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August Hermann Francke

  Home / Texte / II / August Hermann Francke

Sigurd Hebenstreit

August Hermann Francke (1663 bis 1727): „den Willen unter dem Gehorsam bringen“

Als August Hermann Francke 1727 im Alter von 64 Jahren stirbt, hinterlässt er die „Glauchaschen Anstalten“, ein differenziertes pädagogisches und ökonomisches Unternehmen, das unter seinem Namen als „Franckesche Stiftungen“ berühmt wird und bis heute Bedeutung hat, ja nach dem Zusammenbruch der DDR neuen Aufschwung erhält. Damals umfasst es im pädagogischen Bereich Grund- und Volksschulen für 1725 arme und wohlhabende Kinder, eine Lateinschule mit 400 Schülern, eine Einrichtung für die Kinder der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht mit 82 Plätzen, ein Waisenhaus, in dem 134 Kinder leben und 255 Studenten Unterstützung erhalten. Hinzu kommen darüber hinaus u.a.: eine Druckerei sowie ein Buchladen, die die Herausgabe einer Fülle von Schriften ermöglichen (von August Hermann Francke selbst, aber beispielsweise auch von Johann Amos Comenius), eine Apotheke, die Arzneimittel herstellt und in weite Landesteile exportiert, und Einrichtungen, in denen unverheiratete Damen leben können (Menck 1993; S. 163). In gut 30 Jahren seiner Berufstätigkeit baut August Hermann Francke dieses Lebenswerk aus dem Nichts auf, denn als der 32-jährige in den vor Halle gelegenen Ort Glaucha kommt, findet er eine Gemeinde vor, die in wirtschaftlicher, sozialer und sittlicher Hinsicht heruntergekommen ist. Als Pastor soll er hier wirken und gleichzeitig an der neugegründeten Universität Halle das Amt eines Professors wahrnehmen. Wer ist dieser Mann, der über herausragende Managementfähigkeiten verfügt und obendrein ein starkes Gottvertrauen hat, ein Mann, der von der Sündhaftigkeit des Menschen überzeugt ist und gleichzeitig sich selbst auf dem von Gott gesegneten und deshalb vor Gott gerechtfertigten Weg weiß, ein Mann, der von seinen theologischen Gegnern diffamiert wird, selbst aber auch vor politischen Intrigen unter Ausnutzung seiner Beziehungen zu den politisch Mächtigen nicht zurückschreckt? Vielleicht mag als einleitende Charakterisierung das Bild und der Spruch dienen, die das Portal des Franckeschen Waisenhauses zieren.

a) Biographisches

Kindheit und Jugend zeigen nichts Spektakuläres: August Hermann Francke wird als Sohn eines Juristen in Lübeck geboren. Dieser gehört somit zu der bürgerlichen Schicht, die mit der Herausbildung der absolutistischen Staaten zunehmend an Bedeutung gewinnt. Als der Vater Berater am Hof des Herzogs Ernst des Frommen wird, zieht die Familie des 3-jährigen nach Gotha um. Der Junge ist erst sieben Jahre alt, als der Vater stirbt. Die Schulausbildung erhält er teils im häuslichen Kreis von Privatlehrern, teils in öffentlichen Schulen und schließlich auf dem angesehenen Gothaer Gymnasium. Ab dem 16. Lebensjahr beginnt eine lange, etwas unstetige Studienzeit, in der er sich den alten Sprachen und der Theologie widmet. Mit 24 Jahren tritt dann das lebensentscheidende Ereignis ein, das August Hermann Francke selbst als Bekehrungserlebnis beschreibt.

·       Bekehrungserlebnis

1663

22. März: Geburt in Lübeck

1679

Studienbeginn in Erfurt

1690

Pfarrer in Erfurt

Konflikt mit der luth. Ortodoxie

1692

Pfarrer in Glaucha bei Halle

Professor für alte Sprachen

1694

Heirat mit Anna Magdalena von Wurm

1698

Mitglied der theologischen Fakultät

1715

Pfarrer in Halle

1727

8. Juni: Tod in Halle

 

 

 

 

 

 

 

Von Anfang seines Lebens an hat die religiöse Erziehung im Franckeschen Elternhaus eine wichtige Rolle gespielt, und schon der kleine August Hermann ist sich sicher, später Theologie zu studieren. Doch durch den verderbenden Einfluss der öffentlichen Schule, insbesondere in der Entwicklungsphase, die wir „Pubertät“ nennen, besteht die Gefahr der „verliebung in den äusserlichen Schein dieser welt“ (1690; S. 8). Noch hält das fromme Beispiel der Schwester und die Verachtung der Mitschüler, die den jüngeren Kameraden nicht in ihren Kreis aufnehmen wollen, von dem Schlimmsten ab, und der 16-jährige beginnt mit dem Theologiestudium. Doch je länger das Studium dauert, desto mehr tut sich ein Widerspruch auf: dem äußeren Schein nach ist August Hermann Francke ein frommer Mensch, der die Bibel liest, den Gottesdienst besucht, die Beichte ablegt, doch in seinem Inneren hat er keinen wirklichen Glauben, sondern ist lediglich bestrebt, eine äußere Karriere zu erreichen. Für August Hermann Francke ist dies ein Widerspruch zwischen Vernunft und Herz, Außen und Innen, Schein und Wirklichkeit, Weltzugewandtheit und Leben in Gott, natürlichem Menschen und geistlichem Menschen. Dies ist kein intellektuelles Problem, sondern eine bedrängende Krankheit des Gemüts: das „hertz“ kommt „nicht zur rechten ruhe“ (ebenda; S. 15). Die religiöse und emotionale Lebenskrise gerät auf ihren Höhepunkt, als der 24-jährige in Lüneburg eine Predigt halten soll, die Johannes 20, Vers 31 („Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“) zur Textgrundlage hat. August Hermann Francke will als theologisch-wissenschaftlich geschulter und gleichzeitig mit dem Pietismus bereits in Kontakt getretener Prediger auf „die Erbauung der Zuhörer“ (ebenda; S. 25) abzielen, doch in seiner Vorbereitung kommt ihm „zu Gemüth, daß ich selbst einen solchen Glauben, wie ich ihn erfordern würde in der predigt, bey mir nicht fünde“ (ebenda; S. 26).

„Da erhörete mich der Herr, der lebendige Gott ... So groß war seine Vater-Liebe, daß er mir nicht nach und nach solchen zweiffel und unruhe des Hertzens wieder benehmen wolte, ... sondern ...(er) erhörete ... mich plötzlich. Denn wie man eine Hand umwendet, so war alle mein Zweiffel hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich kunte Gott nicht allein Gott sondern meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und unruhe des Hertzens ward auff einmahl weggenommen, hingegen ward ich als mit einem Strom der Freuden plötzlich überschüttet .... Ich stund gar anders gesinnet wieder auff, als ich mich niedergeleget hatte. Denn mit großem Kummer und zweiffel hatte ich meine Knie gebogen, aber mit unaußsprechlicher Freude und großer Gewißheit stand ich wieder auff.“ (Francke 1690; S.27f)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Damit gerät das gesamte Welt-, Menschen- und Selbstbild ins Wanken: Wenn ich in meinem Innern nicht glaube, sondern mich intellektuell auf die Bibel als von Menschen geschaffene Schrift einlasse, woher weiß ich dann, dass sie Gottes Wort ist? Warum dann nicht der Koran des Islams? Der Zweifel gerät immer tiefer, bis „nicht das geringste mehr übrig war, das ich von Hertzen geglaubt hätte“ (ebenda). Wie gesagt: Keine intellektuelle Krise, nichts mit dem sich mit Vernunftgründen beikommen ließe, sondern eine existentielle Angsterfahrung, die ihm „viel thränen aus den augen“ (ebenda) fließen lässt. Doch August Hermann Francke gibt nicht auf. Bevor er den Predigtauftrag zurückgeben will, macht er einen letzten Versuch, und es kommt plötzlich zu einem „Bekehrungserlebnis“, das er selbst mit nebenstehenden Worten beschreibt. Jetzt ändert sich seine Gemütsstimmung grundlegend: der Schlafende ist „aufgewacht“, der Tote „lebendig worden“; pragmatisch betrachtet ist er nun fähig, seine Lüneburger Predigt zu halten, Pastor und Theologieprofessor zu werden. Kopf und Herz, Weltaktivität und innige Glaubensbeziehung kommen ins Gleichgewicht.

·       Anstaltsgründung

August Hermann Francke setzt sein Theologiestudium fort, und mit 27 Jahren wird er Pfarrer in Erfurt. Hier gerät er in die Frontlinien zwischen der lutherisch-orthodoxen Mehrheit und der pietistisch geprägten Minderheit. Zwischen christlichen Gruppierungen, aber auch innerhalb politischer Parteien und philosophischer Schulen lässt sich häufig die Beobachtung machen, dass für Außenstehende oft wenig gravierende Differenzen im inneren Kreis der gleichen Gruppe mit einer Heftigkeit, Polemik und Intoleranz ausgefochten werden, die oft härter sind als der Kampf gegen die „Nichtgläubigen“ außerhalb. Dies trifft auch auf die Auseinandersetzung der offiziellen Kirche mit dem Pietismus zu (und bei Francke zu sehen: dies gilt auch anders herum). Für den Pietismus ist die individuelle Herzensfrömmigkeit das Wichtige. Sie kann in einem stufenförmigen Prozess beschrieben werden, der von der „göttlichen Rührung“ über den „Buß-Kampf“ und „Geburtsschmerz der neuen Kreatur“ hin zum „Stand der Gnade“ reicht (Brecht 1993; S. 463). Die Menschen und ihr Verhalten in der Welt werden durch eine scharfe Zweiteilung geschieden: „zwischen den Kindern Gottes und den Kindern der Welt, zwischen Bekehrten und Unbekehrten“ (ebenda; S. 464). Entscheidend ist nicht die „äußerliche“, sondern die „rechte Kirche“, wobei die „Kinder Gottes immer die Minorität sind“.  Den weltlichen Genüssen, ihren Karriereversprechungen darf der Mensch nicht viel Bedeutung beimessen, sondern er soll sich auf seine eigene, innige Beziehung zu Gott konzentrieren. Die „Welt, der ihr verkehrter Zustand aufzuweisen ist, ... (bleibt als) Missionsfeld“ (ebenda) vorhanden. Dieses Menschen- und Weltbild bewirkt eine im Pietismus häufig beobachtbare Spannung von Weltabgewandtheit einerseits und enormer gesellschaftlicher Aktivität andererseits. August Hermann Francke wird hierfür zu einem herausgehobenen Beispiel.

Zunächst aber unterliegt er in dem innerkirchlichen Streit in Erfurt. Er muss schon bald seine dortige Pfarrstelle räumen, und um die Jahreswende 1691/1692 kann er sein neues Amt in Glaucha nahe Halle antreten, einer Gemeinde, die ökonomisch, sozial und pädagogisch am Ende ist. Hier bewährt sich Franckes große Fähigkeit, die Ärmel aufkrempeln zu können: die „Kirchenzucht“ ist herzustellen, Schulen sind zu gründen, die Wirtschaft ist anzukurbeln, die Armen sind zu versorgen. Neben seiner Tätigkeit als Pastor wird August Hermann Francke Professor an der Universität Halle, seit 1698 als Mitglied der theologischen Fakultät. Indem er die beiden Ämter miteinander verbindet, schafft er die Voraussetzung, um das Werk seiner Anstalten organisieren zu können und um eine Plattform für die große Publizität seiner Bemühungen zu gewinnen. Er versieht arme Studenten mit einem „Stipendium“, indem er ihnen Wohnung und Nahrung verschafft, und als Gegenleistung setzt er sie als Lehrer und Erzieher in seinen Schulen und Heimen ein. Verfolgen wir ein kleines Stück der Beschreibung, die August Hermann Francke zur Entstehung seines Werkes gibt. Die kleine Schrift trägt den langen Titel, der für Francke Charakteristisches zum Ausdruck bringt: „Die Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOTTES/ Zur Beschämung des Unglaubens/ und Stärckung des Glaubens/ Durch den Ausführlichen Bericht Vom Waysen-Hause/ Armen-Schulen/ und übriger Armen-Verpflegung Zu Glaucha an Halle/ Wie selbige fortgesetzt biß Ostern Anno 1701“ (1701).

Die Schrift ist Rechenschaftsbericht über das bisher Geleistete und Werbebroschüre für weitere Spenden in einem. Alles beginnt mit der damals üblichen Versorgung der Armen: diese finden sich an den Wochentagen abwechselnd zur Mittagsstunde bei einem der Pfarrer ein, um ihr Almosen zu empfangen. Bei Francke ist es der Donnerstag. Als er mit den Menschen ins Gespräch kommt, erkennt er nicht nur ihre ökonomische Not, sondern ihre gleichermaßen moralische, religiöse und bildungsmäßige Unwissenheit. Deshalb verbindet er im folgenden die Armenspeisung mit dem Katechismusunterricht. Zur Begleichung seiner Unkosten hat er in seinem Arbeitszimmer eine Spendendose aufgestellt. Als er in ihr eines Tages die Summe von vier Thalern und sechszehn Groschen findet, beschließt er, dies als Ausgangskapital für die Gründung einer Armenschule zu nutzen. Er beschäftigt einen armen Studenten als Lehrer, stellt einen Raum im Pfarrhaus als Schulzimmer zur Verfügung und kauft Schulbücher. Die Kinder erhalten hier wiederum beides: Unterricht, um zu nützlichen Menschen werden zu können, und Schulspeisung. Die Armenschule wird ein Erfolg, immer mehr Kinder werden ihr zugeführt, so dass nach weiteren räumlichen Möglichkeiten gesucht werden muss.

 

Die Bürger der Stadt wünschen von Francke, er möge auch für ihre Kinder eine Schule gründen, und es dauert kein Vierteljahr, bis die Zahl der Kinder auf fünfzig bis sechzig angewachsen ist. Gleichzeitig erhält Francke eine nennenswerte Summe für die Unterstützung armer Studenten, und sein System, „daß ... eins dem andern die Hand bieten“ muß (ebenda; S. 38), kann sich ausweiten. Gleichzeitig sieht er, dass einige der armen Kinder, die in der Schule erfreuliche Fortschritte machen, durch die Erlebnisse zu Hause wieder herunter gezogen werden, und er beschließt, einige von ihnen aus ihren Familien zu holen und „bey unterschiedlichen Christlichen Leuten“ (ebenda; S. 36) erziehen zu lassen. Ein Student wird damit beauftragt, die Verteilung der unterstützenden Geldmittel vorzunehmen und die Beratung der Pflegefamilien in Bezug auf die rechte Erziehung der Kinder zu gewährleisten. Als größere Geldsummen eingehen, kann Francke ein Waisenhaus bauen lassen - das erste Gebäude in Europa mit Zentralheizung. Gleichzeitig entsteht eine weiterführende Lateinschule, in die nicht nur die Bürgerkinder gehen können, sondern auch die begabten Kinder der Armen. Die Anstalten wachsen in rasanter Geschwindigkeit, ergänzt durch die Gründung einer Apotheke, Krankenstation, Buchhandlung mit Verlag und Druckerei.

„Umb Michaelis anno 1699. war ich in äusserstem Mangel/ und da ich bey gar schönem Wetter ausgegangen war/ und den klaren Himmel betrachtete/ ward mein Hertz sehr im Glauben gestärcket ... Kam darauff zu Hause/ da denn gleich der jenige zu mir kam/ welcher am selbigen Tage/ als an einem Sonnabend/ die Arbeits-Leute beym Bau des Waysen-Hauses bezahlen sollte ... Fragte mich demnach/ ob ich was bekommen hätte? Ist was kommen? sagte er/ ich antwortete: Nein/ aber ich habe Glauben an GOtt. Kaum hatte ich das Wort ausgeredet/ so ließ sich ein Studiosus bey mir melden/ welcher denn dreissig Thaler ... brachte. Da gieng ich wieder in die Stube/ und fragte den anderen/ wie viel er dißmal zur Bezahlung der Bau-Leute bedürffte? Er sagte dreissig Thaler. Ich sagte: Hier sind sie ... Welches denn uns beyde im Glauben sehr stärckte/ indem wir so gar augenscheinlich die wunderbare Hand GOttes erkenneten/ welcher es in dem Augenblick gab/ da es von nöthen war/ und so viel/ als vonnöthen war.“ (43f)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der immense Erfolg des Unternehmens basiert auf einigen Faktoren, die mit Stärken und Schwächen der Person August Hermann Franckes unmittelbar zusammenhängen - eine Aussage, die er selbst niemals so formulieren würde, denn das Werk ist nicht die Tat der Menschen, sondern es sind die „Fußstapffen“ Gottes, der durch sein wohlwollendes Walten der menschlichen Tätigkeit Erfolg gibt. Trotzdem: wichtig ist zum ersten die Franckesche Fähigkeit, große Spendensummen einzutreiben. Die Finanzierung des Ganzen beruht nicht auf einem stehenden Kapital, mit dessen Zinsen man arbeiten könnte, sondern das hereinkommende Geld wird unmittelbar verbraucht. Dabei zeichnet Francke ein starkes Vertrauen auf Gott aus, der die benötigten Geldsummen schon zur rechten Zeit zukommen lassen wird (siehe nebenstehenden Bericht).

Doch es ist nicht nur dieses Gottvertrauen, sondern auch die Ausnutzung der vielfältigen Kontakte, über die Francke verfügt, die das Geld hereinkommen lassen. Dabei gebraucht er auch seine Beziehungen zum brandenburgischen König, der selber Spenden gibt und durch Steuererlass, Spendenprivileg und Konzessionsgewährung den ökonomischen Erfolg gewährleistet. Auch in den Auseinandersetzungen an der Universität scheut Francke nie den direkten Weg zu den politisch Mächtigen, und auch Denunziation und Intrige gehören zu seinem Handwerkszeug. Alles Handeln wird der als richtig erkannten Zielsetzung untergeordnet und durch sie legitimiert. Des weiteren ist es Franckes Personalplanung, die für das Fortkommen der Anstalten entscheidend ist. Mit unseren Worten ausgedrückt: er stellt keine professionellen Lohnerzieher ein, sondern Menschen, die gemeinsam mit ihm von der Richtigkeit der Sache überzeugt sind und deshalb mit Engagement arbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Insbesondere durch die schon erwähnte Einbeziehung armer Studenten hat er sich einerseits einen Stamm von Mitarbeitern gesichert und gleichzeitig für diese ein Praxisfeld geschaffen, so dass sie in unmittelbarer Verknüpfung von Theorie und Praxis studieren können. Schließlich zeigen sich die organisatorischen Fähigkeiten Franckes, der Spontaneität und grundsätzliche Konzeptionsentwicklung miteinander zu verknüpfen weiß. Auf der einen Seite handelt er spontan: er sieht eine „Not“ und beginnt sein Werk sofort, ohne dass er einen Plan hätte, wohin das Ganze führen möge und wie es sich auf Dauer halten ließe. Auf der anderen Seite ordnet er sein Handeln von Anfang an seiner grundsätzlich christlichen Haltung ein, die physisches und psychisches Wohlergehen verknüpft, und er schafft sich die institutionellen Strukturen, die dem Begonnenen Bestand verleihen. Die gesamte Anstalt wird von einem Führungskreis geleitet, der sich aus jeweils einem Verantwortlichen aus jedem Bereich zusammensetzt. Dieser trifft sich täglich in den Abendstunden unter der Leitung Franckes, um zu hören, was es an Neuem aus den einzelnen Feldern zu berichten gibt, und um gemeinsam zu beratschlagen, wie man auf die auftauchenden Probleme reagieren kann. Selbstverständlich wird auch dieser Kreis umrahmt von einem einleitenden und abschließenden Gebet.

b) Pädagogik: Frömmigkeit und Disziplin

August Hermann Francke ist kein Theoretiker der Pädagogik. Er schreibt nicht, weil grundsätzliche Erkenntnisse, entwickelt aus einem philosophischen Gedanken zu Papier gebracht werden sollen; und er schreibt auch nicht, um eigene Erziehungserfahrungen einer breiten Öffentlichkeit zur nachahmenden Reformorientierung zu empfehlen. August Hermann Francke schreibt aus einem unmittelbar praktischen Bedürfnis heraus: je schneller das begonnene Anstaltswerk wächst, desto dringender wird die Entwicklung einer Konzeption, die festhält, auf welche Ziele hin die Kinder zu erziehen sind, welche Aufgaben die Pädagogen wahrzunehmen haben und mit welchen Mitteln die Ziele angestrebt werden sollen. Vor allem da er mit nicht ausgebildeten, jungen Studenten als Lehrern und Erziehern arbeitet, bedarf es konkreter Anweisungen, wie diese sich gegenüber den Kindern zu verhalten haben. Es ist dieser praktische Anlass, den Franckes pädagogische Schriften als plastisch ausformulierten Ratgeber für professionelle Erzieher erscheinen lassen (wobei der heutige Leser hoffentlich nie auf die Idee käme, diesen zu befolgen). In diesem Ausgangspunkt liegt auch der Grund für die fehlende Reflexion und Legitimation der anthropologischen Sichtweise und der Zielsetzung der Erziehung. Das Grundsätzliche ist allen an dem Erziehungswerk Beteiligten gemeinsam und klar, so dass es keiner differenzierten Analyse bedarf, sondern man unmittelbar in das Praktische der Umsetzung durch geeignete Erziehungsmittel hineinspringen kann.

·       Erziehung

Jeder Mensch ist gekennzeichnet durch die Schuld der „Erbsünde“, so dass die menschliche Natur nicht gut, sondern verdorben ist. Der eigener Wille schon des kleinen Kindes muss „gebrochen“ werden, um Platz zu machen für die Schaffung des „neuen Menschen“. Diese beginnt mit der „Bekehrung“, ein Ereignis, das alle Verhältnisse von Grund auf ändert: die Beziehung zu Gott, die Beziehung zu sich selbst und die Beziehung zur Welt. Dem „wahren Christ“, der aus seiner individuell erfahrbaren Beziehung zu Gott lebt, werden alle eigenen und gesellschaftlichen Dinge zweitrangig, was nicht bedeutet, dass sie nebensächlich sind. Vielmehr wird der im rechten Glauben stehende Christ als Folge des Bekehrungserlebnisses sich mit Engagement den weltlichen Aufgaben zuwenden, und dass dieses auch äußerlich erfolgreich ist, wird als Bestätigung dafür gesehen, dass Gott selbst seinen Segen zu dieser Praxis gibt. Angelpunkt ist die Bekehrung, die jedoch nicht von dem Menschen selbst gemacht werden kann, sondern von Gott geschaffen wird. Ich kann keinen anderen Menschen und auch nicht mich selbst bekehren, aber ich kann mich oder einen anderen auf die Bereitschaft zu dem Bekehrungserlebnis vorbereiten, um für das Handeln Gottes offen zu sein. In dieser Vorbereitung auf die Bekehrung liegt auch die Hauptaufgabe der Erziehung, die an vorderster Stelle zwei Ziele anstreben muss: „der natürliche Eigenwille“ des Kindes muss „gebrochen werden“ (1702; S. 15) und die christliche Lehre muss „gleichsam mit der Muttermilch“ (ebenda; S. 17) eingeflößt werden. Dies alles klingt für unsere Ohren fremd, und zu Recht kann die Franckesche Pädagogik als Musterbeispiel „Schwarzer Pädagogik“ (Rutschky 1977) bezeichnet werden. Doch bleiben wir bei dem Versuch, die Vorstellungen dieses Stückes pietistischer Erziehungslehre nachzuzeichnen.

Zwei Hauptbereiche kennzeichnen das Aufgabenfeld der Erziehung. August Hermann Francke bezeichnet sie mit „Erziehung zur Gottseligkeit“ einerseits und „Ausführung zu christlicher Klugheit“ andererseits. Dabei ist die zweite der ersten eindeutig untergeordnet. Die Einführung des Kindes in die Wissenschaft und ihre Vorbereitung auf das praktische Handeln ist ein notwendiger Bestandteil des Unterrichts, weil sie „zu sehr großem Nutzen der Nächsten und zur Beförderung der Ehre Gottes auf herzlichste“ (ebenda; S. 44f) angewandt werden können. In dieser Hinsicht gibt es auch keine standesmäßigen Beschränkungen, vielmehr sind alle Menschen in der Schule zu erziehen, und Francke bezieht die begabten Waisenkinder nachdrücklich in die weiterführende Lateinschule mit ein. Den Kindern der Armen ist deutlich vor Augen zu stellen, „daß sie ja nicht ihr Leben lang das Bettelbrot essen“ (1702a; S. 82), sondern sie sollen zumindest eine elementare Schulbildung erhalten, damit sie zum Nutzen der Mitmenschen und zur Ehre Gottes „etwas Nützliches“ (ebenda) lernen. Die wissenschaftliche und praktische Bildung in der Schule ist dabei kein Selbstzweck, denn es geht nicht darum, gelehrte Kinder zu erziehen, sondern kluge. Durch ihre Verstandesbildung sollen die Kinder nicht in möglichst vielen Bereichen auf möglichst umfangreiche Art ausgebildet werden, denn August Hermann Francke teilt nicht die Hoffnung des Aufklärungszeitalters, eine weitgehend kognitive Förderung wirke sich automatisch auch auf die Moralität des Menschen aus. Sondern die Kinder sollen vorbereitet werden auf die „wahre Klugheit“, die ihnen hilft zu erkennen, „was zum Besten dient“ und wie man „sich vor Schaden hütet“ (1702; S. 50). Wissenschaftliche und erfahrungsmäßige Bildung ist deshalb dem Hauptziel, die „Jugend zur Gottseligkeit“ zu erziehen, untergeordnet.

Bei John Locke war es der „Geist“, der den Menschen befähigen soll, sein Verhalten an dem als dem richtig Erkannten auszurichten: „dem zu folgen, was die Natur als das Beste vorschreibt“ (Locke 1967; S. 28f). Die charakteristische Formulierung bei August Hermann Francke lautet dagegen: das Wichtigste in der Erziehung sei, „den Willen unter den Gehorsam zu bringen“ (1702; S. 15). Dies begründet sich mit dem schon bezeichne­ten pessimistischen Menschenbild: die natürlichen Kräfte schon des kleinen Kindes sind verdorben, sie drängen nach Ruhm, Macht und Ansehen in der Welt und ziehen von dem ab, was das Wichtigste ist, nämlich sich selbst aufzugeben und Gott zuzuwenden. „Das menschliche Herz ist“, so lautet diese Formulierung August Hermann Franckes, „geneigt aus sich selbst einen Abgott zu machen“ (ebenda; S. 14). Diese schlechte Natürlichkeit des Kindes gilt es zu zerstören, und durch die „Zucht“ in der Erziehung wird es vorbereitet auf die Furcht vor Gott. Erst der „gottesfürchtige Mensch“, und dies meint der oben erwähnte Gehorsam, wird nicht gemäß seines eigenen Willens leben, sondern diesen unterordnen unter den erkannten Willen Gottes.

„Hiernächst ist zu merken, daß insonderheit drei Tugenden sind, welche man vor allem suchen muß, den Kindern bei noch zarten Jahren einzupflanzen, so sie anders zu einer gründlichen und beständigen Gottseligkeit sollen angeführt werden, nämlich: Liebe zur Wahrheit, Gehorsam und Fleiß. Da denn die entgegengesetzten Laster zugleich mit ebenso großem Ernst werden vermieden werden, nämlich Lügen, Eigenwille und Müßiggang. Durch die Liebe zur Wahrheit wird das Herz aufrichtig und redlich, auch frei und offen gegen jedermann, und schämt sich, mit heimlichen und falschen Tücken umzugehen. Durch den herzlichen Gehorsam wird die Herrschaft des eigenen Willens und Fürwitzes niedergelegt, und das Herz immer mehr und mehr erniedrigt und demütig gemacht, auch zu einer ungeheuchelten Bescheidenheit und Freundlichkeit angewiesen. Durch den Fleiß wird eine Beständigkeit in allen Dingen, und eine Dauerhaftigkeit erlangt, und das Gemüt frühzeitig aus der groben Unwissenheit und Unerfahrenheit herausgerissen.“ (Francke 1702; S. 28f)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dabei unterscheidet sich der Pietismus von der reformatorischen Lehre dadurch, dass er keine „Mitteldinge“ kennt. Bei Martin Luther haben wir gesehen, dass es Bereiche im menschlichen Leben gibt, die vom christlichen Standpunkt aus nicht eindeutig als „gut“ oder „böse“ charakterisiert werden können, so dass Felder verbleiben, in denen der Mensch sich so oder so entscheiden kann. Für August Hermann Francke gibt es dies nicht: entweder richtet man sein Handeln an dem „Hauptzweck“ aus oder an „Nebenzwecken“. Es gibt ein Schema von „Gut und Böse“, „Gott wohlgefällig oder Gott verleugnend“, und in dieses läßt sich alles einordnen. Eine solche Sichtweise bewirkt eine Zwanghaftigkeit, weil bis in die kleinste Kleinigkeit hinein alles seine eindeutige Beurteilung erfährt und dazu noch mir dem erdrückenden Gewicht der letztendlichen Entschiedenheit belastet ist.

Erstens ist also in der Erziehung der kindliche „Eigenwille zu brechen“, denn wenn dies nicht geschieht, „werden die Kräfte des alten Menschen ... so stark, daß ihnen danach mit Ruten und Stecken nicht mag gesteuert werden“ (ebenda; S. 18). Sodann muss es der Erziehung darum gehen, die entstehende Lücke durch eine intensive und permanente religiöse Bildung aufzufüllen. Schon im Säuglingsalter ist damit zu beginnen, und dem kleinen Kind, das gerade sprechen lernt, sollen Bibelverse vorgesprochen werden, und es ist über die Sündhaftigkeit des Menschen und die Erlösungstat Christi zu belehren - bis hin zu der Vorstellung, welches Verhalten dem Menschen angesichts seiner Sterblichkeit obliegt. Mit dem sprechenden Kind ist der Katechismus durchzunehmen, es soll Gebete und Bibelsprüche auswendig lernen. Es verwundert nicht, dass die Unterrichtsinhalte der so vorbereiteten Kinder hauptsächlich im religiösen Bereich liegen. Betrachtet man die Vorschläge August Hermann Franckes für die Waisenhausschule (1702a), so lässt sich feststellen, dass mehr als die Hälfte der täglichen Schulstunden mit der Behandlung christlicher Themen angefüllt ist. Hinzu kommt die Vorbereitung auf die tägliche Betstunde in der Kirche sowie die Begleitung der Kinder durch den Lehrer zum sonntäglichen Gottesdienst. Soll den Kindern „wöchentlich eine Ergötzlichkeit zur Aufmunterung gemacht“ (1702a; S. 69) werden - denn deren Motivation, ein solches Programm durchzuhalten, ist ja notwendig - so besteht diese „Ergötzlichkeit“ wiederum in Lied, Bibellese, Katechese, Lied und Gebet sowie einer abschließenden Austeilung von „Semmeln oder Obst, ... worüber besonders die kleinen Kinder eine große Freude bezeugen“ (ebenda). Für das Lesen in der Bibel ergibt sich eine methodische Dreigliederung: Zunächst lernen die Kinder einige Sprüche auswendig (und angesichts der Überfülle des diesbezüglichen Programms überrascht es schon, den warnenden Hinweis Franckes zu lesen, man dürfe die Kinder dabei „nicht überhäufen“ - 1702; S. 22), dann werden sie über deren Bedeutung befragt, damit sie nicht „wie die Papageien etwas nachlallten“ (ebenda; S. 18) und schließlich werden sie belehrt, wie man den Sinn der Sprüche als Anweisung für die eigene Praxis zu gebrauchen habe.

Charakteristisches Kennzeichen der pietistischen Pädagogik ist die ständige Aufsicht des Erziehers über die Kinder. Von der Gesellschaft mit „bösen Buben“ (1702a; S. 86) sind sie fernzuhalten, da sie durch deren schlechtes Beispiel verdorben werden könnten. Ferngehalten werden sollen sie aber auch von allem Spiel und weltlicher Lustbarkeit und deshalb wettert August Hermann Francke heftig gegen Komödie, Possenspiel, Roman und Liebesgeschichte. Zu derlei „Narreteiding“ darf die Liebe der Kinder nicht entfacht werden, vielmehr sind sie ernstlich davor zu warnen. „Aufsicht“ meint darüber hinaus, die Zeit richtig zu nutzen. Zwar müssen Kinder sich ausruhen, soll ihre Aufmerksamkeit nicht überspannt werden, doch sollen diese Pausen nicht dazu führen, dass sie ihre Zeit „unnütz vertreiben“ und „ihre ohnedem flatterhaften Sinne in alle Welt zerstreuen“ (1702; S.. 32). August Hermann Francke empfiehlt deshalb als ruhenden Ausgleich für das eben beschriebene Unterrichtsprogramm die Beschäftigung mit der Mathematik, Astronomie, Geographie usw. Auch der Freigang der Kinder wird unter der Aufsicht des Erziehers so einzurichten sein, „daß die Gottseligkeit dadurch nicht gehindert, sondern vielmehr befördert werde“ (ebenda; S. 33). Permanente Aufsicht über die Kinder meint nicht, dass sie vor allem Bösen in der Welt behütet werden könnten. Vielmehr rechnet Francke damit, dass die Kinder Menschen beobachten, die sich nicht tugendhaft verhalten. Auch diese Situationen gilt es zu nutzen, indem sie den Kindern als abschreckende Beispiele vorgehalten werden.

Ermahnung, Verheißung und Drohung sowie Zucht sind die drei Stufen der Franckeschen Erziehungsmittel. Mit „Ermahnung“ ist die Vorgabe von Verhaltensvorschriften und die Gewissenserforschung gemeint, ob das Kind sich gemäß der Tugendziele verhält. Sie soll dem Kind in einer ihm verständlichen Sprache und mit Begründung auf die Anweisungen der Bibel gegeben werden, damit ein Kind sie nicht als erwachsene Willkür, sondern als Gottes Wille erkennt. Auch „Verheißung und Bedrohung“ dürfen nicht auf menschliche Vor- und Nachteile bezogen sein, denn kein Kind soll sich richtig verhalten, nur weil es dafür eine Belohnung erhofft, sondern es  soll in seinem Verhalten ja gerade vollkommen unabhängig von Triebbefriedigung und „weltlicher Lust“ werden. Ob mehr der positive (Verheißung) oder mehr der negative (Drohung) Pol zum Einsatz kommt, muss der Erwachsene vor dem Hintergrund der kindlichen Individualität beurteilen. Hier - wie generell in seiner Pädagogik - betont August Hermann Francke, dass der Einsatz des Mittels sich danach ausrichten muß, was angesichts der Person des einzelnen Kindes am wirkungsvollsten ist. Diese Variabilität gilt für die erzieherischen Mittel, während die zielsetzende Norm (Gottesfurcht)  unverändert bleibt.

·       Strafe

„Christliche Zucht und Bestrafung der Bosheit an den Kindern ist in den Schulen sehr notwendig, und von Gott in seinem Wort auch ernstlich anbefohlen. Es ist aber dabei christlich, weislich, klüglich und vorsichtig zu verfahren, damit man der Sachen, wie es oft geschieht, nicht zu viel, noch auch bisweilen nicht zu wenig tue. ... Weil insgemein zu geschehen pfleget, daß die meisten Praeceptores aus Mangel hinlänglicher Erfahrung und recht göttlicher Liebe das Gute mehr durch scharfe äußerliche Zucht zu erzwingen, als ihre Anvertrauten recht im Geiste der Liebe zu fassen und mit väterlicher Treue, Geduld und Langmütigkeit ihre Herzen zum Guten zu bringen und also nicht Zuchtmeister, sondern Väter zu sein suchen ..., so soll ein jeder Praeceptor Gott inständig und demütig insonderheit anflehen, daß er ihm einen solchen Vatersinn gegen die anvertraute Jugend in sein Herz geben und alles ungebrochene Wesen und Härtigkeit von ihm nehmen wolle. ... Daher ein Praeceptor sonderlich zusehen muß, daß er mit der Hilfe Gottes ein Herr über sich und seine Affecten werde.“ (Francke 1713; S. 107)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit dem Thema der Strafe hat sich August Hermann Francke in einer eigenen kleinen Schrift befasst. Sie wollen wir abschließend kurz vorstellen. Lässt man den Text (1713) heute auf sich wirken, so erschreckt die Konkretheit der Anweisungen, wie welche Kinder wann zu schlagen sind. Aus der Perspektive Franckes wird sich das Problem andersherum gestellt haben: die vielen unerfahrenen und unausgebildeten Studenten werden wohl des öfteren mit ihrer Aufgabe überfordert gewesen sein, und deshalb im Schlagen den letzten Ausweg gesehen haben, um der Kinder Herr zu werden. August Hermann Francke sieht sich deshalb gezwungen, Richtlinien zu erlassen, die die Züchtigungen einschränken. Er argumentiert - psychologisch nicht ungeschickt - , indem er die jungen Erzieher versteht und ihre Aufgabe, die Kinder zu disziplinieren, bestätigt. Doch hinter diese Zustimmung setzt er ein mehrfaches „Aber ...“, das der Brutalität der Strafe ihre Spitze nimmt: Die Strafe soll nur erfolgen, wenn hinreichende Gewissheit herrscht, dass das beschuldigte Kind auch der Übeltäter ist; das Kind muss von der Schlechtigkeit seiner Tat selbst überzeugt sein, so dass es die Strafe als gerecht empfindet; an Sonn- und Feiertagen sind Kinder nicht zu schlagen, damit ihr Gottesdienst nicht beeinträchtigt wird, ebenso ist dann von der Strafe abzusehen, wenn neue Kinder in der Klasse sind, damit diese nicht vor dem Schulbesuch abgeschreckt werden; über Kleinigkeiten soll der Erzieher hinwegsehen und insbesondere soll er die Motivation des Kindes zu seiner Tat und nicht die Schwere der Folgen des Fehlverhaltens zur Grundlage der Bestrafung wählen: zwischen „Ausgelassenheit und Bosheit“ ist zu unterscheiden und nur letztere ist körperlich zu bestrafen. Vor allem muss der Erzieher Acht geben, dass er nicht deshalb ein Kind straft, weil er selbst „zum sündlichen Affect und fleichlichen Zorn gereizt“ (ebenda; S. 115) ist. Zu beachten hat er ferner, dass er nicht die falsche Form der Strafe wähle: Er soll den Kindern keine Schimpf- und Spottnamen geben, sie nicht alleine in einen dunklen Raum einsperren, weil dies Angst erzeuge und auch von den Eltern missbilligt würde, und er soll auch, um Abnutzungserscheinungen zu vermeiden, nicht zu häufig mit dem Strafgericht Gottes drohen. Richtig straft der Erzieher:

·       wenn der körperlichen Züchtigung mindestens „dreimal eine Warnung und wörtliche Bestrafung vorausgegangen“ (ebenda; S.. 108) ist,

·       wenn er die Unterschiedlichkeit der Kinder beachtet (Kinder mit „zarter Haut“ sind weniger feste zu schlagen als Kinder mit „harter Haut“),

·       wenn er die Kinder nicht auf den Kopf trifft, an den Haaren zieht und an den Armen hin- und herzerrt, sondern beispielsweise mit dem Stock auf die Hände oder den Rücken schlägt (wobei auch hier gilt, die Spuren für die Eltern nicht zu sichtbar werden zu lassen),

·       wenn er selbst eine angemessene, würdevolle Haltung bewahrt: er soll anfänglich den Kindern versichern, wie leid ihm selbst die Bestrafung tue, dass sie aber um Gottes Befehl willen notwendig sei; und er soll dem gestraften Kind nachher wieder die Hand reichen.

Es sind diese detaillierten Vorschläge, die heute unseren Widerwillen mit Recht erregen. Doch sollte darüber nicht vergessen werden, was aus der Perspektive August Hermann Franckes das eigentliche Anliegen seiner intervenierenden Schrift ist: die unausgebildeten Erzieher dahin zu bringen, „immer weniger Schläge zu geben“ (ebenda; S. 119) und einen „Vatersinn gegen die anvertraute Jugend“ (ebenda; S. 107) zu entwickeln.

Ein Ziel unserer Darstellung der „Geschichte der Pädagogik“ soll es sein, die über Jahrhunderte entwickelten Gedanken über Erziehung zu nutzen, die eigene Positionsbestimmung herauszubilden. August Hermann Francke scheint hier nur als abschreckendes Beispiel dienen zu können. Deshalb seien zwei Anmerkungen hier zum Abschluss dieses Kapitels angebracht. Zum einen: Das, was hier am Beispiel der christlich-pietistischen Pädagogik aus dem 18. Jahrhundert gezeigt wurde, hätte auch an der Erziehungslehre des menschenvernichtenden Nationalsozialismus oder der Erziehungspraxis des real existierenden Sozialismus im 20. Jahrhundert verdeutlicht werden können (ohne dass diese drei hier gleichgesetzt werden sollen). Immer ist es eine große Gefahr, wenn von einem allumfassenden System nichtpädagogischer Normen ausgegangen wird, an dessen Hinterfragung nicht der geringste Spalt eines Zweifels erlaubt wird (und man sich selbst nicht erlaubt), und von dem aus die Pädagogik dann in Dienst genommen wird. Erziehung wird so schnell zur Manipulation, weil die Eigenberechtigung der kindlichen Lebensweise nicht gesehen wird. Alles kommt auf die rasche und vollständige Anpassung an das vorweg als unbefragt richtig Erkannte an, und als Aufgabe der Kinder wird es gesehen, zu guten Funktionären dieser guten Sache zu werden. Dabei ist man von seiner Mission derart überzeugt, dass die manipulative Tendenz der Verziehung der Kinder gar nicht mehr gesehen wird. Weil die glaubensmäßige oder politische Überzeugung keine „Mitteldinge“ kennt, führt sie rasch in die Intoleranz, die einen Maßstab zur Be- und Verurteilung aller menschlichen Verhaltensweisen zu haben meint. Der Respekt des Pädagogischen, dass Kinder für eine andere Welt vorbereitet werden, über deren Ausgestaltung sie als neue Generation und nicht die abtretende Generation der Erzieher entscheiden, besteht nicht, und deshalb kann auch keine Grenzziehung des legitimen erzieherischen Eingreifens erfolgen.

Zum anderen: Es ist nicht eine Besonderheit August Hermann Franckes, sondern lässt sich in jeder Pädagogik nachweisen, dass die  Pädagogen aus der Perspektive des selbst erzogenen Kindes schreiben. Sei es, dass man die eigene positive Erfahrung weiter geben möchte; sei es, dass man das in den Mittelpunkt stellt, was man selbst als Fehlend erlebt hat; sei es, dass man kompensieren möchte, worunter man selbst gelitten hat - der schreibenden Zunft der Pädagogen geht es nicht anders als den praktizierenden Erziehern. Weil die eigenen Kindheitserfahrungen sehr tief in der emotionalen Schicht des Menschen verankert sind, lassen sie sich nicht überspringen. Dies gelingt vor allem dann nicht, wenn man sich gedanklich oder praktisch Kindern gegenüber sieht, in die man sich mitfühlend hineinversetzt, oder von denen man sich distanzieren muss, um den Sprung auf die andere Seite des Tisches zu bestätigen. Die Gefahr ist groß, dass man Erziehung reflektiert auf dem (oft nur wenig bewussten) Hintergrund des eigenen Lebenslaufes. Nach der Zeit der Seelen- und Glaubenskämpfe, die in seiner Darstellung für den Leser bis heute noch gut nachvollziehbar sind, hat August Hermann Francke für sich einen überzeugenden Lebensweg gefunden. Durch seinen Glauben hat er eine Motivationsbasis gewonnen, die ihm den Aufbau und Erhalt eines großen Werkes ermöglicht hat. Nur: dies ist sein Lebens- und Glaubensweg. Aus ihm lassen sich keine übertragbaren Konsequenzen ableiten, wie andere Kinder zu erziehen wären. Nochmals: August Hermann Francke ist hierfür nur ein Beispiel. Es gibt keinen geschichtlichen Pädagogen (und wohl auch keinen gegenwärtig tätigen Erzieher), der nicht in der Gefahr eines solchen Erwachsenen-Egozentrismus stünde. Die Betrachtung des Zusammenhangs von Biographie und pädagogischer Theorie ist deshalb vielleicht hilfreich, weil sie in der Unterschiedlichkeit der vorgestellten Personen die Leser von heute dazu anregen kann, sich des eigenen Bezuges des individuellen Entwicklungsganges und der unaufgeklärten Erziehungsvorstellungen ein wenig bewusster zu werden.


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