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John Locke

  Home / Texte / II / John Locke

Sigurd Hebenstreit

John Locke (1632 bis 1704) :
„Erziehung bringt den großen Unterschied bei den Menschen zuwege“

Aufklärung meint kein Programm, das ausschließlich auf die kognitive Entwicklung der Persönlichkeit bezogen wäre; vielmehr ist der gesamte Mensch - mit seinem Denken, Fühlen, Handeln und Glauben - in die Forderung einbezogen. Es geht also auch um eine „Modellierung“ der affektiven Impulse, der Spannung von „Engagement und Distanzierung“, wie der Soziologe Norbert Elias (1987) dies im 20. Jahrhundert genannt hat. Die Vernunft übernimmt die Führung auch im Gefühlsbereich  - und ein solcher Mensch ist nicht weniger emotional als derjenige, der jedem Impuls unmittelbar Ausdruck verleihen muss, sondern er weist lediglich eine andere Formung seiner Triebe auf. John Locke, der „Gentleman-Philosoph und Gentleman-Politiker“ (Euchner, 1996, S. 9), bleibt sein Leben lang Junggeselle. Familienleben erfährt er nur in den ersten 12 Jahren seiner Kindheit. Danach ist er Internatsschüler und Collagestudent; er lebt als Leibarzt und politischer Berater in dem Haus seines Arbeitgebers;  er ist in Frankreich und Holland im Exil, bevor er seinen Lebensabend als zahlender Mieter zweier Räume in dem Haus der Familie seiner ehedem größten Liebe lebt, die sich zwischenzeitlich mit einem anderen Mann verheiratet hatte. Die Vernunft übernimmt auch die Führung im Glaubensbereich. John Locke, der als junger Student mit dem Gedanken gespielt hatte, Theologie zu studieren, sich dann aber doch den empirischen Naturwissenschaften zuwandte, bleibt überzeugter Christ, der „die Existenz Gottes mit mathematischer Sicherheit“ (ebenda, S. 159) zu beweisen glaubt: Aus dem „Nichts“ kann nichts entstehen; da aber der Mensch zumindest um seine eigene Existenz weiß, muss es Gott geben, der alles erschaffen hat (siehe Specht, 1989 S. 124ff). Gott hat den Menschen die Fähigkeiten gegeben, die für sein Leben notwendig sind. Dazu gehört auch die Vernunft, und es wäre widersinnig, wenn diese gegen die göttliche Offenbarung streiten würde. Deshalb kann John Locke schreiben: „Die Vernunft muß unser letzter Richter und Führer in allen Angelegenheiten sein.“ (in: Euchner, 1996, S. 160)

a) Biographisches und Inhaltliches

Politisch sind es in England sehr unruhige Zeiten, in denen John Locke lebt. Es geht um die Frage der Macht zwischen dem nach Absolutismus strebenden König und dem auf Einfluß pochenden Parlament; religiöse Grundsatzfragen stehen auf der Tagesordnung, die sich um die inhaltliche und organisatorische Reform der anglikanischen Kirche und um Tendenzen zur Rekatholisierung drehen; eine neue, kapitalistische Wirtschaftsordnung angesichts des englischen Erwerbs von Kolonien versucht sich durchzusetzen; und die Auseinandersetzung dreht sich um die Frage des politischen Liberalismus, der den Schutz des bürgerlichen Individuums als seinen Hauptzweck ansieht und religiöse Toleranz und Meinungsfreiheit fordert. Im England des 17. Jahrhunderts sind dies keine akademischen Streitfragen, sondern politische Positionsbestimmungen, die man mit Gewalt durchzusetzen versucht; ein Auf und Ab, in dem mal die eine, mal die andere Seite obsiegt - bei gewaltsamer Unterdrückung der jeweiligen Gegenseite. John Locke spürt diese Ausschläge am eigenen Leibe: er ist politisch einflussreicher Berater des Regierungschefs; er flieht nach Frankreich als dieser verhaftet wird; er kehrt nach England zurück, als seine Partei wieder an die Macht kommt, schließlich geht er nach Holland ins Exil, als der nach absolutistischer Macht und Rekatholisierung strebende König die Oberhand gewinnt. Es ist die Zeit der unblutigen „glorreichen Revolution“ mit einem relativen Machtausgleich zwischen den verschiedenen Parteien und der Durchsetzung einer gewissen Liberalität, in der John Locke seinen Lebensabend gesichert und geachtet in England verbringen kann.

·       Lebensstationen

1632

29. August: Geburt John Lockes

1646

Westminster-Schule in London

1652

Studium an der Universität Oxford

1658

Magistertitel, Lehrtätigkeit

1665

Sekretär der Gesandtschaft am brandenburgischen Hof in Kleve

1667

Umzug nach London zu Shaftesbury

1675

Aufenthalt in Frankreich

1679

Rückkehr nach London zu Shaftesbury

1683

Emigration in die Niederlande

1689

Rückkehr nach England

Posten in Kommission für Steuerfragen

Schriften: 2 Traktate über die Regierung

Essay über den menschlichen Verstand

1693

Schrift: Einige Gedanken zur Erziehung

1696

Posten im nationalen Handelsrat

1700

Rücktritt aus den Kommissionen

1704

28. Oktober: Tod John Lockes

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schon in seiner Kindheit und Jugend ist John Locke den unterschiedlichen Strömungen des geistigen und politischen Lebens durch unmittelbare Erziehungseinflüsse ausgesetzt. Da ist zunächst sein Elternhaus, das puritanisch geprägt ist. Der Vater ist Rechtsanwalt und hat von seinen in der Textilindustrie erfolgreichen Vorfahren ein kleines Vermögen geerbt. Später wird dies John Locke bekommen, und er kann einen Teil seines Lebensunterhalts dadurch bestreiten. Die Puritaner sind eine religiöse Gruppe, die sich gegen die offizielle anglikanische Kirche wendet, da diese sich zwar politisch von Rom gelöst hat, in ihrer organisatorischen Verfassung (Bischofsprinzip) und inhaltlichen Ausrichtung aber der alten Kirche unverändert entspricht. Duch reformatorische Impulse, die den Bestrebungen Calvins nahe stehen, soll eine neue Kirche geschaffen werden (Galling, 1961, Bd. V; S. 723f). Fleiß, Disziplin, Ordnung - dies sind Eigenschaften, die für den Puritanismus wichtig sind, und die John Locke über seine frühe Erziehung geprägt haben. Anfang der 40er Jahre des 17. Jahrhunderts gewinnen die Puritaner an Einfluß im englischen Parlament (dies ist auch die Gruppe, die derzeit Johann Amos Comenius nach England eingeladen hat).

Dieser Tatsache verdankt sich auch die Möglichkeit, dass der zwölfjährige John Locke aus dem Städtchen Pensford an die angesehene Westminster Schule in London gehen kann - Voraussetzung für eine akademische Karriere. Es ist nicht nur das großstädtische Leben, in das John Locke hier hineinkommt, sondern auch eine grundlegend andere politische Ausrichtung, die jetzt auf ihn wirkt. Trotz gegenteiliger Anschauung kann ein „konservativer Royalist“ (Thiel, 1990, S. 12ff) die Schule leiten. Das pädagogische Klima - „Disziplin, Leistung und harte Arbeit“ (ebenda) - ist mit dem bisher Erfahrenen vergleichbar, doch die inhaltlichen Positionen stehen konträr zueinander. Der Besuch der renommiertesten Schule Englands ermöglicht es dem 20jährigen, auf das Christ Church College in Oxford zu wechseln. Hier trifft er auf einen Leiter, der neue, liberal-demokratische Ideen vertritt, so dass der Heranwachsende sich mit einer dritten politischen Grundausrichtung auseinandersetzen muss. Er absolviert das Studium in vorgezeichneten Bahnen: zunächst das stark verschulte Grundstudium  und dann mit 26 Jahren der Abschluss als Masters of Art. Dieser ist die Voraussetzung, um auf die andere Seite des Tisches zu wechseln: John Locke bleibt als Dozent am Christ Church College in Oxford. In dieser Zeit wendet er sich den Naturwissenschaften zu, die außerhalb des traditionellen Verfahrens der Universität neue, revolutionäre Wege beschreiten. Nicht durch Buchwissen, nicht durch dogmatische Aneignung von vorgegebenen Lehrsätzen, sondern durch Experiment und empirische Forschung sollen die Naturgesetze entdeckt werden. Dies gilt auch für die Medizin, der John Locke sich verstärkt zuwendet.

 

Lebensentscheidend für den 35-jährigen wird die Begegnung mit dem 1. Grafen von Shaftesbury (damals Lord Ashley), einem der politisch einflussreichsten Menschen der damaligen Zeit in England. Dessen Auf und Ab in der Politik (mal ist er Lordkanzler, mal im Tower inhaftiert) bestimmen im folgenden den Lebensgang John Lockes. Zunächst wird er als dessen Leibarzt eingestellt, und es wird erzählt, dass er durch eine Notoperation einmal das Leben des Grafen rettete. John Locke siedelt nach London über, und er berät seinen Arbeitgeber auch in politischer Hinsicht. Shaftesbury gehört zu den liberalen Politikern, für die die Schaffung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen angesichts des aufstrebenden Kapitalismus und die auf individuelle Freiheit sowie bürgerliche Mitbestimmung ausgerichteten Forderungen in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Der bislang eher konservativ denkende John Locke muss sich zunächst selbst neu orientieren, um den Erwartungen gerecht zu werden. Er vollzieht diese Wendung nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene, sondern er durchdenkt sie in so grundsätzlicher Weise, dass er zu dem Theoretiker des politischen Liberalismus wird.

·       Politische Theorie

Lockes politische Theorie ist motiviert durch die Fragen nach der Legitimität und den Grenzen staatlicher Macht, deren Beantwortung erst die Grundsätze einer politischen Verfassung ergeben lässt. In seiner Argumentation greift er dabei sehr weit zurück: Ausgangspunkt ist ein ursprünglicher, idealer Naturzustand, ein „Zustand des Friedens, des Wohlwollens, der gegenseitigen Hilfe und Erhaltung“ (in: Euchner, 1996, S. 82). Die Menschen waren hier frei und gleich, und wenn jemand gegen das unumstößliche Selbsterhaltungsrecht des anderen verstieß, so hatte jedermann das individuelle Recht der Bestrafung des Rechtsbrechers. Dieser gute Naturzustand hatte dadurch jedoch seine Schwierigkeiten, dass die Rechte und Pflichten nicht eindeutig abgesteckt waren, so dass egoistische Individuen den Frieden und die Freiheit der anderen bedrohen konnten. Die Abwehr dieser Gefahr war der Entstehungsgrund der Gesellschaft und ist auch der Rechtfertigungsgrund für staatliches Eingreifen: Durch verbindliche Gesetze und eine legitim strafende gesellschaftliche Instanz soll „das Leben, die Freiheit und das Vermögen“ (ebenda, S. 84) der Individuen besser geschützt werden. Gesellschaft und Staat beruhen somit auf einem zustimmenden Vertrag freier Menschen, woraus sich eine Beschränkung des legitimen Eingriffsrechts des Staates ergibt. Politische Macht darf nur so weit reichen, wie ihr ursprünglicher Zweck - der Schutz des Individuums - greift, und der Staat ist auf Zustimmung der Mehrheit der Bürger angewiesen. Greift er zu weit und unterdrückt die Menschen diktatorisch, so haben diese ein Widerstandsrecht. Um die Gefahren staatlicher Übergriffe abzuwehren, muß die politische Verfassung eine strikte Gewaltenteilung in Legislative und Exekutive vorsehen. Aus dem Staatsverständnis John Lockes ergibt sich eine klare Trennung von Staat und Kirche (als der Institution, die den Weg der rechten Gottesverehrung sucht) sowie die Forderung von Toleranz gerade in religiöser Hinsicht (wenngleich John Locke zeitbedingt Katholiken und Atheisten von diesem Anspruch ausnimmt). Kritisch formuliert er in Bezug auf die vorangegangene politische Epoche: „Es ist nicht die Verschiedenheit der Meinungen (die nicht vermieden werden kann), sondern die Verweigerung der Toleranz (die hätte gewährt werden können) für die, die verschiedener Meinung sind, die alle die Tumulte und Kriege erzeugt hat, die es in der christlichen Welt wegen der Religion gegeben hat.“ (in: ebenda, S. 117)

·       Wissenschaftstheorie

Dies ist die eine Seite des beruflichen Lebens John Lockes: seine Tätigkeit als Politikberater, der die diesbezüglichen Fragen grundsätzlich durchdenkt und so zu theoretischen Aussagen gelangt, die über den Tag hinausreichen. Doch er ist dabei nicht der abgehobene Wissenschaftler, sondern bis ins hohe Alter hinein arbeitet er in regierungsamtlichen Kommissionen mit, die Vorschläge für die Neugestaltung des Staates erarbeiten. Die andere Seite seiner beruflichen Tätigkeit ist die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen, ohne dass er dabei eine akademische Karriere realisiert. Er entwickelt eine Erkenntnistheorie, die für das empiristische Programm der Neuzeit charakteristisch wird. In einem knappen Exkurs wollen wir auch diese kennzeichnen.

Der Mensch besitzt keine „angeborenen Ideen“ - weder von sich selbst, der Welt außen oder von Gott -, sondern als „leeres Zimmer“, als „dunkler Raum“, als „Tabula rasa“, als „weißes Papier“ (in: ebenda, S. 30) betritt er mit der Geburt die Welt. Das Wissen ist noch nicht in seinem Kopf, sondern durch „mühevolle Gedankenarbeit“ (in: ebenda S. 29) muß es erst aufgebaut werden - muss das leere Zimmer möbliert, der dunkle Raum erhellt, das weiße Papier beschrieben werden. Dabei beginnt der Säugling seine Verstandesentwicklung mit einem passiven Prozess: Er hat seine Sinnesorgane, seine Augen, Ohren usw., und diese prägen ihm ein Bild von der Welt außen in seinen Kopf ein. Hinzu kommen die Wahrnehmungen, die der Säugling von seinem eigenen Inneren erhält - der Bauch zwickt, die Hand drückt den erfassten Gegenstand. Die inneren und äußeren Wahrnehmungen bilden das Grundmaterial, auf das die folgende aktive Phase der Erkenntnisgewinnung aufbaut: Sinnesempfindungen werden eingruppiert, miteinander verglichen, durch Wörter repräsentiert usw. Wir werden weiter unten noch sehen, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts Maria Montessori den erkenntnistheoretischen Ansatz John Lockes pädagogisch nutzt, und der richtigen Sinneswahrnehmung des kleinen Kindes eine entscheidende Bedeutung zuweist. Da unsere Erkenntnisse auf einzelnen Wahrnehmungen aufbauen, können wir nie ganz sicher sein, ob unser Wissen richtig ist: unsere Sinne können uns täuschen und unsere im Kopf vorgenommene Vergleichung und Begriffsbildung können der Welt außen nicht adäquat sein. Deshalb führt John Locke den Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ ein, der die Überzeugung von der absoluten Wahrheit ersetzt. Auch dieser Gedanke spielt in der wissenschaftstheoretischen Diskussion des 20. Jahrhunderts - nämlich in der Position des Kritischen Rationalismus Karl Poppers, s.u. - eine wichtige Rolle. In Bezug auf das Problem der Beschränktheit unserer Sinnesorgane - und damit der Beschränktheit unserer Erkenntnismöglichkeit - argumentiert John Locke in gleichermaßen pragmatischer wie religiöser Weise: „Für die Erfordernisse unseres praktischen Lebens hat uns ... Gott in seiner unendlichen Weisheit mit hinlänglichen Erkenntnismitteln ausgestattet.“ (ebenda, S. 52)

Verweile Wanderer,

Hier liegt John Locke. Wenn du fragst, was für ein Mann er war, so antwortet er: einer, der mit seinem bescheidenen Los zufrieden lebte. Durch die Wissenschaften genährt erreichte er gerade so viel, daß er der Wahrheit allein diente. Dies lerne aus seinen Schriften; sie werden Dir mitteilen, was von ihm übrig ist, und zwar wahrhafter als die verdächtigen Lobpreisungen einer Grabschrift. Seine Tugenden, wenn er welche besaß, waren zu gering, als daß er sich ihrer rühmen oder sie Dir zur Nachahmung hinstellen könnte. Seine Fehler seien mit ihm begraben. Wenn Du ein Vorbild der Tugend suchst, Du hast es im Evangelium; ein solches der Laster mögest Du nirgendwo finden. Ein Bild des Todes (Dir zum Nutzen) hast Du gewiß hier und überall.

Daß er a.D. 1632 am 29. August geboren wurde und a.D. 1704 am 28. Oktober gestorben ist, daran erinnert diese Tafel, die bald selbst vergehen wird.“ (in: Thiel, 1990, S. 134)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vier Jahre vor seinem Tod zieht sich John Locke aus dem öffentlichen und politischen Leben zurück, und er verbringt die letzte Zeit vollständig in dem Haus der ehemals Geliebten. An seinem letzten Lebenstag liest sie dem Sterbenden aus den Psalmen vor, und der geachtete Philosoph wird in einem einfachen Holzsarg beerdigt, da er die ersparten Kosten den Armen spenden wollte (Thiel, 1990, S. 124). Die nebenstehende Grabinschrift hat er selbst verfaßt. Sie charakterisiert Selbstbewusstsein und Bescheidenheit John Lockes gleichermaßen.

b) „Einige Gedanken über die Erziehung“

Viele Jahre seines Lebens verbringt John Locke im Exil, und er kann nur brieflich Kontakt zu Freunden in England halten. Unter dieser Korrespondenz befinden sich auch Ratschläge zur Erziehung eines Kindes. Die Anregungen, die er dort gibt, fasst er später in einer Schrift zusammen, der er einen für ihn charakteristischen, weil unsystematischen Titel gibt: „Einige Gedanken über die Erziehung“. Auf den ersten Blick liest sich das Buch wie ein Erziehungsratgeber: konkrete Vorschläge zur richtigen Erziehungsmethode werden angeboten, ohne dass eine ausführliche anthropologische Herleitung oder eine differenziert begründete Zielanalyse erfolgen würden. Im Vergleich zu Johann Amos Comenius, dessen pädagogische Schriften durch das Ringen um das „All“ des Menschen, der Welt und Gottes motiviert sind, ist John Locke wesentlich pragmatischer. Dies macht seine Schwäche aus, denn nicht alle „Gedanken“ erscheinen eindeutig begründet, und neben den „Einigen“ Gedanken, die geäußert werden, vermisst man andere; aber die pragmatische Orientierung macht auch die Stärke des Buches aus, weil dadurch ein lebendiges Bild des Erziehungsverhältnisses von Erwachsenem und Kind immer spürbar ist. So unsystematisch dieser Erziehungsratgeber auf den ersten Blick erscheint, so ergibt eine genauere Betrachtung seiner Ratschläge einen unmittelbaren Bezug zu den politischen Grundannahmen und dem Menschenbild. Die fehlende Festgefügtheit der pädagogischen Theorie korrespondiert mit der Selbstbeschränkung des liberalen Staates. Die Scheu vor den großen Worten und dem allumfassenden gedanklichen System speist sich auch aus der Furcht vor den Gefahren des Dogmatismus: Wenn die Theorie von den obersten Normen bis zu den konkretesten methodischen Verfahrensvorschlägen ein einheitliches, scheinbar geschlossenes Gedankengebäude darstellt, dann wird das individuelle Kind nur noch zum Anwendungsfall dieser Theorie. Solcherart konzipierte Pädagogiken neigen zu einem Rigorismus, der nur noch das in den Blick nimmt, was der Theorie gemäß ist, und alles andere oft gewaltsam unterdrückt. Weil John Locke ein solches System „normativer Pädagogik“ nicht vorlegt, sondern lapidar nur „Einige Gedanken“ formuliert, kennzeichnet seine Pädagogik eine Offenheit, die nicht mit Willkürlichkeit oder Beliebigkeit zu verwechseln ist. Wir werden vielmehr gleich sehen, dass seine pädagogischen Sätze klar und eindeutig sind und daß hinter ihnen eine Vorstellung des durch Erziehung mitzuschaffenden menschlichen „Glücks“ steht.

Wiederum auf den ersten Blick kennzeichnet eine geschlechts- und eine standesmäßige Beschränkung den Text John Lockes.  Es geht um die Erziehung eines Jungen, und es geht um die Erziehung eines Jungen aus der bürgerlichen Oberschicht. Dies ergibt sich aus dem eben erwähnten Anlass der Schrift, aber auch aus der biographischen Herkunft des Autors. Der Adressatenkreis ist die Schicht, von der sich John Locke die aktive Gestaltung der politischen Reform verspricht. Ist deshalb der ausdrückliche Bezug auf die „Gentleman-Erziehung“ nicht zufällig, so enthält das Buch in einer demokratischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gelesen, aber doch pädagogische Anregungen, die über diese Beschränkung hinausgehen.

·       Wissen

Der Bereich der Erziehung, der John Locke am wenigsten wichtig erscheint, ist das wissensmäßige Lernen, wobei er gleich die Verwunderung des Lesers vorwegnimmt, ein solches Urteil „aus dem Munde eines Buchgelehrten“ (S. 137) zu hören. Er beschreibt zwar ein differenziertes Bildungsprogramm, das vom Lesen- und Schreibenlernen über den Erwerb des Französischen als erster und des Lateinischen als zweiter Fremdsprache hin zu dem Grammatikunterricht und der Vermittlung mathematischer, geographischer und geschichtlicher Kenntnisse reicht und darüber hinaus Berufsfertigkeiten (Gärtnern und Schreinern) einschließt. Doch die Aneignung dieser Inhalte hat nur Sinn, wenn der Primat der Charaktererziehung bedacht wird. Ist diese unzureichend, dann stellt eine ausgezeichnete wissenschaftliche Schulbildung eher ein Problem als einen Gewinn dar, weil durch sie der falsche Egoismus nur noch verstärkt würde. Erst in den Rahmen der richtigen Erziehung eingeordnet gewinnt der Wissenserwerb seinen Stellenwert. John Locke macht sich über die Eltern lustig, die die Schulbildung ihrer Kinder so hoch achten, und er vermutet, dass dies durch deren immer noch vorhandene eigene „Furcht vor der Rute des Schulmeisters“ (S. 138) motiviert sei. Weil der Bereich der Bildung gegenüber dem der Erziehung zweitrangig ist, fordert John Locke von dem professionellen Erzieher vor allem charakterlich einwandfreie Eigenschaften, während er den wissenschaftlichen Vorkenntnissen nicht so viel Gewicht beimisst.

Innerhalb des Bereiches wissensmäßigen Lernens stellt John Locke zwei Ziele in den Vordergrund: Zum einen muss es an der „Nützlichkeit“ (S. 153) orientiert sein, es ist Vorbereitung auf das tatsächliche Leben der Kinder; und er schreibt deshalb ironisierend in Bezug auf das Übergewicht des Grammatikunterrichts der traditionellen Schule: „Würde nicht ein Chinese, der diese Art von Ausbildung gewahrte, auf den Gedanken verfallen, all unsere jungen Leute gehobenen Standes seien dazu bestimmt, Lehrer und Professoren der toten Sprachen fremder Länder zu werden und nicht Geschäftsleute in ihrem eigenen Land?“ (S. 156) Zum anderen sollte es beim Lernen weniger um die Aneignung eines konkreten Inhalts gehen als um das „Lernen des Lernens“: die natürliche Motivation der Kinder, sich Wissen von der Welt anzueignen, gilt es zu verstärken, und sie sollten darauf vorbereitet werden, wie sie sich selbst Wissen aneignen können. Bei seinen Unterrichtsmethoden muss der Lehrer darauf Acht geben, dass das Lernen ohne Angst geschehen kann. Denn: „Es ist ebenso unmöglich, schöne und regelmäßige Schriftzüge in ein zitterndes Gemüt einzuzeichnen wie auf ein verrutschendes Papier.“ (S. 153) Lernen soll Erholung sein, und dies ist dann möglich, wenn der Lehrer in den Vordergrund stellt, was das kindliche Spiel kennzeichnet: die Selbstbestimmtheit. Wenn dem Kind das Lernen nicht aufgezwungen, sondern wenn seine natürliche Neugierde in den Mittelpunkt gestellt wird, die danach drängt, Antworten auf eigene Fragen zu bekommen, dann kann dem Lernen der Zwangscharakter genommen und die Effektivität des Unterrichts gesteigert werden.

·       Körperliche Erziehung

John Locke beginnt seine „Gedanken über die Erziehung“ mit den körperlichen Entwicklungsfaktoren. Diese sind ihm wichtiger als der soeben beschriebene Bereich schulmäßiger Bildung. Als Arzt fühlt er sich berufen, Aussagen zur Gesundheitserziehung zu machen, wobei er von seinem Berufsstand keine positive Meinung hat. Deshalb rät er, bei Krankheiten nicht zu schnell den Arzt zu rufen, dem er vorwirft, häufig „zum Herumpfuschen geneigt“ (S. 27) zu sein. Es sei besser, die Kinder „ganz der Natur zu überlassen“ (ebenda), und sein Naturprogramm äußert sind in dem Motto: „Unser Körper kann alles ertragen, woran er von Anfang an gewöhnt wird“ (S. 10). Deshalb sollen die Kinder nicht zu warm gekleidet werden, und insbesondere die Füße sind der Kälte und Feuchtigkeit auszusetzen; in weiten, nicht einschnürenden Kleidern soll viel Bewegungsmöglichkeit verschafft werden; beim Essen sollen Gewürze und Salz nur sparsam eingesetzt werden, Zucker ist zu meiden, und das Trinken soll nicht übermäßig sein. Schlaf ist als einziges der Bedürfnisse, die „weichlich und weibisch“ (S. 22) sind, hinreichend zu gewähren: auf harter Lagerstätte, mit frühem Aufstehen am Morgen und entsprechend frühem zu Bett Gehen abends. Die Ratschläge zur körperlichen Erziehung sind im wesentlichen ein Programm der Abhärtung, das mit der Forderung der „Natur“ begründet wird. Wir werden im Verlauf der Geschichte der Pädagogik noch des öfteren den Einfluss, den John Locke diesbezüglich gehabt hat, spüren - nächstens bei Jean-Jacques Rousseau, aber auch in explizit kindzentrierten Ansätzen der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts.

·       Charakterbildung

Es ist die „hauptsächlichste Aufgabe, den Geist zu befähigen, daß er bei allen Anlässen geneigt ist, nur in das einzuwilligen, was der Würde und dem hohen Range eines vernünftigen Wesens angemessen ist. ... die Grundlage aller Tugend und alles Wertes besteht darin, daß ein Mensch imstande ist, sich seine Wünsche zu versagen, seinen eigenen Neigungen entgegenzutreten und lediglich dem zu folgen, was die Natur als das Beste vorschreibt, auch wenn die Neigung nach einer anderen Seite hinzieht.“ (Locke, 1967, S. 28f)

 

 

 

 

 

 

 

 

Wichtigster Bereich der Erziehung der Kinder und Jugendlichen ist die Charaktererziehung. Der Mensch muß lernen, „Beschwernisse zu ertragen“ (S. 28), um mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtkommen zu können. Dabei sind zwei Erziehungsfehler gleichzeitig zu vermeiden: Einerseits darf dem Bedürfnis der Kinder nicht ständig nachgegeben werden, und John Locke polemisiert heftig gegen Eltern, die ihre Kinder „verzärteln“, „verhätscheln“ und die elterliche „Liebe zur Vernarrtheit“ (S. 29) verkehren. Gibt man kleinen Kindern in ihren Wünschen ständig nach, dann lernen die Kinder keinen Maßstab, um ihre Bedürfnisse einzuschränken, sondern diese wachsen ins Unermessliche und erzielen einen Erwachsenen, den es nach „Weib oder Weibern“ (S. 30)  zieht. Andererseits sollen nicht „furchtsame, knechtische und duckmäuserische“ (S. 38) Kinder erzogen werden, die in ihrer Angst gefangen sind und nicht aktiv auf die Welt zugehen können. Das Ziel der Erziehung ist ein Erwachsener, der selbstbestimmt über sich entscheiden kann, weil er nicht von seinen triebhaften Begierden beherrscht wird. Dieser Erwachsene kontrolliert sich selbst durch seine Vernunft, die ihm einen Maßstab zur Unterscheidung von „eingebildeten und natürlichen Bedürfnissen“ (52) eingibt.

Es ist „die große Kunst“ der Erziehung, die „anscheinenden Widersprüche zu versöhnen“ (ebenda), nämlich eine Synthese von Freiheit und Triebeinschränkung herzustellen. Sind die Erzieher zu nachgiebig, dann fördern sie eine ungehemmte, nicht von der Vernunft beherrschte Bedürfniseinforderung. Sind sie andererseits zu streng, dann wird die Selbstbestimmung des Kindes nicht erreicht, weil es in Ängsten gefangen ist. Trotz dieser Anerkenntnis der Widersprüchlichkeit des Erziehungsgeschäftes liest sich der größte Teil der Schrift John Lockes als Unterdrückung der unmäßigen kindlichen Begierden. Seine Ausführungen zum Weinen des Kindes sind ein Beispiel dafür: Entweder weine das Kind aus „Herrschsucht“ (S. 99) oder wegen Schmerzen. In beiden Fällen darf das Weinen jedoch nicht geduldet werden, wobei dies im ersten Fall unmittelbar einleuchtet, würde ein Nachgeben des Erwachsenen hier bedeuten, den erpressten Wünschen der Kinder Vorschub zu leisten. Aber auch im zweiten Fall muss der Erzieher das Weinen unterdrücken, damit das Kind „gegen jegliches Leid, besonders aber das körperliche, abgehärtet“ (S. 101) wird. Das Leben wird für das Kind viele schmerzvolle Situationen bereit halten, denen nicht ausgewichen werden kann. Die „Starkmütigkeit und Unempfindsamkeit der Seele ist die beste Rüstung“ (S. 102) dagegen, und die Erziehung hat das Kind frühzeitig darauf vorzubereiten.

·       Erziehungsgrundsätze

„Die kleinen, fast unmerklichen Eindrücke unserer zarten Kinderjahre haben sehr wichtige und dauernde Folgen; es geht mit ihnen wie mit den Quellen mancher Flüsse, bei denen eine leichte Handbewegung die lenksamen Gewässer in Kanäle zwingt, durch die sie in ganz entgegengesetzte Richtungen geleitet werden. Infolge dieser Beeinflussung ihres Laufes schon an der Quelle fließen die Gewässer in verschiedene Richtungen und gelangen am Ende nach sehr entlegenen, weit voneinander liegenden Orten. ... Ich meine nun, es sei der Geist des Kindes ebenso leicht nach dieser oder jener Richtung hin zu lenken wie das Wasser.“ (Locke, 1967, S. 9)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wichtigstes Erziehungsprinzip ist das der Altersgemäßheit. Es begründet sich bei John Locke noch nicht durch die Eigenstruktur kindlichen Lebens, wie wir dies im Fortgang der Geschichte der Pädagogik später beobachten werden, sondern durch das Verhältnis von Vernunft und Begierden. Das kleine Kind muss erst zu einem vernünftigen Menschen erzogen werden. Solange es dies noch nicht ist, muss die Autorität der Eltern an die Stelle der fehlenden kindlichen Vernunft treten. Für die erste Erziehung hat deshalb die Autorität der Erwachsenen eine große Bedeutung, und die Kinder müssen sich ihr unterordnen. Im Verlauf der Entwicklung, wenn das Kind zunehmend vernünftiger wird, ist diese Herrschaft zu lockern, bis schließlich Freundschaft und Vertrautheit an ihre Stelle treten. Mit den Jugendlichen soll der Erwachsene offen auch über seine eigenen Probleme reden, er soll einbezogen werden in die Geschäfte und Gedanken der Großen. Dies bedeutet nicht, daß hier Erziehung keinen Platz mehr hätte, vielmehr ist es auf dieser Altersstufe wichtig, den Jugendlichen offensiv auf die Gefahren der Welt vorzubereiten. Dies geht jetzt nicht mehr, indem man ihn wie das kleine Kind vor den Problemen und Verführungen der Gesellschaft behütet, sondern indem man ihm diese vor die Augen stellt. Ist der Erzieher durch den freundschaftlichen Umgang mit dem Jugendlichen verbunden, dann wird er in dessen Überlegungen und moralische Kämpfe vertrauensvoll einbezogen und erhält seine Einflussmöglichkeiten.

Ausführlich beschäftigt sich John Locke mit dem Thema der Strafen. Sicherlich lassen sich diese nicht vollständig vermeiden, doch vor ihrem maßlosen Gebrauch ist zu warnen. Sowohl beim Beschimpfen wie beim Schlagen wirkt der Erwachsene oft so, als sei er selbst nicht durch seine Vernunft kontrolliert, und das Kind empfängt ein schlechtes Beispiel für das, was das wichtigste Ziel der Erziehung ist: Selbstbeherrschung. Die Anlässe für Strafen müssen eingeschränkt werden, und wenn sie doch erforderlich sind, dann überlässt man ihre Durchführung lieber dem eingestellten Erzieher, während der Vater bei der Züchtigung des Kindes lediglich anwesend ist. Unnachgiebig muss die Bestrafung aber in dem Falle sein, in dem das Kind den Eltern und Erziehern den Gehorsam verweigert. Da hier die Autorität des Erwachsenen in Frage gestellt ist, muss  er in dem Konflikt mit dem Kind „unbedingt den Sieg davontragen, welche Schläge es auch kosten mag“ (S. 65). Sind die Fronten dann wieder geklärt, dann kann wieder eine Erziehung Platz greifen, die mehr auf Vorbild und Nachahmung, Beispiel und Übung beruht. Dann ist es auch falsch und überflüssig, das Kind durch allzu viele Verhaltensmaßregeln einzuengen, oder von ihnen die übermäßige Beachtung der Anständigkeit äußerer Gesten zu fordern, denn John Locke erwartet nicht, dass Kinder, „noch ehe sie Hosen tragen, das Verhalten und das Benehmen von Ratsherren zeigen“ (S. 34). Maßstab für Milde oder Strenge ist der hinter dem Verhalten stehende Wille des Kindes und nicht die konkrete Handlung. So soll ein großer Schaden, den das Kind aus Unachtsamkeit, aber ohne schlechte Absichten beispielsweise im Spiel anrichtet, unbeachtet bleiben, während ein geringer Schaden, der aber auf einem bösen Willen fußt, eine angemessene Strafe zur Folge haben muss.

Deutlich argumentiert John Locke gegen eine gemeinsame Erziehung vieler Kinder in der Schule und für eine individuelle Erziehung des Kindes in der Familie und mittels eines „Hofmeisters“. In einer Zeit wie der unsrigen, in der die institutionelle Betreuung der Kinder immer ausgedehnter wird, ist dabei die Begründung von Interesse: Die vielen Kinder in der Schulklasse verhindern, dass der Lehrer sich ihnen einzeln zuwenden kann, aber die „Beschaffenheit des Geistes“ weist ebenso viele Verschiedenheiten auf wie das „Antlitz des Menschen“ (S. 90). „Der Geist eines jeden Menschen hat ebenso etwas ihm Eigentümliches wie sein Gesicht, das ihn von allen anderen unterscheidet. Es gibt vielleicht kaum zwei Kinder, die nach genau derselben Methode erzogen werden können.“ (S. 197f) Die Individualität des einzelnen Kindes erfordert eine individuelle Erziehung, in der der Erwachsene das einzelne Kind betrachten muss, dessen Neigungen, Anlagen, Wesenszüge zu erforschen sucht, um auf diese Einmaligkeit reagieren zu können.

Wir dürfen nicht hoffen, das ursprüngliche Wesen der Kinder ganz umzugestalten, weder die heiteren nachdenklich und ernst, noch die melancholischen lustig zu machen, ohne sie zu verderben. Gott hat dem Geiste der Menschen gewisse Charaktereigenschaften eingeprägt, die, wie ihre körperliche Gestalt, vielleicht ein bißchen verbessert, aber schwerlich völlig umgestaltet und ins Gegenteil verwandelt werden können. ... Eines jeden Kindes natürliche Anlage sollte soweit gefördert werden, wie es möglich ist. Aber den Versuch zu unternehmen, ihm eine andere beizubringen, wird vergebliche Bemühung sein.“ (Locke, 1967, S. 47f)

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn das Erziehungsgeschäft von der Sache her widersprüchlich ist, dann lässt sich von einem pädagogischen System schwerlich Widerspruchsfreiheit erwarten. Es überrascht deshalb nicht, dass auch die Schrift John Lockes Spannungen von entgegengesetzten Vorstellungen und Argumenten aufweist. In dem bisher Beschriebenen ist dies schon deutlich geworden. Rücksichtslos und mit starken Worten kann er für die unnachsichtige Durchsetzung der Erwachsenenautorität werben, die den Eigenwillen des Kindes bricht;  aber es finden sich auch Passagen, in denen er mit einer für einen Junggesellen erstaunlichen Sensibilität die kindliche Eigentümlichkeit einfängt und liebendes Engagement für sie fordert: „Ich sehe sie (die Kinder; S.H.) durchaus als Kinder an, die liebevoll behandelt werden, die spielen und ihr Spielzeug haben müssen.“ (S. 34) Neben der Widersprüchlichkeit in dem zentralen pädagogischen Verhältnis kennzeichnet den Text noch eine andere Spannung, die sich auf die Frage des Einflusses der Erziehung bezüglich der kindlichen Entwicklung bezieht. John Locke ist der Autor, der ihre Bedeutung klar herausstreicht: 90 % des Menschen, so sagt er es zu Beginn seiner Abhandlung pointiert, beruhe auf der Prägung durch die Erziehung. Sie erscheint geradezu allmächtig, das „unbeschriebene Blatt Papier“ zu beschreiben, das „Wachs“ zu „pressen und formen ..., wie man will“ (S. 198).

Aber es findet sich auch die gegenteilige Vorstellung, und wir wollen eine diesbezügliche Stelle hier abschließend ausführlicher zitieren. Betrachten wir es ausschließlich unter quantitativen Gesichtspunkten, dann überwiegen in dem Text die Stellen, die der Möglichkeit der Erziehung, ein Kind zu prägen, großes Gewicht beimessen, und auch John Lockes Menschenbild legt diese Vorstellung nahe. Doch die andere - für Locke weniger typische - Seite soll nicht verschwiegen werden, weil sie unmittelbar hineinführt in die zentrale pädagogische Frage nach dem Eigenen, dem Persönlichkeitskern des Kindes, der von den Erwachsenen nicht beeinflussbar ist. In der Praxis der Erziehung erleben wir oft ein Schwanken zwischen Allmachtsphantasien und Ohnmächtigkeitserfahrun­gen, und auch für die Theorie der Erziehung ist die Grundantinomie von Chance und Grenze der pädagogischen Beeinflussung konstitutiv.

 


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