Sigurd
Hebenstreit
Bilanz:
Reformpädagogische Spuren zu einem
kindzentrierten Erziehungsverständnis
ähnlich
unter dem Titel Eine starke
Hilfe für das Kind sein Reformpädagogische
Spuren zu einem kindzentrierten Erziehungsverständnis
in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik
1999, Heft 1, S. 42 bis 46
Ein
Säugling wird geboren. Für die Eltern
fallen in diesem Moment Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft in einer
Intensität zusammen, wie es sonst
nur bei dem Tod eines nahen Angehörigen
der Fall ist. Voll Glück hält die
Mutter das Knäuel Leben im Arm, das
sie neun Monate lang in ihrem Bauch
rumoren gespürt hat. Was wird sich
für uns als Familie ändern? Werden
wir der Verantwortung gerecht? Was
ist das für eine Welt, in die das
Kind hineinwächst? Wie war das mit
mir als Kind meiner Eltern? Es sind
Hunderte von Fragen, die gleichzeitig
durch den Kopf schießen und ihn je
nach Lebenssituation und psychischer
Verfassung mehr sorgenvoll oder hoffnungsfroh
beschäftigen.
Der
Neugeborene weiß von all den Fragen
nichts. Sein Kopf ist noch nicht so
weit, dass Vergangenheit und Zukunft
ihn berühren könnten. Er spürt nur
die im Unterschied zum Mutterbauch
raue Umwelt - wie viel Mühen sich
die Eltern und Schwestern auch immer
geben. Er muss die Anstrengungen der
Geburt überwinden, indem er schreit
oder schläft. Auch bei dem Neugeborenen
gibt es die große Bandbreite psychischer
Befindlichkeiten, und auf ihn wirken
die vielfältigen Unterschiede der
Lebenssituation prägend ein. Es gibt
keine Pille, die aus unserem Neugeborenen
mit einem Schlage einen Erwachsenen
unserer Tage machen könnte. Sondern
er selbst steht vor der ungeheuren
Aufgabe, sich das Wissen anzueignen,
dass er für sein Leben benötigt, den
Körper zu formen, damit er handlungsfähig
wird, und das Herz zu bilden, so dass
es beruhigt mit sich und seinen Mitmenschen
auskommen kann. Wer und wie macht
man das, solche Ziele zu erreichen?
Der Neugeborene selbst muss es tun,
und er muss es auf seine Weise tun.
Sehr zart und empfindlich ist der
Säugling und dann auch das Kind, und
sie bedürfen deshalb einer Sicherheit
gebenden Unterstützung durch die Großen,
damit sie nicht zerbrechen. Aber es
ist von Geburt an das Leben des Kindes,
das er selbst aufbauen muss.
Der
Neugeborene fängt immer wieder neu
von vorne an. Seine Reflexausstattung,
die er als Anfangswerkzeug mit auf
die Welt bringt, unterscheidet sich
heute nicht von der des Steinzeitmenschen.
Der Zielpunkt jedoch ist sehr unterschiedlich.
Er muss ein Kind seiner Zeit werden,
und das heißt heute, er wird mit Computern
so geschickt umgehen müssen wie seine
Vorfahren mit ihrem primitiven Steinhammer.
Dazu bedarf es der Zeit, die es dauert,
und je komplizierter die Welt wird,
desto mehr ist davon notwendig. Hier
helfen weder die Wachstumspille noch
das didaktische Programm, das gerne
Effektivität in die Bildung bringen
möchte. Die Erzieher müssen lernen,
sich in Geduld zu üben, um Zeit für
die Eigenentwicklung des Kindes zu
lassen.
Jede
neue Erziehergeneration steht in einer
vergleichbaren Situation wie das Neugeborene.
Sie muss ihre Entwicklung hin zu einem
eigenen Erziehungsverständnis machen;
sie wird geprägt durch pädagogische
Urerlebnisse, die ihr Bild von dem
Kind festlegen; und sie steht in einer
gesellschaftlichen Situation, die
mit der ihrer Väter und Mütter nicht
identisch ist. Es ist ein Entwicklungsweg
weg von dem erzogenen Kind hin zu
der erziehenden Pädagogin. Man wechselt
die Seite des Tisches, ein Weg, der
einigen leicht und selbstverständlich
gelingt, bei anderen aber kompliziert
und verwickelt verläuft. Man muss
sich die grundsätzlichen Fragen selbst
erarbeiten - nach dem Menschen im
allgemeinen und dem Kind im besonderen,
nach dem Leben in dieser Zeit und
dem über diese Zeit hinaus.
Das,
was vergangene Pädagogengenerationen
dazu gedacht haben, mag eine Hilfe
für die eigene Antwortsuche sein.
Es ist beruhigend zu wissen, dass
man nicht das Rad ständig neu erfinden
muss, sondern dass man auf ein Fundament
aufbauen kann. Aber es bleibt ihr
nicht erspart: Jede neue Erziehergeneration
muss neu beginnen, so wie das Kind
sich seine eigene Entwicklung selbst
erarbeitet. Wenn man dermaleinst in
Rente gehen wird, wird man sich sein
Erziehungswerk vor Augen führen können,
und es mag einen beruhigen, wenn man
dann der nächsten Erziehergeneration
wird sagen können: Trotz all
der Schwankungen, trotz all der Fehlversuche,
bleibt dabei: Bemüht euch, eure Kinder
zu lieben und ihnen eine starke Hilfe
auf ihrem Weg der Selbstentwicklung
zu sein!
Das
Jahrhundert des Kindes
hat viel Schreckliches in die Erziehungsgeschichte
eingebracht, und wenn man Bilanz ziehen
wird, gehört auch die Erinnerung an
die Ermordung jüdischer und behinderter
Kinder dazu. Und die Kriegserfahrung:
es gibt wohl in Europa keine Familie,
in der es keine Opfer getöteter Kinder
oder Väter und Mütter gäbe. Aber das
20. Jahrhundert hat auch vielfältige
Fortschritte in die Lebenssituation
von Kindern gebracht. Man denke an
einen Konfirmanden von heute, und
stelle sich vor: Er müsse bei einem
zwölfstündigen Arbeitstag sechs Tage
die Woche unter unwürdigsten Bedingungen
seine Knochen hinhalten.
Zu
dem Positiven, das sich an zukünftige
Erziehergenerationen mit Stolz wird
weitergeben lassen, gehören auch die
vielfältigen Anregungen der internationalen
Reformpädagogik der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Hier finden
sich viele Bruchsteine, mit denen
nach dem II. Weltkrieg neu aufgebaut
wurde, und auch der nächste Reformschub
- Ende der 60er und Anfang der 70er
Jahre - hat sie auf ihre Weise benutzt.
Es lohnt sich, sie nicht in den Bücherschränken
verstauben zu lassen, sondern sie
lebendig zu erhalten als Material
für die nächste Erziehergeneration,
die die Kinder bis nahe an das Ende
des 21. Jahrhunderts bringen wird.
Zwei Beispiele sollen hervorgehoben
werden.
Maria
Montessori
Am
Beginn des 20. Jahrhunderts ist Maria
Montessori in ihrem Heimatland Italien
schon eine anerkannte Persönlichkeit.
Sie hatte es gegen viele Widerstände
durchgesetzt, als erste Frau Medizin
studieren zu können; als für die Sache
der Frau und der ausgebeuteten Arbeiter
engagierte Vertreterin war sie hervorgetreten;
und der Erziehung behinderter Kinder
hatte sie sich zugewandt. Im ersten
Jahrzehnt den neuen Jahrhunderts stand
sie vor ihren ersten Erfahrungen mit
nichtbehinderten Kindern. Sie beobachtete
ein dreijähriges Mädchen, das sich
konzentriert mit einer selbstgewählten
Aufgabe beschäftigte und auch durch
alle Störungen sich nicht abhalten
ließ, mit seinen Bemühungen fortzufahren.
Dieses Erlebnis wurde für Maria Montessori
zu einer Urerfahrung, die sie die
vorurteilsbehaftete Sichtweise über
Kinder erkennen ließ, der gegenüber
sie ihre Entdeckung des Kindes
machte.
Die
Kleinen sind nicht Objekte, die bespielt
und beschult werden müssen; sie sind
nicht nutzlose Wesen, die mit Nichtigkeiten
ihre Zeit totschlagen; und sie sind
nicht leere Gefäße, die
einer Disziplin zu unterwerfen wären,
damit der Erwachsene durch seine erzieherische
Aktivität sie mit Wissen, Moral und
Handlungstechniken füllen kann. Sondern:
jedes Kind ist stark, weil es ungeheure
Kräfte in sich hat, die es durch seine
eigene Aktivität entwickeln will;
und jedes Kind ist wichtig, weil es
durch seine Arbeit den Menschen erschafft.
Die Priorität in der Erziehungsarbeit
liegt bei dem Kind: Es hat einen inneren
Bauplan in sich, der die Richtung
der Entwicklung bestimmt. Alles, was
für das Kind wichtig ist, muss es
selbst tun und kann ihm nicht von
dem Erzieher abgenommen werden. Der
Körper wächst nicht, wenn wir ihn
in ein Streckbett zwängen, und der
Geist des Kindes kann sich nicht entfalten,
wenn die Erwachsenen glauben, ihn
von außen aufbauen und gestalten zu
müssen.
Diese
Gedanken haben Konsequenzen für die
Sichtweise der Erziehung. Die erste
ist: Beobachtet das, was ein Kind
ist und sein kann, verzerrt es nicht
durch euren Erwachsenenzentrismus.
Daraus folgt zweitens: Gebt dem Kind
Freiheit zu seiner eigenen Entwicklung.
Die dritte Konsequenz schließlich:
Seht die Erziehung als Hilfe für die
Selbsttätigkeit des Kindes an. Das
Kind ist schutzbedürftig, denn in
der Maschinerie der Erwachsenenwelt
gerät es leicht unter die Räder. Es
bedarf der Zeit, des Raumes und der
Materialien, damit es seine von uns
so unterschiedene Arbeit des Entwicklungsaufbaus
tun kann. Und es bedarf des Erwachsenen,
der gelernt hat, dass Erziehung auf
seiner Seite nicht Aktivität, sondern
Passivität erfordert, damit ein Kind
zu seiner Tätigkeit gelangen kann.
Das Ziel der Erziehung ist eine starke
Individualität, die nicht einem Herdentrieb
folgt, sondern in ihrer Persönlichkeit
so gefestigt ist, dass sie an der
Lösung der gesellschaftlichen Probleme
- der von Frieden und sozialer Gerechtigkeit
- in der Zukunft wird mitarbeiten
können.
Janusz
Korczak
Der
zweite, an den hier erinnert werden
soll, ist Janusz Korczak - von der
Ausbildung her Arzt wie Maria Montessori.
Bekannt geworden ist er von seinem
Lebensende her: Er hat seine Waisenhauskinder
auch auf ihrem Weg ins Vernichtungslager
nicht verlassen und wurde von Deutschen
in Treblinka ermordet. Vorher musste
er mit seinem Heim in das Warschauer
Ghetto umziehen, in dem die Nazis
die Juden einpferchten. Wie er und
seine Kinder von den Deutschen eingemauert
wurde, so ließ Janusz Korczak selbst
die Fenster vermauern, um in dem Ghetto
ein selbstgewähltes Ghetto zu haben,
in dem die Kinder ein Leben führen
sollten, dass so normal
wie möglich war. Der Schulunterricht
lief weiter, Theateraufführungen wurden
arrangiert, die Struktur des Tagesablaufs
aufrechterhalten. Mit all dem sollte
nicht die Illusion der heilen Kinderwelt
vorgespielt werden, dazu war Janusz
Korczak zu krank, zu zerbrochen und
zu realistisch. Auf seinen täglichen
Gängen durch das Ghetto, um Geld und
Kartoffeln einzutreiben, damit das
Überleben der ihm anvertrauten Kinder
aufrechterhalten wurde, sah er das
Elend, die Gewalt und den Tod. An
diesem Bemühen, Normalität aufrechtzuerhalten,
lassen sich wichtige Punkte der Pädagogik
Janusz Korczaks aufzeigen.
Jeder
Mensch hat seine ihm eigene Würde. Mag eine menschenverachtende Politik diese mit Füßen treten,
der Mensch ist kein Stück Vieh, sondern
er erhebt sich unter allem Schmutz
hervor. Als Janusz Korczak die in
den Gossen sterbenden Kinder sah,
forderte er Sterbehäuser,
leerstehende Geschäfte, in deren Regale
die Kinder zumindest in Würde
würden sterben können, wenn ihnen
das Leben schon verwehrt wurde.
Für
Janusz Korczak zählt nicht der große
theoretische Entwurf in politischer,
philosophischer und pädagogischer
Hinsicht, sondern es gilt das Bemühen
um den heutigen
Tag. Ein Satz aus dem Tagebuch
aus dem Warschauer Ghetto lautet:
Es ist schwieriger, einen Tag
gut zu durchleben als ein Buch zu
schreiben. Und Janusz Korczak
wusste, wovon er redete, denn sein
Hauptberuf war der eines Schriftstellers.
Darum geht es pädagogisch: Nehmt den
heutigen Tag ernst, kümmert euch um
die heutigen Sorgen, genießt die heutigen
Freuden. Traditioneller Weise nimmt
die Pädagogik häufig weitreichende
Ziele in den Blick, setzt auf das,
was in der Zukunft liegt und vergisst
damit die kindliche Gegenwart mit
ihren konkreten Ängsten und Wünschen.
Was
Janusz Korczaks Pädagogik wohl am
prägnantesten beschreibt, ist der
banale Satz: Kinder werden nicht
erst zu Menschen - sie sind es bereits.
Es gibt nicht das wichtige Erwachsenenleben,
das der Zielpunkt der Pädagogik wäre,
und die unbedeutendere Kindheit als
Mittel zu diesem Zweck. Von der ersten
Stunde der Geburt an ist das Kind
ein Mensch, der sich selbst und nicht
seinen Eltern und Erziehern gehört.
Dies hat Konsequenzen, deren wichtigste
ist: Das Kind hat Rechte!
Es geht in der Pädagogik nicht um
die großzügig gewährte Gnade (und
vielen unserer Kinder heute wird materiell
unendlich viel aus der Laune übersättigter
Erwachsener als Brocken hingeworfen),
sondern um die gesicherte Position
von Kinderrechten. Erst dadurch werden
sie unabhängig von unseren Stimmungen.
An einer Stelle sagt Janusz Korczak,
dass - wenn ein Drittel der Menschen
Kinder seien - ihnen auch jedes
dritte Haus, jedes dritte Geschäft,
jede dritte Straßenbahn zu ihrem Nutzen
sein müsse. Ein Volkswirtschaftler
rechne dies einmal für die Bundesrepublik
Deutschland am Ende des Jahrhunderts
des Kindes nach.
Kindzentrierung
Nehmen
wir zwei Anregungen aus der Vielzahl
der reformpädagogischen Ideen mit
in unsere Zeit, in der eine Reihe
von Entwürfen auf dem Mark der Kindergartenkonzeptionen
konkurrieren. In meinem Ansatz der
kindzentrierten Kindergartenarbeit
stelle ich die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse
in den Mittelpunkt. Maria Montessori
spricht von dem inneren Bauplan,
den jedes Kind in sich trägt. Das
Kind wird nicht durch seine Erzieher
entwickelt, sondern es entwickelt
sich selbst. Diese Sichtweise legt
ein Missverständnis nahe: Wenn alles
in dem Kind angelegt ist, dann kann
die Erzieherin sich ja zurückziehen
und sich darauf beschränken, einen
Raum zu ungestörter Reifung anzubieten.
Man hockt da und wartet, was von dem
Kind kommt.
Wie
gesagt: ein Missverständnis, denn
die Radikalität in der Kindzentrierung
spricht nicht gegen, sondern für eine
starke Erziehung. Kinder müssen in
einer reichhaltigen Umgebung leben,
die ihnen Modelle zur Nachahmung anbietet;
sie benötigen geeignetes Material,
das ihrer Hand und ihrem Kopf angepasst
ist; ihnen muss viel Zeit gegeben
werden, damit sie probeweise in der
Welt handeln und Entwürfe ihres Selbst
ausprobieren können; und sie brauchen
vor allem starke Erzieherinnen, an
die sie sich anlehnen und mit denen
sie sich auseinandersetzen können,
die Schutz vermitteln und sich dem
Weg in die weite Welt nicht entgegenstellen.
Dies alles, was ein Kind benötigt,
geschieht nicht von selbst - und dies
am wenigsten in unserer Zeit, die
immer erwachsenenzentristischer wird.
Und
noch ein abschließender Gedanke: Kinder
werden nicht zu Menschen, sondern
sie sind es von Geburt an, so sagt
Janusz Korczak. Dies heißt aber auch:
Kinder sind nicht die besseren Menschen.
Gerade in Konzeptionen, die sich sehr
um ein Verständnis von Kindern bemühen,
können die traditionellen Rollen vertauscht
werden: das kreative Kind und der
kaputte Erwachsene. Dies geht manchmal
bis hin zu einer Kindertümelei, die
alle guten Eigenschaften dem Kind
zuschreibt. Solche Überfrachtungen
brechen meist schnell zusammen: Man
hat so große Hoffnungen auf das Kind
gesetzt, doch es zeigt sich undankbar,
nutzt die Gutmütigkeit aus. Ein Kind
ist ein Mensch, und dies meint, es
teilt mit den Großen die wunderbaren,
gottähnlichen Seiten einerseits, aber
auch die zerstörerischen und destruktiven.
Kindzentriert bedeutet nicht, unsere
Sehnsüchte auf das Kind zu projizieren,
sondern uns selbst vorzubereiten,
damit wir eine starke Hilfe für das
Kind sein können.