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Jean-Jacques Rousseau I

  Home / Texte / II / Jean-Jacques Rousseau I

Sigurd Hebenstreit

Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778): „Kein Schein, immer nur die Wirklichkeit“

Ein junger Mann von 28 Jahren ist auf dem Weg nach Lyon. Eine enttäuschende Liebe läßt er hinter sich, den Lebensunterhalt muß er sich verdienen und nimmt deshalb die Stelle eines Hauslehrers an. Zwei Jungen soll er erziehen. Ein Jahr dauert der Versuch, dann nimmt er von selbst seinen Hut, denn an der Aufgabe ist er gescheitert. In seinen Lebenserinnerungen beurteilt er seine Eignung bzw. besser Nichteignung mit folgenden Worten: „Solange alles gut ging und ich meine Sorgen und Mühen ... von Erfolg beglei­tet sah, war ich ein Engel; ich war aber ein Teufel, wenn die Dinge quergingen. Wenn meine Zöglinge mich nicht verstanden, war ich außer mir; und wenn sie sich boshaft zeigten, hätte ich sie töten mögen. Das war aber nicht das Mittel, sie klug und artig zu machen. ... Mit Geduld und kaltem Blut hätte ich vielleicht Erfolge erzielen können, aber da beides mir fehlte, erreichte ich nichts Nennenswertes, und meine Zöglinge mißrieten sehr. ... Ich sah alle meine Fehler, ich fühlte sie... Aber was nutzte es mir, das Übel zu sehen, ohne das Mittel anwenden zu können? Während ich alles durchschaute, verhinderte ich nichts, ich hatte in nichts Erfolg, und alles, was ich tat, war gerade das, was ich nicht hätte tun sollen." (1989a, S. 264f)

Der gleiche Mann lebt mit einer Frau in nichtehelicher Lebensgemeinschaft. Fünf Kinder werden geboren, die allesamt mit der Geburt ins Findelhaus abgeschoben werden. Als seine Frau das erste Mal schwanger ist, bemerkt der werdende Vater das vorherrschende Klima der Gesellschaft, daß der, „der am besten für die Bevölkerung des Findelhauses sorgte, ... stets den meisten Beifall“ (1989a, S. 339) erhielt. Dies reicht aus, um „ohne das geringste Bedenken“ den Säugling abzuschieben: „Man wählte eine kluge und zuverlässige Hebamme ..., um ihr dies Gut anzuvertrauen“ (1989a, S 339).

Ein an seiner eigenen Unbeherrschtheit gescheiterter professioneller Erzieher, ein Schuft, der sich an seinen eigenen Kindern vergeht: Jean-Jacques Rousseau. Der gleiche schreibt mit seinem „Emile“ das Buch, das seit mehr als 200 Jahren wohl das wichtigste pädagogische Werk ist. Generationen von Erziehern, Lehrern und wissenschaftlichen Pädagogen haben sich mit diesem Text auseinandergesetzt, es fasziniert und gläubig zu ihrem eigenen gemacht, oder es verschmäht und als „unpraktisches Traumbuch“ (Pestalozzi 1976, Bd. XXVIII, S. 224) verteufelt. Auch in unseren Tagen gehört es sicherlich zu den am meisten gelesenen Büchern der Pädagogikgeschichte - zu Recht. Auf den ersten Blick scheint zwischen Leben und Werk ein Widerspruch zu bestehen, und sich mit Person und Schrift näher zu beschäftigen, mag hilfreich sein, um diesen Widerspruch aufzuklären.

a) Biographisches

 

 

Als erste grobe Orientierung kann uns eine Dreiteilung des Lebens Jean-Jacques Rousseaus dienen: In den ersten 38 Jahren erhält er seine Bildung fernab von der klassischen Schulbildung durch Lebenserfahrungen, Umherreisen und Selbststudium; er beginnt eine Reihe von Berufsausbildungen - als Schuldeneintreiber, Graveur, Musiker und Priester -, die er jedoch nach jeweils kurzer Zeit abbricht; er versucht sich in den Berufen als Sekretär eines Geometers, als Hauslehrer, Gutsverwalter, Musiklehrer und Botschaftssekretär, doch auch diese Tätigkeiten bleiben Episode; und er siedelt schließlich nach Paris über, um in Kontakt mit den politisch und kulturell Einflußreichen seiner Zeit zu gelangen. Der zweite Lebensabschnitt dauert nur zwölf Jahre, eine Zeit höchster Produktivität, in der er all die Arbeiten verfaßt, die seinen Weltruhm bis heute begründen. In den letzten sechzehn Jahren schließlich ist er auf der Flucht vor den politischen Verfolgern und der kirchlichen Orthodoxie, aber auch vor sich selbst; nur schwer findet er Ruhe, weil die eigene Liebessehnsucht unerfüllt bleibt, und wenn es Momente des schlichten, befriedigenden Lebens gibt, dann sind sie der Verweigerung der bedingungslosen Anerkennung durch die anderen abgetrotzt. In dieser dritten Lebensperiode schreibt er seine Autobiographien, allen voran seine „Bekenntnisse“, ein groß angelegter Versuch, „meine Seele gewissermaßen durchsichtig für den Leser zu machen“ (1989a, S. 175). Wir werden in der Geschichte der Pädagogik einige Male auf Autoren treffen, die narzisstischer als Jean-Jacques Rousseau sind, nur schwer werden wir aber einen Menschen finden, der egozentrischer ist. Unaufhörlich kreist er um sich selbst, nicht weil er sich als Gott im Kleinen darstellen möchte, sondern weil er sich in dem schriftlichen Bericht so zeigen will, wie er wirklich ist. Auf Grund seiner Langsamkeit und seiner großen Schüchternheit erlebt er sich im mündlichen Umgang oft als gehemmt, er erscheint als „Dummkopf“ (1989a, S. 117f), obwohl er keiner ist. Er will, daß die anderen ihm die Liebe geben, die er verdient hat, daß sie ihm den Wert zusprechen, auf den er auf Grund der Lauterkeit seiner Absichten Anrecht hat. Die „Bekenntnisse“ sind kein Versuch einer Schönfärberei, um in den Augen des Lesers als strahlender Held glänzen zu können. Hier soll vielmehr ein Leben auch mit allen Schattenseiten so dargestellt werden, wie es tatsächlich war, bis hin zu dem Bericht über menschliche Phantasien, Gedanken und Handlungen, um die wir normaler Weise den Mantel des Schweigens hüllen. Wenn wir jetzt einigen Stationen der Lebensbeschreibung Jean-Jacques Rousseaus folgen, so erfahren wir etwas über dessen Biographie, aber wir erhalten gleichzeitig ein Stück lebendiger Anthropologie.

·       Kindheit und Jugend

1712

28. 6.: Geburt in Genf

Tod der Mutter

1722

Trennung vom Vater

1728

Rousseau. verläßt Genf

Übertritt zum katholischen Glauben

1729

Mamame de Warens

1740

Hauslehrer in Lyon

1742

Übersiedlung nach Paris

1750

1. Preisschrift der Akademie von Dijon

1754

Wiederaufnahme in die reformierte Kirche

1762

Erscheinen des Gesellschaftsvertrages

und des Emile

1763

Fürstentum Neuchátel

1767

Rückkehr nach Paris

1778

Tod in Ermenonville

1794

Überführung des Sarges in das Pariser Panthéon

Ich kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück.“ (11) Mit diesem Lebensbeginn des am 28. 6. 1712 in Genf geborenen Jean-Jacques Rousseaus wird der Grundstein für ein nie vollkommen zu befriedigendes Liebesverlangen gelegt. Das kleine Kind wird von dem Vater aufgezogen, der dabei tatkräftig von seiner Schwester unterstützt wird. Mit im Haushalt lebt noch der sieben Jahre ältere Bruder, ein „verhaltensgestörter“ Bursche, den der Vater häufig schlägt, und vor den sich der kleine Jean-Jacques schützend stellt. Er wird in einer „Besserungsanstalt“ landen, und seine weitere Lebensspur verliert sich schnell. Der Vater scheint ein recht verantwortungsloser Mensch gewesen zu sein. Nachdem er seine Frau geheiratet hat und in entsprechendem Abstand das erste Kind zur Welt kommt, verläßt er die Familie - auch um der Schwiegermutter aus dem Weg zu gehen, ein Motiv, das für Jean-Jacques Rousseau noch selbst wichtig werden wird. Nach sechs Jahren kehrt er zurück, und wiederum in entsprechendem Abstand wird Jean-Jacques geboren, wobei der im Kindbett erfolgende Tod der Mutter dem Familienleben ein Ende setzt. Der Uhrmachermeister kann seine soziale Stellung nicht halten, die Restfamilie muß innerhalb Genfs in ein ärmeres Stadtviertel umziehen. Es gibt Phasen kindlichen Glücks in dem gemeinsamen Leben von Vater und Sohn: wir stellen sie uns vor, wie sie zusammen im Bett liegen und gemeinsam Romane lesen, die die Mutter hinterlassen hat. Eine gehörige Portion Egoismus verbindet dabei den Vater mit dem Sohn: „Würde ich dich so lieben, wenn du nur mein Sohn  wärest?“ (1989a, S. 11), soll er zu dem kleinen Jungen gesagt haben, der für ihn gleichzeitig als am Leben gebliebenes Stück der Mutter steht. Jean-Jacques ist zehn Jahre alt, als der Vater sich in eine tätliche Auseinandersetzung mit einem höher gestellten Bürger einläßt. Der gerichtlichen Vorladung entzieht er sich durch Flucht, den Jungen läßt er alleine zurück. Nicht nur die fehlende Mutter belastet den kleinen Jean-Jacques, auch die Beziehung zu dem Vater ist mangelhaft. Dies hat lebensentscheidende Folgen, die an einer kleinen Randnotiz sichtbar werden. Als Rousseau im Alter seine Lebenserinnerungen schreibt, wird er anläßlich der Erwähnung des Todes des Vaters bemerken, er habe diesen „tugendhaften Vater im Alter von ungefähr sechzig Jahren verloren“ (1989a, S. 334). Tatsächlich ist der Alte 74 Jahre alt geworden. Die ungestillte Liebessehnsucht, die Jean-Jacques sein ganzes Leben lang begleiten wird, ist früh grundgelegt.

Ein Onkel Jean-Jacques wird jetzt für seine Erziehung verantwortlich, und dieser schickt ihn gemeinsam mit seinem eigenen Sohn zu einem Pfarrer auf ein Dorf in der Nähe Genfs. Hier in Bossey verlebt Jean-Jacques zwei Jahre lang eine glückliche Kinderzeit. Die enge Freundschaft zu seinem Vetter, die Freiheiten des dörflichen Lebens, die humanen Erziehungsmethoden des Pfarrers und auch die aufkeimende Liebe zu dessen 40jähriger Schwester, die den Haushalt führt, gewährleisten ein fröhliches, optimistisches Lebensgefühl. Daran ändert auch die erzieherische Züchtigung der Pfarrersschwester nichts, die Jean-Jacques vielmehr mit masochistischer Lust über sich ergehen läßt. Doch ein scheinbar unbedeutendes Ereignis verändert die glückliche Szenerie schlagartig: Der Kamm der Pfarrersschwester ist zerbrochen, und da nur Jean-Jacques sich in dem Raum aufgehalten hat, kann er der einzige sein, der diese Tat begangen hat. Noch der alte Rousseau, der seine „Bekenntnisse“ schreibt, beteuert seine Unschuld, doch in der Situation scheint er allen der Übeltäter zu sein, und nur er selbst weiß, daß es in Wirklichkeit nicht so ist. Doch er kann seine Unschuld nicht überzeugend nach Außen vermitteln, also wird er bestraft, und das kurze Glück seiner Kindheit ist verronnen.

Der Widerspruch von Schein und Wirklichkeit, der für Rousseaus Leben und Schreiben zentrale Bedeutung erhält, wird an dieser kleinen Episode deutlich: Wie kann ich die Wirklichkeit meines inneren Seins gegen den Schein der Vorurteile der anderen durchsetzen? Und wenn dies nicht geht, wenn der äußere Schein sich als wirksamer erweist: Wie gehe ich mit meiner Ohnmächtigkeit um, mich nicht so darstellen zu können, wie ich wirklich bin? Eine ähnliche Geschichte, wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen, was die Frage nach Schuld und Unschuld angeht, „beichtet“ Jean-Jacques aus seinem 16. Lebensjahr: Damals ist er in Turin Diener in einem vornehmen Haus, und er stiehlt der Tochter des Hauses ein wertvolles Band. Als man dies bei ihm findet, behauptet er mit Festigkeit, Marion, die Magd, habe es gestohlen und ihm geschenkt - während es in Wirklichkeit genau anders herum war: er stahl es, um es ihr zu schenken. Doch weil er mit großer Sicherheit seine Behauptung vorträgt, während sie sich schweigend verhält, gilt er als der Unschuldige.

Mit dieser Episode haben wir den Ereignissen vorgegriffen, folgen wir der Chronologie: Der Zwölfjährige wird zusammen mit seinem Vetter in das Haus des Onkels nach Genf zurückgeschickt. Er soll eine Lehre bei einem Gerichtsschreiber absolvieren. Doch dieser beendet das Lehrverhältnis nach kurzer Zeit, da er Jean-Jacques als vollkommen untauglich erfährt. Danach kommt er zu einem jungen Graveur in die Lehre, doch auch diese Zeit erweist sich als schwierig, weil der Lehrherr den Jugendlichen züchtigt, und dieser deshalb den Grund dafür sieht, anschließend die Taten zu begehen, für die er schon bestraft worden ist (vielleicht war die Reihenfolge auch andersherum, doch wie wollen wir heute darüber richten?). Jean-Jacques reagiert, wie er es noch des öfteren in seinem Leben tun wird, wenn Ungerechtigkeit, Konflikt angesagt ist, mit Flucht. Nachdem er es bereits zweimal erlebt hat, daß das Stadttor nach einem sonntäglichen Ausflug auf das Land verschlossen war, weil er zu spät heimkehrte, beschließt er, daß nächste Mal sich nicht der Bestrafung auszusetzen, sondern fortzugehen. Jean-Jacques wird bald 16 Jahre alt, als dieses dritte Mal eintrifft.

·       Madame de Warens

Nach unserer pädagogischen Zeitrechnung wäre der 16jährige in dem Alter, in dem er soeben den mittleren Bildungsabschluß gemacht hätte, er schiene zu jung, um auf eigenen Füßen zu stehen, und die beginnende Lehrzeit wäre beinahe eine Überforderung. Doch Jean-Jacques ist schon lange auf sich alleine gestellt. Wohin soll er - eine geregelte Schulerziehung hat er nicht genossen, zwei Lehrversuche sind gescheitert, Geld hat er keines - sich wenden? Er gibt zur damaligen Zeit in der Nachbarschaft Genfs eine Institution, die dem Magen Nahrung und dem Körper ein Dach über den Kopf verspricht, wenngleich sie auch den angeborenen Glauben kostet. Jean-Jacques wendet sich an einen katholischen Geistlichen, der ihn zu Madame de Warens weiterverweist, die in dieser Angelegenheit Erfahrung besitzt. Die ehemalige Geliebte einflußreicher Männer ist nicht unvermögend, und als Frau, die selbst konvertiert ist, hilft sie umherstreunenden Jugendlichen, die aus dem reformierten Genf kommend zum katholischen Glauben übertreten wollen. Madame de Warens ist zwölf Jahre älter als Jean-Jacques, und als dieser sie das erste Mal sieht, ist er ganz von ihr eingenommen. Doch bevor es zur Annäherung kommt, wird er nach Turin in ein Kloster geschickt, um die richtige Glaubenslehre zu erhalten. Für zwei Monate bleibt er an einem Ort, der in düsteren Farben geschildert wird und eher als Gefangenenlager denn geistlicher Erquickungsort erscheint. Dann erfolgt der Übertritt in die katholische Kirche. Jean-Jacques erscheint dieser Schritt als die „Handlung eines Gauners“ (1989a, S. 66). Für ein Butterbrot hat er seinen alten Glauben verraten, und Jean-Jacques Rousseau wird noch lange Zweifel haben, bis er als 42jähriger von Paris aus in seine Heimatstadt reisen wird, um wieder zurück in die reformierte Kirche einzutreten.

Er hält sich ungefähr ein Jahr in Turin auf, und versucht durch verschiedene Hilfsarbeiten sich das notwendige Geld zu verdienen. Dann erfolgt die Rückreise zu Madame de Warens, in die er sich sogleich wieder unsterblich verliebt, wobei diese Leidenschaft eingebettet ist in eine Mutter-Kind-Beziehung: „Ich hieß ‘Kleiner’, sie ‘Mama’ und stets blieben wir ‘Kleiner’ und ‘Mama’“ (1989a, S. 108). Es hat etwas Pubertätshaftes, wenn wir uns den ‘Kleinen’ vorstellen, wie er sein Bett küßt, weil er sich vorstellt, „daß sie darin gelegen“ (1989a, S. 110). Oder erwähnen wir eine andere Begebenheit: „Eines Tages bei Tisch, gerade als sie einen Bissen in den Mund gesteckt hatte, schrie ich auf, daß ich daran ein Haar gesehen hätte; sie läßt ihn wieder auf ihren Teller fallen, ich nehme ihn gierig und schlinge ihn hinab.“ (1989a, S. 110)

Der Versuch wird gemacht, Jean-Jacques in ein Priesterseminar zu schicken, doch auch dieser Ausbildungsversuch mißlingt. Schließlich soll er Musiker werden, und er begleitet einen Kirchenmusiker auf seiner Reise. Als dieser dann in Lyon auf offener Straße einen epileptischen Anfall erleidet, läßt Jean-Jacques ihn im Stich (wie gesagt, wir erwarten keine Heldengeschichte, sondern offene „Bekenntnisse“). Er will zurück zu „Mama“, doch muß feststellen, daß sie während seiner Abwesenheit abgereist ist. So begibt er sich selbst auch auf eine Wanderschaft, die nicht frei von abenteuerlichen Episoden ist. Beispielsweise dient er einem Hochstapler, der sich als griechischer Geistlicher ausgibt, der zur Erhaltung der christlichen Gedenkstätten in Jerusalem Geld sammelt, als Übersetzer. Erst als der Schwindel auffliegt, trennt sich Jean-Jacques von ihm. Nach fast zwei Jahren kehrt er zu Madame de Warens zurück.

Jetzt wird aus dem 19jährigen Jugendlichen ein Heranwachsender. Er wird Sekretär bei einem Geometer und verdient zum erstenmal sein „Brot auf ehrenhafte Weise“ (1989a, S. 174). Nach zwei Jahren wird er diese Stelle aufgeben, um Musiklehrer zu werden. In diesem Alter beginnt er auch sein Selbststudium, durch das er sich die Bildung aneignet, die er später zur Erarbeitung seiner eigenen Schriften benötigt. Und schließlich wird er in dieser Zeit der Geliebte von Madame de Warens. Rousseau schildert dieses Erlebnis von Seiten der Frau aus mehr als abschließende Krönung ihres Bildungsversuches an dem Jugendlichen Jean-Jacques: „Ich wurde ganz ihr Werk, ganz ihr Kind“ (1989a, S. 221). Auf einem Spaziergang bereitet sie ihn vor, daß sie ihn „nun als Mann behandeln müßte“ (1989a, S. 192), und sie gewährt ihm eine achttägige Nachdenkfrist, um sich auf das bevorstehende Erlebnis vorbereiten zu können. Er genießt die Lust der ersten sexuellen Erfahrung, aber ihm ist auch, „als hätte ich Blutschande begangen.“ (1989a, S. 196)

Die Verhältnisse sind kompliziert; er ist Liebhaber und Kind, sie Geliebte und Mama; sie sind aber auch verwickelt, weil da noch ein Mann ist, der Verwalter von Madame de Warens, der ehemals ihr Liebhaber war. Zwar schildert Rousseau die Zeit zu dritt als idyllische Situation, doch der ungeklärte Tod des Verwalters (ein Selbstmordversuch war vorausgegangen) wirft doch ein anderes Licht auf die Szenerie. Zunächst einmal übernimmt Jean-Jacques auch die Stelle als Verwalter der Güter von Madame de Warens, ein Posten, den er wohl nicht mit gutem Geschick ausfüllt. Die Zeit des Glücks mit der Geliebten-Mama steigert sich noch, als beide in ein abgelegenes Landhaus - Les Charnettes - nahe der Stadt umziehen. Rückblickend schreibt er: „Hier beginnt das kurze Glück meines Lebens. Hier kommen die friedlichen, aber flüchtigen Augenblicke, die mir das Recht gegeben haben, zu sagen, daß ich gelebt habe.“ (1989a, S. 224)

Doch die Zeit des Glücks neigt sich dem Ende entgegen. Der 25jährige reist zu einem Arzt nach Montpellies, um sich wegen eines angeblichen Herzpolypen behandeln zu lassen (ein hypochondrischer Zug wird Jean-Jacques Rousseau sein Leben lang begleiten). Als er zurückkommt, muß er feststellen: „ich fand meinen Platz besetzt“ (1989a, S. 259). Madame de Warens, die sich zwischenzeitlich einen neuen Verwalter und Liebhaber genommen hat, empfängt ihn kühl. Er bleibt noch eine Zeit bei ihr, geht dann für ein Jahr als Hauslehrer nach Lyon (wir haben über die diesbezügliche Erfahrung bereits berichtet), kehrt nochmals zu Madame de Warens zurück. Doch da deren Anteilnahme an ihm sich nicht verändert hat, entschließt sich Jean-Jacques Rousseau dazu, in Paris sein Glück zu versuchen.

·       In Paris

Jean-Jacques Rousseau ist 30 Jahre alt. Er hat ein System entwickelt, um die traditionelle Notenschrift, deren Erlernung ihm große Schwierigkeiten gemacht hatte, durch eine einfachere Ziffernschreibweise zu ersetzen. In Paris will er diesen Plan der Öffentlichkeit präsentieren, und er zweifelt nicht, „daß ich, wenn ich meinen Plan der Akademie unterbreitete, eine Revolution hervorrufen würde“ (1989a, S. 269). Tatsächlich ist die Aufnahme nicht ganz so euphorisch. Zwar wird eine Kommission zur Prüfung eingesetzt, aber die Akademie gewährt nur „ein Zeugnis, voll sehr schöner Komplimente, aus denen sich im Grunde ergab, daß sie mein System weder für neu noch nützlich hielt“ (1989a, S. 281). Trotzdem: er hat einen Fuß in die Tür der Pariser Gesellschaft gesetzt, und er gewinnt Kontakt zu einflußreichen Damen und Herren, die ihn in die Salons einführen. Dies ist ein Muß, um in der damaligen Gesellschaft Karriere machen zu können, obwohl Rousseau noch immer nicht klar ist, auf welchem Gebiet er eigentlich Bedeutung erlangen will. Zunächst bietet sich ihm die Möglichkeit, als Sekretär des Botschafters in Venedig zu arbeiten, ein einjähriges Gastspiel, das mit einer Enttäuschung endet, weil der als unfähig beschriebene Botschafter alles unternimmt, um den Tatendrang Rousseaus zu bremsen. Trotz dieses Mißerfolges bleibt der Venedigaufenthalt nicht ohne Auswirkungen: Rousseau vertieft sich in die italienische Musik, und das ist für den Musikliebhaber, der sich selbst als Opernschreiber probieren wird, nicht wenig; und er ist gezwungen, sich aktiv mit politischen Fragen auseinandersetzen zu müssen, auch ein Bereich, der im weiteren Schaffen Rousseaus wichtig werden wird.

Nach Paris zurückgekehrt vertiefen sich die Kontakte zu der Pariser Gesellschaft und ihrer intellektuellen Elite. Langsam gewinnt Rousseau einen Stand innerhalb der Gruppe der „Aufklärer“, die das fortschrittliche geistige Leben bestimmen. Vor allem der Name Diderot wird in seinem Leben noch eine Rolle spielen. Er wird beauftragt, für die große Enzyklopädie den Artikel über Musik zu schreiben - Anzeichen dafür, daß er langsam dazu gehört.

Wir machen jetzt einen Schwenk auf das private Leben Jean-Jacques Rousseaus, und wir müssen dabei Seiten berühren, die wohl zu den dunkelsten seines Lebens gehören. Nach seiner Zeit in Venedig wohnt Rousseau in einem Pariser Gasthaus, in dem eine etwas unscheinbare junge Frau arbeitet, die bald zum Gespött der übrigen Bewohner wird. Jean-Jacques jedoch ist betroffen „durch ihre sittsame Handlung ... und mehr noch durch ihren lebhaften und sanften Blick“ (1989a, S. 326). Er macht sich zu ihrem Beschützer vor den unfeinen Angriffen der anderen, auch wenn er dadurch selbst die Zielscheibe der Angriffe wird. Aus diesem Anfang heraus, der nicht durch Liebe geprägt war, entwickelt sich eine Beziehung, die das gesamte weitere Leben Rousseaus andauern wird. Es wird mehr als 20 Jahre dauern, bis Jean-Jacques seine Thérèse Lavasseur heiraten wird, und seine, einem Freund in einem Brief schriftlich mitgeteilten Gründe für diesen Schritt, wirken nicht besonders überzeugend: „Ich bin nicht allein sehr zufrieden mit meiner Heirat, sondern es war auch eine Pflicht, die nicht erfüllt zu haben ich mir bitter vorwerfen würde, obwohl ich vorher keine Verpflichtungen dieser Art übernommen hatte. Fünfundzwanzig Jahre der Anhänglichkeit, Dienste aller Art und die Pflege während meiner Krankheiten, ihre Freundschaft für mich würden nicht genügt haben, mich zu diesem Schritt zu veranlassen; aber dann sah ich, daß sie entschlossen ist, mein Geschick bis ans Ende zu teilen und mir überallhin in meiner bedrängten Lage zu folgen: so mußte ich es tun.“ (in: Holmsten1988, S. 143) Es ist nicht nur keine Liebe auf den ersten Blick, sondern es wird auch nie Liebe werden, wie Jean-Jacques offen bekennt, und dabei noch hinzusetzt, „daß die sinnlichen Bedürfnisse, die ich bei ihr gestillt habe, für mich einzig die des Geschlechtstriebes waren, ohne mit der Persönlichkeit etwas zu tun zu haben“ (1989a, S. 409). Betrachten wir es unter moralischen Gesichtspunkten, dann läßt sich Unverständnis und Widerwille nicht verschweigen: Der Egozentriker Rousseau „bedurfte einer Nachfolgerin für Mama“ (1989a, S. 327), und da er auf Grund seiner Schüchternheit Schwierigkeiten im Kennenlernen von Frauen hat, nimmt er sich die Erstbeste, der er habhaft werden kann. Thérèse Lavasseur ist dabei von „begrenzterem Geist“ (1989a, S. 277), und Rousseau scheut sich nicht, exaktere Beschreibungen folgen zu lassen: sie kann nicht richtig lesen, kennt die Uhr und die Abfolge der zwölf Monate nicht, kann nicht rechnen, weiß sich nicht auszudrücken. Für einen angehenden Intellektuellen nicht gerade die geeignete Partnerin, und vergeblich versucht Jean-Jacques sie zu belehren. Später, als er zurückgezogen mit Thérèse Lavasseur lebt, wird er noch bedauern, sie nicht mehr gebildet zu haben, da auf Grund dieses Mangels ein intensiver Gedankenaustausch nicht möglich ist und nur „Klatsch, Lästerei und Gemeinplätze“ (1989a, S. 415f) übrigbleiben. Doch trotz dieser so wenig vorteilhaften Beschreibungen: die beiden bleiben bis Rousseaus Lebensende zusammen, und allein diese Tatsache ist für Thérèse Lavasseur eine Auszeichnung, und trotz fehlender Liebe kann man den Aufzeichnungen Rousseaus eine hohe Anerkennung für seine Frau entnehmen.

Fünf Kinder entstammen der Beziehung von Thérèse Lavasseur und Jean-Jacques Rousseau, die alle als Neugeborene ins Findelhaus gegeben werden, das erste mit einer Chiffre versehen, die anderen vier völlig anonym. Bei diesen Kindesaussetzungen ist Jean-Jacques die treibende Kraft, die die Skrupel der Mutter zu überwinden hat. An verschiedenen Stellen versucht Rousseau seine Handlungsweise zu rechtfertigen: Das gesellschaftliche Klima in den Pariser Salons förderte die Bereitschaft der Eltern, sich ihrer Kinder möglichst schnell zu entledigen (in der Tat ist es interessant zu erfahren, daß um 1790, 12 Jahre nach Rousseaus Tod, 90% aller Pariser Kinder nicht bei ihren Eltern lebten und erzogen wurden, Badinter); Jean-Jacques sieht sich als unfähig an, seine Kinder selbst zu tüchtigen Menschen zu erziehen, so daß sie im Waisenhaus besser aufgehoben sind; die böse Schwiegermutter, die gemeinsam mit dem Paar lebt, und die Jean-Jacques aus tiefstem Herzen haßt, hätte sich der Kinder bemächtigt, um einen weiteren Trumpf gegen ihn in der Hand zu haben usw. Im Rückblick betrachtet nehmen alle diese Scheinargumente nichts von der Schurkenhaftigkeit Jean-Jacques. Er weiß dies auch, und er leidet im Nachhinein unter seiner Tat. An vielen Stellen seiner autobiographischer Schriften kommt er auf diese Wunde zu sprechen; manchmal gewinnt man den Eindruck eines Wiederholungszwangs, sich das vor Augen zu führen, was das „Herz nicht immer ruhig gelassen“ (1989a, S. 584) hat. Betrachten wir die Eltern-Kind-Beziehung historisch, dann ist das Neue der Situation Rousseaus, daß er unter der Tat der Kindesaussetzung leidet, daß sein Herz „Reue“ fühlt. In seinem Emile wird er deshalb kompensatorisch zu einem glühenden Verfechter der Mutter- und Vaterliebe als einer von der Natur aufgegebenen Verpflichtung der Eltern, selbst für die eigenen Kinder zu sorgen: „Wer die Pflichten eines Vaters nicht erfüllen kann, hat kein Recht, es zu werden. Weder Armut noch Arbeit, noch menschliche Rücksichten sprechen ihn davon los, seine Kinder zu ernähren und sie selbst zu erziehen. Ihr könnt es mir glauben, meine Leser. Ich sage es einem jeden voraus, der Kinder hat und so heilige Pflichten versäumt, er wird lange Zeit über seinen Fehler bittere Tränen vergießen und niemals getröstet werden.“ (1989c, S. 27)

Rousseau ist 37 Jahre alt, bisher hat er sich in einigem versucht, einige Talente hat er ausgebildet, erste Kostproben seiner Schaffenskraft gegeben. Aber noch ist der Durchbruch nicht da, noch hat er sein Lebensthema nicht gefunden. An einem schönen Tag wandert er von Paris nach Vincennes, um dort den Freund Diderot zu besuchen, der im Gefängnis eingesperrt ist. Jetzt tritt jenes umwälzende Ereignis ein, das man mit dem Bekehrungserlebnis August Hermann Franckes vergleichen kann. Jean-Jacques Rousseau hat eine Zeitschrift bei sich, und in ihr findet er die Ausschreibung für eine Preisschrift, die die Akademie von Dijon ausgelobt hat. Die Frage lautet: „Hat die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen, die Sitten zu veredeln?“ (Röhrs 1993, S. 78) Nicht intellektuell abwägend beschäftigt sich Rousseau auf seinem Spaziergang mit dieser Frage, sondern die Einsichten, die sich ihm plötzlich aufdrängen, betreffen seine ganze Person. In einem Brief wird er dies später einmal so beschreiben: „Auf einmal fühle ich, daß mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, ganze Massen lebhafter Gedanken stellen sich ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung versetzt; meinen Kopf ergreift ein Schwindel, welcher der Trunkenheit gleicht. Ein heftiges Herzklopfen beklemmt mich, hebt meine Brust empor; da ich gehend nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Wege hinsinken und bringe eine halbe Stunde dort in einer Bewegung zu, daß ich beim Aufstehen den ganzen Vorderteil meiner Weste mit Tränen benetzt finde, ohne gefühlt zu haben, daß ich welche vergoß.“ (1978b, S. 483)

Jean-Jacques schreibt seine Abhandlung nieder, und die Akademie wird sie mit dem ersten Preis auszeichnen. Hier findet er zu seinem Lebensthema: Was ist der Mensch, was sind seine Aufgaben und Bestimmungen? Was ist die Natur des Menschen und was lenkt ihn von seinem großen Weg ab? Wo läßt sich ein Ausweg aus der das menschliche Glück bedrohenden Krise finden? Im Rückblick wird Rousseau von seiner Schrift sagen, ihr fehle es „völlig an Logik und Ordnung“ und es sei „das schwächste in der Beweisführung“ (1989a, S. 357) aller seiner Werke. Nichts desto trotz: das Thema ist gefunden, und es kann im folgenden ausgearbeitet und auf verschiedene Lebensfelder angewandt werden.

Die These der Schrift ist ein eindeutiges „Nein“ auf die gestellte Frage: Der Fortschritt der Wissenschaft hat den Menschen nicht besser und glücklicher gemacht, sondern ihn abgeführt von der Bahn der Natur, so daß der Mensch immer mehr durch „Argwohn, Mißtrauen, Furcht, Kälte, Zurückhaltung, Haß und Verleumdung“ (1978b, S. 36) gekennzeichnet ist. Zwischen Wissenschaft und Moral besteht ein geradezu umgekehrt proportionales Verhältnis: „unsere Seelen sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste vollkommener geworden sind.“ (1978b, S. 37) Die Natur hat den Menschen „vor der Wissenschaft bewahren wollen, so wie eine Mutter ihr Kinde eine gefährlichen Waffe aus den Händen reißt“ (1978b, S. 44). Der Mensch muß wieder lernen „in sich selbst“ zurückzukehren und auf „die Stimme des Gewissens“ zu hören (1978b, S. 60). In einer späteren Antwort auf eine Kritik an seiner Schrift präzisiert Rousseau, daß „die Wissenschaft, so schön und erhaben sie ist, dennoch nicht für den Menschen gemacht ist. Sein Geist ist zu eingeschränkt, als daß er in ihr jemals große Fortschritte machen könnte, und sein Herz ist zu sehr voller Leidenschaften, als daß er sie nicht übel anwenden sollte.“ (1978c, S. 70)

Mit diesen Thesen hat Jean-Jacques Rousseau einen Generalangriff auf den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung eingeleitet. Jetzt beginnt er auch im persönlichen Umgang die Konsequenzen zu ziehen: Die Gekünsteltheit seiner Zeit, die Großstadt Paris, das heuchlerische, nur auf den eigenen Vorteil bedachte Herumphilosophieren, der fehlende feste Bezugspunkt des Lebens, in dem Gott und die Einfachheit der Natur keinen Platz mehr haben - dies alles wird ihm jetzt zu einem unerträglichen Problem, und er beginnt seine „Umwandlung“ mit dem Äußeren: „Ich legte alle goldenen Litzen und die weißen Strümpfe ab, ich nahm eine runde Perücke, ich legte den Degen ab, ich verkaufte meine Uhr, indem ich mir mit einer unglaublichen Freude sagte: Dank sei dem Himmel, ich brauche nicht mehr zu wissen, welche Stunde es ist.“ - Und hier sei noch einmal daran erinnert, daß sein Vater Uhrmacher war. - (1989a, S. 358)

Jean-Jacques Rousseau ist 40 Jahre alt, als er auf anderem Gebiet unerwartet großen Erfolg hat: Er komponiert die Oper„Der Dorfwahrsager“, die sogar vor dem König aufgeführt wird. Der Komponist ist zu diesem Anlaß anwesend, allerdings im „nachlässigen Aufzug ... mit starkem Bart und ziemlich schlecht gekämmter Perücke“ (1989a, S. 372). Ein mulmiges Gefühl überkommt ihn angesichts der gut gekleideten Zuschauer, und Fluchtgedanken tauchen auf. Er diskutiert mit sich selbst, bis er sich schließlich entscheidet zu verbleiben, wobei von den genannten Gründen am überzeugendsten die „Unmöglichkeit es zu ändern“ (1989a, S. 372) wirkt. Die Aufführung ist ein Erfolg und Jean-Jacques Rousseau soll am nächsten Tag vor dem König zur Audienz erscheinen. Er geht nicht hin, obwohl er dadurch einer Pension verlustig geht, weil seine „verwünschte Schüchternheit“ (1989a, S. 375) ihn daran hindert.

·       Schaffensperiode: Abhandlung über die Ungleichheit und Gesellschaftsvertrag

Die „große Reform“, das Bemühen, sich unabhängig von den Vorurteilen der anderen zu machen, um ganz in sich selbst zu ruhen, ist kein einmaliger Akt, kein Umschalten des Lichtschalters, der von einem zum anderen Augenblick alles neu erscheinen läßt. Sie ist eine beständige Lebensaufgabe, die Jean-Jacques Rousseau bis zu seinem Tod begleiten wird, Er hat mit der Umgestaltung des Äußeren seiner Person begonnen, er hat die ihm mögliche Pension des Königs abgelehnt, wenngleich dieser Schritt eher das Ergebnis seiner Schüchternheit als eine bewußte Provokation war - aber er betrachtet seine Schüchternheit auch als eine ihm von der Natur gegebene Eigenschaft. Jetzt reist er nach Genf, seine Heimatstadt, um sich als Bürger einer Republik und nicht als Fremdling in einer korrupten absolutistischen Monarchie fühlen zu können, und seine nächste große Arbeit wird er der „Republik zu Genf“ widmen. In Genf tritt er wieder zur Reformierten Kirche über, und er heilt damit eine Wunde, die ihm sein jugendlicher Schritt zur katholischen Kirche verursacht hat. Es gibt sogar Erwägungen, ganz nach Genf überzusiedeln, doch da einer seiner Lieblingsfeinde - Voltaire - dort in der Nähe wohnt, würde er auch hier nicht genug Luft haben, um in Freiheit und Frieden leben und arbeiten zu können.

Die Akademie von Dijon hat eine erneute Preisfrage ausgeschrieben: „Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist er durch das Naturgesetz begründet?“ (Röhrs 1993, S. 85) Rousseau beschäftigt sich mit dem Thema, weil er dadurch die Frage, die zu seiner Lebensfrage geworden ist, weiterverfolgen kann: Was ist der Mensch? Was ist der Mensch, wenn wir ihn unabhängig von allen gesellschaftlichen Einflüssen als natürliches Wesen betrachten? Und was wird aus dem Menschen mit seinen ursprünglichen Antrieben, wenn er durch die gesellschaftlichen Einrichtungen geprägt wird? Rousseau schreibt eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die mit der Beschreibung des natürlichen Menschen beginnt und bis zu der despotischen Gewalt des Absolutismus reicht. Die Menschheitsgeschichte läßt eine Entwicklung zu zunehmender Ungleichheit, Gewalt und Unfreiheit erkennen. Zwei Eigenschaften zeichnen den natürlichen Menschen aus: seine „Eigenliebe“, die ihn alles unternehmen läßt, was sein Wohlsein steigert, und sein Mitleid, das ihm eingibt, „keines von unsersgleichen ohne Widerwillen untergehen oder leiden sehen (zu) können“ (1978d, S. 185). Er lebt unschuldig in relativ großem Abstand zu den Mitmenschen und befriedigt selbst die noch geringe Zahl ursprünglicher Bedürfnisse (Nahrung, Schlaf, Sexualität). Nackt läuft er umher, und er lebt noch nicht in einer Wohnung; sein Denken beschränkt sich auf den geringen Kreis dessen, „wovon er glaubt, daß es ihn angehe“ (1978d, S. 225) Doch der natürliche Mensch ist kein Tier, denn während dieses ausschließlich instinktgesteuert ist, hat jener die Entscheidung, „dem Eindruck zu folgen oder zu widerstehen. Vor allem in dem Bewußtsein dieser Freiheit zeigt die Seele die Eigenschaften eines Geistes ... das Vermögen, zu wollen oder vielmehr zu wählen.“ (1978d, S. 204)

 „Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviel Laster, wieviel Krieg, wieviel Mord, Elend und Greuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Gra­ben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört.’“ (1978d, S. 230)

Durch einen langen Prozeß, dessen Beschreibung wir an dieser Stelle nicht im einzelnen nachzeichnen wollen, wird die Abhängigkeit des Menschen von den Menschen, die im Zustand der Natur keinen Platz hat, stärker. Dadurch erhöht sich das Kräftepotential (z.B. durch die Arbeitsteilung und die Erfindung von Werkzeugen) der Menschen beträchtlich; doch dieser Zuwachs führt nicht zu mehr Glück, weil gleichzeitig die Bedürfnisse über die natürlichen hinaus überproportional anschwellen: Die Menschen „waren nicht glücklich, wenn sie sie (die Bequemlichkeit der künstlichen Bedürfnisbefriedigung) hatten, aber doch unglücklich, wenn sie ihnen fehlten.“ (1978d, S. 235) Der „Sündenfall“ im Übergang vom natürlichen zum gesellschaftlichen Menschen ist mit dem Zeitpunkt des Eigentumsrechtes eingetreten. Mit ihm folgt notwendiger Weise der Beginn der politischen Herrschaft, die das Eigentum zu schützen hat, und damit die Aufgabe der ursprünglichen Freiheit des Menschen; und aus der Einführung der politischen Macht entsteht zwangsläufig die Tyrannei und der Despotismus, um die gewonnene Stärke der Überlegenen auszubauen, zu perfektionieren und zu vererben, und damit die Verfestigung der Sklaverei der Masse der Menschen: „Die Menschen werden wieder einander gleich, weil sie alle nichts sind.“ (1978d, S. 262)

„Dieser Übergang vom Naturzustand in den staatsbürgerlichen Zustand bewirkt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, indem im Verhalten desselben die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes gesetzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit gegeben wird, die ihnen zuvor fehlte. Nun erst, da die Stimme der Pflicht an die Stelle des physischen Triebes tritt und das Recht an die Stelle der Begierde, sieht sich der Mensch gezwungen, nachdem er bislang nur auf sich selbst Rücksicht genommen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu Rate zu ziehen, ehe er seinen Neigungen folgt. Obgleich er sich in diesem Zustand mehrerer Vorteile begibt, die ihm die Natur gewährte, so gewinnt er doch so große andere, seine Fähigkeiten werden so sehr geübt und entwickelt, seine Begriffe so sehr erweitert, seine Gefühle so sehr veredelt, seine ganze Seele zu solcher Höhe erhoben, daß er - wenn der Miß­brauch seines neuen Zustandes ihn nicht hinter seinen bisherigen zurückfallen ließe - unablässig den glücklichen Augenblick segnen müßte, der ihn dem letzteren auf ewig entrissen hat und der aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Tier ein einsichtiges Wesen, einen Menschen schuf.“ (1989e, S. 284)

Die Bewertung, die Jean-Jacques Rousseau als Zusammenfassung seiner Arbeit gibt, spricht eindeutig für den natürlichen und gegen den gesellschaftlichen Menschen: „Jener (der natürliche Mensch) sehnt sich nur nach Ruhe und Freiheit, er will nur leben und untätig bleiben. Gegen alles übrige ist er noch gleichgültiger als der unempfindlichste Stoiker. Der immer tätige Bürger hingegen schwitzt, arbeitet und quält sich unaufhörlich, um sich noch mühsamere Beschäftigungen zu verschaffen. Er arbeitet sich tot, um leben zu können ... Der wilde Mensch lebt in sich, der gesellige hingegen ist immer außer sich und lebt nur in der Meinung, die andere von ihm haben. Selbst die Empfindung seines Daseins nimmt er nur aus ihrem Urteil.“ (1978d, S. 264) Aber folgt daraus, daß ein „Zurück zur Natur“ die Konsequenz ist, wie die Gegner Rousseaus es gesehen haben? So schreibt Voltaire an Rousseau: „Noch niemand hat soviel Geist verschwendet wie Sie, in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen. Man bekommt richtig Lust, auf allen vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Indessen habe ich diese Gewohnheit schon seit sechzig Jahren aufgegeben, und so ist es mir unmöglich, sie wieder aufzunehmen.“ (Voltaire, in: Hansmann 1996, Bd. II, S. 2) Doch jenes zur Charakterisierung von Rousseau gerne benutzte Wort von dem „Zurück zur Natur“ findet sich nicht in seinen eigenen Schriften, und es ist auch nicht seine Vorstellung, daß man das Rad der Geschichte zurückdrehen könne oder sollte. Die Zeichnung von dem glücklichen, beschränkten, freien „Wilden“ benötigt Rousseau, um seine Kritik an der bestehenden Gesellschaft verdeutlichen zu können: sein Leiden an dem fremdbestimmten, dem „Schein“ der Vorurteile folgenden Leben, das den Menschen nicht zu sich selbst kommen läßt. Und er braucht den fiktiven Naturzustand, um an dem starken Glauben festhalten zu können, daß der Mensch gut ist, obwohl die empirische Erfahrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer dagegen spricht - oder, um eine Formulierung des späten Rousseaus zu benutzen: er behauptet immer, „daß der Mensch gut ist, obgleich die Menschen böse sind“ (1978 e, S. 285). Daß er sich des fiktiven Charakters des Naturzustandes selbst bewußt ist, wird schon in der Einleitung der Abhandlung über die Ungleichheit  deutlich, wenn er von ihm als einem Zustand schreibt, „der nicht mehr zu finden, vielleicht niemals dargewesen ist, und künftig auch, allem Ansehen nach, nie vorkommen wird“ (1978d, S. 182)

Die beiden Schriften zu den Preisausschreiben der Akademie von Dijon sind wichtige Stationen auf dem Weg der Persönlichkeitsbildung Jean-Jacques: Er denkt selber, es sind seine Gedanken, die er niederschreibt - unabhängig davon, was der Modeton der intellektuellen Führungsschicht dazu sagen mag. Doch Jean-Jacques Rousseau will kein Berufsschriftsteller werden, da dies seine Unabhängigkeit einschränken würde. Deshalb verdient er einen Teil seines Geldes weiterhin mit dem Abschreiben von Noten. Der andere Teil ergibt sich aus Zuwendungen reicher Gönner, vor allem Gönnerinnen. Das ist zwar für die damalige Zeit keine unübliche Finanzierungsquelle, aber für jemanden, der nicht Hofnarr werden will, nicht ungefährlich. Ein solches Kapitel müssen wir jetzt berühren.

Um sich von den Salons und Cliquen der scheinbar besseren Gesellschaft unabhängig zu machen, drängt es Jean-Jacques aus dem Moloch der Großstadt Paris fort auf das Land. In seinem Leben waren die Zeiten, in denen er abseits des Rummels der großen Städte leben konnte, immer die glücklichsten; und es ist Rousseaus feste Überzeugung, daß die Menschen, je enger zusammengepfercht sie wohnen, sich desto mehr von dem natürlichen Zustand entfernen, der dem Menschen gemäß ist. Eine Gönnerin Jean-Jacques - Madame d’ Epinay - richtet ihm ein Landhaus ein, in das er mit Thérèse Lavasseur und deren Mutter einzieht. Jetzt ist er entfernt von den scheinbaren Freunden, und er kann seiner Lieblingsbeschäftigung - dem Spazierengehen - folgen. Die Zahl der verpflichtenden Punkte, die ihn mit der Gesellschaft verbinden, hat abgenommen, aber er ist nicht allen Abhängigkeiten entronnen, wie sich in Bezug auf Madame d’ Epinay noch zeigen wird.

Jean-Jacques ist vierundvierzig Jahre alt. Damals hatte Madame de Warens den Heranwachsenden zum Mann gemacht, jetzt lebt er seit gut zehn Jahren mit Thérèse Lavasseur zusammen, die er auf seine Weise achtet, und die er auch braucht, die er aber nicht liebt. Ist er mit 44 Jahren zu alt für die Liebe? „Mir schien es, als schulde mir das Schicksal noch etwas, das es mir noch nicht gegeben hatte“ (1989a, S. 421), schreibt er rückblickend auf diese Zeit. Jean-Jacques sehnt sich nach etwas, was er „Liebe“ nennt, was aber mehr eine absolute Verschmelzung ist. „Ich hätte zwei Seelen im selben Leib haben müssen“ (1989a, S. 409), so drückt er dieses verlangende Gefühl aus. Da er im realen Leben keinen Gegenstand für seine Bedürfnisse findet, wendet er sich „in das Land der Schimären“ (1989a, S. 422); er gestaltet in seinem Kopf Phantasien einer idealen Liebe, und je mehr er sich mit ihnen beschäftigt, desto konkretere Gestalt nehmen sie an. Dies ist die Ausgangslage, die ihn zu dem großen Roman „Julie oder Die neue Héloise“ (1989d) treibt: Die Gefühle zweier jugendlich Liebender haben in der Wirklichkeit keine Chance, weil der Vater der Frau sie mit einem anderen Mann verheiratet. Daraufhin flieht der Liebende, kehrt schließlich zurück und wird von dem Ehemann in das Familienhaus eingeladen. Darum geht es: auf der einen Seite die erotischen Gefühle von zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind, und auf der anderen Seite die Verpflichtungen der Tugend, die es einzuhalten gilt.

Im realen Leben Jean-Jacques ereignet sich bald das Ereignis, das eine Konkretisierung des Phantasiegeschehens bildet. Jean-Jacques lebt nach seinem Roman. Er begegnet der Gräfin d’ Houdetot, und um die Verwicklungen noch mehr zu komplizieren: sie ist die Schwägerin von Rousseaus Gönnerin Madame d’ Epinay. Die Beschreibung der Gräfin fällt nicht gerade positiv aus: Sie „näherte sich den Dreißigern und war keineswegs schön. Ihr Gesicht war durch Blatternarben entstellt. Ihr Teint war unrein, sie war kurzsichtig, und die Augen waren ein wenig zu rund.“ (1989a, S. 433) Doch Rousseau ist in seinem Roman schon zu weit fortgeschritten, er kann nicht anders: „Ich sah meine Julie in Frau d’ Houdetot“ (1989a, S. 434). Auch die Gräfin ist nicht mehr frei in ihren Liebesentscheidungen, und so muß der unsterblich Liebende seine Begierden zügeln. Über drei Monate sehen sie sich täglich, und sie entfalten eine enge Zuneigung, doch „unberührt“ und „rein an Leib und Seele“ (1989a, S. 439) geht sie aus dieser Begegnung hervor.

Nach dieser kurzen Episode des Glücks folgt rasch der Umschwung: „Das sind die letzten schönen Tage gewesen, die mir auf der Erde beschieden waren. Hier nun beginnt das lange Gewebe der Leiden meines Lebens, in dem man nur wenig Unterbrechungen sehen wird.“ (1989a, S. 440) Die Gönnerin, vielleicht auch durch Eifersucht auf ihre Schwägerin getrieben, setzt Jean-Jacques Rousseau den Stuhl vor die Tür. Er muß die Ermitage nach einem Jahr verlassen. Zum Glück findet er in der Nähe in Montmorency ein kleines Haus mit Garten, in das er einziehen kann. Bei diesem Anlaß entledigt er sich gleichzeitig der Schwiegermutter, die er nach Paris schickt, für deren Unterhalt er aber weiterhin aufkommt. Hier in Montmorencey distanziert er sich in noch größerem Maße von den alten Freunden, und er findet langsam Ruhe, die er benötigt, um die beiden Werke zu schreiben, die seinen Weltruhm begründen: Den Gesellschaftsvertrag und den Emile.

Der Gesellschaftsvertrag ist die politische Theorie Rousseaus. Hier finden sich viele Thesen wieder, die wir bei John Locke gefunden haben, dessen Schriften Rousseau gut gekannt hat, und der auch für einige Passagen des Emiles wertvolle Anregungen gegeben hat. Die Aufgabe der Theorie ist es nicht, konkrete Handlungsanweisungen zu liefern, sondern einen Maßstab zu begründen, von dem aus die Praxis beurteilt und Perspektiven für eine Verbesserung gewonnen werden können. Dies versucht Rousseau für den Bereich politischen Handelns in dieser Schrift. Er geht von einem zentralen Widerspruch aus: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ (1989e, S. 270) Die Freiheit aber ist das zentrale Kennzeichen des Menschen: „Der Freiheit entsagen heißt seiner Eigenschaft als Mensch ... entsagen.“ (1989e, S. 275) Wenn der zivilisierte Mensch nicht mehr wie der ursprüngliche weitgehend für sich alleine leben kann, sondern wenn er in der Gesellschaft leben muß, die ihm hilft, seine Bedürfnisse besser und sicherer befriedigen zu können, dann bedarf es einer Verpflichtung, die den einzelnen einschränkt. Woher ergibt sich eine Legitimation dieser politischen Macht, und wie muß sie beschaffen sein, um nicht der grundlegenden Freiheit zu widerstreiten?

Rousseau geht zur Beantwortung dieser Fragen zurück auf den - fiktiven - Beginn der Gesellschaft: Als der für sich existierende Naturmensch an die Grenzen seiner Selbsterhaltungsmacht stieß, die sein Überleben gefährdeten, war er gezwungen, sich mit anderen zusammenzuschließen, um dadurch einen Überschuß an Kraft zu gewinnen. Dieser Zusammenschluß diente also nicht dem Einzelinteresse einiger weniger, sondern dem gemeinsamen Bedürfnis aller. Ausgangspunkt der Gesellschaft war ein Vertrag freier Einzelindividuen aus einem „Gemeinwillen“ heraus. Man gab etwas von seiner natürlichen Freiheit ab, aber man gewann auf der anderen Seite wesentlich mehr hinzu. Der Staat beruht auf diesem Gemeinwillen, in dem jeder einzelne sich wiederfindet. Ihm zu gehorchen ist also kein Zwang, sonder liegt im Eigeninteresse aller. Ihm muß aber auch unbedingt gefolgt werden, soll die Selbstsucht einzelner gebannt bleiben. Der Gemeinwille äußert sich in gesetzgeberischen Akten, die durch Abstimmung aller legitimiert sind. Davon getrennt ist die Regierung zu betrachten, die für die Durchführung der Gesetze verantwortlich ist. Hier kann es verschiedene Formen - demokratische, aristokratische, monarchische - geben, die jedoch alle daran gebunden sind, daß sie nicht den Einzelinteressen der Regierenden, sondern ausschließlich dem Gemeinwillen aller folgen. Rousseau führt die Schlußfolgerungen dieses Gedankens bis hin zu politischen Grundsatzfragen, die an dieser Stelle nicht darzustellen sind. Nur einen Punkt wollen wir zur Illustration, vielleicht auch zur Anregung auf die Übertragung auf unsere politischen Verhältnisse anführen. Die Freiheit und Gleichheit jedes einzelnen Bürgers - dies sind die beiden Hauptzwecke „jedes Systems der Gesetzgebung“ - bedeutet nicht unbedingt eine absolute Gleichheit an Macht und Reichtum, wohl aber einen Ausgleich extremer Unterschiede in dem Sinne, „daß kein Bürger so reich sein sollte, um einen anderen kaufen zu können, und niemand so arm, daß er gezwungen wäre, sich zu verkaufen.“ (1989e, S. 311) Und in einer auf seine Zeit gemünzten Anmerkung setzt er hinzu: „Ihr wollt also dem Staate Festigkeit verleihen? Dann bringt die Extreme einander so weit wie möglich näher: duldet weder Reiche noch Bettler! Diese beiden von Natur aus untrennbaren Stände sind für das Gemeinwohl gleich verhängnisvoll; aus dem einen kommen die Verfechter der Tyrannei, aus dem anderen die Tyrannen“ (1989e, S. 311).

·       Flucht und Lebensabend

Es wird noch dreißig Jahre dauern, bis der „Gesellschaftsvertrag“ offizielle politische Bedeutung erhält. Die Französische Revolution erklärt ihn zu ihrem Grundgesetz, Robespierre soll immer ein Exemplar dieser Schrift auf seinem Tisch gehabt haben (Soetard 1989 , S. 135), und 16 Jahre nach seinem Tod wird der Leichnam Rousseaus aus seinem ursprünglichen Grab in einem mehrtägigen Festzug nach Paris gebracht, wo er im Pantheon beigesetzt wird. Die Reaktion zur Lebzeit Rousseaus sieht anders aus: Der „Gesellschaftsvertrag“ wird ebenso wie der zur gleichen Zeit entstandene „Emile“ von Zensur verfolgt. Das Parlament von Paris ordnet an, daß der Emile „‘im Hofe des Palais, am Fuße der großen daselbst befindlichen Treppe, vom Scharfrichter des Hohen Gerichts zerrissen und verbrannt werde’. Der Verkauf wird verboten; wer Exemplare davon besitzt, muß sie beim Schreiber des Gerichtshofs abgeben. Schließlich verfügt das Parlament noch, ‘daß man den genannten, auf der Titelseite des nämlichen Buches angeführten J.-J. Rousseau aufgreife, in Verhaftung nehme und nach den Gefängnissen der Conciergerie im Palais bringe, auf daß man ihn daselbst verhöre und befrage’.“ (Soetard 1989 , S. 98) Jean-Jacques Rousseau erfährt von der bevorstehenden Verhaftung durch den Marschall von Luxemburg, bei dem er in der Nähe wohnt, und mit dessen Familie er sich in den letzten Jahren angefreundet hat. Rousseau flieht in die Schweiz, von der er sich eine bessere Aufnahme erhofft. Doch vergebens: auch Genf und Bern verbieten die Schriften und lassen deren Verfasser mit Haftbefehl suchen. Auslöser der Verfolgungen sind vor allem Rousseaus Äußerungen über die Religion - wir werden darauf noch zu sprechen kommen. So kann er auch in Genf und Yverdon nicht bleiben, und er flieht deshalb in das kleine Dorf Môtiers, das in der Grafschaft Neuenburg liegt und preußischer Besitz ist. Hier, in der Abgeschiedenheit der Berge, hat er jetzt für beinahe drei Jahre seine Ruhe. Er beginnt mit einer Beschäftigung, die ihn für den Rest seines Lebens begleiten wird und die ihm den Frieden ermöglicht, den er braucht: das Botanisieren. Er schreibt Verteidigungsschriften, mit denen er Verfolgern die Richtigkeit seiner Anschauungen zu begründen versucht, und er beginnt seinen großen autobiographischen Entwurf: die „Bekenntnisse“.

Doch schließlich ist auch sein Aufenthalt in Môtiers nicht mehr sicher: Der Dorfpfarrer (bzw. seine Vorgesetzten drängen ihn dazu) will ihn vom Abendmahl ausschließen, wozu es des Beschlusses des Konsistoriums bedarf, vor das Rousseau geladen wird. Er nimmt sich vor, sich zu verteidigen: „Mit welcher Überlegenheit, mit welcher Leichtigkeit hätte ich diesen armen Prediger inmitten seiner sechs Bauern niedergeschmettert!“ (1989a, S. 615) Doch da er seine „Unfähigkeit kannte, mich aus dem Steggreif zu äußern“ (1989a, S. 615), überlegt er sich eine Verteidigungsrede, die er auswendig lernt. Als der Tag der Vorladung kommt, überwiegt die Angst: Die Rede scheint vergessen - „ich verwirre mich, ich stottere, ich verliere den Kopf“ (1989a, S. 616) - als er sich bloß vorstellt, in der Konsistoriumssitzung zu sein. Er geht nicht hin, der arme „Prediger inmitten seiner sechs Bauern“ hat gewonnen. Der Pfarrer wiegelt das Volk auf: Rousseau und Thérèse Lavasseur  werden handgreiflich verfolgt, Steine fliegen auf ihr Haus und die Bewohner.

Abermals muß Rousseau fliehen. Für knapp zwei Monate findet er Ruhe auf der Petersinsel im Bieler See. Er beschreibt dies als eine glückliche Zeit, einen Übergang in das, was sich als Altersweisheit Jean-Jacques bezeichnen läßt. Er sitzt am Ufer des Sees: „Ich empfand eine besondere Freude, wenn ich sah, wie sich die Wellen zu meinen Füßen brachen. Ich formte mir daraus das Bild der Unruhe der Welt und des Friedens meines Hauses, und manchmal rührte mich diese Vorstellung so, daß ich Tränen aus meinen Augen fließen fühlte. Diese von mir mit heißer Liebe genossene Ruhe wurde nur durch die Besorgnis gestört, ich könnte sie verlieren.“ (1989a, S. 635) Und in der Tat dauert es nicht lange, bis die Berner Behörden, zu deren Einflußbereich die Petersinsel gehört, seine Ausweisung einfordern.

Von dem Philosophen David Hume wird er eingeladen, nach England zu kommen. Doch dann zerstreitet er sich mit seinem dortigen Gönner und verläßt deshalb England wieder. Er lebt - teilweise unter falschem Namen - an wechselnden Orten in Frankreich. In diese Zeit fällt auch die bereits erwähnte Hochzeit mit Thérèse Lavasseur. Mit 58 Jahren läßt er sich schließlich in Paris nieder, mit den Behörden hat er seinen Burgfrieden geschlossen. Unverändert verdient er den größten Teil seines Geldes mit dem Abschreiben von Noten, und den Rest der Zeit widmet er seinen Lieblingsbeschäftigungen: dem Spazierengehen und Botanisieren. Doch auch weitere literarische Projekte beschäftigen ihn. Die „Bekenntnisse“ hat er in der Hoffnung geschrieben, sich, der im mündlichen Gespräch durch seine Schüchternheit gehemmt ist, den Mitmenschen so präsentieren zu können, wie er tatsächlich ist. Dieser Versuch ist gescheitert: Nachdem er mit Vorlesungen aus seinem Buch begonnen hat, erwirkt Madame d’ Epinay, die in der in der Schrift Tat nicht besonders gut wegkommt, ein Verbot jeglicher öffentlichen Lesung. Wenn also die lebende Generation seine Wahrheit nicht erfahren will, so richtet er seine Hoffnung auf die kommende: Er schreibt „Rousseau richtet über Jean-Jacques“. Als er das Manuskript beendet hat, versucht er, es auf dem Altar von Notre-Dame zu hinterlegen, ein Versuch, der scheitert, weil er das Gitter vor dem Altar just an dem Tage verschlossen findet, an dem er zur Tat schreiten will. Er nimmt dies als Indiz, daß auch für die Zukunft nichts zu hoffen ist.

Was bleibt? Der Rückzug auf sich selbst. In den „Träumereien des einsamen Spaziergängers“, seine letzte, unvollendete Schrift, versucht er sich Rechenschaft über sein Leben abzugeben und das herauszufinden, was ihm als altem Mann zu lernen übrig bleibt: das Sterben. Er erinnert sich an zentrale Stationen seines Lebens: Die Geschichte mit Marion - die Lüge um das damals gestohlene Band - sei die Grundlage dafür gewesen, daß die Frage nach der Moral im Mittelpunkt seines Denkens gestanden habe; die ganzen Streitereien und Verfolgungen werden nochmals mit der Botschaft erwähnt, daß man sich von ihnen lösen müsse, daß man die Feinde „nicht grausamer bestrafen“ könne, als wenn man, „ihnen zum Trotze, glücklich“ (1989b, S. 716) sei; und der Gedanke an die eigenen Kinder und ihre Aussetzung taucht auf - diesmal mit einem Unterton trotziger Rechtfertigung. In der letzten, der zehnten „Träumerei“, die Jean-Jacques Rousseau im Jahr seines Todes, 1778, begonnen hat zu schreiben, erinnert er sich an Madame de Warens, die Begegnung, durch die seine Seele „Gestalt“ gewonnen habe. Und in den „Träumereien“ gibt er sich Rechenschaft - und dem Leser Anregung - über das menschliche Glück: „das Joch der Notwendigkeit (sei) ohne Murren (zu) ertragen“ (1989b, S. 733) es gälte zu sich „selbst zurückzufinden“ (1989b, S. 734), und die Liebe zu sich selbst sei es, die „vom Joch der öffentlichen Meinung“ befreie (1989b, S. 735). Rückblickend schreibt er, er habe aus eigener Erfahrung gelernt, „daß die Quelle des wahren Glückes in uns selbst ist und daß keine irdische Macht einen Menschen wahrhaft unglücklich zu machen vermag, der da weiß, daß er glücklich sein will“ (1989b, S. 657).

2. Emile oder Über die Erziehung (1989c)

·       Grundgedanken

Das erste Buch des „Emile“ beginnt mit einem Paukenschlag: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (S. 9) Dies ist die Quintessenz der bisherigen Schriften Rousseaus, dieser Gedanke muß auf die Erziehung angewandt werden. Im Gegensatz zu dem, was wir am Beispiel August Hermann Franckes gesehen haben, bestreitet Rousseau die Vorstellung von der Erbsünde, durch die der „natürliche Eigenwille“ des Kindes verdorben sei und deshalb „gebrochen“ werden müsse. „Es gibt keine ursprüngliche Verderbtheit im menschlichen Herzen“ (S. 86), und wenn der empirische Mensch so scheint, als sei er allzu gerne bereit, das Böse zu tun, „so ist es der Mensch, den ihr gemacht habt“ (S. 85f). Durch falsche Erziehung, Politik und gesellschaftlichen Verkehr wird der Mensch von der Bahn der Natur abgelenkt, seine ursprünglich wohlwollenden Quellen werden verstopft, umgeleitet, bis nichts Ursprüngliches mehr vorhanden ist. Die Menschen sind von dem einfachen Weg der Natur abgekommen und haben dadurch alles kompliziert: Ein Gemisch aus natürlichen und künstlichen Bedürfnissen beherrscht sie, sie haben immer mehr, aber sie wollen auch immer noch mehr, so daß sie weit über sich hinausstreben und sich selbst dabei immer mehr verlieren. Sie werden sich selbst immer fremder, ruhen nicht mehr in sich, sondern beziehen sich ständig auf andere. Zerrissenheit kennzeichnet sie. Jedes Neugeborene aber hat noch keine Erfahrung mit dieser entfremdenden Gesellschaft. Es repräsentiert noch vollständig das ursprüngliche, natürliche Gute. Doch schnell greift die Erziehung in die Natur des Kindes ein und zerstört sie. Noch bevor es darüber nachdenken und sich selbst entscheiden kann, sind seine Bedürfnisse verwirrt worden, und ist die innere Richtschnur, zu beurteilen was gut ist, und die Fähigkeit, entsprechend dieser „inneren Stimme“ zu handeln, unterdrückt worden. Doch das mit jedem Säugling erneut erscheinende ursprünglich Gute ist auch eine große Hoffnung: Wir können innehalten in der traditionellen Erziehungsweise, um danach zu fragen, was ein Kind sei, wo das Ziel der Erziehung liege und wie wir mit ihm umgehen müßten, um dieses Ziel zu erreichen.

Bevor wir diese drei für jede Erziehungskonzeption zentralen Punkte ausführen, wollen wir noch einen Absatz dazwischenschieben, der für das Verständnis des Erziehungskonzeptes Rousseaus wichtig ist. Es gibt einen Generalschlüssel, mit dem man sich einen Zugang zu den unterschiedlichen Passagen des langen Textes verschaffen kann: die Betrachtung des Verhältnisses von Kraft und Begierde. Ein Mensch ist glücklich, so sagt Rousseau, wenn er die Bedürfnisse, die er hat, selbst befriedigen kann, und er ist unglücklich, wenn seine Wünsche seine Möglichkeiten, sie zu erfüllen, übersteigen; und er ist nicht ausgefüllt und bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, wenn seine Kräfte seine Begierden überwiegen. Alles kommt auf das Gleichgewicht von Kraft und Begierde an. Ist es gegeben, dann ist der Mensch stark und frei; ist es nicht gegeben, dann ist er schwach und abhängig. Der Kernpunkt der Gesellschaftskritik von Jean-Jacques Rousseau besteht darin, daß die Bedürfnisse der Menschen im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung immer weiter getrieben werden, so daß sie von allem abhängig sind: „alles, was ist, alles, was sein wird, ist jedem von uns wichtig; unsere Person ist nur mehr der geringste Teil von uns selbst. Ein jeder verbreitet sich sozusagen über die ganze Erde und wird auf dieser ganzen großen Oberfläche empfindlich. Ist es verwunderlich, daß sich unsere Übel in all den Punkten vervielfältigen, wo man uns verletzen kann?“ (S. 70) Das Verhältnis von Kraft und Begierden ist auf den Erziehungsprozeß anzuwenden: Der Säugling ist „von Natur aus“ schwach und abhängig, weil er Bedürfnisse hat, die er nicht selbst befriedigen kann. Die Eltern müssen ihm helfen, damit er überlebt. Doch wenn sie ihn stark und glücklich machen wollen, dann müssen sie vorsichtig sein, damit sie nicht durch ein überproportionales Anwachsen der (und Anzüchten künstlicher) Bedürfnisse vor der Entwicklung seiner steigenden Fähigkeiten das Kind immer schwächer, abhängiger und damit unglücklicher machen. Mit anderen Worten: Glück, Freiheit, Stärke sind relationale Begriffe, die von dem Verhältnis der Bedürfnisse zu den Fähigkeiten abhängen. Dieses gilt es auf jeder Entwicklungsstufe neu zu betrachten.

Kommen wir auf den Dreischritt von Kindheitsvorstellung, Erziehungsziel und Erziehungsbegriff zurück. „Man kennt die Kindheit nicht“ (S. 6), so heißt es im Vorwort des „Emile“, weil man „den Erwachsenen im Kinde“ sucht und nicht daran denkt, „was es (das Kind) ist, bevor es erwachsen wird“ (S. 6). Ein Kind ist kein kleiner Erwachsener, sondern es ist ein Kind; es ist als solches zu betrachten und zu behandeln. Es gibt von der Natur gegebene Entwicklungsperioden - die sich mit dem benannten Schlüssel des Verhältnisses von Fähigkeit und Bedürfnis erschließen lassen -, und in jedem Lebensalter stellen sich bestimmte Aufgaben, die zu erfüllen sind. „Ein jedes Alter ... hat seine geziemende Vollkommenheit, seine Art von Reife, die ihm eigen ist.“ (S. 183) Die Pädagogik besteht also nicht darin, daß Kind möglichst schnell auf die jeweils nächste Stufe vorzubereiten: kindergartenreif, schulreif, hochschulreif, berufsreif, rentnerreif; sondern es gilt, dem Kind die Chance zu geben, die jeweilige Stufe voll zu durchleben. Die Pädagogik ist also auf das Kind und die jeweilige Stufe der Kindheit zu beziehen und nicht auf die Vorbereitung auf den Erwachsenen. Erst unter dieser Voraussetzung, daß das Kind ganz Kind sein kann, wird ihre Bedeutsamkeit für den menschlichen Lebenslauf insgesamt erreicht.

Wir haben es schon erwähnt: Das „Zurück zur Natur“ ist nicht das Programm Jean-Jacques Rousseaus. Es wäre eine naive Illusion zu meinen, in dem ursprünglich natürlichen Zustand könne das Ziel der Erziehung liegen. Der Mensch ist aus diesem Paradies vertrieben, und das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen. Ein natürlicher Mensch in unserer Zeit wäre „der verunstaltetste von allen“ (S. 9), er wäre der passive Spielball der Vorurteile aller anderen Menschen. In Bezug auf seinen erdachten Zögling schreibt Rousseau: „Emile ist kein Wilder, der in die Wüsten zu verweisen ist; er ist ein Wilder, der geschaffen ist, die Städte zu bewohnen. Er muß in ihnen seinen notwendigen Unterhalt zu finden, sich ihre Einwohner zunutze zu machen und wenn nicht wie sie, so doch wenigstens mit ihnen zu leben wissen.“ (S. 250) Auf der anderen Seite kann es aber auch nicht das Ziel der Erziehung sein, den Menschen an die betreffende Gesellschaft anzupassen, denn wer wollte schon sein Kind einer Lebensweise ausliefern, die es nur unglücklich machen würde.

Zwischen Natur und Gesellschaft besteht also ein Widerspruch, der Rousseau teilweise vorgeworfen wurde. Doch vielleicht ist es so, daß dies kein Widerspruch in der Konzeption von Erziehung ist, sondern einer des realen Lebens. Wie läßt sich Ursprünglichkeit, Menschlichkeit, Glück unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen erreichen? Und noch ein weiterer Widerspruch tut sich auf: Das Kind soll später als Erwachsener in der Gesellschaft leben, und er muß durch seine Arbeit aktiv Verantwortung übernehmen; doch jetzt ist es Kind, und es muß die Aufgaben seiner Kindheit erfüllen. Ziel der Erziehung ist der Mensch, der in der Gesellschaft lebt, ohne sich von ihr abhängig zu machen, der in sich selbst ruht, weil er sich zwar den sozialen Notwendigkeiten ebenso beugt wie den natürlich-physischen, aber in dieser Abhängigkeit nicht das Wesentliche seiner Person betrachtet.

„Vor der Berufswahl der Eltern beruft ihn die Natur zum menschlichen Leben. Leben ist der Beruf, den ich ihn lehren will. Wenn er aus meinen Händen kommt, so wird er, ich gestehe es, weder eine Gerichtsperson noch ein Soldat oder ein Priester sein. Er wird zuerst ein Mensch sein; alles, was ein Mensch sein muß, das wird er im Notfalle ebenso gut sein wie jeder andere; und das Schicksal kann ihn ruhig seinen Platz verändern lassen; er wird stets an seinem sein. ... Wenn man aber die Veränderlichkeit der menschlichen Verhältnisse ansieht, wenn man den unruhigen und aufrührerischen Geist dieses Jahrhunderts ansieht, welcher bei jedem neuen Geschlecht alles um und um stürzt, kann man sich da wohl eine unvernünftigere Art und Weise vorstellen, als daß man ein Kind so erzieht, als ob es niemals aus seinem Zimmer kommen sollte, als ob es stets von seinen Leuten umgeben sein müßte? ... Man denkt nur daran, sein Kind zu erhalten; das ist nicht genug. Man muß es auch lehren, sich zu erhalten, wenn es erwachsen ist, die Schläge des Schicksals zu ertragen, dem Reichtum und der Armut zu trotzen, auf Islands Eisschollen oder auf Maltas glühenden Felsen zu leben, wenn es sein muß.“ (S. 16f)

Was ist der Zielpunkt, wenn wir den bei sich selbst bleibenden Menschen in der Gesellschaft betrachten? Wesentliches Merkmal der Gesellschaft ist ihr Wandel, und scharfsinnig sieht Rousseau die kommende Französische Revolution voraus: „Wir nähern uns dem Zustand der Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen.“ (S. 234f) Weil die gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändern, kann das Ziel der Erziehung nicht darin bestehen, nur auf die Gesellschaft vorzubereiten (denn wer weiß schon, was die Zukunft dieses Kindes bringen wird). Sondern es gilt, das Kind mit Fähigkeiten auszustatten, damit es sich selbständig erhalten kann, egal welches Schicksal ihm beschieden sein wird. Der Primat der „Menschenerziehung“ vor der „Berufserziehung“ begründet sich nicht daher, daß der fiktive „natürliche“ Mensch sich diesen gesellschaftlichen Aufgaben entziehen dürfe; vielmehr ist für Rousseau „jeder müßige Bürger ... ein Spitzbube“ und der „von Renten“ lebende Schmarotzer unterscheidet sich in seinen Augen „wenig von einem Straßenräuber, der auf Kosten der Reisenden lebt“ (S. 235). Das Ziel der Erziehung liegt deshalb in der allgemeinen Menschenbildung und nicht in der gesellschaftlichen Vorbereitung, weil das Kind fähig werden muß, sich den Wechselfällen der Geschichte zu unterwerfen, um „dem Schicksal zum Trotz ein Mensch“ zu bleiben (S. 235).

Zwischen dem natürlichen Ausgangspunkt des Menschen bei der Geburt und dem Zielpunkt des distanzierten Einpassens in die Welt liegt eine große Wegstrecke, die in dem Erziehungsprozeß zurückgelegt werden muß. Vielleicht kennzeichnet nichts so prägnant die Erziehungsvorstellung Rousseaus wie sein Appell an die Mutter: „Baue beizeiten einen Zaun um die Seele deines Kindes“ (S. 10). Erziehung ist nicht das Machen des Kindes durch den Erwachsenen, sondern die Stütze, die er in dem Prozeß der Selbstwerdung dem Kinde bietet. Deshalb kann Rousseau von dem Erzieher fordern, er müsse “sich erst selbst zum Menschen gemacht haben“ bevor er einen Menschen bilden könne: „Man muß in sich das Beispiel finden, das er sich vorsetzen soll.“ (S. 90) Mit einer paradoxen Formulierung umschreibt Rousseau, wie die Erziehung im Spannungsfeld von Aktivität und Passivität des Erwachsenen einzuordnen ist: „Was haben wir zu tun? ... Ohne Zweifel sehr viel; nämlich zu verhindern, daß etwas getan werde.“ (S. 15) Und je jünger die Kinder sind, desto wichtiger ist ihm der Grundsatz: „nicht, Zeit zu gewinnen, sondern sie zu verlieren“ (S. 87). Rousseau bezeichnet seine Erziehungskonzeption mit dem mißverständlichen Begriff der „negativen Erziehung“. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir jetzt die Ausgestaltung des Verhältnisses von Erwachsenen und Kindern in den einzelnen Entwicklungsphasen betrachten.

·       Das Säuglingsalter

Der Empfang des Neugeborenen auf dieser Welt ist wie der weitere Fortgang seines Lebens: ein Zustand der „Sklaverei“: „Bei seiner Geburt steckt man ihn in eine Windel; bei seinem Tode nagelt man ihn in einen Sarg; solange er die menschliche Gestalt behält, ist er durch unsere Konventionen gefesselt.“ (S. 17) „Schmerz“ und „Pein“, „Hindernisse“, „Fesseln“, „Marter“ - das erwartet ein Kind auf dieser Erde. Um hier einen Kontrapunkt zu setzen, empfiehlt Rousseau sein Gegenprogramm: das Kind soll nicht fest gewickelt werden, damit sein natürlicher Bewegungsdrang Raum zur Entfaltung hat: Der Tatendrang des Kindes soll nicht gebremst werden, auch wenn es Dinge zerstört, weil dies nicht Ausdruck einer „bösen“ Handlung ist, hat es doch noch keine Vorstellung von gut und böse und kann deshalb nicht im moralischen Sinne handeln. Vielmehr ist es in der Natur immer so, daß „das Tun, das etwas bildet, allezeit langsam ist“, während das Tun, „welches zerstört, geschwinder ist“ (S. 53f) Also richte man die Umgebung des kleinen Kindes so ein, daß es sich frei entfalten kann, ohne wertvolle Dinge zu zerstören; und man gebe ihm einfaches Spielzeug und keine aufgeblasenen Luxusartikel. Die Hinweise Rousseaus zur körperlichen Erziehung der kleinen Kinder bieten nichts Neues, wenn wir sie mit den Vorschlägen John Lockes vergleichen. Dies gilt auch für seine Polemik wider den Arzt und für sein Abhärtungsprogramm: Man gewöhne die Kinder langsam daran, daß man sie „winters wie sommers in kaltem, ja sogar eiskaltem Wasser waschen kann“. (S. 42)

Das kleine Kind ist - und es wird es auch noch in der nächsten Phase bleiben - ein Mensch, der seine Umgebung durch die Sinne und die Bewegung aufnimmt. Diese hat man zu fördern, indem man der Bewegung ungehinderten Raum gibt, indem man die Hände alles berühren läßt, und indem man die Sinneseindrücke „in einer schicklichen Ordnung vermittelt“ (S. 48f). Gift für die frühkindliche Erziehung ist es dagegen, die Kinder „unaufhörlich durch einen Schwall unnützer Wörter“ (S. 57f) zu betäuben. Das kleine Kind kann die Wörter nicht verstehen, und, was noch schlimmer ist, es wird ihnen deshalb einen falschen Sinn geben.

„Der Sinn dieser Regeln (zur frühkindlichen Erziehung, S.H.) ist, den Kindern mehr wahre Freiheit und weniger Herrschaft zuzugestehen, sie mehr aus sich selbst tun zu lassen und weniger von anderen zu fordern. Da sie sich also beizeiten gewöhnen, ihre Wünsche nach ihren Kräften einzuschränken, werden sie die Beraubung dessen wenig empfinden, was nicht in ihrer Macht steht.“ (S. 55)

Wir sprachen oben davon, daß das Gleichgewicht von Bedürfnis und Kraft der Schlüssel sei, um die Erziehungsvorstellungen Jean-Jacques Rousseaus zu verstehen. Der Säugling ist schwach, weil er seine lebenswichtigen Bedürfnisse nicht selbst erfüllen kann. Er ist angewiesen auf die Hilfe der Erwachsenen, deren Aufgabe es ist, das Kind stark und frei zu machen. Doch wenn sie allzu eilfertig mit der Bedürfnisbefriedigung sind, wenn jedes Weinen des Kindes durch Handlungen der Erwachsenen sofort abgestellt wird, dann werden aus den „Bitten“ der Kinder „bald Befehle“ (S. 52). Das Kind wird nicht glücklich dadurch, denn seine Bedürfnisse werden künstlich gesteigert, und es wird schwächer, weil es zunehmend mehr von den Erwachsenen abhängig ist. Es gilt deshalb bezüglich der Wünsche der Kinde, die sie nur durch Schreien zum Ausdruck bringen können, gut zu unterscheiden, „was unmittelbar der Natur und was der Einbildung entspringt“ (S. 55).

In allen Dingen ist das kleine Kind abhängig von der Hilfe durch die Erwachsenen, und es ist für Rousseau kein Zweifel, daß diese Aufgabe nicht irgendwelche „Bezugspersonen“ erfüllen können, sondern daß sie der Mutter und dem Vater obliegen. Alle Kritik an der Selbstentfremdung des Menschen in der Gesellschaft fließt in diesem Punkt zusammen: Weil die Mutter und der Vater ihre von der Natur aufgegebenen Verpflichtungen nicht annehmen, sondern ihre Kinder verstoßen und beispielsweise zur Amme abschieben, zerfällt die Familie: „Es gibt weder Väter noch Mütter, noch Kinder, noch Brüder, noch Schwestern mehr“ (S. 22), und mit dem Auseinanderbrechen der Familie zerfällt die sittliche Ordnung der Gesellschaft. Also gilt es den Gegenweg, der der Weg der Natur ist, einzuschlagen: Die Mütter stillen ihre Kinder selbst, „das Lärmen der Kinder ... wird angenehm“ (S. 22), die Liebe der Eheleute wird fester, der Mann achtet seine Vaterschaft („Wie die Mutter die wahre Amme ist, so ist der Vater der wahre Lehrmeister“, S. 26) wieder hoch, die Familie wächst zusammen, von den Außenstehenden wird die glückliche Familie geachtet und schließlich färbt das Glück der Familie auf die Gesellschaft ab. Die Forderung, die Mütter sollten ihre Kinder selbst stillen, haben wir schon bei Comenius gefunden, und das Bild der glückliche Familie zeichnete auch Martin Luther. Dies ist nicht neu; aber neu ist die Zeit, in die Jean-Jacques Rousseau es hineinsagt, und neu ist auch die Emotionalität, mit der er es sagt. Er begründet das, was man später „bürgerliches Familienideal“ nennen wird - erst programmatisch positiv, dann im Zuge der Frauenemanzipation des späten 20. Jahrhunderts negativ als Unterdrückung und Einschließung der Frau. Doch für Rousseau ist dies kein „bürgerliches“ Familienidyll - wie sollte dies auch bei einem Menschen sein, bei dem die Verbindungen mit „bürgerlich“ so negativ gefärbt sind -, sondern es ist eine Forderung der Natur, von der die Menschen auf Grund des Druckes gesellschaftlicher Vorurteile so weit abgewichen sind.

·       Das Kind von 2 bis 10 (12)

Die wichtigste pädagogische Forderung Rousseaus ist die nach Kindgemäßheit, nach Beachtung der Aufgaben, die auf Grund des natürlichen Entwicklungsprozesses in einer bestimmten Phase im Vordergrund stehen: „Man muß den Mann im Manne und das Kind im Kinde betrachten.“ (S. 68) Die Kindheitsphase, so kann man zunächst negativ sagen, ist nicht die Zeit der Vernunft und es ist nicht die Zeit der Moral. Das Kind im ersten Jahrzehnt ist ein unvernünftiges und ein unmoralischer Mensch. Weil das Kind keine sittlichen Vorstellungen hat, wird es sein Verhalten nicht im Sinne eines Maßstabes von Gut und Böse steuern können. Es kann - wie Rousseau an einem Beispiel zeigt - im eigentlichen Sinne nicht lügen. Ein Kind, das im freien Verkehr mit seinem Erzieher lebt, hat keinen Grund, etwas zu verbergen. Weil es keine Angst vor Strafen hat, wird es das sagen, was es sagen will. Es braucht sich nicht zu verstecken. Nur wenn ein Kind durch seinen Erzieher zur „Wahrheit“ angestachelt wird, wenn es im negativen Fall bestraft wird, dann muß es versuchen, sich zu verstecken, und darum sind die „Lügen der Kinder insgesamt das Werk der Erzieher“ (S. 101). Weil das Kind noch auf einer vormoralische Stufe steht, macht auch die „Züchtigung“ keinen Sinn.

Das Kind im ersten Jahrzehnt hat auch noch keine „Vernunft“, d.h. es kann nicht Urteile über Gegebenheiten abgeben, in denen es verschiedene sinnliche Gegebenheiten miteinander vergleichen und sprachlich zum Ausdruck bringen muß. Auf Grund des Druckes, den ein Erwachsener auf das Kind ausübt, kann dieses zwar gezwungen werden, den Anschein zu erwecken, als urteile es selbständig; in Wirklichkeit aber plappert es nur die Worte der Erwachsenen nach. Aber genau darin liegt die Gefahr: Das Kind paßt sich der Autorität des Erziehers an, es meint etwas zu verstehen, was es in Wirklichkeit noch nicht versteht. Hat es sich einen hinreichenden Fundus an Scheinwissen angeeignet, so unterliegt es den Irrtümern der Vorurteile anderer. Auch später noch wird es nicht selbst denken, sondern denken lassen. „Von dem ersten Wort an, womit sich ein Kind abfinden läßt, von der ersten Sache an, die es auf das Wort eines andern hin lernt, ohne selbst den Nutzen davon zu sehen, ist seine Urteilskraft verloren.“ (S. 114f) Der Appell an den Erzieher kann deshalb nur lauten: „seid vernünftig, und vernünftelt nicht mit eurem Zögling“ (S. 88). Weil Rousseau das verbale Lernen aus der Kindheitsstufe verbannen möchte, wendet er sich gegen die Bücher: „Das Lesen ist die Geißel der Kindheit“ (S. 122). Nicht in der Welt des Papiers soll das Kind sich bewegen - bzw. stillstehen -, sondern in der realen Welt. Es soll lesen im „Buch der Natur“.

Das bisher dargestellte ist der negative Pol: „die Kindheit (ist) der Schlaf der Vernunft“ (S. 107f), und der Erzieher soll sich hüten, diesen zu stören. Er soll der Kinder „Seele in Ruhe“ (S. 88) lassen, damit die Natur aus sich heraus wirken kann. Jean-Jacques Rousseau nennt dies „negative Erziehung“: „das Herz vor dem Laster und den Verstand vor dem Irrtum“ (S. 88) zu bewahren. Für das Kind als vormoralischer und noch nicht vernünftiger Mensch wäre eine frühzeitige Unterrichtung ein gefährliches Unterfangen, gerade weil es von so großer Lernbereitschaft scheint. Da es sich der Autorität des Erziehers unterordnet, werden nicht nur keine, sondern falsche Begriffe in seinen Kopf hineingeraten. Wenn es später die sittlichen und vernünftigen Begriffe richtig erlernen könnte, müßte es die falschen, frühzeitig erworbenen aus seinem Kopf verbannen, ein schwieriges Unterfangen angesichts der Zähigkeit erster Prägungen. Deshalb ist es letztendlich effektiver, die Unterweisungen aufzuschieben.

„Menschen, seid menschlich ... Liebt die Kindheit, fördert ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Naturtrieb! Wer von euch hat nicht zuweilen dieses Alter beneidet, wo das Lachen stets auf den Lippen und die Seele stets im Frieden ist? ... Warum wollt ihr mit Bitterkeit und Schmerzen diese ersten, dahineilenden Jahre anfüllen, die für sie ebensowenig wiederkommen werden, wie sie für euch zurückkommen können? ... Sobald  sie die Freuden des Daseins empfinden können, so macht, daß sie sie genießen; macht, daß, zu welcher Stunde sie Gott auch abruft, sie nicht sterben, ohne das Leben genossen zu haben.“ (S. 67)

Da aber ein Kind in seiner Umwelt immer wieder dem Druck der Vorurteile ausgesetzt ist, hat „negative Erziehung“ neben dem einen Aspekt - „im Nichtstun alles zu tun“ (S. 126f) noch einen weiteren: nämlich zu verhindern, daß andere etwas an dem Kind tun. Als Hilfsargument führt Rousseau an dieser Stelle die Individualität des einzelnen Kindes an: „Ein jeder Geist hat seine eigene Art und Weise, nach welcher es gelenkt werden muß“ (S. 89). Da der Erzieher diese Besonderheit des konkreten Kindes noch nicht kennt, würde ein frühzeitiges Handeln seinerseits die Gefahr in sich bergen, daß er das Falsche unternimmt. Also ist es besser, zunächst zuzuwarten, damit sich die natürliche Individualität entfalten und nach Außen zeigen kann, auf deren Erscheinen hin man erst pädagogisch richtig handeln kann. Wie gesagt, dies ist ein Hilfsargument, auch deswegen, weil Rousseaus Erziehungskonzeption wenig an der Einmaligkeit des einzelnen Kindes ausgerichtet ist als vielmehr an der Natur des Gemeinsamen einer bestimmten Entwicklungsstufe von Kindern.

Junger Lehrmeister, ... Sie werden es niemals so weit bringen, daß Sie Weise schaffen, wenn Sie nicht zunächst Gassenbengel geschaffen haben.“ (S. 126f) Es gibt also doch etwas Positives in der Erziehung zu tun: einen „Gassenbengel“ zu bilden. Dieser Ausdruck ist gar nicht so schlecht, das zu bezeichnen, was im Hinblick auf die spätere Vernunft und Moral dem Erzieher obliegt. Es gilt in dem Kind „die Werkzeuge unserer Intelligenz“ (S. 135) auszubilden, und dies meint, seine Sinne zu schulen, seinen Bewegungen Aktivitätsanreize zu bieten und seine Hände arbeiten zu lassen. In der unmittelbaren sinnlichen Aktivität - zu handeln, nicht schwatzen - und in der Beschränkung auf den nahen Lebensraum des Kindes liegen die beiden Hauptkriterien einer dem Kindesalter angemessenen Didaktik. Das, was das Kind unmittelbar berührt, dasjenige, womit es eigenhändig umgehen kann, dasjenige, was als Bedürfnisse sein Alltagsleben bestimmt, gilt es pädagogisch zu gestalten. In diesem Nahraum des unmittelbaren Erlebnisses ist es auch schon zu „Urteilen“ fähig, da es an der Befriedigung der Bedürfnisse interessiert ist und die Sinnhaftigkeit des Handelns begreifen kann, wie Jean-Jacques Rousseau es am Beispiel des Begriffs des „Eigentums“ zeigt.

Aus dieser „Lektion“ - es geht um den Erwerb eines Stücks Gartenland, damit Emile seine eigenen Bohnen pflanzen kann - läßt sich auch das methodische Grundprinzip der Erziehung des Kindes aufzeigen: So wie das Kind nicht lernen soll zu schwatzen, sondern tätig zu sein, so soll auch das Handeln des Erziehers „mehr in Taten als in Reden bestehen“ (S. 97). Es gilt, Handlungsarrangements herzustellen, in denen ein Kind praktische, sinnliche Erfahrungen machen kann. Viele der Beispiele, die Rousseau zur Konkretisierung ausführt, wirken stark konstruiert, und in ihnen erscheint der Erzieher mehr wie ein „Gott“, der alles voraussehen, vorausberechnen und im voraus arrangieren kann. Doch die Bedeutung für heute scheint darin zu liegen: Solche pädagogischen Handlungssituationen ergeben sich nicht spontan, sondern sie sind vom Erzieher bewußt zu planen und herzustellen.

Das soll das Kind in diesem Alter tun: „er arbeite, er betätige sich, er laufe, er schreie, er sei stets in Bewegung: er sei der Kraft nach ein Mann, und er wird es auch bald der Vernunft nach sein“ (S. 124). Die für dieses Alter zentralen Leibesübungen sollen nicht im Sinne einer Künstlichkeit und Disziplinierung des Körpers vermittelt werden. „Ich würde viel eher einen Nacheiferer der Gemsen als einen Operntänzer aus ihm machen“ (S. 156) - dies sagt Rousseau als Abschluß eines Beispieles, indem er mit Emile, „anstatt ihn ewig mit Herumgehopse zu beschäftigen“ (S. 156) lieber einen steilen Felsen erklimmt. Man kann das in Zeiten von Psychomotorik und Snoezelen und ähnlich Gekünsteltem als heilsame Provokation sehen: Lernen in der Natur und Lernen an tatsächlichen Herausforderungen des Lebens.

Der „Gassenbengel“ als das Positivbild der Erziehung in der Kindheit läßt sich auch auf die zurückhaltende Vorbereitung des sittlichen Bereiches beziehen. Ein Kind soll die Begriffe von „Gehorsam“ und „Befehl“ nicht kennen, nicht in der passiven Form, daß es dem Erwachsenen gehorche und seine Befehle entgegennähme, aber auch nicht in der aktiven Form, daß es dem Erzieher befiehlt. Denn das ist ein sicheres Mittel, das „Kind elend zu machen“: wenn man „es gewöhnt, alles zu erhalten“ (S. 78). „Schwachheit (und wir erinnern uns: Rousseau bezeichnet das Kind im Sinne des Verhältnisses von Kraft und Begierde als natürlich schwaches Wesen; S. H.) mit Herrschsucht vereint bringt nur Torheit und Elend hervor.“ (S. 80)) Und er konkretisiert am Beispiel von Kindern, die aus Frustration den Tisch schlagen oder das Meer auspeitschen: „Sie werden viel zu peitschen und zu schlagen haben, ehe sie zufrieden sind.“ (S. 80) Es macht pädagogisch keinen Sinn, dem Kind in allem seinen Willen zu lassen, ja sogar durch die Dienstwilligkeit der Erwachsenen die kindlichen Wünsche immer mehr auszudehnen. Es macht andererseits aber auch keinen Sinn, das Kind den Launen und der Willkür der Erwachsenen zu unterwerfen (und beide Handlungen gehen sehr gut zusammen: Kinder dürfen sehr viel und immer mehr - solange der Erzieher gute Laune hat, doch wenn seine Stimmung umschlägt, wenn der Kopfschmerz angesichts des kindlichen Tumultes sich meldet, dann bitte schön ...). An seiner eigenen Krankengeschichte hat Jean-Jacques erfahren, und er hat es zu einem Hauptbestandteil seiner Lebensphilosophie gemacht: es lohnt sich nicht, sich gegen die „Notwendigkeit“ aufzulehnen. Auch das Kind soll „über seinem stolzen Haupte das harte Joch, welches die Natur dem Menschen auflegt, das schwere Joch der Notwendigkeit, unter das sich ein jedes endliche Wesen beugen muß“ (S. 84) fühlen. Diese „Notwendigkeit“ muß jedoch für das Kind „in der bloßen Abhängigkeit von den Dingen“ (S. 76) und „niemals in der Laune der Menschen“ (S. 84f) liegen. Emile muß deshalb als erstes das „Leiden“ lernen. Der „Gassenbengel“, der rennt, klettert, springt, wird sich Beulen zuziehen. Er muß lernen, sie zu ertragen, ohne daß sein Aktivitätsdrang dadurch gehemmt würde. Leiden zu lernen, steht also nicht zu dem im Widerspruch, was die Hauptaufgabe der Kindheitsstufe ist: glücklich zu leben.

·       Das Kind von 10(12) bis 15

In der präzisen Beschreibung der Lebensphase, die der Kindheit folgt und der vorangeht, die „Pubertät“ zu nennen wir uns angewöhnt haben, liegt eine der großen Stärken des „Emile“ von Rousseau. Zum ersten und auch von Natur aus zum einzigen Mal ist der Mensch hier wirklich stark. Das Kind im ersten Jahrzehnt ist schwach, weil seine Fähigkeiten noch nicht so weit gediehen sind, daß es seine notwendigen Bedürfnisse selbst befriedigen kann; der Jugendliche wird schwach werden, weil seine entkeimende Sexualität die Begierden ins Unermeßliche treiben wird. In der Zeitspanne jedoch, die Rousseau zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr ansetzt, hat das Kind einen Überschuß an Kräften. Zuvornehmst gilt dies für die körperlichen, die es sich in seiner Kindheit angesammelt hat. Die Zeit gilt es zu nutzen, um im voraus Kräfte weiterzuentwickeln, die im Jugendalter dringend benötigt werden. „Das starke Kind“, so sagt Rousseau, „wird einen Vorrat für den schwachen Menschen anschaffen; es wird ... seine Waren ... in seinen Armen, in seinem Kopfe, in sich selbst beherbergen.“ (S. 192) Das Lernen, das man vielleicht bisher vermißt haben wird, hat jetzt seine Zeit - doch Vorsicht, auch in dieser Phase geht es nicht um Schulweisheit, wie wir gleich sehen werden.

Es mag der Gedanke aufkommen, daß eine solche Charakterisierung von 14jährigen eine romantische Verkennung der Wirklichkeit sei - wie viele von ihnen wissen über Sexualität bereits alles, haben ihre erste Zigarette geraucht, Alkohol getrunken und kennen sich mit allen Schlechtigkeiten bestens aus. Aber gerade deshalb mag die Konzeption Rousseaus eine heilsame Provokation sein: Vom Fernsehen über alles im Bereich der Sexualität informiert zu sein, mit Mausklick via Internet die ganze Welt auf den Bildschirm des Computers zu holen, durch den Zwang der Cliquenkonvention in ein Verhalten sich einzuüben, das man für erwachsen hält - all dies kann ein Kind sehr einsam machen, wenn das Gefühl dem nicht nachkommt. Alles über den Geschlechtsakt zu wissen, wird die Angst erhöhen, wenn man zum ersten Male liebt. Man glaubt zu wissen, aber man versteht nichts, und um keinen Preis darf man sein Nichtwissen den anderen zeigen, will man nicht riskieren, als nicht-dazugehörig ausgeschlossen zu werden. Auf jeder Stufe ganz das sein zu dürfen, was diese Stufe fordert - dies ist der Anspruch Rousseaus, der die Entwicklungsphasen des Menschen nicht an dem orientiert, was zu sein scheint, sondern an dem unveränderlichen Plan der Natur.

Die Phase des Lernens ist kurz, und die Zeit muß deshalb genutzt werden. Wichtig ist also, den Kreis des Wissens zu begrenzen, und Rousseau bietet einige Kriterien der Reduktion an. Zunächst einmal soll das Kind weiterhin nichts von dem erfahren, was die Bereiche der Moral und der Gesellschaft angeht, denn es ist unverändert noch kein sittliches und soziales Wesen. Die entsprechenden Fähigkeiten entfalten sich erst in der folgenden bzw. übernächsten Entwicklungsstufe. Lernen soll das Kind des weiteren nicht den ganzen Ballast des Wissens, der keine praktische Bedeutung hat, sondern nur Zierrad eines stolzen Menschen ist. Der „Nutzen“, den das Wissen hat, ist das ausschlaggebende Kriterium, und nach der Erfahrung der „Notwendigkeit“, die das Kind auf der letzten Stufe gespürt hat, ist die jetzt erlebte „Nützlichkeit“ das zweite Grundprinzip, das das Kind der Sittlichkeit näherbringt. „Nützlich“ meint jedoch nicht die Vorstellung des Erwachsenen, der zu einem Kind sagt, es werde später noch sehen, wozu das Ganze gut gewesen sei, sondern das Kind selbst muß von der Brauchbarkeit hier und jetzt überzeugt sein. Ausgeschlossen wird weiterhin alles Bücherwissen: „Das Kind, welches liest, denkt nicht, es liest nur; er unterrichtet sich nicht, es lernt nur Wörter.“ (S. 195) Die Erziehung muß aber weiterhin an der unmittelbaren Erfahrung mit den Dingen ausgerichtet sein und darf sich nicht als verbale Lehre verstehen: „mit unserer schwatzhaften Erziehung machen wir nur Schwätzer.“ (S. 212f) Ein einziges Buch will Rousseau von diesem Verbot ausnehmen, und das ist der „Robinson Crusoe“. In dessen Situation, das eigene Leben in der Abgeschiedenheit der einsamen Insel selbst in die Hand zu nehmen, kann das Kind sich wiederfinden.

Gelernt werden soll schließlich weniger positives Wissen als die Fähigkeit, sich selbst Kenntnisse anzueignen: Das Kind „erlerne die Wissenschaft nicht, sondern er finde sie“ (S. 195). Dies betrifft zum ersten die Motivation des Lernens: Überschütten wir ein Kind mit einer Fülle von Informationen - begierig haben wir auf die geringste Andeutung seiner Frage gewartet, um unseren Lehrgang folgen zu lassen -, dann wird die Neugierde des Kindes abgeblockt. Demgegenüber ist es aber ein wichtiges Ziel, die Quelle des Wissenserwerbs anzuregen, nicht sie zuzuschütten. Der Erzieher stelle deshalb nur selten, dann aber gezielte und kurze Fragen an das Kind, die diese zum eigenen Nachdenken anregen. Auch wenn es sich bei seinen Antwortversuchen irren sollte, korrigiere man es nicht zu schnell, damit die Motivation wachgehalten wird, daß das Kind den Fehler selbst entdeckt. Umgekehrt soll der Erzieher auch bei der Beantwortung der Fragen des Kindes zurückhaltend sein: Man antworte ihm „so viel, wie nötig ist, seine Neugier zu nähren, und nicht sie zu sättigen“ (201).

Das Finden der Wissenschaft meint zum zweiten, daß man dem Kind die Methode vermittelt, mit der es sich selbst Wissen aneignen kann, wenn es in die Situation gelangen wird, dieses zu benötigen. Und schließlich meint die Wissenschaften zu finden auch, sich die Instrumente selber zu konstruieren, die man zum Wissenserwerb benötigt. Eine schon vor der Zeit vorhandene Ausstattung mit didaktischen Apparaturen verhindert die Entwicklung des ersten notwendigen Schrittes: das Bedürfnis für ein solches Hilfsmittel selbst zu spüren. Ich muß zunächst ein Problem haben, um die Technik sinnvoll nutzen zu können. Die Überfülle an Apparaturen lässt überdies die Kräfte der eigenen Sinnesorgane verkümmern: man sieht, hört, riecht schlechter, wenn der Ausschlag der Nadel an dem messenden Instrument die eigene Wahrnehmung ersetzt. „Weil wir so viele Hilfsmittel um uns herum versammeln, finden wir keine mehr in uns selbst.“ (S. 208)

Jean-Jacques Rousseau hat einige Beispiele sinnvoller Lehrsituationen ausgestaltet, die nicht als zu kopierende „Musterstunden“ einer Didaktik und Methodik des späten Kindesalters verstanden werden können, sondern Illustrationen seiner Pädagogik sind. Das Beispiel vom Verlieren im Wald sei hier angeführt. Emile und Jean-Jacques beschäftigen sich mit der Astronomie und Bestimmung der Himmelsrichtungen, bis der Zögling auf den Gedanken kommt zu fragen, wozu das nütze sei. Wird der Erzieher jetzt mit einem wohlausgewogenen Vortrag antworten, würde er sein ganzes „Wissen eines wahren Pedanten“ (S. 214) ausbreiten, dann verstünde Emile nichts von alledem. Also muß man die Situation anders gestalten: Emile und Jean-Jacques haben gelernt, daß der Wald im Norden von Montmorency liegt, jetzt gehen sie dorthin spazieren. Sie laufen so lange umher, bis sie sich schließlich verirren. Emile wird ungeduldig, vor allem weil der Hunger ihn treibt, und es nur in der Stadt etwas zu essen gibt. Er weint. Jean-Jacques erinnert ihn an das Gesetz der Notwendigkeit: Er würde ja auch weinen, wenn er seine „Tränen frühstücken könnte“. Doch das „Mittagbrot (wird) nicht kommen und mich hier suchen“ (S. 215). Also hilft nur ruhiges Überlegen weiter: Wenn der Wald im Norden von Montmorency liegt, dann muß der Ort im Süden von uns sein. Es ist die Mittagsstunde, und mit Hilfe des Sonnenstandes und des Schattens läßt sich die Himmelsrichtung ausmachen. In der Tat: Sie folgen dem Plan, erreichen in kurzem Stadt und Mittagessen. Durch dieses Erlebnis hat Emile seine Frage, wozu das nutze sei (die wichtigste Frage dieser Altersstufe), beantwortet bekommen, und nur für den pedantischen Erzieher fügt Rousseau den Hinweis hinzu, daß er nicht vor dem Kind die Moral der Geschichte aussprechen dürfe.

Was soll das Kind in dieser Altersstufe lernen? In gewisser Hinsicht ist der Bildungsgang dem entgegengesetzt, der bisher galt. Ist für das erste Jahrzehnt eine strikte Orientierung an dem Nahen, Handgreiflichen geboten, so gilt es jetzt, zu den Sternen zu greifen. Die Astronomie ist deshalb das erste, gefolgt von der Geographie und Physik. Nicht auf dem „Stundenplan“ steht Geschichte, Religion und alles, was mit dem Studium des Menschen zusammenhängt. Im Verlaufe der drei Jahre geht das Kind dann wieder zu dem Näheren zurück. Es wird zwar nicht in die Gesellschaft eingeführt, aber es soll den Wert der Arbeitsteilung spüren. Dies gelingt am besten, wenn es die Wichtigkeit der einzelnen Arbeiten einzuschätzen hat, wobei die Nützlichkeit zur Befriedigung  grundlegender Bedürfnisse und die Unabhängigkeit der Tätigkeit von anderen die entscheidenden Kriterien sind. Auch diese „Arbeitskunde“ geschieht nicht als Wortlehre oder im Studio eines didaktischen Arrangements, sondern im alltäglichen Leben: Emile muß selbst Hand anlegen, um das jeweilige Handwerk zu begreifen. Nicht durch das Reden über, sondern nur durch die Tätigkeit im realen Vollzug lernt das Kind: „man bedenke, daß ihm eine Stunde Arbeit mehr lehren wird, als er von den Erklärungen eines Tages behalten würde“ (S. 222).

Nachdem das Kind so einen Überblick über die verschiedenen Arbeiten erworben hat, soll es sich selbst ein Handwerk aussuchen, daß es lernen möchte. Zwar gilt die Regel, daß nicht der Erzieher für das Kind die Arbeit wählt, sondern daß es dies selbst tut, doch Jean-Jacques ist sich sicher, daß Emile nicht die Luxushandwerke eines Goldstickers, Musikers!, Bücherschreibers! usw. berücksichtigen würde. So wählt man schließlich das Tischlerhandwerk. Erzieher und Zögling begeben sich gemeinsam in die Lehre, die sie nicht „zum Spaß“ betreiben, und in der sie „nicht als Herren behandelt werden (wollen), sondern als echte Lehrlinge“ (S. 244). Die Notwendigkeit der Lehre gilt auch für Kinder, die niemals in ihrem Leben in diesem Beruf werden arbeiten müssen; weil durch sie der Körper geschult und die Fähigkeit der Bedürfnisbefriedigung gesteigert wird. Die Ausbildung im Handwerk macht darüber hinaus auch für die Zukunft unabhängig, da man - welches Schicksal einen auch ereilen mag - immer eine Basis für das Überleben hat, kann man sich die notwendigen Mittel doch durch seiner eigene Hände Arbeit verschaffen. Für das Kind und den Erwachsenen gibt es in diesem Lehrprozeß unterschiedliche Perspektiven, die Rousseau in einem Grundsatz formuliert, der als Motto über dem ganzen pädagogischen Prozeß stehen könnte: „Das Kind muß ganz bei der Sache sein; wir aber müssen ganz bei dem Kinde sein“ (S. 227).

·       Der Jugendliche

„.Wenn aber seine Lebhaftigkeit gar zu ungeduldig wird, wenn ein hitziges Wesen sich in Wut verwandelt, wenn er von einem Augenblick zum andern sich erzürnt und wieder sanftmütig wird, wenn er ohne Ursache Tränen vergießt, wenn bei den Dingen, die gefährlich für ihn zu werden anfangen, sein Puls sich beschleunigt und sein Auge sich entflammt, wenn eine weibliche Hand, die auf seiner liegt, ihn erschauern läßt, wenn er in der Gegenwart einer Frau verstört oder furchtsam wird ...“ (S. 257)

Die Zeit der Kindheit ist vorüber - sicherlich ist der Zeitpunkt des Übergangs und sind die Umstände, die mit dem Wechsel verbunden sind, abhängig von der Kultur, in der der Mensch groß wird, sehr unterschiedlich; doch wann und wie auch immer; irgendwann kündigt die „Natur“ des Kindes qualitative Veränderungen an, auf die die Mitmenschen und Erzieher zu reagieren haben. Mit nebenstehenden Worten bezeichnet Jean-Jacques Rousseau die Empfindungen des Menschen, der „weder Kind noch Mann“ ist, der „empfindlich (wird), ehe er weiß, was er empfindet“ (S. 257). Das Verhältnis von Bedürfnissen und Kräften ändert sich jetzt dramatisch, weil eine Fülle neuer Begierden auf den Jugendlichen einstürmen und er hinter all den neuen Empfindungen nicht recht hinterherzukommen weiß. Da der Bezugspunkt der Pädagogik Rousseaus die Relation von Fähigkeiten und Wünschen ist, und da das Glück des Menschen nur im Falle des Gleichgewichts der beiden Faktoren erreichen werden kann, ergibt sich in der Pädagogik des Jugendalters erneut eine dramatische Veränderung in der Bestimmung des pädagogischen Verhältnisses, der erzieherischen Inhalte und der anzuwendenden Methoden.

Die Natur des Menschen ist gut - nichts kann Rousseau von dieser Überzeugung abbringen. Wie könnte dann das Erwachen der „Leidenschaften“, die im Programm der Natur vorgesehen sind und die jetzt mit großer Heftigkeit nach außen drängen, „böse“ sein? Gleichzeitig ist Rousseau zu sehr Gesellschafts- und Kulturkritiker, als daß er alle Erscheinungen des Menschen unter dem Gesichtspunkt der guten Natur betrachten könnte. So ist es auch mit den Äußerungsformen des Gefühlslebens des Jugendlichen. Ist nicht bereits durch die falsche Erziehung während der Kindheitsphasen vom natürlichen Weg abgewichen worden, so werden die Vorurteile der Umwelt durch die Anzeichen des Neuen falsch geleitet. Ein Programm der künstlichen Beschleunigung bewirkt, daß die Bedürfnisse immer weiter ausgedehnt und verzerrt werden. Die natürliche „Eigenliebe“, nach der die erste Bestrebung eines jeden Menschen in der Suche nach dem eigenen Glück besteht, wird in die „Selbstliebe“ („Selbstsucht“ Röhrs) verwandelt, die von allen anderen fordert, auch sie mögen unser und nicht ihr Glück an die erste Stelle setzen. „Herrschsüchtig, eifersüchtig, betrügerisch, rachgierig“ (S. 259) wird ein solcher Mensch werden. Wie muß demgegenüber das Programm einer Erziehung aussehen, das sich an dem „Gang der Natur“ orientiert? In vier Schritten entwickelt Rousseau seine Empfehlungen zur Jugenderziehung.

1. Schritt: Verzögerung.Man braucht Zeit und Kenntnisse, uns zur Liebe fähig zu machen.“ (S. 260) Dem starken gesellschaftlichen Druck der Verfrühung, der den sexuellen Begierden der Jugendlichen immer neue Anreize verschafft, gilt es pädagogisch gegenzusteuern: nicht möglichst schnell den Schritt vom Kind zum Mann provozieren, sondern „die Unschuld der Kinder“ (S. 262) möglichst lange erhalten. Denn der Weg, den der Jugendliche zurückzulegen hat, ist nicht nur der Schritt der sexuellen Reife, der erste Geschlechtsakt als Befriedigung triebmäßiger Bedürfnisse, sondern es gilt ein ausführliches Studium zu absolvieren, um zur Liebe fähig und ein sittlicher Mensch zu werden. Die Forderung nach pädagogischer Langsamkeit hat Rousseau bereits für die erste Kindheitsstufe begründet. Sie ist danach durch eine intensive Lernzeit, in der es die Zeit gut zu nutzen galt, abgelöst worden. Jetzt, für die erste Phase des Jugendalters, gilt wiederum das Bemühen um Verlängerung: „Dieses Alter dauert zu dem Gebrauch, den man davon machen soll, niemals lange genug ... Eine der besten Vorschriften der guten Erziehung ist, alles so lange zu verzögern, wie es möglich ist. Man mache die Fortschritte langsam und sicher; man verhindere, daß der Jüngling in dem Augenblick zum Mann wird, wo ihm nichts mehr zu tun übrigbleibt, um es zu werden.“ (S. 286f) Dieser pädagogischen Forderung kommt der Erzieher zum ersten dadurch nach, daß er den Ort, die Umgebung und den Freundschaftskreis des Jugendlichen sorgfältig auswählt: Nicht in der lärmenden Großstadt Paris soll Emile diese Lebenszeit verbringen, sondern in der ländlichen Abgeschiedenheit; nicht in vergnügungssüchtigen Gesellschaften, die die Begierden aufheizen, soll er sich bewegen, sondern in kleinen Kreisen wirklicher, einfacher Freundschaften. Langsamkeit bewirkt der Erzieher zum zweiten dadurch, daß er den Inhalt des Studiums richtig auswählt: Nicht den scheinbaren Glanz des prunkvollen, prahlerischen Lebens soll Emile erfahren, sondern es geht um das Studium des gemeinsam Menschlichen, und da Leiden dasjenige ist, dem kein Mensch in seinem Leben ausweichen kann, soll Emile „Mitleid“ lernen. Nicht daß Rousseau wollte, der Jugendliche solle zu einem „Krankenwärter“ oder „barmherzigen Bruder“ gemacht werden, nicht darum geht es, „daß man ihn von einem Siechen zum anderen, von einem Spital ins andere und vom Richtplatz ins Gefängnis“ (S. 285) führe. Der Jugendliche soll in dieser Zeit vielmehr an einigen Beispielen das Leid von Menschen erfahren, indem er zur Selbstbetroffenheit geführt wird. Dies ist wichtig, weil ihm die Leiden der anderen Menschen auch betreffen oder betreffen könnten, und die Erfahrung des Mitleids soll das moralische Gebot des Engagements für die Mitmenschen vorbereiten. Langsamkeit wird zum dritten dadurch erreicht, daß das Verhältnis des Jugendlichen zu dem Erzieher sich verändert: Weil der Jugendliche in seiner gesamten Kindheit erfahren hat, daß der Erzieher um sein Wohl besorgt gewesen ist, wird er jetzt Freundschaft zu ihm verspüren, und die Freundschaft geht nach Rousseau der gegengeschlechtlichen Liebe voraus. Nicht indem der Erzieher Freundschaft verbal predigt, sondern indem der Jugendliche sie selbst erspürt: „Wenn Sie ihm Ihre Dienste rühmen, machen Sie sich ihm unerträglich. Wenn Sie sie vergessen, bewirken Sie, daß er sich ihrer erinnert.“ (S. 290)

„Er wisse, daß der Mensch von Natur gut ist; ... er sehe aber, wie die Gesellschaft die Menschen verdirbt und verkehrt ... er sei geneigt, eine jede einzelne Person hochzuschätzen, er verachte aber die Menge; er sehe, daß alle Menschen beinahe die gleiche Maske tragen, er wisse aber auch, daß es viel schönere Gesichter gibt als die Maske, welche sie bedeckt.“ (S. 294)

2. Schritt: Menschenstudium. Der Jugendliche soll in der Gesellschaft handlungsfähig werden, denn es ist nicht das Ziel der Pädagogik Rousseaus - wir haben das schon des öfteren angeführt -, einen „Wilden“, einen fiktiven „Naturmenschen“ zu erziehen. Weil andererseits eine kritiklose Anpassung an die menschenverachtende Gesellschaft nicht der Zielpunkt einer Erziehung sein kann, die auf das Glück des Kindes und Jugendlichen ausgerichtet ist, ergibt sich die Frage, welche Stellung der Mensch zu dem Leben seiner Zeit einnehmen soll. Weil einerseits unbefragte Teilnahme an dem gesellschaftlichen Spiel nicht sinnvoll, andererseits ein freies und unabhängiges Leben in der Natur nicht möglich ist, muß der Jugendliche den Menschen in seiner Doppelgestalt studieren. „Bringe diese Gegensätze zusammen, liebe die Natur, verachte die Meinung und lerne den Menschen kennen.“ (S. 301) Für das Studium des empirischen Menschen bedarf es einer gewissen Distanzierung, damit der Gefahr eines Hineintreibens in den Strudel gesellschaftlichen Vergnügens gesteuert wird. Für Rousseau wird dies durch das Studium der Geschichte erreicht, durch das Emile die Vielfältigkeit menschlichen Lebens, die Verwicklung menschlicher Schicksale erfahren kann. Durch diese Distanzierung ist die Gefahr nicht so groß, daß der Jugendliche durch die Teilhabe am gesellschaftlichen Verkehr völlig verdorben würde. Aber auch an diesem kritischen Punkt der Erziehung soll er nicht durch wortreiche Erklärungen die Moral erlernen: Er soll vielmehr in „die Gefahr laufen“ (S. 306) - allerdings auch hier mit wohlwollender Begleitung seines Erziehers -, um die Hinterlistigkeiten und Betrügereien am eigenen Leibe zu spüren. Wichtig ist also, daß man dem Jugendlichen das Recht einräumt, Fehler machen zu können. Hat er so den „Menschen in der Maske“ studiert, so wird er angesichts des Kontrastes zu der bisher von ihm empfundenen positiven Menschlichkeit nur zu einem negativen Urteil des empirischen Menschen und seiner Verhältnisse gelangen können. Jetzt gilt es nur noch seiner Hoffärtigkeit vorzubeugen, sich als moralisch Überlegener zu fühlen. Neben dem Studium der Geschichte und der aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Spiel ist die „Übung der Tugend“ (S. 313) das dritte Element in der zweiten Etappe der Erziehung im Jugendalter. Emile, der das Mitleiden gelernt hat, soll durch „aktive Nächstenliebe“ sich anderen Menschen zuwenden, indem er Hand anlegt, um Menschen mit Problemen zu helfen,.

3. Schritt: Religiöse Erziehung. Rousseau wendet sich mit Heftigkeit gegen eine religiöse Erziehung im Kindesalter. Weil die Kinder noch keine Vernunft haben, können sie ein Reden über Gott nicht verstehen, und sie würden ihr Gottesbild an dem orientieren, was sie kennen: die Stärke des Vaters beispielsweise. Habe sich aber erst einmal ein falsches Urteil im Kopf des Kindes festgesetzt, so würde es späterhin nur sehr schwer möglich sein, dieses Vorurteil zu korrigieren und ein Gottesbild zu entwickeln, das diesem angemessen sei. „Götzendiener“ (S. 322) nennt Rousseau deshalb das Kind, das scheinbar an Gott glaubt. „Jedes Ding hat seine Zeit“ - und die Zeit der Erfahrung von Religion und Sittlichkeit ist das Jugendalter. Hier allerdings ist sie ein, ja sogar der wichtigste und notwendigste Schritt in der Bildung des Menschen. An dieser Stelle der Darstellung seiner Erziehungstheorie wendet Rousseau ein stilistisches Kunstmittel an: er schiebt als Buch im Buche das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ ein, mit dem wir uns gleich in einem Exkurs befassen werden.

4. Schritt: Sexualität und Liebe. Die Zeit der pädagogisch bewußt reflektierten Verzögerung ist vorbei, auch wenn Rousseau meint, man könne die Unkenntnis der Begierden und die Reinheit der Sinne wenigstens bis ins zwanzigste Jahr ausdehnen“ (S. 411). Irgendwann brechen die sexuellen Bedürfnisse durch, und irgendwann wird das Erziehungsverhältnis beendet. Die Zeit für ersteres ist jetzt gekommen, die Zeit für zweiteres noch lange nicht. Der Jugendliche ist zum „Mann“ geworden, und der Erzieher muß ihn als solchen behandeln: „Denken Sie daran, daß man, wenn man einen Erwachsenen führen will, das Gegenteil von alledem tun muß, was man getan hat, um ein Kind zu führen.“ (S. 413) Der Heranwachsende hat Vernunft gewonnen, und es gilt also, mit ihm über die Hintergründe der zu treffenden Entscheidungen bewußt zu diskutieren. Dies heißt nicht, mit ihm zu „vernünfteln“, denn auf „Leidenschaften (kann man) nur durch Leidenschaften einwirken“ (S. 425) und „die Sprache des Geistes (muß) durch das Herz gehen, damit sie verständlich wird“ (S. 419).

Der Jugendliche hat die gute Natur des Menschen kennen- und lieben gelernt, er hat ebenso die gesellschaftliche Maske des Scheinmenschen als mitleidbedürftig erfahren, und er hat ein durch die religiöse Entscheidung fundiertes sittliches System aufgebaut. Gegen die Gefahren der Verführung ist er so bereits gewappnet und es bleibt nur noch ein „Feind“, „der gefährlichste und der einzige, den man nicht ausschalten kann“ (S. 434): das eigene Selbst. Der Heranwachsende steht in der Gefahr, gegen die eigene Entscheidung, gegen die eigene Vernunft, gegen das eigene Gewissen zu handeln und dem „blinden Trieb der Sinne“ zu folgen. Als Aufgabe der Erziehung in diesem Alter verbleibt deshalb, „ihn vor sich selbst zu schützen“ (S. 435). Weniger im Fernhalten vor den Gefahren der „Verführer“ von außen als in der Übernahme der Verantwortung gegenüber dem Jugendlichen selbst besteht die Aufgabe des Erziehers, denn angesichts des bisher Erreichten werden die negativen Beispiele dem Jugendlichen nicht viel anhaben können.

In einem Ablauf von vier Unterphasen soll das skizzierte Programm der Erziehung am Ende des Jugendalters realisiert werden. Jean-Jacques gibt zunächst in aller Offenheit Emile Rechenschaft über seine bisherigen Bemühungen, er reflektiert seine Vorstellungen über die positiven Ziele der Erziehung, er redet über die Gefahren, denen sich Emile im Kommenden gegenübersieht, und er nennt die Aufgaben, die noch vor ihnen liegen, um den Bildungsprozeß zum Abschluß zu bringen. Danach wird ein neuer „Vertrag“ zwischen dem Erzieher und Emile geschlossen. Dieser verlangt dem Zögling Gehorsam gegenüber dem Erzieher ab, wenn seine Leidenschaften ihn in Gefahr bringen könnten; er fordert zum zweiten von dem Erwachsenen, daß er in den anschließenden ruhigen Zeiten seine Gründe für mögliche Einschränkungen offenlegt; und er bestimmt zum dritten, daß Emile „zum Richter“ zwischen dem Erzieher und sich selbst festgelegt wird. Von der so bekräftigten Autorität des Erziehers sagt Jean-Jacques, „wird meine erste Sorge sein, daß ich die Notwendigkeit entferne, mich ihrer zu bedienen“ (S. 425). So paradox wie dieser Erziehungsvertrag ist auch die folgende Phase: Emile wird in die Pariser Gesellschaft eingeführt, indem ihm gleichzeitig das Bild einer möglichen Ehefrau vorgestellt wird. Der Prozeß des Verliebtmachens, der Herausbildung einer Vorstellung von der möglich-wirklichen „Gefährtin“ geht so weit, daß diese einen Namen erhält: „Wir wollen“, sagt Jean-Jacques zu Emile, „deine künftige Geliebte Sophie nennen. Sophie ist ein Name von guter Vorbedeutung“ (S. 428f). Die vierte Phase besteht schließlich darin, daß Emile den Teil der Bildung nachholt, den der übliche Zögling wesentlich früher erhält: Bücher lesen, Sprachen lernen, die alte und die neue Literatur kennenlernen (wobei die erste hoch geschätzt, während die zweite verachtet wird), Theater besuchen usw. An dieser Stelle des Bildungsgangs kommt es auch zu der einzigen Erwähnung der Schul- und Universitätsbildung, und sie fällt nicht gerade positiv aus: „Um ihn zu belustigen, lasse ich ihn das Gewäsch der Akademien hören; ich erkläre ihm, daß jedes ihrer Mitglieder für sich allein mehr wert ist als innerhalb der ganzen Körperschaft.“ (S. 449)

Emile hat jetzt die große Welt hautnah erlebt, doch im Angesicht des Bildes seiner künftigen Geliebten kann sie nur Verachtung erzeugen. Sophie kann hier nicht gefunden werden, und so gilt es Abschied zu nehmen: „Lebe wohl, Paris; wir suchen die Liebe, das Glück, die Unschuld; wir können uns dabei niemals weit genug von dir entfernen.“ (S. 465)

·       Exkurs: Das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars

Rousseau in einer der Pariser Gesellschaften, in der spöttisch über alle Religionen hergezogen wird. Er fühlt sich provoziert und äußert mit Heftigkeit, es sei „ein Verbrechen, wenn einer zuläßt, daß über seinen (Rousseaus) Gott, der gegenwärtig ist, schlecht geredet wird. Und ich, meine Herren, ich glaube an Gott. Wenn Sie noch ein Wort sagen, verlasse ich den Raum.“ (in: Schmidt 1996; S. 195) Als selbst seine Gönnerin, Madame d’ Epinay später meint, die Argumente der Gegner hätten mehr an Überzeugungskraft besessen, antwortet Rousseau: „Madame, wenn ich manchmal mit beiden Fäusten vor den Augen in meinem Zimmer sitze, oder mitten in der finsteren Nacht, dann bin ich seiner (des Atheisten) Ansicht. Aber sehen Sie ... wie der Sonnenaufgang die Dünste hinwegfegt, welche die Erde bedecken und mir das leuchtende und wunderbare Schauspiel der Natur freigibt, so vertreibt er gleichzeitig alle Nebel aus meinem Gemüt. Ich finde mein Vertrauen wieder, meinen Gott, meinen Glauben an ihn. Ich bewundere ihn, bete ihn an und werfe mich in seiner Gegenwart nieder.“ (in: Schmidt 1996, S. 207)

Das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars gehört zu den stärksten Stücken, die Jean-Jacques Rousseau verfaßt hat. Die Argumente, die er vorträgt, mögen im Vergleich zu dem, was andere zu seiner Zeit geschrieben haben, nicht neu sein, doch alles ist hier mit einer einzigartigen Kraft komponiert, die sich aus der Kombination von persönlicher Überzeugung und klarer, einfacher Gedankenführung ergibt. Die sprachliche Gestaltung des Textes ist vielfältig: sie reicht von Passagen, die dem Ernst des Gegenstandes angemessen sind, bis zu ironischen Einschüben, die mal bissig, mal leicht und heiter sich geben. Alle grundlegenden Themen - erkenntnistheoretische Probleme ebenso wie philosophische Erörterungen zum Menschenbild und theologische zum Gottesbild und Gottesbeweis, vor allem auch ethische Fragen und persönliche Glaubenskonsequenzen - werden abgehandelt, ohne daß dies der Einheitlichkeit des Textes Abbruch täte oder der Eindruck eines kurzen Abrisses aufkäme, der nach weiterführenden Abhandlungen riefe. Auf den 70 Seiten ist alles gesagt, was gesagt werden muß, und entweder der Leser ist überzeugt und weiß das Gehörte auf sein eigenes Leben zu übertragen, oder er ist es nicht, und dann würden auch ganze Bibliotheken weiterer Argumente daran nichts ändern. Nicht dem langatmigen, spitzfindigen Philosophieren, gegenüber dem Rousseau immer seine Abneigung hatte, widmet er sich, sondern er richtet seine Ansprache an das „Herz“ als die entscheidende Instanz des Menschlichen im Menschen. Die ganze Pädagogik des Emile kann als „Herzensbildung“ charakterisiert werden, wobei das „Herz“ nicht der Ort einer irrationalen, blind den Menschen anstürmenden Gefühlsanwallung ist, sondern die Instanz, in die Gefühl, Vernunft, Sittlichkeit und selbstverantwortete Entscheidung zusammenfließen.

Nun aber zu dem Text, der durch einen wenig verhüllten biographischen Bezug eingeleitet wird: der jugendliche Jean-Jacques, durch Bauchsorgen zum katholischen Glauben konvertiert, befindet sich in einer physischen und psychischen Krise, die alle religiösen und sittlichen Bestimmungen zum Einsturz hat bringen lassen. Er trifft auf einen katholischen Geistlichen, der ihm, um zu helfen, von seinem eigenen Glaubensweg berichtet. Doch damit eine Offenheit für die eigene Entscheidungsfähigkeit geschaffen werden kann, muß zunächst einmal das Selbstwertgefühl des in die Krise geratenen gestärkt werden. Dann begibt sich der Vikar mit Jean-Jacques zur frühen Morgenstunde (denn es geht um das Licht, das den Nebel vertreibt) in die freie Natur, deren Schönheit und Mächtigkeit das unterstreicht, was gesagt werden muß. Indem der Geistliche in aller Offenheit über sich selber spricht, bietet er sich als lebendiges Beispiel an, nicht damit Jean-Jacques dies übernähme, sondern damit er einen Reibungspunkt hat, um seine eigenen glaubensmäßigen und sittlichen Entscheidungen treffen zu können. Das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars ist so aufgebaut, daß es zwischen zwei extremen Polen mehrfach hin- und herschwingt: der eigenen, subjektiven Person einerseits und der großen weiten Welt bis hin zu Gott andererseits. Zeichnen wir die einzelnen Stationen kurz nach:

·      Welche Möglichkeiten der Erkenntnis habe ich in mir? Ich fühle die Empfindungen meiner Sinne. Also muß sowohl ich wie die Welt außen existieren, da ich es bin, der Empfindungen hat, und ich etwas empfinde, was nicht in mir selbst ist. In meinem Kopf kann ich verschiedene Sinneseindrücke miteinander vergleichen, ich kann sie ordnen, ihnen Bedeutung zuschreiben, doch ich muß vorsichtig sein, denn diese „Urteile“, die ich in meinem Kopf treffe, können falsch sein, während dies für die passiv empfangenen Wahrnehmungen nicht gilt.

·      Wie kann ich die Existenz Gottes „beweisen“? Alle „Materie“, die ich um mich herum wahrnehme, kann sich im Zustand der Ruhe oder in Bewegung befinden. Die „beseelten Körper“ haben den Grund ihrer Bewegung in sich selbst. Was aber ist Ursache der Bewegung der anderen Körper? Und, was diese Frage noch komplizierter macht: ich sehe beispielsweise im Kreislauf der Gestirne eine Bewegung, die in höchstem Maße nach bestimmten Gesetzen geordnet ist. Da es keine Wirkung ohne Ursache gibt, muß es einen „Urheber“ geben, der einen Willen hat, der „das Universum bewegt“ (S. 346), und der Intelligenz hat, die „die nach gewissen Gesetzen bewegte Materie“ (S. 348) ausdrückt. In der Natur der Welt und des gesamten Weltalls sehe ich ein so hohes Maß an Ordnung, daß es unmöglich ist, sie durch Zufall zu erklären. „Es steht nicht in meiner Macht zu glauben, daß die passive und tote Materie lebende und empfindende Wesen hat hervorbringen können, daß ein blindes Schicksal intelligente Wesen hat hervorbringen können, daß etwas, was nicht denkt, Wesen hat hervorbringen können, welche denken. Ich glaube also, daß die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird“ (S. 350) und diesem gibt Rousseau die Bezeichnung „Gott“.

·      Was ist der Mensch? Auf der einen Seite ist der Mensch die Spitze der Schöpfung, denn durch seine Intelligenz und seine Fähigkeiten hat er die Möglichkeit, über alles andere zu herrschen. Doch auf der anderen Seite zeigen die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen ein unendliches „Chaos“, während die übrige Natur wohl geordnet ist. „Der Mensch ist nicht eins“ (S. 353), sondern „zwei deutlich unterschiedene Prinzipien“ (S. 353) scheinen ihn zu bestimmen. Es ist die Freiheit der eigenen Entscheidung, die den Menschen bestimmt, und „als freies Wesen (ist er) von einer immateriellen Substanz beseelt“ (357). Er selbst hat die Möglichkeit, das „Gute“ zu wollen, und wenn er das „Böse“ tut, so erfüllt er nicht Gottes Willen, sondern mißbraucht die eigene Freiheit. Mag in der empirischen Welt auch das Schlechte obsiegen, so müssen letztendlich alle vor den Richterstuhl Gottes treten: „Wenn ich auch keinen anderen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele hätte als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, so würde der allein mich abhalten, daran zu zweifeln.“ (S. 360)

·      Was ist Gott? Gott ist intelligent, gut und gerecht. Doch der Versuch, ihn näher zu erfassen, ist dem Menschen mit seinem beschränkten Verstand nicht möglich: „Er existiert aber, das ist mir genug. Je weniger ich ihn begreife, desto mehr bete ich ihn an.“ (S. 364)

·      Wo finde ich den Maßstab für mein sittliches Verhalten? „Ich finde sie im Grunde meines Herzens von der Natur mit unauslöschlichen Zügen geschrieben. ... Alles, was ich als gut empfinde, ist gut; alles, was ich als böse empfinde, ist böse.“ (S. 365) Dies ist der Kern alles dessen, was Rousseau sagen möchte, und nicht zufällig findet sich diese Stelle in der Mitte des Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Jeder Mensch hat diese Stimme des Gewissens, ein „göttlicher Instinkt“, in sich, das einzige, was ihn „über die Tiere erhebt“; und wenn der Mensch lernt, auf „die Sprache der Natur“ zu hören, dann wird er gut und glücklich werden. Nicht in der abstrakten Vernunft liegt das Kennzeichen des Menschen, sondern in der Stimme des Gewissens, die „zu allen Herzen spricht“. Die Konsequenz: „wir können Menschen sein, ohne gelehrt zu sein“ (S. 371). Das Gute, das uns unser Gewissen vorschreibt, liegt zum einen in unserer Eigenliebe (nicht in unserer Selbstsucht) und zum anderen, da wir soziale Wesen sind, in unseren Empfindungen gegenüber anderen, deren Wohlergehen uns ebenso am Herzen liegt wie das eigene.

·      Was ist die richtige Religion? Die Antworten Rousseaus sind zwiespältig. Auf der einen Seite gilt, daß das entscheidende religiöse Gefühl jedem Menschen eingeboren ist und daß jeder Mensch „im Buch der Natur“, die vor seinen Augen steht, lesen kann, um darin Gott zu erkennen. Alle Offenbarungsreligionen fügen demgegenüber nur menschliche Worte hinzu, die eine dogmatische Anerkennung von Autoritäten verlangen. Das Wichtigste, was Gott fordert, ist „der Dienst des Herzens“ und nicht der äußerliche Gottesdienst, der im wesentlichen „Sache der Polizei“ (S. 379) ist. Alles was den Alleinvertretungsanspruch einer Religion angeht, findet die scharfe Kritik Jean-Jacques Rousseaus. Wir können nicht wissen, was die richtige Religion ist, weil unser Verstand zu begrenzt ist und weil der Zufall des Ortes unserer Geburt unsere religiöse Konfession bestimmt. Weil dies so ist, müssen wir allen unterschiedlichen religiösen Überzeugungen Toleranz entgegenbringen, und wir sollen wissen, daß jenseits verschiedener Bekenntnisformulierungen der innere Gottesdienst, die innere Stimme des Gewissens und die Erkenntnis der Existenz Gottes durch die Betrachtung des „Schauspiels der Natur“ allen Menschen gemein sind. Auf der anderen Seite zeigt aber die Betrachtung der Bibel eine solche „Erhabenheit“, daß sie unmöglich nur ein menschliches Produkt sein kann. Hätte ein Mensch sie von Anfang bis Ende erfunden, so wäre ihr „Erfinder noch erstaunlicher ... als sein Held (Jesus)“ (S. 397). Weil wir nicht wissen können, welches die richtige Religion ist, ist es das Beste, wenn jedermann in der „Religion seiner Väter“ verbleibt, allerdings immer eingedenk der Toleranzforderung, die Entscheidung eines jeden anderen zu respektieren. Zwar ist die Entscheidung für eine positive Religion eine Frage des Zufalls der Geburt, doch es gilt auch, daß jeder die Anforderungen und Formen, die das eigene Bekenntnis verlangt, auf das Peinlichste erfüllen muß. Durch diese doppelte Argumentationsweise begründet Jean-Jacques Rousseau auf der einen Seite die Offenheit für eine religiöse Toleranz, ohne auf der anderen Seite in Beliebigkeit abzugleiten, die gefährlich wäre, weil es „ohne Glauben keine wahre Tugend gibt“ (S. 403). Das entscheidende Gebot formuliert der Vikar gegenüber Jean-Jacques: „Sagen Sie, was wahr ist, tun Sie, was recht ist.“ (S. 405) Und alle Wege aus der Krise des Menschen ergeben sich aus dem Rat: „halten Sie Ihre Seele in dem Zustand, daß sie allezeit die Existenz eines Gottes wünscht“ (S. 402). Vieles in der Welt geht über den Verstand des Menschen weit hinaus, und die Verantwortung für Alles ist zu schwer, als daß sie ein Mensch tragen könnte. Aber wir können uns auf uns selbst zurückziehen und offen werden für die innere Stimme des Gewissens, und wir können die Verantwortung für uns selbst wahrnehmen, indem wir unsere Lebenssituation so wählen und gestalten, daß wir nicht die „gute Natur“ in uns ersticken, sondern offenbleiben für das Menschliche in uns.

·       Exkurs: Mädchenerziehung

Kehren wir zurück zu Emile und seiner Suche nach Sophie. Bisher hat Rousseau sich mit der Erziehung der Jungen beschäftigt, an dieser Stelle wird es nun notwendig, die Frage nach dem Verhältnis von Mann und Frau zu stellen. In einigen Passagen ließe sich jetzt angesichts unserer Diskussionen dieses Themas viel Fragwürdiges an der Position Rousseaus zu Tage fördern. Doch wir folgen vielmehr weiter unserem Weg, dasjenige offenzulegen, das für uns heute hilfreiche Gedanken enthält. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander reflektiert Rousseau nicht im Sinne der Gleichheit, sondern der Gleichwertigkeit. Erst die Gemeinsamkeit von Mann und Frau ergibt zusammengenommen die wirkliche Potentialität des Menschen. Eine entsprechende Formulierung, die sich auf den Bereich der Sittlichkeit bezieht, lautet: „Aus dieser Gemeinschaft (von Mann und Frau) entsteht eine sittliche Person, deren Auge die Frau und deren Arm der Mann ist, aber mit einer solchen Abhängigkeit voneinander, daß die Frau von dem Manne lernt, was man sehen muß, und der Mann von der Frau lernt, was man tun muß.“ (S. 494)

Die Verschränkung der Beziehungen gilt auch für die generellen Frage des Machtverhältnisses: Für Rousseau gibt es keinen Zweifel, daß der Mann der Mächtigere ist, daß die Frau sich seinem Willen unterordnen muß. Doch dieser herrschende Wille des Mannes wird ihm im wesentlichen von der Frau eingegeben. Gerade durch ihre scheinbare Schwäche ist sie stark, weil sie dem Mann vermittelt, was sein Wille ist: „Das stärkere (Geschlecht ist) dem Anschein nach der Herr ..., in der Tat aber (hängt er ) von dem schwächeren ab“ (S. 469).

Neben dem, was Mann und Frau trennt, gibt es einen großen Bereich, der beiden gemeinsam ist. In der Formulierung Rousseaus: „die Maschine ist auf die gleiche Art gebaut, ihre Teile sind gleich, ihre Verwendung ist gleich“ (S. 466). In allem, was nicht geschlechtsspezifisch ist, darf man also keine Differenzen machen, und in diesen Punkten darf auch die Erziehung von Jungen und Mädchen sich nicht unterscheiden. Die Verschiedenheiten ergeben sich in Bezug auf die Aspekte, die „zum Geschlecht“ gehören, und alles hängt also von der Scheidung dieser Bereiche ab (und wie gesagt, wir nehmen sie heute anders vor als Jean-Jacques Rousseau dies in seiner Zeit getan hat).

Die vielleicht prägnanteste Umschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt folgende Stelle aus dem „Emile“ wieder: „Eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen einander nicht mehr im Geiste als im Gesicht ähnlich sein, und in der Vollkommenheit kann es ein Mehr oder Weniger nicht geben.“ (S. 467) Entgegen der Struktur des Satzes kann man zunächst das Verbindende festhalten: Im Vergleich zu allem Nichtmenschlichen sind die menschlichen Gesichter zunächst einmal gleich, das Gesicht charakterisiert dessen Träger als Menschen, wie groß die Bandbreite auch immer sein mag. Aber es lassen sich auch spezifische Charakteristika finden, die es uns ermöglichen, allein vom Gesicht her eine Unterscheidung in männlich und weiblich vorzunehmen. Und dann der Nebensatz: „in der Vollkommenheit kann es ein Mehr oder Weniger nicht geben“. Darum geht es in der Erziehung: die „Vollkommenheit“ der jeweiligen Altersstufe und jetzt des jeweiligen Geschlechtes auszuprägen (und in Bezug auf unsere pädagogische Diskussion heute können wir ergänzend hinzufügen: die „Vollkommenheit“ der jeweiligen Individualität des Einzelnen). Feminine Gesichtszüge mit Gewalt einer männlichen Erscheinung anzupassen, würde ebenso zur Verformung und Verunstaltung führen wie der umgekehrte Weg.

Aus den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Geschlechtern ergeben sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Erziehung. Da es das Bestreben Rousseaus ist, an dieser Stelle Sophie als die ideale Ehefrau Emiles und Mutter seiner zukünftigen Kinder zu charakterisieren, hebt er vor allem auf die Aspekte ab, die ihre zukünftige Aufgabe betreffen. Wir sprachen oben von der Zwiespältigkeit, mit der Rousseau die Frage nach Macht und Ohnmacht der Frau behandelt, und diese Widersprüchlichkeit findet sich auch in seinen geschlechtsspezifischen Erziehungsvorschlägen wieder. Auf der einen Seite finden wir Formulierungen, die dem Leser und der Leserin heute einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Um einige Kostproben zu geben:

·       Müßiggang und Eigensinn sind die beiden gefährlichsten Fehler  für die Frau, weshalb sie „wachsam und arbeitsam“ (S. 483) sein muß;

·      die Mädchen müssen „fühlen, daß sie zum Gehorchen geboren sind“ (S. 484);

·      der Zwang soll ihnen „zur Gewohnheit“ werden (S. 484); und

·      die ganze Erziehung der Frauen muß sich ... auf die Männer beziehen“ (S. 477).

Auf der anderen Seite sollen die fraulichen Pflichten den Mädchen nicht so vermittelt werden, daß sie glauben, „daß man verdrießlich sei, wenn man sie erfülle; keine Grämlichkeit, keine Leichenbittermiene!“ (S. 512) Des öfteren betont deshalb Rousseau, daß ungezwungene Fröhlichkeit das Erziehungsklima präge: „Man nehme ihnen nicht die Lustigkeit, das Lachen, die laute Ausgelassenheit, die närrischen Spiele“ (S. 484).

Viele der Regeln, die Rousseau für die Mädchenerziehung gibt, lassen sich als zeitbedingte, heute nur noch für Anekdoten interessante Formulierungen verstehen, etwa wenn er für sie ein im Vergleich zur Jungenerziehung reduziertes Bildungsprogramm vorschlägt: weniger an Verstandes-, an religiöser, an wissenschaftlicher Bildung. Problematisch wird es insbesondere, wenn er, der mit Vehemenz gegen den „Schein“ des gesellschaftlichen Spiels und für das „Sein“ der wirklichen Persönlichkeit plädiert, bei der Mädchenbildung Gegenteiliges zu begründen versucht. Bei ihnen sei der „Schein“ der Persönlichkeit, der die anderen blendet und den sie kritiklos und vorurteilsbelastet anerkennen, ein positiver Erziehungswert. All diesem kann man eine Verurteilung als chauvinistisches Vorurteil nicht versagen. Doch in einem Punkt bleibt sich Rousseau treu. Seine wichtigste Lebensregel lautet: Lehne Dich nicht gegen die Notwendigkeit auf, wenn Du glücklich sein willst. Das Mädchen wird als Frau gezwungen sein, „einem so unvollkommenen Wesen wie dem Mann zu gehorchen, der oftmals so voller Laster und stets so voller Mängel ist“, und deshalb „muß sie beizeiten selbst Ungerechtigkeit erdulden und das Unrecht eines Mannes, ohne sich zu beschweren, ertragen lernen.“ (S. 484f) „Sanftmut“ muß deshalb eine ihrer wichtigen Eigenschaft sein: „nicht seinetwegen, sondern ihretwegen“ (S. 485). Mit ihr lernt sie, sich der Notwendigkeit zu beugen, sie zu ertragen, ohne sich in ihrem Persönlichkeitskern davon berühren zu lassen; und mit ihr beherrscht sie den Mann, das zu tun, was sie will.

Nochmals: dies alles ist sehr zeitbedingt, aber vielleicht gerade deshalb eine hilfreiche Provokation, um über die Differenzen in der Erziehung von Jungen und Mädchen jenseits einer ausschließlich postulierten Gleichheit neu nachzudenken.

·       Der Heranwachsende

Nachdem Rousseau Sophie als die ideale Ehefrau und zukünftige Mutter charakterisiert hat, wobei selbst ihre Fehler die Vollkommenheit nur steigern können, geht das Buch völlig in den Roman über. In einem ersten Schritt nehmen Sophies Eltern von ihrem traditionellen Recht Abstand, den künftigen Gatten für die Tochter zu bestimmen. Weil die „gegenseitige Neigung“ (S. 527) das erste Band der Ehe ist, kommt es „den Eheleuten ... zu, einander auszusuchen“ (S. 527). Ähnlich dem Erziehungsvertrag, der zwischen dem heranwachsenden Emile und Jean-Jacques geschlossen wurde, ist es nur noch die Aufgabe der Eltern Sophies „zu beurteilen, ob du, ohne es zu wissen, nicht etwas anderes tust als du willst“ (S. 529). Sophie wartet in der dörflichen Abgeschiedenheit auf den unbekannten Gatten, und sie wird verzehrt von der ungewissen Liebe zu dem möglichen Liebhaber.

Dann wieder der Blick auf Emile, der sich gemeinsam mit Jean-Jacques von Paris entfernt. Zu Fuß wandern sie, sie verirren sich und finden Aufnahme bei einem armen Bauern, der sie zu einem wohlhabenderen Haus verweist. Auch hier wird ihnen Gastfreundschaft gewährt, und der Tisch ist für fünf Personen gedeckt. Ein Mädchen kommt zu der Gesellschaft der Eheleute, des Erziehers und seinem Zögling hinzu, Emile beachtet sie zunächst wenig. Doch dann fällt der Name „Sophie“, und augenblicklich ändert sich die Situation. Emile findet die Geliebte, die er gesucht hat. Rasch macht der Liebesroman Fortschritte. Doch auch eine erste Mißstimmung bleibt nicht aus: Sie fühlen ihr Herz füreinander bestimmt, doch Sophie ist bei der wechselseitigen Verpflichtung zurückhaltend, weil sie angesichts des Reichtums Emiles Komplikationen fürchtet. Der Erzieher vermittelt, indem er dem Zögling den Rat gibt, „durch Beständigkeit und Zeit ihren Widerstand“ (S. 560) zu überwinden. Und in der Tat: wir sehen Emile, wie er, wenn er nicht zu Besuch bei Sophie ist, mit Wohltaten, die er den Armen des Landes erweist, und Tischlerarbeiten sich nützlich macht. Sophie sieht so, daß er nicht einer von den üblichen Männern ist, die mit ihrem Geld sich den Schein der Vergnügungen erkaufen und sich ihrer Verpflichtungen entledigen. Als sie eines Tages erfährt, daß Emile deshalb nicht zu einem Treffen mit ihr erschienen sei, weil er einem armen Bauern, den er mit gebrochenem Bein in unwegsamen Gelände gefunden hat, und seiner schwangeren Frau, die angesichts der Ereignisse vor Schreck vorzeitig ihr Kind gebar, geholfen hatte, gibt sie ihren Widerstand auf: „Werde, wann du willst, mein Mann und mein Herr.“ (S. 586)

erstrecke das Gesetz der Notwendigkeit auch auf die sittlichen Dinge; lerne das verlieren, was dir genommen werden kann; lerne alles aufgeben, wenn die Tugend es fordert, dich über alle Wechselfälle hinwegsetzen, dein Herz losreißen, ohne daß sie es zerreißen; lerne in Widrigkeiten mutig sein, damit du niemals elend bist, in deiner Pflicht standhaft sein, damit du niemals zum Verbrecher wirst. Alsdann wirst du dem Schicksal zum Trotz glücklich und den Leidenschaften zum Trotz weise sein’“ (593)

Der Leser erwartet jetzt das Ende des Romans, und auch Emile sieht sich am Ziel seiner Wünsche. Doch Jean-Jacques hat noch eine Überraschung parat, denn noch ist der Erziehungsprozeß nicht zu Ende gebracht. Als Emile Sophie einige Tage nicht gesehen hat, tritt er, einen Brief in der Hand, mit der lapidaren Frage in sein Zimmer: „Was würdest du tun, wenn man dir meldete, Sophie sei gestorben?“ (S. 587) Emile ist außer sich, und die Tatsache, daß die Frage Jean-Jacques nur eine fiktive war, scheint nicht für den Erzieher zu sprechen. Doch noch hat Emile zwei Dinge zu lernen: Er muß eingeführt werden in die gesellschaftlichen Ordnungen, um sie beurteilen zu können und um seine diesbezüglichen politischen Pflichten zu erfahren; und er muß lernen, sich von allem, was vergänglich ist, zu lösen, damit er dem „Gesetz der Notwendigkeit“ voll gehorchen kann: „Sei ein Mensch; zieh dein Herz in die Schranken deines Daseins ein. ... So eng sie auch sein mögen, man ist nicht unglücklich, solange man darin eingeschlossen bleibt. Man ist nur unglücklich, ... wenn man in seinen unvernünftigen Begierden das für möglich hält, was nicht möglich ist“ (S. 592). Nur wenn man jederzeit seine Begierden beherrscht und nicht von ihnen beherrscht wird, kann man ein glücklicher Mensch werden.

Mit diesem Doppelziel - die politischen Verhältnisse beurteilen und Versagungen ertragen zu können - begibt Emile sich mit Jean-Jacques auf eine Bildungsreise, so daß der Liebende sich von der Geliebten trennen sich: „Du mußt sie verlassen, um ihrer würdig wiederzukommen.“ (S. 596) Nach zwei Jahren kehrt Emile zurück, und er hat das Bildungsziel der Reise erreicht, vor allem scheint er das „Gesetz der Notwendigkeit“ gelernt zu haben: „Mich dünkt, man brauche, um frei zu werden, nichts zu tun; es genügt, daß man nur nicht aufhören will, es zu sein. Sie, mein Lehrer, haben mich frei gemacht, indem Sie mich lehrten, der Notwendigkeit nachzugeben. ... weil ich nicht gegen sie ankämpfen will, hänge ich mich an nichts, das mich zurückhalten könnte.“ (S. 629) Nur eine Korrektur hat Jean-Jacques noch anzufügen: Aus der Beobachtung der Schlechtigkeit der empirischen Gesellschaften und der Tatsache, daß überall das politische Recht pervertiert wird, darf nicht der Schluß gezogen werden, der Mensch dürfe sich vollständig aus ihr zurückziehen. Vielmehr hat jedermann dem Staat gegenüber, in dem er geboren ist, seine Pflichten zu erfüllen: „Deine Mitbürger beschützten dich als Kind, als Mann mußt du sie lieben.“ (S. 632) Es gilt also den rechten Ort zu wählen: abseits der großen Städte, die den Menschen verführen, aber nahe genug bei den Mitmenschen, um helfen zu können. Das dörfliche Leben erscheint so als das für Emile geeignete, um die richtige Balance von Rückzug und Engagement realisieren zu können.

Emile trifft seine Sophie wieder, sie sind überglücklich. Die Hochzeit wird arrangiert, und auf einem Spaziergang, den der Erzieher mit den Brautleuten unternimmt, hält Jean-Jacques seine Hochzeitsansprache, die mit einem Überraschungsmoment beginnt, prophezeit er ihnen doch, daß das Glück, das sie gegenwärtig auf seinem Höhepunkt genießen, von nun an schwächer werden wird. Er benötigt diese Einleitung, um seine Ratschläge für eine glückliche Ehe geben zu können: „man muß ... fortfahren, ein Liebespaar zu sein, wenn man ein Ehepaar ist“; und: „Knoten, die man gar zu fest zuziehen will, reißen“; und: „in der Ehe sind die Herzen verbunden, die Leiber aber sind nicht unterjocht. Ihr seid einander Treue, nicht Willfährigkeit schuldig“ (S. 636).

Zu fünft wohnen sie jetzt in dem Haus der Eltern Sophies und bilden eine glückliche Gemeinschaft. Das letzte Wort gehört Emile, der zu Jean-Jacques geht, um ihm seine kommende Vaterschaft anzukündigen. Dabei gibt er den Erziehungsauftrag zurück, der hiermit beendet ist, wenngleich Jean-Jacques als Ratgeber wichtig bleiben soll. Doch die Pflicht, das kommende eigene Kind selbst zu erziehen, ist Emile heilig. Das Buch schließt mit Emiles Dank an Jean-Jacques: „ruhen Sie aus: Es ist Zeit.“ (S. 641)

·       Emile und Sophie oder die Einsamen (1989a)

Der alte Rousseau nimmt in den einsamen Tagen seiner Vertreibung sich den „Emile“ noch einmal vor. Geplant ist ein Fortsetzungsroman in Briefform, der über das weitere Lebensschicksal des ehemaligen Zöglings berichten soll. Das Vorhaben ist Fragment geblieben: neben dem ersten vollständigen Brief bricht der zweite mittendrin ab, so daß nicht klar ist, ob der mit Überraschungsmomenten nicht geizende Romanschriftsteller Jean-Jacques Rousseau nicht doch noch ein Hollywood gemäßes Happyend bereitgehalten hätte.  Das erhalten gebliebene Textstück kann man als eine Probe auf die Erziehungstheorie Jean-Jacques Rousseaus lesen: Wird Emile das gelernt haben, was er hat lernen sollen, um glücklich zu werden? Berichten wir über die Handlung, wie sie uns in den beiden Briefen, die Emile an Jean-Jacques richtet, bekannt wird.

Das Leben zu fünft, zu sechst und dann zu siebt - Sophie und ihre Eltern, Emile und sein ehemaliger Erzieher, dann der erstgeborene Sohn und schließlich die folgende Tochter - ist überaus glücklich. Doch dann verkehrt das Schicksal Emiles Lebensweg Schritt für Schritt ins Traurige. Als erstes verläßt Jean-Jacques aus Gründen, die im Dunklen bleiben, das friedliche Idylle. Danach sterben in rascher Folge Vater und Mutter Sophies und schließlich die kleine, neugeborene Tochter. Für Sophie sind das zu viele Schicksalsschläge: sie verfällt in eine tiefe Melancholie, aus der Emile sie herausholen will, indem er ihr vorschlägt, gemeinsam mit ihm und einem befreundeten Ehepaar nach Paris zu ziehen. Trotz Sophies anfänglichem Widerstand gegen diesen Plan und trotz des mulmigen Gefühls, das Emile selbst bei der Abreise beschleicht, leben sie in der Hauptstadt, und in der Tat verschwindet vorübergehend die Traurigkeit Sophies.

Beide geben sich den Vergnügungen hin, zu erst gemeinsam, später zunehmend getrennt, und so wie von dem ehemals gelebten Familienideal nichts mehr übrig bleibt, so verliert sich auch der ehemaligen Zögling Emile, der der früheren Stabilität seiner Persönlichkeit Schritt für Schritt verlustig geht: „Ich war ein galanter Mann ohne Zärtlichkeit, ein Stoiker ohne Tugenden, ein Weiser, der nichts als Narrheiten im Kopf hatte“ (S. 650). Das ganze bunte Treiben, dem sie sich hingeben, läßt eine Leere in Kopf und Herz zurück; sie müssen vor sich selbst fliehen, und sie fliehen voreinander. Es kann nicht ausbleiben, daß sich der Gemütszustand Sophies wieder hin zu der tiefen Traurigkeit ändert, ohne daß sie Emile den Grund dieser Wandlung verriete. Doch plötzlich bricht ein Geständnis aus ihr heraus: Sie hat Emile mit einem anderen betrogen, und jetzt ist sie schwanger.

Emiles Schmerz ist heftig: er flieht aus dem Haus, irrt in der Stadt herum, er rennt um sein Leben, er martert seinen Körper, er weiß nicht ein noch aus. Als er in einem Park für den Bruchteil einer Sekunde einen klaren Moment hat, erkennt er, daß seine Leidenschaften zu heftig sind, als daß er sie durch seine Vernunft beherrschen könnte. Also gibt er sich ganz seiner Trauer hin und hofft auf ruhigere Zeiten nach dem Sturm. Kurz kehrt er noch einmal in sein Haus zurück, verläßt es dann aber, „entschlossen, es nie wieder zu betreten“ (S. 658). Emile flieht aus der Stadt, und auf seiner Wanderung steigert er sich in seinen Gedanken in einen Haß auf Sophie hinein, doch dann beginnt er sich selbst zu fragen, ob er nicht durch sein eigenes vergnügungssüchtiges Verhalten den Grundstein für diesen Betrug gelegt habe: „du (Emile) mußt dich hassen und sie beklagen“ (661f) - sagt er zu sich selbst.

Nach langer, ununterbrochener Wanderung gelangt Emile schließlich in ein dörfliches Gasthaus. Er ißt und schläft, um ausgeruht am nächsten Morgen einen zumindest vorläufigen Entschluß fällen zu können: Er wird bei einem Tischlermeister des Tages arbeiten und in den freien Stunden des Abends seine Überlegungen, wie er sein Leben in Zukunft werden soll, fortsetzen. Diese ergeben, daß angesichts des Vorgefallenen an eine Wiedervereinigung nicht zu denken ist: „Ändern sich die Herzen, so ändert sich alles ... ich will lieber fern von ihr leiden als durch sie“ (S. 667). Als dieser Entschluß feststeht, kann Emile ruhiger werden, um über sich selbst und sein Unglück nachzudenken. Doch auch dieses relativiert sich durch die Überlegung, daß das Leben „eine Abfolge von gegenwärtigen Augenblicken“ ist und daß er selbst sich gleichgeblieben ist und er deshalb - wo immer er auch sei - glücklich werden könne, wenn er es wolle.

Eine erneute Wende tritt ein, als Emile erfährt, daß Sophie ihn vor einigen Tagen bei seiner Arbeit, ohne daß er es gemerkt hätte und hatte bemerken sollen, beobachtete. Also muß er weiter weg fliehen, damit sie sich nicht wiederfinden können. Er zieht in Richtung Süden - ohne Gepäck, aber frei; Sophie immer noch liebend, aber ganz bei sich selbst und deshalb glücklich. Sein Geld verdient er sich durch verschiedene Arbeiten, denn Fähigkeiten hat er ja zu Vielem. Als er schließlich nach Marseille kommt, schifft er sich ein, die Überfahrt bezahlt er, indem er sich als Schiffsarbeiter verdingt. Auch in dieser Tätigkeit ist er erfolgreich, erfolgreicher als der unfähige Kapitän, weil er aufmerksam die Naturereignisse beobachten kann und sich nicht auf künstliche Schiffsinstrumente verläßt, die täuschen können.

Die Geschichte der Unglücksfälle ist noch nicht auf dem Tiefpunkt angelangt. Das Schiff wird von Seeräubern gekapert, und die Passagiere werden als Sklaven nach Algier verkauft, und so gerät auch Emile in die Ketten. Doch inzwischen kann dem in sich selbst wieder Gefestigten auch dieser Schlag nichts anhaben: „Was werde ich durch dieses Ereignis verlieren? Die Fähigkeit, eine Torheit zu begehen. Ich bin freier als zuvor. ... Was von meiner ursprünglichen Freiheit habe ich denn verloren? Wurde ich nicht als Sklave der Notwendigkeit geboren? ... Es gibt nur eine Knechtschaft: die der Natur. Die Menschen sind nur ihre Werkzeuge. Ob ein Herr mich erschlägt oder ein Fels mich zerschmettert - in meinen Augen ist es gleichviel, und das Schlimmste, was mir in der Sklaverei begegnen kann, ist ein Tyrann, der sich nicht mehr erweichen läßt als ein Stein.“ (S. 682f)

Der Sklave Emile wechselt des öfteren seinen Besitzer. Schließlich gerät er in eine Arbeitskolonne, die von einem derben Aufseher gepeinigt wird. Mit unveränderter Ruhe arbeitet Emile auch unter grausamsten Bedingungen weiter, doch als er erkennen muß, daß der Zwang so groß wird, daß sein physisches Überleben gefährdet ist, entschließt er sich zur Rebellion und wird zum Anführer der Mitsklaven. Seinen Herren überzeugt er schließlich davon, daß die ausbeuterische Gewalt auch die Interessen des Sklavenbesitzers gefährde. Dieser bestimmt daraufhin Emile zum Sklavenaufsehen, macht ihn schließlich aber - weil Emiles Ruhmestat sich inzwischen in ganz Algier herumgesprochen hat - dem Stellvertreter des Sultans zum Geschenk. Emile als geachteter Sklave dieses angesehenen Herren - hier endet das Fragment.

 

Das Ziel der Erziehung ist ein doppeltes: Der Mensch soll auf jeder Stufe seiner Entwicklung ganz das sein können, was diese Stufe fordert, und deshalb soll auch das Kind in der Gegenwart glücklich leben können. Doch die Erziehung hat den Menschen gleichzeitig auf die Zukunft vorzubereiten, ihn auszustatten mit Fähigkeiten und seine Psyche bereit zu machen, „die Schläge des Schicksals zu ertragen ... auf Islands Eisschollen oder auf Maltas glühenden Felsen zu leben“ (S. 17) - wie es zu Beginn des „Emiles“ heißt. Emile hat seine Lektion gelernt: wohin das Schicksal ihn treibt, und lebte er als Sklave in Afrika, nichts kann ihn, der sich in allen Lebenslagen zu erhalten vermag, vernichten.

Doch nicht nur sich zu „erhalten“ gilt es, sondern glücklich leben soll er, und sei es, daß er „dem Schicksal zum Trotz glücklich“ ist (S. 593). „Glück“ ist wohl das Wort, das im „Emile“ am häufigsten vorkommt. Und entgegen einer in unserer Zeit häufig verschenkten und gelesenen „Anleitung zum Unglücklichsein“ (Watzlawick 1992) schreibt Jean-Jacques Rousseau eine „Anleitung zum Glücklichsein“. In der Rede, die Jean-Jacques an Emile hält, um ihn aufzufordern für zwei Jahre die gerade gefundene Geliebte zu verlassen, sagt er: „Man muß glücklich sein ... das ist der Endweck eines jeden fühlenden Wesens“ (S. 588). Der erwachsene Emile scheint wenig glücklich, zu hart treffen ihn die Schicksalsschläge. Doch um diesen Schein geht es auch nicht, sondern um die Wirklichkeit, und in seiner Wirklichkeit ist Emile dann wieder glücklich, als es ihm gelingt, sich wieder auf sich selbst zurückzuziehen. Das ist Rousseaus Definition von Glück, die er mit einer für ihn charakteristischen doppelten Verschränkung definiert: „Wer das tut, was er will, ist glücklich, wenn er sich selbst genug ist“ (S. 75). Die Freiheit ist das Entscheidende, um über sich selbst Herr zu sein. Es geht nicht um die Willkür, dieses oder jenes zu tun, was der Reiz des Augenblicks einem gerade eingibt; es geht nicht um die ständig ausgedehnte Sucht nach neuen Befriedigungen, die immer nur einen schalen Nachgeschmack zurücklassen. Sondern glücklich ist der Mensch, der ganz bei sich selber bleiben kann, weil er sich nicht selber fliehen muß, der die Fähigkeiten zur Befriedigung seiner begrenzten Bedürfnisse in sich hat und der alles verlassen kann, und den deshalb die Wechselfälle des Lebens nicht in seiner wichtigen Existenz berühren. Der Mensch ist glücklich, der „sich selbst genug ist“. Dieses Glück, sich selbst, findet der Mensch nicht in einem einmaligen Akt seiner Biographie, sondern es verlangt „Mut“ und „Kampf“ in der Auseinandersetzung mit anderen und vor allem mit sich selbst. Es geht weniger um Glücklichsein als um das lebenslange Bemühen, glücklich werden zu wollen.

Mein Sohn, halten Sie Ihre Seele in dem Zustand, daß sie allezeit die Existenz eines Gottes wünscht“ (S. 402) - dies ist der Rat, den der savoyische Vikar dem verzweifelten Jean-Jacques gibt, und mit den er den Weg zu diesem Prozeß des Glücklichwerdens weist. Der Mensch kann seinem Herzen nicht befehlen, glücklich zu sein, denn so stark ist die Vernunft nicht, daß sie allezeit die „Leidenschaften“ zu kontrollieren vermag. Aber der Mensch ist verantwortlich für seine Wahl des Lebensortes und der Umstände, die ihn umgeben sollen. Emile weicht von diesem Rat ab, er zieht in die Großstadt, und Paris steht hier als Symbol für die Kräfte der Verführung, die den Menschen von sich selbst abbringen. Will der Mensch glücklich werden, so muß er äußerlich und innerlich sich eine Situation gestalten, in der er zur Ruhe gelangen kann und in der er in Klarheit das helle und schlichte Bild der Wahrheit sehen kann. Licht und Ruhe sind die Voraussetzungen, um in sich selbst den eigenen richtigen Lebensweg zu entdecken, der auch das Verhalten zu den Mitmenschen einschließt. Die Voraussetzungen herzustellen, um auf die innere Stimme zu hören, dafür ist der Mensch in seinem Leben verantwortlich. Die innere Stimme selbst ist von Gott eingegeben.

1.  Badinter, Elisabeth (1981), Die Mutterliebe - Geschichte eines Gefühls, München 1981

2.  Hansmann, Otto ((Hrsg.) (1993/1996), Seminar: Der pädagogische Rousseau, Zwei Bände, Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1993 und 1996

3.  Holmsten, Georg (1988), Jean-Jacques Rousseau, Reinbek (Rowohlt) 1988

4.  Pestalozzi Johann Heinrich (1976), Sämtliche Werke - Kritische Ausgabe, Bd. XXVIII, Zürich 1976

5.  Röhrs, Hermann, Jean-Jacques Rousseau - Vision und Wirklichkeit, Köln (Böhlau) 19933

6.  Rousseau, Jean-Jacques (1978), Schriften in zwei Bänden, Hrsg. von Henning Ritter, München (Hanser Verlag) 1978

7.  Rousseau, Jean-Jacques (1978a), Vier Briefe an Malesherbes, in: Schriften in zwei Bänden, Hrsg. von Henning Ritter, München (Hanser Verlag) 1978

8.  Rousseau, Jean-Jacques (1978b), Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat?, in: Schriften in zwei Bänden, Hrsg. von Henning Ritter, München (Hanser Verlag) 1978

9.  Rousseau, Jean-Jacques (1978c), Bemerkungen über die Antwort des Königs von Polen, in: Schriften in zwei Bänden, Hrsg. von Henning Ritter, München (Hanser Verlag) 1978

10.Rousseau, Jean-Jacques (1978d), Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Schriften in zwei Bänden, Hrsg. von Henning Ritter, München (Hanser Verlag) 1978

11.Rousseau, Jean-Jacques (1978e), Rousseau richtet über Jean-Jacques, in: Schriften in zwei Bänden, Hrsg. von Henning Ritter, München (Hanser Verlag) 1978

12.Rousseau, Jean-Jacques (1989), Werke in vier Bänden, Zürich (Ex Libris) 1989

13.Rousseau, Jean-Jacques (1989a), Die Bekenntnisse, in: Jean-Jacques Rousseau, Werke in vier Bänden, Zürich (Ex Libris) 1989

14.Rousseau, Jean-Jacques (1989b), Die Träumereien des einsamen Spaziergängers, in: Jean-Jacques Rousseau, Werke in vier Bänden, Zürich (Ex Libris) 1989

15.Rousseau, Jean-Jacques (1989c), Emile oder Von der Erziehung, in: Werke in vier Bänden, Zürich (Ex Libris) 1989

16.Rousseau, Jean-Jacques (1989d), Julie oder Die neue Héloise, in: Werke in vier Bänden, Zürich (Ex Libris) 1989

17.Rousseau, Jean-Jacques  (1989e), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Werke in vier Bänden (Sozialphilosophische und Politische Schriften), Zürich (Ex Libris) 1989

18.Rousseau, Jean-Jacques (1989f), Emile und Sophie oder Die Einsamen, in: Werke in vier Bänden, Zürich (Ex Libris) 1989

19.Schmidt, Günter Rousseau. (1996), Rousseaus Religion im geistigen Kräftefeld seiner Zeit, in: Hansmann, Otto ((Hrsg.) (1996), Seminar: Der pädagogische Rousseau, Band II, Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1996

20.Söetard, Michel (1989), Jean-Jacques Rousseau - Philosoph - Pädagoge - Zerstörer der alten Ordnung, Zürich (Schweizer Verlagshaus) 1989)

21.Starobinski, Jean (1988), Rousseau - Eine Welt von Widerständen, München (Hanser) 1988

22.Watzlawick, Paul (1992). Anleitung zum Unglücklichsein, München (Piper) 198834

 


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