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Ein kurzer Blick in die Geschichte der Pädagogik

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Sigurd Hebenstreit

Ein kurzer Blick in die Geschichte der Pädagogik

Unter dem Titel !Auf den Spuren pädagogischen Denkens – Ein Blick in die Geschichte“ in: Welt des Kindes 1996, Heft 6, S. 6 bis 11

Anita steht unter Druck: der Träger oder die Eltern oder die Kolleginnen erwarten die schriftliche Fassung der Konzeption. Schließlich hat man dem Team jetzt schon vier ganze arbeitsfreie Tage gewährt, und man hat es mit ihnen ja selbst schon etliche Male durchdiskutiert - und noch immer ist kein vorzeigbares Produkt zu sehen. Dabei: wenn jede der fünf Kolleginnen nur zwei Seiten schreiben würde, dann ergäbe das, durch niedliche Kinderzeichnungen aufgefüllt, schon einen Papierhaufen, den sich zu heften lohnte. (Nebenbemerkung: Es gibt in der Literatur der Welt nur sehr wenige Beispiele dafür, dass zwei oder mehr Menschen gemeinsam einen Text geschrieben haben. Schreiben ist eine sehr einsame Tätigkeit. Vorher darüber reden, nachher darüber reden, das geht gemeinsam, aber schreiben kann ich nur, wenn ich ganz mit mir alleine bin. Ich sage das hier nur, weil es teilweise ein beliebtes Missverständnis ist, man könne im „Team“ eine Konzeption schreiben.) [1]

Eigentlich hat die Geschichte ganz falsch angefangen. Anita wird gar nicht von anderen unter Druck gesetzt: der Träger ist sehr wohlwollend, die Eltern unmotiviert, und die Kolleginnen kommen genau so wenig aus dem Quark. Die einzige, die Anita mit der Forderung nach einer Konzeption unter Druck setzt, ist sie selbst.

Vor einem halben Jahr hatte sie plötzlich gespürt, dass ihr Beruf sie langweilte (damals hatte Nicole bitterlich geweint, weil ihre Freundin sie „blöde Kuh“ genannt hatte, und Anita konnte die Tränen nicht verstehen, und sie hatte sich mit dem Vorwand, erst mal ein Paket Tempotaschentücher aus der Vorratskammer holen zu müssen, verabschiedet). Das war nicht so eine Langeweile, weil sie ärgerlich war, dass der Wecker morgens so früh klingelte oder weil das Wochenende mit dem Freund so schön war. Diese Langeweile ging tiefer. Mit ihr verschwand der ganze Idealismus, der jugendliche Elan, der Anita bisher ausgezeichnet hatte. Würde sie jetzt alt - gerade mal ihr 27. Geburtstag war vorüber -, angepasst, den Beruf als Job begreifend, weil danach, in der Freizeit, das richtige Leben mit Grillparty, Freund und Sonne begann?

Daß Anita aus ihrer existentiellen Langeweile herausfand, verdankt sie der gleichen Nicole, deren Tränen sie vor wenigen Wochen nicht mehr mit Mitgefühl trocknen konnte. Sie traf sie Samstag Vormittag in der Stadt, und noch bevor Anita denken konnte: „Ich habe doch Feierabend“, strahlte Nicole sie von Weitem an. Diese Augen verrieten: „Ich freue mich, Dich, Anita, zu sehen“. In vielen Berufsjahren hatte Anita schon etliche strahlende Augenpaare gesehen, aber noch nie so. Es waren Nicoles Augen. Nur ihre. Beide kamen ins Gespräch, d.h. eigentlich erzählte nur Nicole, und Anita hörte mit offenen Ohren zu. Nicole erzählte von ihrer neuen Puppe, davon, dass die Oma ihr gerade einen neuen Rock kaufte, und sie erzählte, was ihr an dem Kindergarten wichtig war. Eigentlich war es gar nicht bedeutsam, was Nicole sagte, sondern wichtig war allein, was Anita hörte. Sie sah ihren Kindergarten plötzlich mit ganz neuen Augen. Nicht das Beschäftigungsangebot für die kommende Woche, nicht das Funktionieren des Geburtstagsfestes, nicht die tiefschürfende Situationsanalyse; sondern der einzigartige Blick von Nicole auf den Kindergarten. Und plötzlich war Anita klar: Es ging nicht um Bastel-, Disziplinierungs-, Singkreisspiel-, Psychotechniken - das ist doch alles so nebensächlich, so langweilig -, sondern es ging ausschließlich um dieses eine Mädchen und seinen Blick auf den Kindergarten.

Alles war damals nur ein unaussprechbares Gefühl, etwas, das Anita trieb, ihre Kindergartenpraxis anders machen zu müssen: nicht das Bastel-Geschichten-Lied-Gesprächsangebot, sondern mehr von der wunderbaren Individualität des einzelnen Kindes zulassen; nicht die Perfektion der Ziele-Inhalte-Methoden-Planung, sondern sich neu der kindlichen Lebendigkeit zuwenden. Wie gesagt: das war damals nur ein Gefühl, dass etwas anders werden musste in ihrer Kindergartenpraxis. Und dieses Gefühl war es, das Anita den Druck machte. Sie wollte wissen, was sie wie anders machen musste, um mehr von der Einmaligkeit der Kinder zu spüren und so der eigenen Berufslangeweile zu entgehen.

Johann Amos Comenius

Mehr zufällig nahm Anita ein Buch in die Hand: „Geschichte der Pädagogik“. Damals in der Fachschule gehörte dies nicht zu ihren Lieblingsthemen: die verstaubten Klassiker, die alles besser wussten, und dabei doch schon so lange mausetot waren und von unserer bunten Welt nichts wussten. Doch jetzt war das anders; richtig faszinierend fand es Anita, in diesem Buch Menschen zu entdecken, die wie sie selbst geliebt und gehasst, sich engagiert und zurückgezogen, sich gefreut und Trauer empfunden hatten. Und Anita bemerkte, dass sie sich mit Fragen beschäftigt hatten, die auch in ihrem Kopf herumgingen.

Da war zum Beispiel ein Mann, vor jetzt über 400 Jahren geboren: Johann Amos Comenius. Früh hatte er seine Eltern verloren und auch sonst war ihm so manches Unheil geschehen: seine erste Frau starb nach kurzer Zeit der Ehe, und die beiden kleinen Kinder nahm sie mit in den Tod; er selbst wurde durch die Ereignisse des großen Krieges aus seiner Heimat vertrieben, und ohne sicheren und festen Ruhepunkt reiste er hin und her; auch seine zweite Frau verstarb ihm und hinterließ dem Witwer eine Kinderschar, zu der noch ein kleines Kind zählte. Dieser Johann Amos Comenius hatte sehr viel Trauriges erfahren, und oft hatte er dies bis zur Verzweiflung gespürt, aber er hatte auch dagegen angekämpft und die Hoffnung in sich wachgehalten: die Welt kann besser werden (wenn auch vielleicht nicht so gut wie das Paradies Gottes); wir müssen alles tun, damit die Menschen in Frieden und Glück miteinander leben; und wir können etwas dafür tun, gerade wenn wir uns um die Erziehung und Bildung der Kinder bemühen.

Anita betrachtete das Bild des Mannes. Er hatte warmherzige Augen. Anita spürte, dass das, was er geschrieben hatte und was sie nach fast 400 Jahren lesen konnte, nicht theoretisch-abstrakte Gedanken waren, sondern dass hinter den Büchern ein liebender, leidender und kämpfender Mensch stand, dem das Schreiben geholfen hatte, sich über seine Gefühle klarer zu werden.

Als seine Kinder klein waren, schrieb er ein Büchlein: „Informatorium der Mutterschul“. Er versuchte darin die Frage zu beantworten, was Kinder von der Geburt bis zu ihrem 6. Lebensjahr lernen sollten. Anita fand es erstaunlich, dass er „schon damals“ dachte, dass so kleine Kinder lernen konnten und sollten, um glückliche Menschen zu werden. Bisher glaubte sie, dass die Entdeckung der frühkindlichen Lernfähigkeit eine neue Erkenntnis sei. In dem Büchlein fand sie viele Lerninhalte, die für unsere Zeit nicht mehr passen, schließlich werden unsere Kinder mit dem Auto herumgefahren, sitzen vor dem Fernseher und spielen mit dem Computer. Davon konnte Johann Amos Comenius nichts wissen. Aber nachdenklich stimmten Anita vor allem zwei Sätze aus dem ersten Kapitel: „Zum ersten, wo dir die Kinder alß etwas geringes vorkommen, so betrachte nicht, was sie an itzo sindt, sondern was sie dermaleins werden sollen, so wirstu ihr hoheit baldt mercken. ... Doch nicht allein, was sie künftig sein vnd werden sollen, soll man bedencken, sondern auch was sie schon itzo sind, nemblich ein thewres Kleinod, beydes Gott dem Herren vondt auch ihren Eltern. [2]

Die Sprache war altertümlich, gewiss, und Anita musste die Sätze zweimal lesen, um sie zu verstehen: Kinder sind nicht kleine Monster, die wir disziplinieren, keine Störenfriede, die wir zur Sicherstellung betreuen, nicht Belehrungsobjekte, die wir mit Liedern, Geschichten, Spielen anfüllen müssen; sondern Kinder sind eine Kostbarkeit, mit der wir sorgfältig umzugehen haben, ein Schatz, an dem wir uns freuen können. Aber Kinder sind auch kein Spielzeug, hergestellt, damit Erwachsene sich an ihnen vergnügen, sich an ihnen aufmuntern, sie benutzen. Aus Kindern werden Männer und Frauen werden, die etwas Großartiges schaffen oder ihr Leben mit Nichtigkeiten verplempern können, die Frieden und Freude oder Streit und Missgunst verbreiten können. Damit das erste eintritt, damit die Kinder später als Erwachsene selbstbewusst und voller Zutrauen in ihrer Welt werden handeln können, bedürfen sie jetzt unserer erzieherischen Hilfe.

So versuchte Anita die Sätze des Johann Amos Comenius für sich zu übersetzen. Und dann fand sie noch einen weiteren Ausspruch: “Man kann ja auch gar nichts anderes tun, als der Natur beim Gebären zu helfen.“ Das sollte also Erziehung sein: nicht etwas in das Kind hineinstecken, nicht gewaltsam etwas herausziehen, nicht kleinkariert überwachen; sondern mit Vertrauen voraussetzen, dass in jedem Kind eine unverwechselbare Persönlichkeit grundgelegt ist, mit Bewunderung beobachten, was sich aus dem Innern des Kindes herausdrängt, und mit Sicherheit zupacken, wenn das Kind unsere Unterstützung braucht. Erziehung ist also auch nicht nur ein passives Begleiten, sondern wie der Arzt und die Hebamme viele Mittel haben und manchmal auch die Zange benutzen und den Schnitt machen müssen, so ist auch Erziehung ein aktiver Prozess, damit das Kind zu sich selber werden kann.

Johann Heinrich Pestalozzi

Anita überblätterte einige Seiten in ihrer „Geschichte der Pädagogik. Sie blieb bei dem Bild eines Mannes mit leidenschaftlichen Augen stehen: Johann Heinrich Pestalozzi. Auch er, vor 250 Jahren geboren, hat viel Trauriges erfahren müssen: Was er beruflich anpackte, geriet häufig daneben; der eigene Sohn, in den er so viel Hoffnung gesetzt hatte, wurde ein schwächlicher, lebensuntüchtiger Mann, der früh starb; hatte er im Leben einmal Glück, so zerfloss es schnell unter seinen Händen. Aber dieser Johann Heinrich Pestalozzi war ein Stehaufmännchen: Jedes Mal, wenn er scheiterte, nahm er allen Mut zusammen, um einen Ausweg zu finden. Dieser „größte Pädagoge“, dieser „Heilige“ hatte für Anita früher etwas unnahbares gehabt. Ohne eigentlich irgend etwas von ihm zu wissen, verkörperte allein sein Name für Anita das pädagogische Gewissen und das immerzu eigene schlechte Gefühl, den hohen erzieherischen Anorderungen nicht gerecht zu werden. Jetzt, wo Anita sich mit Johann Heinrich Pestalozzi beschäftigte, sah sie auf einmal einen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich, einen Menschen, der - wie sie selbst - liebte und leidete, kämpfte und resignierte, freundlich und aufbrausend sein konnte.

Auch bei Johann Heinrich Pestalozzi fand Anita einige Gedanken, die sie nachdenklich stimmten. Da war zuerst sein Bild von dem Menschen. Von drei Gesichtspunkten aus konnte man ihn betrachten:

1.    Der Mensch ist „Werk der Natur“: „Als solches bin ich ein Werk der Nothwendigkeit, das gleiche thierische Wesen, das nach Jahrtausenden kein Haar auf seinem Haupt, und keine auch die leiseste Neigung seines Wesens in sich selbst auszulöschen vermöchte.“ [3] Anita dachte an ihren Psychologieunterricht: Der Mensch ist ein Triebwesen: Sexualität und Aggression beherrschen ihn.

2.    Der Mensch ist Werk der Gesellschaft: Pestalozzi vergleicht ihn hier mit einem Wassertropfen -“unsichtbar, ein nichtiges Wesen“ -, der hierhin und dorthin fällt, mal hoch oben im Sonnenlicht glänzt, mal „im Kothe der Sümpfe“ versinkt. Immer aber wird er getrieben. „Sozialisation“, hatte Anita, in der Fachschule gelernt, prägt den Menschen.

3.    Der  Mensch ist „Werk seiner selbst“. Er kann „mitten in den Banden des Fleisches göttlich [4] leben. Meine Triebe mögen mich zwingen, mich so oder so zu verhalten, und auch der gesellschaftliche Druck bewirkt nämliches. Allein im sittlichen Zustand bin ich es, der handelt und der Verantwortung für das eigene Handeln übernimmt. Da helfen dann keine Ausreden: meine angeborene Veranlagung, die Erziehung durch meine Eltern, der gesellschaftliche Druck - der Mensch ist als sittliches Wesen von solchen Zwängen frei, er sagt selbst „ja“ oder „nein“ und gestaltet die Welt und vor allem sich selbst nach seinem eigenen Willen.

In dieser dritten Blickrichtung fand Anita für sich etwas Neues, eine aufregende Entdeckung: Ich bin nicht das Ergebnis meiner genetischen Anlagen und meiner Umwelterfahrungen, sondern ich kann mich von beiden (ein Stück weit) distanzieren und das werden, was ich selber werden will. Wenn das stimmt, dann hat das wichtige Auswirkungen für die Erziehung: dann geht es gar nicht darum, dass ein Kind gesellschaftsfähig wird, sondern dann muss ich diesem kleinen Menschen helfen, dass er so stark wird, um sich selber finden und gestalten zu können. Anita spürte, dass sie diesen Gedanken noch nicht ganz verstanden hatte. Darüber musste sie weiter nachdenken.

Und dann fand Anita bei Johann Heinrich Pestalozzi noch einen Vergleich, um zu umschreiben, was er unter Erziehung verstand. Erziehung könne nicht „führen“, sondern nur „aufladen auf einen Wagen, der von sich selbst geht [5] (116). Anita verglich dieses Bild mit dem, was sie vorher bei Johann Amos Comenius gelernt hatte: „der Natur beim Gebären helfen“. Wenn Erziehung nicht meine Aktivität als Erwachsener ist, bei dem Kind etwas herzustellen, dann muss ich als Erzieherin vor allem lernen, Gelassenheit zu entwickeln. Ich muss passiv werden, in Ruhe beobachten können, damit ich jedem Kind die Hilfe bieten kann, die es benötigt, um zu sich selbst zu gelangen. Erziehung ist nicht der krampfhafte Versuch - der sie als Erzieherin selbst so verkrampfte -, ein Kind anders zu machen, als es ist. Sondern Erziehung ist zuerst meine Fähigkeit, Passivität zu erlernen. (Nur damit wir uns richtig verstehen: Gemeint ist nichts weniger als Gleichgültigkeit, sondern: liebevolle Zurücknahme, um mich dem Kind anzunähern.)

Janusz Korczak

Noch auf einen dritten Pädagogen stieß Anita in ihrem Buch der Geschichte der Pädagogik. Von ihm stand in der letzten Zeit des öfteren etwas in der Kindergartenzeitung: Janusz Korczak, der vor 118 Jahren in Warschau geboren wurde. Eigentlich nichts verband das Leben von ihm mit Anita: Er war Mann, sie Frau; er entschied sich für ein Leben ohne Ehe und ohne eigene Kinder, weil er fürchtete, diese könnten wahnsinnig werden wie sein eigener Vater, Anita dagegen wollte bald ihren Freund heiraten und eigene Kinder haben; er lebte in einem Heim und arbeitete als Schriftsteller, sie dagegen im Kindergarten. Dazu sein einmaliger Tod in einer extremen Situation: die Deutschen hatten ihn, den Juden, zusammen mit den Kindern im Konzentrationslager umgebracht. Er floh nicht, obwohl er dazu Gelegenheit gehabt hätte, weil er physisch und psychisch nicht anders konnte, als bei seinen Kindern zu bleiben. Anita betrachtete sein Photo: die traurigen Augen schienen so gar nicht zu ihrer Fröhlichkeit zu passen. Und doch gab es etwas, das Anita an diesem Mann faszinierte: vielleicht weil er so schöne Geschichten erzählen konnte, oder weil er einfache Wahrheiten so klar aussprach, oder weil es nicht aufgeblasen wirkte, wenn er von der Liebe zu den Kindern sprach, oder weil er nicht eine abstrakte Theorie vertrat, sondern jeder seiner Sätze konsequentes pädagogisches Engagement verspüren ließ.

Dabei fand sie seine Aussagen manchmal gewaltig überzogen: „Die schöne Kindheit - nein, sie ist nur langweilig; und wenn es ein paar schöne Augenblicke gibt, dann sind sie ertrotzt und öfter noch erlistet. [6] Eigentlich fand Anita die Kindheit nicht langweilig, und oft hatte sie in ihrem Kindergarten glückliche Kinder gesehen. Bei anderen Aussagen Janusz Korczaks hatte sie so eine ganz andere Meinung: „Birke bleibt Birke, Eiche bleibt Eiche, Ackerrettich bleibt Ackerrettich. Ich vermag zu wecken, was in der Seele schlummert, aber ich kann nichts neu schaffen. [7] Anita schienen die Grenzen der Erziehung doch sehr eng steckte, sie selbst hoffte ja durch ihre Arbeit etwas zum Besseren zu verändern. Janusz Korczak schien als Arzt an die unveränderliche Macht der Erbanlagen geglaubt zu haben.

Einmal las sie einen Satz von Janusz Korczak, der ihr wie ein Spiegel ihres eigenen Erziehungsverhaltens vorkam: „Alle Tränen sind salzig, wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, kann sie nicht erziehen. [8] Jetzt erinnerte sich Anita wieder an Nicole und an ihre eigene Unfähigkeit, deren Tränen ernst zu nehmen. Auch überlegte sie: wie lange halte ich es eigentlich aus, wenn ein Kind weint; nicht wegen des Kindes, sondern weil ich es nicht ertragen kann und deshalb irgendwelche Späße machen oder Ablenkungsmanöver starten muss, damit das weinende Kind wieder lacht. Es muss lachen, denn das ist geradezu ein Nachweis meiner pädagogischen Kompetenz. Und wenn es nur lernt, über das traurige Gesicht eine Maske zu streifen?

Schließlich fand Anita einen Satz, der sie bestärkte: „Habe Mut zu dir selbst, und such deinen eigenen Weg. Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest. ... Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden mußt. Es ist einer der bösartigsten Fehler anzunehmen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind - und nicht zuerst die Wissenschaft vom Menschen. [9]

Anita klappt ihr Buch zu. Sie ist aufgewühlt, von den Gedanken durcheinandergebracht. Eine schriftlich fixierte Seite ihrer Kindergartenkonzeption hat sie immer noch nicht zustande gebracht, aber das macht ihr jetzt keinen Druck mehr. Sie weiß, dass sie über die Sache der Erziehung weiter nachdenken muss, das ist alles noch so unfertig; aber sie hat die Gewissheit, dass ihr dies bald gelingen wird. Sie will die Dinge, die sie bei den Klassikern der Pädagogik gefunden hat, nicht abschreiben, sondern sie will ihre eigenen Antworten auf die Fragen finden. Und sie wird sie finden. Ihr Lesen in der Geschichte der Pädagogik ist eine notwendige und wohlschmeckende „Nahrung“ dazu gewesen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Sie ist angestoßen worden, jetzt muss und will sie alleine gehen. Neben dem Druck, eine Konzeption zu formulieren ist noch etwas anderes verschwunden: das Gefühl der beruflichen Langeweile. Es ist das erste Mal seit einiger Zeit, dass sie sich auf den nächsten Kindergartenvormittag freut. Dafür muss sie Nicole morgen in den Arm nehmen.



[1] Sigurd Hebenstreit, Kindzentrierte Kindergartenarbeit, Freiburg 19963

[2] G. Arnhart u.a. (Hrsg.), Jan Amos Comenius, Bd. II, Donauwörth 1996, S. 416

[3] Sigurd Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi - Leben und Schriften, Freiburg 1996, S. 99

[4] Sigurd Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi - Leben und Schriften, Freiburg 1996, S. 93

[5] Sigurd Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi - Leben und Schriften, Freiburg 1996, S. 116

[6] Janusz Korczak, Das Kind lieben, Frankfurt 19883, S. 101

[7] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 214

[8] Janusz Korczak, Von Kindern und anderen Vorbildern, Gütersloh 1985, S. 119

[9] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 19723, S. 15


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