoleon, aber die alten Machteliten sehen keine Veranlassung, die Versprechen einer Verfassung und vorsichtigen Demokratisierung zu halten. Statt dessen sehen sie in einem Zurück zu den alten Zeiten monarchischer und aristokratischer Machtvollkommenheit ihr Ziel.

Friedrich Schleiermacher gerät so auf die andere, unterlegene Seite der politischen Auseinandersetzung. Er wird denunziert, bespitzelt und einmal sogar aufs Polizeipräsidium vorgeladen. Daß er als politischer Berater im Ministerium abgesetzt wird, ergibt sich selbstverständlich aus dieser Lage. Doch das Ansinnen, ihn aus dem Amt des Professors der Universität zu vertreiben, mißlingt. Er ist in der Zwischenzeit zu einem arrivierten Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaft geworden, und als überzeugter Preuße läßt er keinen Zweifel an seiner Loyalität zu dem preußischen König. Auch als Theologieprofessor und Prediger ist er in der Kirchenpolitik nicht ohne Einfluß. An den Bestrebungen zu einer Union der lutherischen und reformierten Kirche (der König will sie, weil er als lutherischer Christ gemeinsam mit seiner reformierten Ehefrau gemeinsam das Abendmahl feiern will) nimmt Friedrich Schleiermacher aktiven Anteil.

Die beruflichen Stationen und politischen Einflußchancen Friedrich Schleiermachers weisen Höhen und Tiefen auf. Dies gilt auch für sein privates Leben, worauf wir - diesen Abschnitt abschließend - noch kurz eingehen wollen. Es war noch in Halle, wo Friedrich Schleiermacher herzlichen Anteil an der Ehe der Freunde Ehrenfried und Henriette von Willig gewonnen hatte. Deren erstes Kind wird geboren und das zweite ist im Bauch, als der junge Vater stirbt. Henriette sucht Trost bei Friedrich, der dem „armen lieben süßen Kind“ diesen als ihr „Vater“ (in Biog., 88/90) gerne gibt, und angesichts des Altersunterschiedes von 21 Jahren mag eine solche Wortwahl gerechtfertigt sein. Doch es wird schnell mehr als Beistandschaft aus der Beziehung. Bereits ein Jahr später verloben sich die beiden, inzwischen ist der jüngste Sohn aus der vorangegangenen Ehe der Frau geboren, und man hat ihm den Namen des leiblichen Vaters „Ehrenfried“ gegeben. Nochmals ein Jahr später heirat der vierzigjährige Professor die neunzehnjährige Witwe.

Neben den beiden Stiefkindern werden noch vier eigene Kinder in der Ehe zwischen Henriette und Friedrich geboren, drei Töchter und ein Sohn. Der letzte, Nathanael, erleidet ein besonderes Schicksal: er stirbt neunjährig, und Friedrich Schleiermacher hält selbst die Beerdigungsansprache. Es ist sein 61. Geburtstag. „Es kostete ihn eine fast übermenschliche Anstrengung, die von Tränen und von tiefstem Herzweh erstickte Stimme zum Sprechen zu bringen“ (Biog., S. 111f), so schreibt sein Stiefsohn später. Die Traueransprache vermittelt dem Leser bis heute die Tiefe der Erschütterung des Vaters, und die existentielle Erfahrung läßt ihn das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern klar sehen: Kinder sind „teure, von Gott uns anvertraute Pfänder, für welche wir Rechenschaft zu geben haben“ (31). Doch sie sind nicht nur eine Pflicht, sondern  gleichermaßen „ein unmittelbarer Segen für das Haus; sie geben leicht ebensoviel als sie empfangen; sie erfrischen das Leben und erfreuen das Herz“ (ebenda). Aber gerade weil er so viel Freude an dem Jungen hatte, muss er alle voreiligen, auch scheinbar religiös begründeten Trostgedanken von sich weisen, die die Tiefe des Schmerzes nicht treffen können. Erst der Glaube, der nicht in konkreten Bildern Ausflucht sucht, sondern der in die Tiefenschicht hineinragt, in der auch der Schmerz seinen Grund hat, mag Halt geben. Mit liebevollen Worten charakterisiert der Vater-Pfarrer den Sohn, und er dankt allen, die dazu beigetragen haben, daß das Leben des Sohnes hier auf Erden lebensvoll war. Er schließt mit einer „christlichen Ermahnung“, mit der der tote Sohn den Überlebenden zurückgeben kann, war er von anderen empfangen hat: Es gelte zu lernen, angesichts der Möglichkeit des raschen Todes das Leben auf der Erde sich und den anderen nicht durch nichtige Kleinigkeiten zu verderben, sondern man soll die Ratschläge beherzigen: „Laßt uns doch uns alle untereinander lieben als solche, die uns bald, und ach, wie bald! könnten entrissen werden.“ (34) Und: „Laß uns alle immermehr zu der Weisheit reifen, die, über das Nichtige hinwegsehend, in allem Irischen und Vergänglichen nur das Ewige sieht und liebt“. (35)

Friedrich Schleiermacher ist über den Tod des jungen Sohnes nicht hinweggekommen. Traurigkeit bestimmt den Rest seines Lebens, und knapp viereinhalb Jahre später stirbt er an einer Lungenentzündung. Den Ruhm, den er sich zu Lebzeiten erworben hat, dokumentiert die Tatsache, daß zwanzig- bis dreißigtausend Menschen die Straßen Berlins säumen, als der Sarg Friedrich Schleiermachers zu seiner letzten Ruhestätte getragen wird.

b) Theorie der Erziehung

Noch stärker als durch seine schriftstellerischen Arbeiten hat Friedrich Schleiermacher auf seine Zeitgenossen durch seine mündliche Rede gewirkt. Dies gilt für seine Predigttätigkeit, die er regelmäßig wahrnahm. Seine Gottesdienste waren späterhin in Berlin regelrechte gesellschaftliche Ereignisse, die die intellektuelle Elite versammelte. Dabei verlangten seine Predigten den Zuhörern große geistige Fähigkeiten ab, so dass Gottesdienstbesucher, die eher schwärmerische Erbauung und religiöse Erweckung suchten, sich abgestoßen fühlten. Zur letzteren Gruppe gehörte auch Schleiermachers eigene Ehefrau. Zweites Betätigungsfeld der rednerischen Faszinationskraft Schleiermachers waren seine Vorlesungen an der Universität. Neben seinem Hauptarbeitsgebiet, der Evangelischen Theologie, handelte er eine breite Palette philosophischer Themen ab, und auch die Psychologie und Pädagogik gehörten zu seinem Vorlesungskanon. Bei seinen universitären Vorträgen - und auch bei den Predigten war es nicht anders - fixierte er kein schriftliches Manuskript, sondern in seiner Studierstube dachte er über den zu behandelnden Gegenstand intensiv nach und verfertigte ein knappes Exposé, das als roter Faden für die Vorlesung diente. Beim mündlichen Vortrag konnte es dann passieren, dass er vom eigenen Gedankengang hingerissen abschweifte, und einige Male müssen die „Pferde mit ihm durchgegangen“ sein.

Die Pädagogikvorlesung Friedrich Schleiermachers, die wir jetzt behandeln wollen, ist auf diese Weise entstanden: Er hat sie mündlich vorgetragen, und eifrige Studenten haben Mitschriften davon erstellt. Aus einer vergleichenden Analyse mehrerer solcher Zusammenfassungen sowie aus einer erhalten gebliebenen älteren Zusammenfassung Schleiermachers selbst ist das das Buchmanuskript der „Theorie der Erziehung“ entstanden, das uns heute vorliegt. Obwohl der Text im großen und ganzen gut lesbar ist, schon weil ihm eine streng logische Gliederung zugrunde liegt, merkt man ihm seine Entstehungsgeschichte an. Er ist teilweise sehr formal und hält die zusammenfassenden Kernaussagen additiv hintereinander fest, und an einigen Stellen würde man sich etwas mehr „Fleisch“ an das Gerippe wünschen. Die Vorlesungen sind intellektuell hoch interessant, aber die vorliegende Darstellung ist nicht immer ein durchgehendes Lesevergnügen. Trotz dieser etwas ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte: die Pädagogikvorlesung Schleiermachers ist wohl der Text des 19. Jahrhunderts, der für die Pädagogik als Wissenschaft am wichtigsten geworden ist. Über den Philosoph Wilhelm Dilthey hat er auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik des 20. Jahrhunderts gewirkt, und damit die Strömung erziehungswissenschaftlichen Denkens beeinflusst, die trotz mehrfacher Konkurrenten aufs Ganze gesehen für dieses Jahrhundert die wichtigste war. Doch genug der Vorbemerkungen, springen wir in die Inhalte der Theorie.

·      Denkwege

Doch bevor wir diese verstehen können, erscheint es hilfreich, einen knappen Exkurs voranzustellen, um die Denk- und Argumentationslinien Friedrich Schleiermachers verstehen zu können. Stellen wir uns vor, wir seien nach einem Umzug vor die Aufgabe gestellt, unsere Bücher in die neue Regalwand einzusortieren. Unter pragmatischen Gesichtspunkten könnten wir dies nach der Größe der Bücher tun. Dies würde uns zwar die bestmögliche Ausnutzung der vorhandenen Stellfläche sichern, doch wenn wir über eine Vielzahl von Büchern verfügen, würde es auf die Dauer sehr unpraktisch sein, schnell das gesuchte Buch zu finden. Den gleichen Nachteil hätte die Aufteilung nach Farben, durch die vielleicht eine dekorative Schrankwand entstünde, aber kein geordnetes System der Einordnung. Also müssen wir in unserem Kopf ein inhaltlich bedeutsames Einteilungsprinzip entwickeln. Dies könnte etwa so aussehen: Wir gliedern die Gesamtmenge in Fach- und belletristische Bücher, die Fachbücher dann in unmittelbar pädagogische und solche der Hilfsdisziplinen. Die letzteren teilen wir ein in psychologische und soziologische und die ersteren nochmals in allgemeine und pädagogische Psychologie. Für die letzteren bilden wir entsprechend unseres Interessenschwerpunktes die Gruppe der psychoanalytischen Titel und die Bücher über die kognitive Entwicklungspsychologie. Bei letzterer unterscheiden wir schließlich nochmals die Sekundärdarstellungen und die Originalschriften Jean Piagets. Wenn wir für jede dieser Teilungsebenen die Aufteilung bis zum Schluss durchführen, können wir schließlich für jedes Buch aus unseren Bücherkisten genau das Regalbrett bezeichnen, wo es zu stehen kommen muss. Mit unserem Einteilungssystem haben wir gedanklich Schneisen in unseren Wust von Büchern geschlagen, ohne diese wären sie ein chaotischer Haufen, die nicht einzustellen wir wüssten, wollten wir nicht zu den äußerlichen Kriterien der Größe oder Farbe Hilfe nehmen. Unser Einteilungssystem ist dabei nicht „objektiv“ in dem Sinne, dass es in den „Objekten“, hier den Büchern, steckte, sondern es ist „subjektiv“, weil wir als Subjekte es in unserem Kopf konstruiert haben. Getragen wird unser Büchereinteilungssystem von einem praktischen Interesse: Wir wollen für unsere Bücher den notwendigen Platz reservieren, um ein möglichst rasches Wiederauffinden zu ermöglichen. Der Chemiker, der Freund historischer Kriminalromane: sie würden zu anderen Aufteilungen kommen, und selbst die ausführliche Systematik der großen wissenschaftlichen Bibliothek taugen für deren Bedürfnis, sie auf unsere Privatbibliothek anzuwenden wäre töricht.

Wir haben die Aufgabe der Büchereinteilung hier als Beispiel für die Denkweise Friedrich Schleiermachers referiert. Vergleiche hinken bekanntlich, doch damit wollen wir uns nicht aufhalten, sondern vielmehr auf das Illustrierende hinweisen. Um das ganze Gebiet der Erziehung - und betrachten wir alle Einzelheiten, die hier hin gehören, ist es ein großes Chaos, gegen das unsere unsortierten Bücherkisten noch leicht überschaubar sind - zu gliedern, schlägt Friedrich Schleiermacher gedankliche Schneisen, die uns helfen sollen, so zentrale Fragen zu beantworten wie: Was ist Erziehung und was kann sie sein? Woraufhin und wie soll erzogen werden? Wie hängt die Erziehung zusammen mit dem Menschen - dem einzelnen und der Menschheitsgesellschaft? Friedrich Schleiermacher denkt in etwa so: Er stellt sich eine Frage, und er versucht sich einer Antwort anzunähern, indem er das Gebiet in zwei Bereiche aufgliedert. Danach ergibt sich eine Präzisierung der Fragestellung für die zwei Teilbereiche, die wieder durch eine weitere Aufgliederung in ein Einerseits und Andererseits oder Entweder oder in Angriff genommen wird. Dieses Verfahren wird ständig fortgesetzt, bis man zu Antworten gelangt, mit denen etwas anzufangen ist. Das Entscheidende für uns heute ist nun dabei, dass es weniger darauf ankommt, ob die Antworten Friedrich Schleiermachers richtig oder falsch sind, weil in vielen Fällen jeder Erzieher in der Praxis die Frage für sich selbst beantworten muß. Wirksam ist die pädagogische Theorie vielmehr durch die Art ihrer Fragestellung. Indem Friedrich Schleiermacher seine Schneisen in das unüberschaubare Gebiet der Erziehung schlägt, wirkt er auf diejenigen, die sich mit seiner Theorie beschäftigen. Auch wenn letztere in ihrer pädagogischen Praxis eine andere Antwort finden wird und muss, die Art der Fragestellung hat ihren Kopf beeinflusst, indem durch die Teilung bestimmte Dinge hervorgehoben werden und andere als nebensächlich zurückbleiben.

Ziehen wir nochmals unser Büchereinteilungssystem als Vergleich heran. Wir sagten, es beruhe auf einem praktischen Interesse, hier: unsere Bücher aus den Kisten in einer sinnvollen Ordnung in die Regale zu bekommen. Auch das Gliederungssystem für den Bereich der Erziehung, das Friedrich Schleiermacher uns vorlegt und das wir gleich betrachten wollen, verfolgt ein praktisches Interesse, und angesichts des charakteristischen Denkweges wäre es ein Wunder, wenn wir hier nicht eine Zweiteilung - oder wie er es mit Vorliebe nennt: „Duplizität“ - erwarten würden. Indem der angehende Pädagoge sich mit der Theorie der Erziehung beschäftigt, soll er fähig werden, zwei Aufgaben, die ihm „obliegen“ zugleich wahrnehmen zu können: Er soll die neue Generation der Erzieher bilden, die so wie die Väter und Vorväter mithelfen, aus „jung alt zu machen“ (Bernfeld), er soll sich also in das fügen, was er als erzieherisches System vorfindet. Gleichzeitig aber soll er mithelfen, die Erziehung selbst zu verbessern, denn wenn Erziehungstheorie diese Aufgabe nicht hätte, würden wir unsere Kinder immer noch so nach eigenem Gutdünken behandeln wie ehemals. Funktionieren innerhalb des gegebenen Systems und Mitarbeit an der Verbesserung des Vorhandenen sind die beiden gleichberechtigten, wenngleich auch manchmal widersprüchlichen Aspekte der pädagogischen Aufgabe. Dieses praktische Erkenntnisinteresse hat eine für Friedrich Schleiermacher zentrale ethische und anthropologische Dimension: der Mensch ist nicht nur sinnliches Triebwesen, das auf immer gleichen Bahnen seinen Weg verfolgt, sondern er hat die Kraft seines Denkens, so dass er überlegen kann, was sein soll, und er hat damit die Kraft seiner Willensfreiheit, um das, was ist, so umzugestalten, dass es dem, was sein soll, entspricht. Dies geht nicht auf einmal, der Mensch findet nicht in einem Sprung von der Hölle in das Paradies, sondern es bedarf der kontinuierlichen Arbeit, die langsam, ausgehend von der momentanen Gegenwart sich dem annähert, was sein kann. Die Pädagogik hat an diesem Prozess zum Besseren mitzuwirken: dies wird  zu zeigen sein. Dieser Doppelcharakter der Antworten Friedrich Schleiermachers - anknüpfen an das, was ist, und mitarbeiten an dem, was sein soll - bedingt es, dass seine Theorie der Erziehung konservative und reformerische Impulse gleichzeitig enthält.

·      Erziehungstheorie

Um die Grundlagen einer Erziehungstheorie entwickeln zu können, bedarf es einer näheren Bestimmung der beiden Wortteile: „Erziehung“ und „Theorie“. Beginnen wir mit dem letzten. Zwei Kriterien müssen erfüllt sein, um von einer wissenschaftlichen im Gegensatz zu einer alltagstheoretischen Aussage sprechen zu können: die wissenschaftliche Aussage muss allgemeingültig sein, d.h. sie sagt etwas Generelles aus, das nicht durch eine unübersichtliche Zahl von Ausnahmen eingeschränkt wird, und sie muss in bestimmter Weise praxisrelevant sein (der Satz: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt wie es ist!“ ist sicherlich immer gültig, aber anfangen lässt sich mit ihm nichts). Im 20. Jahrhundert hat es einen anhaltenden Streit gegeben, ob die Erziehungswissenschaft eine empirische oder eine philosophische sein müsse. Auf die Frage, die diesen manchmal bis zum Glaubenskampf ausgearteten Streit berührte, geht auch Friedrich Schleiermacher ein. Einerseits ist es für ihn auf Grund des Allgemeingültigkeitskriteriums völlig klar: die Wissenschaft von der Erziehung ist eine theoretische, mit seinem Wort: eine „spekulative“, weil die entscheidende Frage, woraufhin der Mensch zu erziehen sei, nur unter Bezugnahme auf die Ethik als entscheidende Leitwissenschaft beantwortet werden kann. Empirie, die Beobachtung der Erziehungswirklichkeit, ist nur dazu in der Lage, vereinzelte Gegebenheiten ans Licht zu fördern, wobei auch aus 1000 Beobachtungen nicht geschlossen werden kann, dass das auf dieser Basis gefundene Gesetz auch noch im 1001 Falle Geltung haben wird. Auch lässt sich aus der Tatsache, daß in der Wirklichkeit faktisch etwas so ist, nicht schließen, dass es so sein müsse. Wissenschaftliche Aussagen lassen sich so nicht herausfinden. So sehr Friedrich Schleiermacher einerseits also für den philosophischen Charakter der wissenschaftlichen Pädagogik plädiert, so stellt er jedoch andererseits auch fest, dass eine „für alle Zeiten und Räume“ (51f) aufgestellte Theorie zwar zu sehr allgemeinen, aber auch zu sehr inhaltsleeren Aussagen kommen müsste (wie die Geschichte mit dem krähenden Hahn oben). Also gilt es in der Erziehungswissenschaft auch, empirisch zu ermitteln, was ist und wie die Gesellschaft aussehen wird, auf die hin das Kind erzogen wird. Diese Erwägung des Einerseits-Andererseits bringt Friedrich Schleiermacher zu der „Formel“ (mit diesem Wort bezeichnet er seine zusammengefassten Denkergebnisse): „Die Theorie der Erziehung ist ... die Anwendung des spekulativen Prinzips der Erziehung auf gewisse gegebene faktische Grundlagen.“ (51f)

Wissenschaft ist kein Selbstzweck für weltenthobene Geister, sondern sie ist in ihrer Verpflichtung bezogen auf die Praxis, im Falle der Erziehungswissenschaft auf die gesellschaftliche Praxis der Erziehung. Menschen haben ihre Kinder schon erzogen, bevor sie das erste Mal über das nachdachten, was sie taten, und sie würden auch jetzt ihr Kind erziehen, wenn es keinen Wissenschaftler gäbe, der über dieses Gebiet forschen würde. Anders herum können diese beiden Sätze nicht formuliert werden: wenn es die Praxis der Erziehung nicht gäbe, gäbe es auch keine Theorie der Erziehung. Die Praxis hat also die Vorrangstellung vor der Theorie. Die Wissenschaft hat auch nicht die Aufgabe, dem praktizierenden Erzieher Vorschriften zu machen, was er zu tun und zu lassen habe, sie vermittelt keine Rezepte und kann nicht den Anspruch erheben, abgesicherte und nachzuahmende Ratschläge zu geben. Die Wirksamkeit der Theorie für die Praxis besteht vielmehr in ihrer Aufklärung: der sich die Erziehungstheorie aneignende Pädagoge weitet seinen Reflexionshorizont aus, und dieser weitere Blick wird ihm erhalten bleiben, wenn er in der Praxis vor einem erzieherischen Problem steht, so daß er nicht nur aus einer momentanen Gefühlsstimmung heraus reagieren muß. Nicht eine „Erziehungstechnologie“ meint also die Schleiermachersche Forderung an die Theorie, sie müsse „anwendbar“ für die Praxis sein, sondern ihre Wirkungsweise ist nur indirekt, vermittelt über den Kopf des Pädagogen, der seine eigene, persönlich verantwortete Entscheidung treffen mß. Eine solche Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis kann entlastend sein - für den Wissenschaftler ebenso wie für den Praktiker.

„Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, und sie ist um so unvollkommener, je weniger gewußt wird was man tut, und warum man es tut. Es muß also eine Theorie geben, die von dem Ver­hältnis der älteren Generation zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt, Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf diese Grundlage des Verhält­nisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung auf die andere obliegt, bauen wir alles was in das Gebiet dieser Theorie fällt." (S. 38f)

Neben der Angabe der Kriterien von Wissenschaftlichkeit steht die Bestimmung des Zentralwortes jeder Pädagogik: „Erziehung“. Der erste Satz der Vorlesung von Friedrich Schleiermacher lautet lapidar: „Was man im allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzen.“ (36) Eine Mutter erzieht ihr Kind, wenn sie ihm beibringt, nach rechts und links zu schauen, bevor es die Straße überquert, eine Erzieherin erzieht das Kind im Kindergarten, wenn sie ihm die Technik vermittelt, wie man die Hände zu waschen habe, ein Lehrer erzieht das Kind in der Schule, wenn er ihm das ABC lehrt. Unbestreitbar Einzelbeispiele von Erziehung, aus denen sich aber kein Erziehungsbegriff entwickeln ließe, der wissenschaftlich fruchtbar wäre. Keine Mutter erzieht ihr Kind nach wissenschaftlichen Grundsätzen, auch die nicht, die von Beruf Pädagogikprofessorin ist, selbst wenn einige moderne Elternratgeber sich zur Verkaufsförderung gerne das Prädikat „wissenschaftlich“ geben. Das, was an Einzelentscheidungen auf die Erzieherin und den Lehrer zukommt, geschieht in einer solchen Blitzesschnelle, dass eine wissenschaftliche Analyse nicht möglich und hilfreich wäre, und die professionelle Erziehung enthält so viele unterschiedliche Situationen, dass eine Wissenschaft, die Allgemeines aussagen will, nicht darauf bauen kann. Der Ausgangspunkt eines für die Theorie fruchtbaren Erziehungsbegriffes liegt für Friedrich Schleiermacher vielmehr in einem historisch-gesellschaftlichen Tatbestand: dem kontinuierlichen Wechsel der Generationen. Die Teilung in „die ältere und die jüngere Generation“ gibt der ersten ein wichtiges Aufgabenfeld: sie muss dafür sorgen, daß die Nachwachsenden an den Stand gesellschaftlicher Fähigkeiten und Einsichten, der zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt ist, angepasst werden, um die Stafette von der Elterngeneration übernehmen zu können. Gleichzeitig muss sie dafür sorgen, dass in den Jüngeren Möglichkeiten angelegt werden, dass sie den gesellschaftlichen Stand insgesamt verbessern können. Denn wie der einzelne Mensch sich entwickelt, so entwickelt sich auch die Menschheit insgesamt, und durch die Erziehung kann mitgeholfen werden, daß dieses geschichtlich-gesellschaftliche Niveau nicht „absinkt“, sondern „steigt“. Erziehung ist für Friedrich Schleiermacher so die bewusste Tätigkeit der älteren Generation für die jüngere, damit diese in die Lage versetzt wird, ihre Angelegenheiten für sich zufriedenstellend und zum Wohle der Gesellschaft zu regeln. Diese „Einwirkung“ der älteren Generation auf die jüngere ist eine „sittliche Aufgabe“, die sich an dem „Guten“, das es zu erreichen gilt, orientiert ist, die Erziehungstheorie ist somit eine an der „Ethik“ orientierte Wissenschaft.

Wo immer Menschen sozial miteinander verbunden sind, wirken sie aufeinander ein, beeinflussen sich gegenseitig, verändern sich entsprechend der Anstöße anderer, so dass „Einwirkung“ der einen auf die anderen bis zum Tode des Menschen andauert. Die Spezifität der erzieherischen Einwirkungen im Vergleich zu anderen ist die, dass Erziehung in einem Verhältnis der Ungleichheit geschieht, das sich in Gleichheit auflösen soll und wird. Das Kind ist von dem Erwachsenen abhängig, es ist schwächer als er, so dass die Einwirkung der beiden aufeinander keine Wechselseitigkeit ist, sondern auf Seiten der Erwachsenen stärker als auf der Seite des Kindes. Auch das Verhältnis des Sklaven zu seinem Herren ist ein Verhältnis der Ungleichheit, aber im Unterschied zum pädagogischen bleibt diese das Leben lang bestehen, wenn nicht eine politische Umwälzung eine Veränderung herbeiführt. Die „Natur“ des pädagogischen Verhältnisses ist es dagegen, dass es sich auflöst, dass am Ende der Jugendliche erwachsen und gleichberechtigt mit der Elterngeneration wird. Dabei ist dieser Prozess ein kontinuierlicher: das Neugeborene ist vollkommen von den Eltern abhängig, noch nicht einmal die elementarsten Bedürfnisse kann es selbst befriedigen; je mehr aber seine Fähigkeiten sich entwickeln, desto unabhängiger wird es, so dass die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sich als eine Geschichte zunehmender Selbständigkeit darstellt. Weil Friedrich Schleiermacher die gesellschaftlichen Formen gleichberechtigten Handelns unabhängiger Individuen als „politisches“ Handeln bezeichnet, kann er folgende zusammenfassende Definition der Erziehungswissenschaft geben: „Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhangende, aus ihr abgeleitete angewandte Wissenschaft, der Politik koordiniert.“ (41f)

Die Erzieherin überlegt sich, mit dem ständig unruhigen und unzufriedenen Franz ein Gespräch zu führen, um ihm einen Weg aus seiner schlechten Lage zu weisen. Ort und Zeit ihrer Intervention überlegt sie sich, und auch die Worte, die sie sagen wird, hat sie sich in ihrem Kopf zurechtgelegt, ebenso die Gründe, warum sie sich so verhalten wird, wie sie es vorhat. Die gleiche Erzieherin kann zu dem Franz, als er sie wieder einmal nervt, spontan ausrufen: „Nun chaote hier mal nicht so rum!“ Das gleiche kann man nicht nur für das individuelle Erziehungsverhältnis sagen, sondern auch für das gesellschaftliche erzieherische Handeln: Der Spielplatzausschuss des Rates der Stadt überlegt, welche Spielgeräte für Kinder aus einem benachteiligten Wohngebiet wo aufgestellt und wie angeordnet werden sollen, um den dort wohnenden Kindern einen Bewegungsausgleich für die beengten Wohnverhältnisse zu verschaffen. Der Rat der gleichen Gemeinde kann den Bau einer Schnellstraße beschließen, die gerade einen Großteil der betroffenen Kinder von dem eigenständigen Besuch dieses neuen Spielplatzes ausschließt. In allen viel Beispielen handelt die ältere Generation in bezug auf die jüngere, das, was die erste tut, wirkt auf das Leben der zweiten unmittelbar ein. Aber der Unterschied zwischen dem ersten und dritten Beispiel im Vergleich zu dem zweiten und vierten ist der: die Reaktionen geschehen hier mit dem Bewusstsein der Erwachsenen, auf die Kinder einzuwirken, während dies Bewusstsein in den anderen Fällen nicht vorhanden ist. Die Erziehung wird von Friedrich Schleiermacher dann mit dem Begriff „pädagogisch“ charakterisiert, „wenn sie absichtlich sind“ (136), so dass sich das erzieherische Feld in „unabsichtliche“ und „absichtliche pädagogische Einwirkung“ (ebenda) teilt. Im 20. Jahrhundert hat man diesen Unterschied mit den Begriffen „funktionale und intentionale Erziehung“ bezeichnet.

Warum aber bedarf es neben den ungeplanten Reaktionen und Aktionen der Erwachsenen auf Kinder überhaupt der absichtlichen pädagogischen Handlung? Mit anderen Worten, was leistet die bewusste Erziehung, worin besteht ihre Bedeutung? Für Friedrich Schleiermacher ist es unbestreitbar, dass die Erziehung einen wichtigen Beitrag zum Erhalt und zur Verbesserung  der Gesellschaft leistet, und er fordert deshalb eine Pädagogik, die sich ihres großen Stellenwertes bewusst ist und nicht im Dickicht von Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten sich verstrickt. Die Bedeutung der pädagogischen erzieherischen Einwirkung steigt dabei, je weiter eine Gesellschaft entwickelt ist. Das Maß an Fähigkeiten in „primitiven“ Gesellschaften war geringer und das Sozialverhalten häufig durch unmittelbares Ausleben der Gefühle bestimmt, während es in unserer Gesellschaft einen großen Komplex von Fähigkeiten gibt, die die Kinder sich aneignen müssen, um in der Welt bestehen zu können; und das soziale Miteinander erfordert zunehmend die Bereitschaft und Fähigkeit, sich nicht nur der eigenen Bedürfnisse, sondern auch denen der anderen bewusst zu werden, um sie bei der eigenen Entscheidung berücksichtigen zu können. Dieser zunehmenden Komplexität kann nur eine Erziehung gerecht werden, die sich ihrer eigenen Handlungen bewusst wird, die ihre Ziele reflektiert und die geeigneten Erziehungsmittel auswählt. Pädagogik als Wissenschaft wird gesellschaftlich notwendig, weil der Teilbereich des erzieherischen Handelns quantitativ steigt und qualitativ immer mehr zur „Kunst“ wird. Bewusste Erziehung kann diesem wachsenden Anspruch gerecht werden, weil sie sich gegenüber der unbewussten Einwirkung auf Kinder durch die Merkmale des Zusammenhangs, der Vollständigkeit, der Stetigkeit und der Bewusstheit auszeichnet. Je bewusster die Erziehung wird, desto mehr gibt es einen Plan, der in die Fülle einzelner Handlungen eine Ordnung bringt, der über die Gesamtheit der notwendigen Hilfen für Kinder nachdenkt, der auf die Kontinuität der Entwicklungsschritte bei Kindern bedacht ist und der auch dem Kind das Bewusstsein vermittelt, dass das  Verhältnis des Erwachsenen zu dem Kind nicht zufälliges Reagieren auf Grund der momentanen Situation  ist, sondern absichtliches Handeln zum Wohle des Kindes. Mit diesem pädagogischen Plan ist im Sinne Friedrich Schleiermachers nicht ein pedantisches Schulcurriculum gemeint, aber darauf werden wir noch zu sprechen kommen.

·      Pädagogische Grundfragen

Friedrich Schleiermacher hat durch das Generationenverhältnis mit seiner Entwicklung von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit seinen Erziehungsbegriff begründet, er hat die Notwendigkeit aufgezeigt, dass mit der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität die Notwendigkeit der bewusst pädagogisch reflektierten Erziehungskunst steigt, in deren Zusammenhang die Wissenschaft von der Erziehung entsteht, und er hat mit den Stichworten „Allgemeingültigkeit“ und „Anwendbarkeit“ die wissenschaftstheoretischen Grundlagen fundiert. Was er in seiner Pädagogikvorlesung im folgenden tut, ist eine Heraushebung von zentralen Fragestellungen, denen jede Pädagogik sich zu stellen hat. Weil es ihm treffsicher gelungen ist, zentrale Dimensionen zu bezeichnen, die jede Erziehergeneration aufs Neue herausfordern, räumen wir seiner Darstellung hier breiteren Platz ein. Erich Kästner hat einmal geschrieben:

1. Die ethisch-anthropologische Frage: Allmacht und Ohnmacht der Erziehung

Egal wie die genetische Ausstattung eines Neugeborenen ist: läßt sich aus ihm alles machen, würde er nur in die geeignete Umgebung versetzt werden und würden die richtigen Trainingsprogramme angewandt - Albert Einstein, Wolfgang Amadeus Mozart, Boris Becker oder aber Al Capone, Adolf Hitler, ein nichtsnutziger gesellschaftlicher Schmarotzer? Und wenn das Erziehungsprogramm diese Macht hätte, darf sie dann diese Macht ausnutzen, und wer legt fest, welche soziale Position und damit Macht und Geld der einzelne bekommt? Oder ist mit den Erbanlagen bereits festgelegt, wer welche Fähigkeiten ausprägen oder nicht entfalten kann, wer welche Charaktereigenschaften entwickeln oder psychische Störungen erleiden wird, wer sozial erfolgreich, verträglich oder kriminell werden wird? Kann man also nur durch eugenische Maßnahmen wirken, während man nach der Befruchtung der Eizelle pädagogisch hilflos ist, nur möglichst schnell herausfinden kann, welches Potential ein jeder hat, um diesem den Raum zur Entfaltung zu geben? Wohin der Glaube an die „Zuchtwahl“ des Menschen führt, hat der Nationalsozialismus mit Brutalität vor Augen geführt. Heißt die Ohnmacht der Erziehung für die gesellschaftlichen Unterschichten: „Schuster bleib bei deinem Leisten“, und ergibt sich für die gesellschaftlichen Randgruppen (Kriminelle, Obdachlose, psychisch Kranke, Behinderte) die Konsequenz der Einschließung, Abschiebung und Verwahrung, weil sich bei ihnen ohnehin nichts ändern lässt?

Friedrich Schleiermacher beschäftigt sich mit diesen beiden für die Pädagogik zentralen Fragen, die er so formuliert: „Darf die Erziehung darauf ausgehen, alles aus dem Menschen zu machen was man etwa will; und Kann sie es der Natur der Sache nach.“ (46f) Für die zweite Frage stellt er für seine Zeit fest, dass sie sich auch mit Hilfe der Anthropologie nicht sicher beantworten lasse, und auch in unserer Zeit muss man sagen, dass trotz des Bemühens um wissenschaftliche Absicherung die Antworten mehr von vorweg entschiedenen ethisch-anthropologischen Grundannahmen abhängen, denn von einem empirischen Nachweis der Einflussnahme der Erziehung. Auch die als wissenschaftlicher Nachweis gern herangezogene Zwillingsforschung liefert keine Beweise: Ihre Zahlen werden je nach der getroffenen Vorentscheidung unterschiedlich interpretiert. In Zeiten des „pädagogischen Optimismus“ setzt man den Prozentanteil der Macht der Erbanlagen niedrig, die Erfolgschancen des erzieherischen Beeinflussungsprogramms hoch an, in Zeiten des „pädagogischen Pessimismus“ ist es umgekehrt. Die Zeiträume der Schwankungsbewegungen zwischen der einen und der anderen Position scheinen dabei immer kürzer zu werden, und das einzig Konstante in der Diskussion ist die Überzeugungskraft, mit der die jeweilige Position behauptet wird.

Auch die ethische Frage, ob die Erziehung, ihre große Einflusschance vorausgesetzt, überhaupt das Recht habe, aus den Kindern zu machen, was der Erwachsene will, lässt sich nicht so einfach beantworten. Das, was ethisch betrachtet das „Böse“ ist, darf die Erziehung nicht anstreben, das „Gute“ muss sie verfolgen. Dies verweist wieder darauf, dass für Friedrich Schleiermacher die Ethik die entscheidende Disziplin ist, aus der die Pädagogik hervorgeht. Doch eine gesellschaftstunabhängige Ethik gibt es nicht, und zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten werden die Antworten auf die Frage, was das „Gute“ sei, inhaltlich sehr verschieden gefüllt. Das einzige, was wir also haben, ist ein Negativkriterium: die Erziehung darf keine Ziele verfolgen und ihre Macht dahingehend benutzen, das Böse zu verfolgen.

In Bezug auf die beiden oben genannten Fragen kann Friedrich Schleiermacher aber noch eine weitere Antwort geben. Egal ob die Erziehung allmächtig oder ohnmächtig ist (oder wie immer wir die Prozentangaben zwischen Null und Einhundert verteilen, die Überspitzung verdeutlicht nur das Problem), es ist einleuchtend, dass die Eigenständigkeit der Kinder ein eigener Faktor ist, den es zu berücksichtigen gilt. Das Kind entscheidet selbst, wer es werden will, und keine Macht der Erziehung kann gegen diese Freiheit des Kindes sich durchsetzen, und ethisch ist einleuchtend, dass sie es auch nicht darf, aus dem Kind einen Menschen zu machen, der es selbst nicht sein will. Doch betrachten wir jetzt das Neugeborene in seinem Körbchen: Nicht nur, dass es uns nicht sagen und zeigen kann, wer er sein will, er selbst weiß es auch noch nicht, und erst im Prozess der Erziehung wird diese Eigenständigkeit sich ausprägen. Friedrich Schleiermachers zusammenfassende „Formel“ auf die beiden gestellten Fragen lautet dementsprechend: Erziehung ist eine Tätigkeit, „die im Anfange erregend, im Fortgange leitend, sich an die Idee des Guten anzuschließen habe, mit Rücksicht auf die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen.“ (50f) Wollten wir nämlich sagen, bevor die Eigenständigkeit des Kindes sich ausgeprägt und dem Erzieher sichtbar gemacht habe, dürften wir die Macht der Erziehung nicht zur Anwendung bringen, würde nicht nur wertvolle Zeit verloren gehen, sondern wir würden bis zum St. Nimmerleinstag warten müssen, weil sich ohne die Erziehung auch die Selbstentscheidungskraft des Kindes nicht entwickeln kann. An einem Beispiel gesagt: Wenn wir mit dem Musikunterricht warten wollten, bis sich die musikalische Begabung und der musikalische Wunsch des Kindes offenbaren würde, dann wäre selbst Johann Sebastian Bach nie das Musikgenie geworden, und wir hätten seine Selbstentwicklung mit der scheinbar das Kind respektierenden Haltung verhindert.

2. Die Zielfrage: Universelle und individuelle Erziehung

Nochmals der Blick auf das Neugeborene in seinem Körbchen. Auch wenn es jetzt vielleicht noch weit weg ist: eines Tages soll es sich selbständig in der großen, weiten Welt zurechtfinden, in ihr seinen Platz finden, um ein lebenswertes Leben führen zu können. Es soll einen Beruf haben, um sich ernähren und seine Fähigkeiten gestalten zu können, es soll politisch aktiv sein, sei es als Gestaltender oder nur als informierter Wähler, es soll in seinem Umfeld mithelfen, dass ein befriedigtes Gemeinwesen fortbesteht. Im Ganzen betrachtet: es soll die Stafette fortführen, soll in die Schuhe der Eltern und Erzieher schlüpfen, um deren Aufgaben zu übernehmen, wenn sie alt werden. Doch das ist nicht genug, denn würde der Heranwachsende nur „in getragene Schuhe schlüpfen“, gäbe es keine gesellschaftliche Weiterentwicklung, er könnte nur Wege gehen, die bereits ausgetreten sind. Also soll er auch fähig sein, das soziale Leben zu verbessern, für ein Mehr an Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit sich einzusetzen - für sich selbst und für andere. Diese Seite der Erziehung, die Übernahme vorhandener sozialer Rollen und ihre Weitergestaltung, wird häufig als „Sozialisation“ bezeichnet. Doch was den Bereichen der Zielsetzung der Pädagogik angeht, müssen wir noch eine zweite Seite betrachten: Der Neugeborene soll eine einmalige, unverwechselbare Identität entwickeln, denn es ist sein Leben, das er in dieser Welt lebt und das mit seinem Tode enden wird. Das sein Leben sinnvoll war, für ihn glücklich, ist seine einmalige Aufgabe. Der palästinensische Selbstmordattentäter, der bei dem Terrorakt sein Leben für die befohlene oder selbst eingesehene vermeidlich gute Sache des Staates opfert, erregt nicht nur aus politisch-sozialen Gründen unser Unverständnis, sondern auch wegen seiner Selbstaufgabe. Diese zweite Seite der Zielsetzung der Erziehung können wir mit „Individualisierung“ bezeichnen.

Auch Friedrich Schleiermacher betrachtet beide Dimensionen: „Das Geschäft der Erziehung (teilt sich) in die mehr universelle und die mehr individuelle Seite.“ (68) Die erste bezeichnet er häufig als „Abliefern an die sittlichen Lebensgemeinschaften“, die zweite als „Ausprägung der persönlichen Eigentümlichkeit“, wobei er für die erste vier große Bereiche unterscheidet, auf die hin ein Kind vorbereitet werden muss: der Staat, die Kirche, der freie gesellige Verkehr und die Wissenschaft. In Bezug auf diese vier Hauptbetätigungsfelder des erwachsenen Menschen ergibt sich in Bezug auf die Zielsetzung der Erziehung vordringlich die Frage: Sollen die Kinder in das bestehende Leben so eingepasst werden, wie es sich gegenwärtig zeigt, oder sollen sie ausgerüstet werden, dieses zu verändern? Beide Extrempositionen würden zu Schwierigkeiten führen: die reine Anpassung des Kindes würde die gesellschaftlichen Mängel verfestigen, und die vordringliche Vorbereitung auf Veränderung würde vor allem mit dem Selbstbestimmungsrecht der kommenden Generation streiten. Die zusammenfassende Antwortformel Friedrich Schleiermachers kann also nur eine Verschränkung beider Positionen zur Konsequenz haben: „Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde, einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzutreten.“ (63f) Sinnvoller gesellschaftlicher Fortschritt ist für Friedrich Schleiermacher nur denkbar als kontinuierliche Reform, die sowohl die Verfestigung der schlechten Realität wie die gewaltsame Revolution ausschließt. Durch eine Erziehung, die sich an der gerade zitierten „Formel“ orientiert, wird dies gewährleistet, weil Stabilität und Wandel gleichermaßen intendiert ist. Würde das Kind nur auf das Verändern vorbereitet, würde „das Revolutionäre“ angelegt, zu „lautet Reformatoren“ würde die Jugend erzogen, was nicht sinnvoll sein könne, gilt es für jede neue Generation doch, an das Bestehende anzuknüpfen. Aber auch das Gegenteil, die Fixierung auf das Bestehende wäre nicht sinnvoll, weil die scheinbare Stabilität der Gesellschaft künstlich verstärkt würde, so dass ein Reformstau entstünde, der in gewaltsamen Revolutionen seinen Ausweg suchen müsste.

Die beiden gleichberechtigten Erziehungsziele - Abliefern und Eigentümlichkeit - haben unterschiedliche Konsequenzen für den Prozess der Erziehung. Technische und soziale Kompetenzen im eben beschriebenen Sinne herauszubilden, verlangt eine aktive Unterstützung, während dies für den Bereich der Individualisierung weniger gilt. Hier ist es ja genau die Aufgabe des Kindes, herauszufinden, wer es selber ist, und selbst zu bestimmen, wer es sein möchte. Der Erwachsene darf hier weniger prägend wirken, sondern er muß abwarten, was sich aus dem Innern des Kindes heraus entwickelt. Friedrich Schleiermacher übernimmt deshalb an dieser Stelle einen Begriff, den wir bereits bei Jean-Jacques Rousseau gehört haben, den der „negativen Erziehung“, die sicherstellt, „daß der Natur kein Hindernis in den Weg gelegt werde“ (69).

3. Die soziale Frage: Gleichheit und Ungleichheit

Die Frage der sozialen Gleichheit bzw. Ungleichheit ist von großer Relevanz sowohl für die Folgen des Erziehungsprozesses wie für seine Gestaltung. Auf der einen Seite verfährt die Erziehung nach dem Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben!“, auf der anderen Seite liegt in der Bildung aber auch eine Möglichkeit großen sozialen Aufstiegs. Das Geld, das für die Ausbildung eines Arztes ausgegeben wird, beträgt ein Vielfaches von dem, was in einen Hilfsarbeiter gesteckt wird, und weltweit betrachtet sind die Schulen und sozialpädagogischen Einrichtungen der industrialisierten Welt luxuriös ausgestattet, während für die ärmeren Staaten nur ein Bruchteil zur Verfügung steht. So wie eine gesellschaftliche Oberschicht innerhalb eines Staates meist erfolgreich versucht, ihre Privilegien an die Kinder auch dadurch weiterzugeben, dass sie ihnen eine bessere Erziehung angedeihen lässt, so wird auch der Vorsprung der reicheren Länder vor den ärmeren durch das Erziehungssystem aufrechterhalten. Sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen angeboren, so dass die Erziehung nichts anderes tun kann, als das jeweilige genetische Potential optimal herauszufordern, oder sind sie gesellschaftlich festgelegt, so dass durch eine ungleichende Erziehung diese Differenzen verfestigt, oder durch eine kompensatorische Erziehung aufgehoben werden können?

Friedrich Schleiermacher stellt zunächst fest, dass es, wohin man auch blicke, faktische Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Dabei lässt sich die Frage, ob sie „angestammt“ oder „persönlich ererbt“ seien, nicht endgültig beantworten, so dass die Erziehung so eingerichtet werden muss, dass sie von der Bewertung der Frage - angeboren oder sozial vermittelt - unabhängig ist. Neben der empirischen Tatsache der allgemeinen Verbreitung der Ungleichheit gibt es für Friedrich Schleiermacher jedoch noch eine zweite geschichtliche Tatsache: Die Entwicklung der Gesellschaft weist immer den Weg von größerer Ungleichheit zu größerer Gleichheit auf - nie umgekehrt.

Drei Faktoren sind bei der hier zu behandelnden Frage nach der Gleichheit vs. Ungleichheit zu betrachten: die sozialen Verhältnisse, die Erziehung und die Persönlichkeit des Kindes. In bezug auf erstere hat die Erziehung nicht die Macht, sich ihnen entgegenzustellen, weil die Frage der gesellschaftlichen Privilegierung anderenorts entschieden wird. Aber sie sollte es auch nicht, weil eine Erziehung, die ausschließlich den Anspruch hätte, kompensatorisch zu wirken, weiter entwickelte Kinder wieder zurückstoßen müsste, was weder pädagogisch sinnvoll noch ethisch legitim wäre. Den äußeren Verhältnissen soll und muss die Erziehung Raum gewähren. Sie selbst allerdings soll die so entstehenden Ungleichheiten nicht noch unterstützen: „Die Ungleichheit soll kein Werk der Erziehung selbst sein.“ (178) Die Erziehung wird in stark hierarchischen Gesellschaften auf Ungleichheit aufgebaut sein. Dies muss sie akzeptieren, auch wenn sie durch ihr eigenes Handeln Ungerechtigkeiten nicht noch zusätzlich verfestigen darf. In einer Gesellschaft dagegen, die an der Aufhebung der Differenzen orientiert ist, muss die Erziehung diese Tendenz durch ihr Werk unterstützen, indem sie zu einer Gleichverteilung der Bildungschancen beiträgt. Als dritten Faktor bringt Friedrich Schleiermacher schließlich die Selbständigkeit und Freiheit des Kindes ins Spiel. Dass Kinder ungleich von den Angeboten der Erziehung profitieren, hängt nämlich auch mit der unterschiedlichen Bereitschaft der Kinder zusammen, sich auf sie einzulassen oder sie abzuwehren. Da pädagogisch gesehen die Freiheit des Kindes immer ein zu unterstützendes Gut ist, gilt dies auch hier.

Aus der vielfachen Verwickeltheit der Antworten Friedrich Schleiermachers zur Frage nach Gleichheit und Ungleichheit folgt für ihn, dass die Erziehung zu Beginn stärker von der Gleichheit auszugehen habe und dass, je mehr sich die unterschiedliche Entwicklung der Fähigkeiten, aber auch die stärkere Hervorhebung der Individualität des Kindes zeigt, die Erziehung diese Ungleichheiten zu berücksichtigen habe. Daraus folgt für ihn ein Bildungsmodell, das bis in unsere Zeit hinein sich in Deutschland weitgehend erhalten hat, nämlich eine Zweiteilung in eine für alle Kinder gemeinsame Erziehung am Anfang und eine Aufgliederung in verschiedene Schulformen später, wenn sich Begabungsunterschiede für verschiedene Berufe herauskristallisiert haben und der einzelne selbst in der Lage ist, seine diesbezüglichen Wünsche zu äußern.

4. Die pädagogische Frage: Gegenwart und Zukunft

In der alltagstheoretischen Vorstellung ist es häufig so, dass die Kindheit als eine Vorbereitungsphase auf das eigentliche Leben erscheint. Das Lernen der Kinder ist dann wie die Arbeit der Erwachsenen: nicht immer vergnüglich und meistens fremdbestimmt. In bestimmten Sichtweisen wird dann sogar das Verdrießliche besonders herausgehoben: Lernen kann keinen Spaß machen, ist diesem entgegengesetzt und deshalb gilt: je weniger Spaß, um so mehr Lernen und um so mehr erzieherische Qualität. Sicherlich, die Kinder können nicht nur lernen, sie bedürfen der Pausen der Erholung im Spiel, aber die eigentliche Pädagogik beginnt jenseits davon. In der Alltagsvorstellung vieler professionell Erziehender ist es häufig genau anders herum. Kein Satz, den ich jemals geschrieben habe, hat so viel Zustimmung erhalten wie die simple Formulierung „Ein Kind ist ein Kind“. Das Hier und Jetzt des Kindes ist entscheidend, leben will man mit ihm, nicht es erziehen. Man ist bemüht um das gegenwärtige Glück des Kindes, wer weiß schon, wie die Zukunft werden wird. Also lieber jetzt gut gelebt, als auf ein ungewisses Versprechen in der Zukunft zu warten. „Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es schon“, (Janusz Korczak), also sollen sie jetzt glücklich sein und nicht auf Morgen vertröstet werden. Mit solchen Gedanken, die Kinderfreundlichkeit auszudrücken scheinen, wird die ganze Pädagogik mit ihren schweren Ansprüchen über Bord geworfen. Erziehung scheint die Manipulation zu ihrem Inhalt zu haben,. Doch irgend etwas kann auch an dieser zweiten Erzieheralltagsvorstellung nicht stimmen: Viele Kinder sind zufrieden, wenn sie stundenlang vor dem Fernseher sitzen, und sie werden glücklich, wenn die Tüte mit Chips und die Flasche mit Cola daneben steht. Aber welcher Erzieher wünscht sich schon auf diese Weise glückliche Kinder?

Auch Friedrich Schleiermacher beschäftigt sich mit dem hier in Rede stehenden Fragenkreis, und er diskutiert sie unter dem Stichwort „Aufopferung eines bestimmten Momentes für einen künftigen“ (82). Erziehung, das steht für ihn unzweifehlbar fest, ist auf die Zukunft hin ausgerichtet. Durch sie soll etwas erreicht werden, was gegenwärtig noch nicht ist. Jetzt lernt der Erstklässler das ABC, ob er es will oder nicht, um später lesen zu können. Jetzt fordern wir von dem Kind, seine Lebhaftigkeit zu zügeln, um sich auf die zu lernende Sache einstellen zu können, damit es als Erwachsener kompetent und verantwortungsvoll handeln kann. Je weiter gesteckt die Ziele der Erziehung sind - und das sie es sein müssen, je komplexer die Gesellschaft ist, in die das Kind hineingeboren wird, haben wir oben gesehen - desto mehr geschieht Lernen nicht im zufälligen Leben des Hier und Jetzt, sondern bedarf einer zunehmend ausgenutzten Zeit der kunstvoll gestalteten Vorbereitung. Bei diese Festlegung der Erziehungsziele in das Einerseits - Andererseits stellt sich jedoch die Frage: „Darf man überhaupt zugestehen, daß ein Lebensaugenblick als bloßes Mittel für einen anderen diesem anderen könne aufgeopfert werden?“ (82) Schon die Art der Fragestellung deutet an, daß Friedrich Schleiermacher mit einem eindeutigen „Nein“ auf sie antwortet. Ethisch ist geboten, daß jeder Lebensmoment und noch mehr jede Lebensperiode seinen Sinn in sich selbst habe. Es gibt keine Rangfolge von eigentlichem Leben, das erfüllt ist, und unwichtigem Leben, das seinen Sinn nur als Mittel zu ersterem hat. Aus diesem „Einerseits - Andererseits“ ergibt sich ein Dilemma: Würde man auf die erzieherischen Ansprüche verzichten, so würde man die Pädagogik aufgeben, deren große Bedeutung Friedrich Schleiermacher jedoch im Vorstehenden begründet hat. Würde man andererseits sagen, es sei nicht so schlimm, daß in der Kindheit Widerwille gegen das zu Lernende herrsche, denn es seien ja erst Kinder, dann würde man den ethischen Anspruch verfehlen, und die Ethik ist für Friedrich Schleiermacher die zentrale Entscheidungsinstanz.

„Was in dem Leben des Kindes Befriedigung des Moments ohne Rücksicht auf die Zukunft ist, nennen wir Spiel im weitesten Sinn; die Beschäftigung dagegen, die sich auf die Zukunft bezieht Übung. Soll also die Erziehung mit dem sittlichen Zweck vereinbar sei, so muß unsere Formel diese sein. Im Anfang sei die Übung nur an dem Spiel, allmählich aber trete beides auseinander in dem Maß, als in dem Zögling der Sinn für die Übung sich entwickelt und die Übung ihn an und für sich erfreut.“ (S. 86)

Um aus diesem Dilemma herauszugelangen, stellt Friedrich Schleiermacher zunächst einmal fest, daß ja nicht erst der Erwachsene, sondern bereits das Kind durchaus das Bestreben habe, bestimmte Fähigkeiten zu entwickeln, und daß es deshalb Bemühungen zustimme, sich zur Erreichung dieser Ziele bestimmten Lernprozessen zu unterwerfen. Doch durch diese Beobachtung ist das Problem zwar quantitativ geringer geworden, aber nicht qualitativ, denn gerade das kleinere Kind kann in solchen Zusammenhängen von gegenwärtiger Vorbereitung auf die eigene Zukunft noch nicht denken. Wenig hilfreich wäre es auch zu argumentieren, auch wenn das Kind jetzt noch Unwillen zeigt, als zukünftiger Erwachsener wäre es seinem Erzieher dankbar, sie an die Kandare genommen zu haben, ja sie wären mit ihrem Erzieher sogar sehr unzufrieden, würde er die Dinge einfach laufenlassen. Eine solche Argumentation würde voraussetzen, daß „das Kind auch mit dem Material der pädagogischen Einwirkung zufrieden wäre; das aber kann man eben nicht wissen“ (82f).

Wenn der Nachweis gelänge, daß in einer bestimmten Tätigkeit die beiden Dimensionen der Befriedigung der Gegenwart und der Vorbereitung auf die Zukunft gar nicht auseinanderfielen, wenn das Kind also ausgefüllt mit dem Jetzigen ist und gleichzeitig Wichtiges für das spätere Leben lernte, dann wäre in dieser Tätigkeitsform das Problem gelöst. In dem Spiel des Kindes findet Friedrich Schleiermacher diese gesuchte Tätigkeitsform: das Spiel ist aus der Perspektive des Kindes selbstmotiviert und gleichzeitig werden durch es die intellektuellen, sozialen und emotionalen Tätigkeiten geübt. Je kleiner das Kind ist, desto mehr wird das Spiel seine Haupttätigkeit sein, die zu ermöglichen, die wichtige Aufgabe des Pädagogen ist. Je älter das Kind andererseits wird, desto mehr tritt neben das Spiel die von ihm selbst gewünschte und gewählte Arbeit, auf die der Erzieher sich jetzt beziehen kann.

 


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