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Sigurd
Hebenstreit
Jean-Jacques
Rousseau (1712 bis 1778): „Kein Schein,
immer nur die Wirklichkeit“
Ein
junger Mann von 28 Jahren ist auf dem
Weg nach Lyon. Eine enttäuschende Liebe
läßt er hinter sich, den Lebensunterhalt
muß er sich verdienen und nimmt deshalb
die Stelle eines Hauslehrers an. Zwei
Jungen soll er erziehen. Ein Jahr dauert
der Versuch, dann nimmt er von selbst
seinen Hut, denn an der Aufgabe ist
er gescheitert. In seinen Lebenserinnerungen
beurteilt er seine Eignung bzw. besser
Nichteignung mit folgenden Worten: „Solange alles gut ging und ich meine Sorgen
und Mühen ... von Erfolg begleitet
sah, war ich ein Engel; ich war aber
ein Teufel, wenn die Dinge quergingen.
Wenn meine Zöglinge mich nicht verstanden,
war ich außer mir; und wenn sie sich
boshaft zeigten, hätte ich sie töten
mögen. Das war aber nicht das Mittel,
sie klug und artig zu machen. ... Mit
Geduld und kaltem Blut hätte ich vielleicht
Erfolge erzielen können, aber da beides
mir fehlte, erreichte ich nichts Nennenswertes,
und meine Zöglinge mißrieten sehr. ...
Ich sah alle meine Fehler, ich fühlte
sie... Aber was nutzte es mir, das Übel
zu sehen, ohne das Mittel anwenden zu
können? Während ich alles durchschaute,
verhinderte ich nichts, ich hatte in
nichts Erfolg, und alles, was ich tat,
war gerade das, was ich nicht hätte
tun sollen." (1989a, S. 264f)
Der
gleiche Mann lebt mit einer Frau in
nichtehelicher Lebensgemeinschaft. Fünf
Kinder werden geboren, die allesamt
mit der Geburt ins Findelhaus abgeschoben
werden. Als seine Frau das erste Mal
schwanger ist, bemerkt der werdende
Vater das vorherrschende Klima der Gesellschaft,
daß der, „der
am besten für die Bevölkerung des Findelhauses
sorgte, ... stets den meisten Beifall“
(1989a, S. 339) erhielt. Dies reicht
aus, um „ohne
das geringste Bedenken“ den Säugling
abzuschieben: „Man wählte eine kluge und zuverlässige Hebamme ..., um ihr dies Gut anzuvertrauen“
(1989a, S 339).
Ein
an seiner eigenen Unbeherrschtheit gescheiterter
professioneller Erzieher, ein Schuft,
der sich an seinen eigenen Kindern vergeht:
Jean-Jacques Rousseau. Der gleiche schreibt
mit seinem „Emile“ das Buch, das seit
mehr als 200 Jahren wohl das wichtigste
pädagogische Werk ist. Generationen
von Erziehern, Lehrern und wissenschaftlichen
Pädagogen haben sich mit diesem Text
auseinandergesetzt, es fasziniert und
gläubig zu ihrem eigenen gemacht, oder
es verschmäht und als „unpraktisches
Traumbuch“ (Pestalozzi 1976, Bd. XXVIII,
S. 224) verteufelt. Auch in unseren
Tagen gehört es sicherlich zu den am
meisten gelesenen Büchern der Pädagogikgeschichte
- zu Recht. Auf den ersten Blick scheint
zwischen Leben und Werk ein Widerspruch
zu bestehen, und sich mit Person und
Schrift näher zu beschäftigen, mag hilfreich
sein, um diesen Widerspruch aufzuklären.
a)
Biographisches
Als
erste grobe Orientierung kann uns eine
Dreiteilung des Lebens Jean-Jacques
Rousseaus dienen: In den ersten 38 Jahren
erhält er seine Bildung fernab von der
klassischen Schulbildung durch Lebenserfahrungen,
Umherreisen und Selbststudium; er beginnt
eine Reihe von Berufsausbildungen -
als Schuldeneintreiber, Graveur, Musiker
und Priester -, die er jedoch nach jeweils
kurzer Zeit abbricht; er versucht sich
in den Berufen als Sekretär eines Geometers,
als Hauslehrer, Gutsverwalter, Musiklehrer
und Botschaftssekretär, doch auch diese
Tätigkeiten bleiben Episode; und er
siedelt schließlich nach Paris über,
um in Kontakt mit den politisch und
kulturell Einflußreichen seiner Zeit
zu gelangen. Der zweite Lebensabschnitt
dauert nur zwölf Jahre, eine Zeit höchster
Produktivität, in der er all die Arbeiten
verfaßt, die seinen Weltruhm bis heute
begründen. In den letzten sechzehn Jahren
schließlich ist er auf der Flucht vor
den politischen Verfolgern und der kirchlichen
Orthodoxie, aber auch vor sich selbst;
nur schwer findet er Ruhe, weil die
eigene Liebessehnsucht unerfüllt bleibt,
und wenn es Momente des schlichten,
befriedigenden Lebens gibt, dann sind
sie der Verweigerung der bedingungslosen
Anerkennung durch die anderen abgetrotzt.
In dieser dritten Lebensperiode schreibt
er seine Autobiographien, allen voran
seine „Bekenntnisse“, ein groß angelegter
Versuch, „meine Seele gewissermaßen durchsichtig für
den Leser zu machen“ (1989a, S.
175). Wir werden in der Geschichte der
Pädagogik einige Male auf Autoren treffen,
die narzisstischer als Jean-Jacques
Rousseau sind, nur schwer werden wir
aber einen Menschen finden, der egozentrischer
ist. Unaufhörlich kreist er um sich
selbst, nicht weil er sich als Gott
im Kleinen darstellen möchte, sondern
weil er sich in dem schriftlichen Bericht
so zeigen will, wie er wirklich ist.
Auf Grund seiner Langsamkeit und seiner
großen Schüchternheit erlebt er sich
im mündlichen Umgang oft als gehemmt,
er erscheint als „Dummkopf“
(1989a, S. 117f), obwohl er keiner ist.
Er will, daß die anderen ihm die Liebe
geben, die er verdient hat, daß sie
ihm den Wert zusprechen, auf den er
auf Grund der Lauterkeit seiner Absichten
Anrecht hat. Die „Bekenntnisse“ sind
kein Versuch einer Schönfärberei, um
in den Augen des Lesers als strahlender
Held glänzen zu können. Hier soll vielmehr
ein Leben auch mit allen Schattenseiten
so dargestellt werden, wie es tatsächlich
war, bis hin zu dem Bericht über menschliche
Phantasien, Gedanken und Handlungen,
um die wir normaler Weise den Mantel
des Schweigens hüllen. Wenn wir jetzt
einigen Stationen der Lebensbeschreibung
Jean-Jacques Rousseaus folgen, so erfahren
wir etwas über dessen Biographie, aber
wir erhalten gleichzeitig ein Stück
lebendiger Anthropologie.
·
Kindheit und
Jugend
1712
|
28.
6.: Geburt in Genf
Tod
der Mutter
|
1722
|
Trennung
vom Vater
|
1728
|
Rousseau.
verläßt Genf
Übertritt
zum katholischen Glauben
|
1729
|
Mamame
de Warens
|
1740
|
Hauslehrer
in Lyon
|
1742
|
Übersiedlung
nach Paris
|
1750
|
1.
Preisschrift der Akademie von
Dijon
|
1754
|
Wiederaufnahme
in die reformierte Kirche
|
1762
|
Erscheinen
des Gesellschaftsvertrages
und
des Emile
|
1763
|
Fürstentum
Neuchátel
|
1767
|
Rückkehr
nach Paris
|
1778
|
Tod
in Ermenonville
|
1794
|
Überführung
des Sarges in das Pariser Panthéon
|
„Ich
kostete meiner Mutter das Leben, und
meine Geburt war mein erstes Unglück.“
(11) Mit diesem Lebensbeginn des am
28. 6. 1712 in Genf geborenen Jean-Jacques
Rousseaus wird der Grundstein für ein
nie vollkommen zu befriedigendes Liebesverlangen
gelegt. Das kleine Kind wird von dem
Vater aufgezogen, der dabei tatkräftig
von seiner Schwester unterstützt wird.
Mit im Haushalt lebt noch der sieben
Jahre ältere Bruder, ein „verhaltensgestörter“
Bursche, den der Vater häufig schlägt,
und vor den sich der kleine Jean-Jacques
schützend stellt. Er wird in einer „Besserungsanstalt“
landen, und seine weitere Lebensspur
verliert sich schnell. Der Vater scheint
ein recht verantwortungsloser Mensch
gewesen zu sein. Nachdem er seine Frau
geheiratet hat und in entsprechendem
Abstand das erste Kind zur Welt kommt,
verläßt er die Familie - auch um der
Schwiegermutter aus dem Weg zu gehen,
ein Motiv, das für Jean-Jacques Rousseau
noch selbst wichtig werden wird. Nach
sechs Jahren kehrt er zurück, und wiederum
in entsprechendem Abstand wird Jean-Jacques
geboren, wobei der im Kindbett erfolgende
Tod der Mutter dem Familienleben ein
Ende setzt. Der Uhrmachermeister kann
seine soziale Stellung nicht halten,
die Restfamilie muß innerhalb Genfs
in ein ärmeres Stadtviertel umziehen.
Es gibt Phasen kindlichen Glücks in
dem gemeinsamen Leben von Vater und
Sohn: wir stellen sie uns vor, wie sie
zusammen im Bett liegen und gemeinsam
Romane lesen, die die Mutter hinterlassen
hat. Eine gehörige Portion Egoismus
verbindet dabei den Vater mit dem Sohn:
„Würde ich dich so lieben, wenn du nur
mein Sohn
wärest?“ (1989a, S. 11), soll
er zu dem kleinen Jungen gesagt haben,
der für ihn gleichzeitig als am Leben
gebliebenes Stück der Mutter steht.
Jean-Jacques ist zehn Jahre alt, als
der Vater sich in eine tätliche Auseinandersetzung
mit einem höher gestellten Bürger einläßt.
Der gerichtlichen Vorladung entzieht
er sich durch Flucht, den Jungen läßt
er alleine zurück. Nicht nur die fehlende
Mutter belastet den kleinen Jean-Jacques,
auch die Beziehung zu dem Vater ist
mangelhaft. Dies hat lebensentscheidende
Folgen, die an einer kleinen Randnotiz
sichtbar werden. Als Rousseau im Alter
seine Lebenserinnerungen schreibt, wird
er anläßlich der Erwähnung des Todes
des Vaters bemerken, er habe diesen
„tugendhaften Vater im Alter von ungefähr sechzig Jahren verloren“
(1989a, S. 334). Tatsächlich ist der
Alte 74 Jahre alt geworden. Die ungestillte
Liebessehnsucht, die Jean-Jacques sein
ganzes Leben lang begleiten wird, ist
früh grundgelegt.
Ein
Onkel Jean-Jacques wird jetzt für seine
Erziehung verantwortlich, und dieser
schickt ihn gemeinsam mit seinem eigenen
Sohn zu einem Pfarrer auf ein Dorf in
der Nähe Genfs. Hier in Bossey verlebt
Jean-Jacques zwei Jahre lang eine glückliche
Kinderzeit. Die enge Freundschaft zu
seinem Vetter, die Freiheiten des dörflichen
Lebens, die humanen Erziehungsmethoden
des Pfarrers und auch die aufkeimende
Liebe zu dessen 40jähriger Schwester,
die den Haushalt führt, gewährleisten
ein fröhliches, optimistisches Lebensgefühl.
Daran ändert auch die erzieherische
Züchtigung der Pfarrersschwester nichts,
die Jean-Jacques vielmehr mit masochistischer
Lust über sich ergehen läßt. Doch ein
scheinbar unbedeutendes Ereignis verändert
die glückliche Szenerie schlagartig:
Der Kamm der Pfarrersschwester ist zerbrochen,
und da nur Jean-Jacques sich in dem
Raum aufgehalten hat, kann er der einzige
sein, der diese Tat begangen hat. Noch
der alte Rousseau, der seine „Bekenntnisse“
schreibt, beteuert seine Unschuld, doch
in der Situation scheint er allen der Übeltäter zu sein,
und nur er selbst weiß, daß es in Wirklichkeit
nicht so ist. Doch er kann seine Unschuld
nicht überzeugend nach Außen vermitteln,
also wird er bestraft, und das kurze
Glück seiner Kindheit ist verronnen.
Der
Widerspruch von Schein und Wirklichkeit,
der für Rousseaus Leben und Schreiben
zentrale Bedeutung erhält, wird an dieser
kleinen Episode deutlich: Wie kann ich
die Wirklichkeit meines inneren Seins
gegen den Schein der Vorurteile der
anderen durchsetzen? Und wenn dies nicht
geht, wenn der äußere Schein sich als
wirksamer erweist: Wie gehe ich mit
meiner Ohnmächtigkeit um, mich nicht
so darstellen zu können, wie ich wirklich
bin? Eine ähnliche Geschichte, wenngleich
mit umgekehrten Vorzeichen, was die
Frage nach Schuld und Unschuld angeht,
„beichtet“ Jean-Jacques aus seinem 16.
Lebensjahr: Damals ist er in Turin Diener
in einem vornehmen Haus, und er stiehlt
der Tochter des Hauses ein wertvolles
Band. Als man dies bei ihm findet, behauptet
er mit Festigkeit, Marion, die Magd,
habe es gestohlen und ihm geschenkt
- während es in Wirklichkeit genau anders
herum war: er stahl es, um es ihr zu
schenken. Doch weil er mit großer Sicherheit
seine Behauptung vorträgt, während sie
sich schweigend verhält, gilt er als
der Unschuldige.
Mit
dieser Episode haben wir den Ereignissen
vorgegriffen, folgen wir der Chronologie:
Der Zwölfjährige wird zusammen mit seinem
Vetter in das Haus des Onkels nach Genf
zurückgeschickt. Er soll eine Lehre
bei einem Gerichtsschreiber absolvieren.
Doch dieser beendet das Lehrverhältnis
nach kurzer Zeit, da er Jean-Jacques
als vollkommen untauglich erfährt. Danach
kommt er zu einem jungen Graveur in
die Lehre, doch auch diese Zeit erweist
sich als schwierig, weil der Lehrherr
den Jugendlichen züchtigt, und dieser
deshalb den Grund dafür sieht, anschließend
die Taten zu begehen, für die er schon
bestraft worden ist (vielleicht war
die Reihenfolge auch andersherum, doch
wie wollen wir heute darüber richten?).
Jean-Jacques reagiert, wie er es noch
des öfteren in seinem Leben tun wird,
wenn Ungerechtigkeit, Konflikt angesagt
ist, mit Flucht. Nachdem er es bereits
zweimal erlebt hat, daß das Stadttor
nach einem sonntäglichen Ausflug auf
das Land verschlossen war, weil er zu
spät heimkehrte, beschließt er, daß
nächste Mal sich nicht der Bestrafung
auszusetzen, sondern fortzugehen. Jean-Jacques
wird bald 16 Jahre alt, als dieses dritte
Mal eintrifft.
·
Madame de Warens
Nach
unserer pädagogischen Zeitrechnung wäre
der 16jährige in dem Alter, in dem er
soeben den mittleren Bildungsabschluß
gemacht hätte, er schiene zu jung, um
auf eigenen Füßen zu stehen, und die
beginnende Lehrzeit wäre beinahe eine
Überforderung. Doch Jean-Jacques ist
schon lange auf sich alleine gestellt.
Wohin soll er - eine geregelte Schulerziehung
hat er nicht genossen, zwei Lehrversuche
sind gescheitert, Geld hat er keines
- sich wenden? Er gibt zur damaligen
Zeit in der Nachbarschaft Genfs eine
Institution, die dem Magen Nahrung und
dem Körper ein Dach über den Kopf verspricht,
wenngleich sie auch den angeborenen
Glauben kostet. Jean-Jacques wendet
sich an einen katholischen Geistlichen,
der ihn zu Madame de Warens weiterverweist,
die in dieser Angelegenheit Erfahrung
besitzt. Die ehemalige Geliebte einflußreicher
Männer ist nicht unvermögend, und als
Frau, die selbst konvertiert ist, hilft
sie umherstreunenden Jugendlichen, die
aus dem reformierten Genf kommend zum
katholischen Glauben übertreten wollen.
Madame de Warens ist zwölf Jahre älter
als Jean-Jacques, und als dieser sie
das erste Mal sieht, ist er ganz von
ihr eingenommen. Doch bevor es zur Annäherung
kommt, wird er nach Turin in ein Kloster
geschickt, um die richtige Glaubenslehre
zu erhalten. Für zwei Monate bleibt
er an einem Ort, der in düsteren Farben
geschildert wird und eher als Gefangenenlager
denn geistlicher Erquickungsort erscheint.
Dann erfolgt der Übertritt in die katholische
Kirche. Jean-Jacques erscheint dieser
Schritt als die „Handlung
eines Gauners“ (1989a, S. 66). Für
ein Butterbrot hat er seinen alten Glauben
verraten, und Jean-Jacques Rousseau
wird noch lange Zweifel haben, bis er
als 42jähriger von Paris aus in seine
Heimatstadt reisen wird, um wieder zurück
in die reformierte Kirche einzutreten.
Er
hält sich ungefähr ein Jahr in Turin
auf, und versucht durch verschiedene
Hilfsarbeiten sich das notwendige Geld
zu verdienen. Dann erfolgt die Rückreise
zu Madame de Warens, in die er sich
sogleich wieder unsterblich verliebt,
wobei diese Leidenschaft eingebettet
ist in eine Mutter-Kind-Beziehung: „Ich
hieß ‘Kleiner’, sie ‘Mama’ und stets
blieben wir ‘Kleiner’ und ‘Mama’“
(1989a, S. 108). Es hat etwas Pubertätshaftes,
wenn wir uns den ‘Kleinen’ vorstellen,
wie er sein Bett küßt, weil er sich
vorstellt, „daß sie darin gelegen“ (1989a, S. 110). Oder erwähnen wir eine andere
Begebenheit: „Eines
Tages bei Tisch, gerade als sie einen
Bissen in den Mund gesteckt hatte, schrie
ich auf, daß ich daran ein Haar gesehen
hätte; sie läßt ihn wieder auf ihren
Teller fallen, ich nehme ihn gierig
und schlinge ihn hinab.“ (1989a,
S. 110)
Der
Versuch wird gemacht, Jean-Jacques in
ein Priesterseminar zu schicken, doch
auch dieser Ausbildungsversuch mißlingt.
Schließlich soll er Musiker werden,
und er begleitet einen Kirchenmusiker
auf seiner Reise. Als dieser dann in
Lyon auf offener Straße einen epileptischen
Anfall erleidet, läßt Jean-Jacques ihn
im Stich (wie gesagt, wir erwarten keine
Heldengeschichte, sondern offene „Bekenntnisse“).
Er will zurück zu „Mama“, doch muß feststellen,
daß sie während seiner Abwesenheit abgereist
ist. So begibt er sich selbst auch auf
eine Wanderschaft, die nicht frei von
abenteuerlichen Episoden ist. Beispielsweise
dient er einem Hochstapler, der sich
als griechischer Geistlicher ausgibt,
der zur Erhaltung der christlichen Gedenkstätten
in Jerusalem Geld sammelt, als Übersetzer.
Erst als der Schwindel auffliegt, trennt
sich Jean-Jacques von ihm. Nach fast
zwei Jahren kehrt er zu Madame de Warens
zurück.
Jetzt
wird aus dem 19jährigen Jugendlichen
ein Heranwachsender. Er wird Sekretär
bei einem Geometer und verdient zum
erstenmal sein „Brot
auf ehrenhafte Weise“ (1989a, S.
174). Nach zwei Jahren wird er diese
Stelle aufgeben, um Musiklehrer zu werden.
In diesem Alter beginnt er auch sein
Selbststudium, durch das er sich die
Bildung aneignet, die er später zur
Erarbeitung seiner eigenen Schriften
benötigt. Und schließlich wird er in
dieser Zeit der Geliebte von Madame
de Warens. Rousseau schildert dieses
Erlebnis von Seiten der Frau aus mehr
als abschließende Krönung ihres Bildungsversuches
an dem Jugendlichen Jean-Jacques: „Ich
wurde ganz ihr Werk, ganz ihr Kind“
(1989a, S. 221). Auf einem Spaziergang
bereitet sie ihn vor, daß sie ihn „nun
als Mann behandeln müßte“ (1989a,
S. 192), und sie gewährt ihm eine achttägige
Nachdenkfrist, um sich auf das bevorstehende
Erlebnis vorbereiten zu können. Er genießt
die Lust der ersten sexuellen Erfahrung,
aber ihm ist auch, „als hätte ich Blutschande begangen.“ (1989a, S. 196)
Die
Verhältnisse sind kompliziert; er ist
Liebhaber und Kind, sie Geliebte und
Mama; sie sind aber auch verwickelt,
weil da noch ein Mann ist, der Verwalter
von Madame de Warens, der ehemals ihr
Liebhaber war. Zwar schildert Rousseau
die Zeit zu dritt als idyllische Situation,
doch der ungeklärte Tod des Verwalters
(ein Selbstmordversuch war vorausgegangen)
wirft doch ein anderes Licht auf die
Szenerie. Zunächst einmal übernimmt
Jean-Jacques auch die Stelle als Verwalter
der Güter von Madame de Warens, ein
Posten, den er wohl nicht mit gutem
Geschick ausfüllt. Die Zeit des Glücks
mit der Geliebten-Mama steigert sich
noch, als beide in ein abgelegenes Landhaus
- Les Charnettes - nahe der Stadt umziehen.
Rückblickend schreibt er: „Hier beginnt das kurze Glück meines Lebens.
Hier kommen die friedlichen, aber flüchtigen
Augenblicke, die mir das Recht gegeben
haben, zu sagen, daß ich gelebt habe.“
(1989a, S. 224)
Doch
die Zeit des Glücks neigt sich dem Ende
entgegen. Der 25jährige reist zu einem
Arzt nach Montpellies, um sich wegen
eines angeblichen Herzpolypen behandeln
zu lassen (ein hypochondrischer Zug
wird Jean-Jacques Rousseau sein Leben
lang begleiten). Als er zurückkommt,
muß er feststellen: „ich fand meinen Platz besetzt“ (1989a,
S. 259). Madame de Warens, die sich
zwischenzeitlich einen neuen Verwalter
und Liebhaber genommen hat, empfängt
ihn kühl. Er bleibt noch eine Zeit bei
ihr, geht dann für ein Jahr als Hauslehrer
nach Lyon (wir haben über die diesbezügliche
Erfahrung bereits berichtet), kehrt
nochmals zu Madame de Warens zurück.
Doch da deren Anteilnahme an ihm sich
nicht verändert hat, entschließt sich
Jean-Jacques Rousseau dazu, in Paris
sein Glück zu versuchen.
·
In Paris
Jean-Jacques
Rousseau ist 30 Jahre alt. Er hat ein
System entwickelt, um die traditionelle
Notenschrift, deren Erlernung ihm große
Schwierigkeiten gemacht hatte, durch
eine einfachere Ziffernschreibweise
zu ersetzen. In Paris will er diesen
Plan der Öffentlichkeit präsentieren,
und er zweifelt nicht, „daß
ich, wenn ich meinen Plan der Akademie
unterbreitete, eine Revolution hervorrufen
würde“ (1989a, S. 269). Tatsächlich
ist die Aufnahme nicht ganz so euphorisch.
Zwar wird eine Kommission zur Prüfung
eingesetzt, aber die Akademie gewährt
nur „ein Zeugnis, voll sehr schöner Komplimente,
aus denen sich im Grunde ergab, daß
sie mein System weder für neu noch nützlich
hielt“ (1989a, S. 281). Trotzdem:
er hat einen Fuß in die Tür der Pariser
Gesellschaft gesetzt, und er gewinnt
Kontakt zu einflußreichen Damen und
Herren, die ihn in die Salons einführen.
Dies ist ein Muß, um in der damaligen
Gesellschaft Karriere machen zu können,
obwohl Rousseau noch immer nicht klar
ist, auf welchem Gebiet er eigentlich
Bedeutung erlangen will. Zunächst bietet
sich ihm die Möglichkeit, als Sekretär
des Botschafters in Venedig zu arbeiten,
ein einjähriges Gastspiel, das mit einer
Enttäuschung endet, weil der als unfähig
beschriebene Botschafter alles unternimmt,
um den Tatendrang Rousseaus zu bremsen.
Trotz dieses Mißerfolges bleibt der
Venedigaufenthalt nicht ohne Auswirkungen:
Rousseau vertieft sich in die italienische
Musik, und das ist für den Musikliebhaber,
der sich selbst als Opernschreiber probieren
wird, nicht wenig; und er ist gezwungen,
sich aktiv mit politischen Fragen auseinandersetzen
zu müssen, auch ein Bereich, der im
weiteren Schaffen Rousseaus wichtig
werden wird.
Nach
Paris zurückgekehrt vertiefen sich die
Kontakte zu der Pariser Gesellschaft
und ihrer intellektuellen Elite. Langsam
gewinnt Rousseau einen Stand innerhalb
der Gruppe der „Aufklärer“, die das
fortschrittliche geistige Leben bestimmen.
Vor allem der Name Diderot wird in seinem
Leben noch eine Rolle spielen. Er wird
beauftragt, für die große Enzyklopädie
den Artikel über Musik zu schreiben
- Anzeichen dafür, daß er langsam dazu
gehört.
Wir
machen jetzt einen Schwenk auf das private
Leben Jean-Jacques Rousseaus, und wir
müssen dabei Seiten berühren, die wohl
zu den dunkelsten seines Lebens gehören.
Nach seiner Zeit in Venedig wohnt Rousseau
in einem Pariser Gasthaus, in dem eine
etwas unscheinbare junge Frau arbeitet,
die bald zum Gespött der übrigen Bewohner
wird. Jean-Jacques jedoch ist betroffen
„durch ihre sittsame Handlung ... und mehr noch
durch ihren lebhaften und sanften Blick“
(1989a, S. 326). Er macht sich zu ihrem
Beschützer vor den unfeinen Angriffen
der anderen, auch wenn er dadurch selbst
die Zielscheibe der Angriffe wird. Aus
diesem Anfang heraus, der nicht durch
Liebe geprägt war, entwickelt sich eine
Beziehung, die das gesamte weitere Leben
Rousseaus andauern wird. Es wird mehr
als 20 Jahre dauern, bis Jean-Jacques
seine Thérèse Lavasseur heiraten wird,
und seine, einem Freund in einem Brief
schriftlich mitgeteilten Gründe für
diesen Schritt, wirken nicht besonders
überzeugend: „Ich
bin nicht allein sehr zufrieden mit
meiner Heirat, sondern es war auch eine
Pflicht, die nicht erfüllt zu haben
ich mir bitter vorwerfen würde, obwohl
ich vorher keine Verpflichtungen dieser
Art übernommen hatte. Fünfundzwanzig
Jahre der Anhänglichkeit, Dienste aller
Art und die Pflege während meiner Krankheiten,
ihre Freundschaft für mich würden nicht
genügt haben, mich zu diesem Schritt
zu veranlassen; aber dann sah ich, daß
sie entschlossen ist, mein Geschick
bis ans Ende zu teilen und mir überallhin
in meiner bedrängten Lage zu folgen:
so mußte ich es tun.“ (in: Holmsten1988,
S. 143) Es ist nicht nur keine Liebe
auf den ersten Blick, sondern es wird
auch nie Liebe werden, wie Jean-Jacques
offen bekennt, und dabei noch hinzusetzt,
„daß
die sinnlichen Bedürfnisse, die ich
bei ihr gestillt habe, für mich einzig
die des Geschlechtstriebes waren, ohne
mit der Persönlichkeit etwas zu tun
zu haben“ (1989a, S. 409). Betrachten
wir es unter moralischen Gesichtspunkten,
dann läßt sich Unverständnis und Widerwille
nicht verschweigen: Der Egozentriker
Rousseau „bedurfte
einer Nachfolgerin für Mama“ (1989a,
S. 327), und da er auf Grund seiner
Schüchternheit Schwierigkeiten im Kennenlernen
von Frauen hat, nimmt er sich die Erstbeste,
der er habhaft werden kann. Thérèse
Lavasseur ist dabei von „begrenzterem
Geist“ (1989a, S. 277), und Rousseau
scheut sich nicht, exaktere Beschreibungen
folgen zu lassen: sie kann nicht richtig
lesen, kennt die Uhr und die Abfolge
der zwölf Monate nicht, kann nicht rechnen,
weiß sich nicht auszudrücken. Für einen
angehenden Intellektuellen nicht gerade
die geeignete Partnerin, und vergeblich
versucht Jean-Jacques sie zu belehren.
Später, als er zurückgezogen mit Thérèse
Lavasseur lebt, wird er noch bedauern,
sie nicht mehr gebildet zu haben, da
auf Grund dieses Mangels ein intensiver
Gedankenaustausch nicht möglich ist
und nur „Klatsch,
Lästerei und Gemeinplätze“ (1989a,
S. 415f) übrigbleiben. Doch trotz dieser
so wenig vorteilhaften Beschreibungen:
die beiden bleiben bis Rousseaus Lebensende
zusammen, und allein diese Tatsache
ist für Thérèse Lavasseur eine Auszeichnung,
und trotz fehlender Liebe kann man den
Aufzeichnungen Rousseaus eine hohe Anerkennung
für seine Frau entnehmen.
Fünf
Kinder entstammen der Beziehung von
Thérèse Lavasseur und Jean-Jacques Rousseau,
die alle als Neugeborene ins Findelhaus
gegeben werden, das erste mit einer
Chiffre versehen, die anderen vier völlig
anonym. Bei diesen Kindesaussetzungen
ist Jean-Jacques die treibende Kraft,
die die Skrupel der Mutter zu überwinden
hat. An verschiedenen Stellen versucht
Rousseau seine Handlungsweise zu rechtfertigen:
Das gesellschaftliche Klima in den Pariser
Salons förderte die Bereitschaft der
Eltern, sich ihrer Kinder möglichst
schnell zu entledigen (in der Tat ist
es interessant zu erfahren, daß um 1790,
12 Jahre nach Rousseaus Tod, 90% aller
Pariser Kinder nicht bei ihren Eltern
lebten und erzogen wurden, Badinter);
Jean-Jacques sieht sich als unfähig
an, seine Kinder selbst zu tüchtigen
Menschen zu erziehen, so daß sie im
Waisenhaus besser aufgehoben sind; die
böse Schwiegermutter, die gemeinsam
mit dem Paar lebt, und die Jean-Jacques
aus tiefstem Herzen haßt, hätte sich
der Kinder bemächtigt, um einen weiteren
Trumpf gegen ihn in der Hand zu haben
usw. Im Rückblick betrachtet nehmen
alle diese Scheinargumente nichts von
der Schurkenhaftigkeit Jean-Jacques.
Er weiß dies auch, und er leidet im
Nachhinein unter seiner Tat. An vielen
Stellen seiner autobiographischer Schriften
kommt er auf diese Wunde zu sprechen;
manchmal gewinnt man den Eindruck eines
Wiederholungszwangs, sich das vor Augen
zu führen, was das „Herz
nicht immer ruhig gelassen“ (1989a,
S. 584) hat. Betrachten wir die Eltern-Kind-Beziehung
historisch, dann ist das Neue der Situation
Rousseaus, daß er unter der Tat der
Kindesaussetzung leidet, daß sein Herz
„Reue“ fühlt. In seinem Emile wird er
deshalb kompensatorisch zu einem glühenden
Verfechter der Mutter- und Vaterliebe
als einer von der Natur aufgegebenen
Verpflichtung der Eltern, selbst für
die eigenen Kinder zu sorgen: „Wer die Pflichten eines Vaters nicht erfüllen kann, hat kein Recht, es
zu werden. Weder Armut noch Arbeit,
noch menschliche Rücksichten sprechen
ihn davon los, seine Kinder zu ernähren
und sie selbst zu erziehen. Ihr könnt
es mir glauben, meine Leser. Ich sage
es einem jeden voraus, der Kinder hat
und so heilige Pflichten versäumt, er
wird lange Zeit über seinen Fehler bittere
Tränen vergießen und niemals getröstet
werden.“ (1989c, S. 27)
Rousseau
ist 37 Jahre alt, bisher hat er sich
in einigem versucht, einige Talente
hat er ausgebildet, erste Kostproben
seiner Schaffenskraft gegeben. Aber
noch ist der Durchbruch nicht da, noch
hat er sein Lebensthema nicht gefunden.
An einem schönen Tag wandert er von
Paris nach Vincennes, um dort den Freund
Diderot zu besuchen, der im Gefängnis
eingesperrt ist. Jetzt tritt jenes umwälzende
Ereignis ein, das man mit dem Bekehrungserlebnis
August Hermann Franckes vergleichen
kann. Jean-Jacques Rousseau hat eine
Zeitschrift bei sich, und in ihr findet
er die Ausschreibung für eine Preisschrift,
die die Akademie von Dijon ausgelobt
hat. Die Frage lautet: „Hat die Wiederherstellung
der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen,
die Sitten zu veredeln?“ (Röhrs 1993,
S. 78) Nicht intellektuell abwägend
beschäftigt sich Rousseau auf seinem
Spaziergang mit dieser Frage, sondern
die Einsichten, die sich ihm plötzlich
aufdrängen, betreffen seine ganze Person.
In einem Brief wird er dies später einmal
so beschreiben: „Auf
einmal fühle ich, daß mein Geist von
tausend Lichtern geblendet wird, ganze
Massen lebhafter Gedanken stellen sich
ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung
dar, die mich in eine unaussprechliche
Verwirrung versetzt; meinen Kopf ergreift
ein Schwindel, welcher der Trunkenheit
gleicht. Ein heftiges Herzklopfen beklemmt
mich, hebt meine Brust empor; da ich
gehend nicht mehr atmen kann, lasse
ich mich am Fuß eines Baumes am Wege
hinsinken und bringe eine halbe Stunde
dort in einer Bewegung zu, daß ich beim
Aufstehen den ganzen Vorderteil meiner
Weste mit Tränen benetzt finde, ohne
gefühlt zu haben, daß ich welche vergoß.“
(1978b, S. 483)
Jean-Jacques
schreibt seine Abhandlung nieder, und
die Akademie wird sie mit dem ersten
Preis auszeichnen. Hier findet er zu
seinem Lebensthema: Was ist der Mensch,
was sind seine Aufgaben und Bestimmungen?
Was ist die Natur des Menschen und was
lenkt ihn von seinem großen Weg ab?
Wo läßt sich ein Ausweg aus der das
menschliche Glück bedrohenden Krise
finden? Im Rückblick wird Rousseau von
seiner Schrift sagen, ihr fehle es „völlig
an Logik und Ordnung“ und es sei „das
schwächste in der Beweisführung“
(1989a, S. 357) aller seiner Werke.
Nichts desto trotz: das Thema ist gefunden,
und es kann im folgenden ausgearbeitet
und auf verschiedene Lebensfelder angewandt
werden.
Die
These der Schrift ist ein eindeutiges
„Nein“ auf die gestellte Frage: Der
Fortschritt der Wissenschaft hat den
Menschen nicht besser und glücklicher
gemacht, sondern ihn abgeführt von der
Bahn der Natur, so daß der Mensch immer
mehr durch „Argwohn,
Mißtrauen, Furcht, Kälte, Zurückhaltung,
Haß und Verleumdung“ (1978b, S.
36) gekennzeichnet ist. Zwischen Wissenschaft
und Moral besteht ein geradezu umgekehrt
proportionales Verhältnis: „unsere
Seelen sind in dem Maße verdorben, in
dem unsere Wissenschaften und unsere
Künste vollkommener geworden sind.“
(1978b, S. 37) Die Natur hat den Menschen
„vor der Wissenschaft bewahren wollen, so wie
eine Mutter ihr Kinde eine gefährlichen
Waffe aus den Händen reißt“ (1978b,
S. 44). Der Mensch muß wieder lernen
„in
sich selbst“ zurückzukehren und
auf „die
Stimme des Gewissens“ zu hören (1978b,
S. 60). In einer späteren Antwort auf
eine Kritik an seiner Schrift präzisiert
Rousseau, daß „die Wissenschaft, so
schön und erhaben sie ist, dennoch nicht
für den Menschen gemacht ist. Sein Geist
ist zu eingeschränkt, als daß er in
ihr jemals große Fortschritte machen
könnte, und sein Herz ist zu sehr voller
Leidenschaften, als daß er sie nicht
übel anwenden sollte.“ (1978c, S. 70)
Mit
diesen Thesen hat Jean-Jacques Rousseau
einen Generalangriff auf den Fortschrittsoptimismus
der Aufklärung eingeleitet. Jetzt beginnt
er auch im persönlichen Umgang die Konsequenzen
zu ziehen: Die Gekünsteltheit seiner
Zeit, die Großstadt Paris, das heuchlerische,
nur auf den eigenen Vorteil bedachte
Herumphilosophieren, der fehlende feste
Bezugspunkt des Lebens, in dem Gott
und die Einfachheit der Natur keinen
Platz mehr haben - dies alles wird ihm
jetzt zu einem unerträglichen Problem,
und er beginnt seine „Umwandlung“ mit
dem Äußeren: „Ich
legte alle goldenen Litzen und die weißen
Strümpfe ab, ich nahm eine runde Perücke,
ich legte den Degen ab, ich verkaufte
meine Uhr, indem ich mir mit einer unglaublichen
Freude sagte: Dank sei dem Himmel, ich
brauche nicht mehr zu wissen, welche
Stunde es ist.“ - Und hier sei noch
einmal daran erinnert, daß sein Vater
Uhrmacher war. - (1989a, S. 358)
Jean-Jacques
Rousseau ist 40 Jahre alt, als er auf
anderem Gebiet unerwartet großen Erfolg
hat: Er komponiert die Oper„Der Dorfwahrsager“,
die sogar vor dem König aufgeführt wird.
Der Komponist ist zu diesem Anlaß anwesend,
allerdings im „nachlässigen
Aufzug ... mit starkem Bart und ziemlich
schlecht gekämmter Perücke“ (1989a,
S. 372). Ein mulmiges Gefühl überkommt
ihn angesichts der gut gekleideten Zuschauer,
und Fluchtgedanken tauchen auf. Er diskutiert
mit sich selbst, bis er sich schließlich
entscheidet zu verbleiben, wobei von
den genannten Gründen am überzeugendsten
die „Unmöglichkeit
es zu ändern“ (1989a, S. 372) wirkt.
Die Aufführung ist ein Erfolg und Jean-Jacques
Rousseau soll am nächsten Tag vor dem
König zur Audienz erscheinen. Er geht
nicht hin, obwohl er dadurch einer Pension
verlustig geht, weil seine „verwünschte
Schüchternheit“ (1989a, S. 375)
ihn daran hindert.
·
Schaffensperiode:
Abhandlung über die Ungleichheit und
Gesellschaftsvertrag
Die
„große Reform“, das Bemühen, sich unabhängig
von den Vorurteilen der anderen zu machen,
um ganz in sich selbst zu ruhen, ist
kein einmaliger Akt, kein Umschalten
des Lichtschalters, der von einem zum
anderen Augenblick alles neu erscheinen
läßt. Sie ist eine beständige Lebensaufgabe,
die Jean-Jacques Rousseau bis zu seinem
Tod begleiten wird, Er hat mit der Umgestaltung
des Äußeren seiner Person begonnen,
er hat die ihm mögliche Pension des
Königs abgelehnt, wenngleich dieser
Schritt eher das Ergebnis seiner Schüchternheit
als eine bewußte Provokation war - aber
er betrachtet seine Schüchternheit auch
als eine ihm von der Natur gegebene
Eigenschaft. Jetzt reist er nach Genf,
seine Heimatstadt, um sich als Bürger
einer Republik und nicht als Fremdling
in einer korrupten absolutistischen
Monarchie fühlen zu können, und seine
nächste große Arbeit wird er der „Republik
zu Genf“ widmen. In Genf tritt er wieder
zur Reformierten Kirche über, und er
heilt damit eine Wunde, die ihm sein
jugendlicher Schritt zur katholischen
Kirche verursacht hat. Es gibt sogar
Erwägungen, ganz nach Genf überzusiedeln,
doch da einer seiner Lieblingsfeinde
- Voltaire - dort in der Nähe wohnt,
würde er auch hier nicht genug Luft
haben, um in Freiheit und Frieden leben
und arbeiten zu können.
Die
Akademie von Dijon hat eine erneute
Preisfrage ausgeschrieben: „Was ist
der Ursprung der Ungleichheit unter
den Menschen, und ist er durch das Naturgesetz
begründet?“ (Röhrs 1993, S. 85) Rousseau
beschäftigt sich mit dem Thema, weil
er dadurch die Frage, die zu seiner
Lebensfrage geworden ist, weiterverfolgen
kann: Was ist der Mensch? Was ist der
Mensch, wenn wir ihn unabhängig von
allen gesellschaftlichen Einflüssen
als natürliches Wesen betrachten? Und
was wird aus dem Menschen mit seinen
ursprünglichen Antrieben, wenn er durch
die gesellschaftlichen Einrichtungen
geprägt wird? Rousseau schreibt eine
Entwicklungsgeschichte der Menschheit,
die mit der Beschreibung des natürlichen
Menschen beginnt und bis zu der despotischen
Gewalt des Absolutismus reicht. Die
Menschheitsgeschichte läßt eine Entwicklung
zu zunehmender Ungleichheit, Gewalt
und Unfreiheit erkennen. Zwei Eigenschaften
zeichnen den natürlichen Menschen aus:
seine „Eigenliebe“, die ihn alles unternehmen
läßt, was sein Wohlsein steigert, und
sein Mitleid, das ihm eingibt, „keines
von unsersgleichen ohne Widerwillen
untergehen oder leiden sehen (zu) können“
(1978d, S. 185). Er lebt unschuldig
in relativ großem Abstand zu den Mitmenschen
und befriedigt selbst die noch geringe
Zahl ursprünglicher Bedürfnisse (Nahrung,
Schlaf, Sexualität). Nackt läuft er
umher, und er lebt noch nicht in einer
Wohnung; sein Denken beschränkt sich
auf den geringen Kreis dessen, „wovon
er glaubt, daß es ihn angehe“ (1978d,
S. 225) Doch der natürliche Mensch ist
kein Tier, denn während dieses ausschließlich
instinktgesteuert ist, hat jener die
Entscheidung, „dem Eindruck zu folgen
oder zu widerstehen. Vor allem in dem
Bewußtsein dieser Freiheit zeigt die
Seele die Eigenschaften eines Geistes
... das Vermögen, zu wollen oder vielmehr
zu wählen.“ (1978d, S. 204)
„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte,
sich in den Sinn kommen ließ
zu sagen: dieses ist mein,
und einfältige Leute antraf,
die es ihm glaubten, der war
der wahre Stifter der bürgerlichen
Gesellschaft. Wieviel Laster,
wieviel Krieg, wieviel Mord,
Elend und Greuel hätte einer
nicht verhüten können, der
die Pfähle ausgerissen, den
Graben verschüttet und seinen
Mitmenschen zugerufen hätte:
'Glaubt diesem Betrüger nicht;
ihr seid verloren, wenn ihr
vergeßt, daß die Früchte euch
allen, der Boden aber niemandem
gehört.’“ (1978d, S. 230)
|
Durch
einen langen Prozeß, dessen Beschreibung
wir an dieser Stelle nicht im einzelnen
nachzeichnen wollen, wird die Abhängigkeit
des Menschen von den Menschen, die im
Zustand der Natur keinen Platz hat,
stärker. Dadurch erhöht sich das Kräftepotential
(z.B. durch die Arbeitsteilung und die
Erfindung von Werkzeugen) der Menschen
beträchtlich; doch dieser Zuwachs führt
nicht zu mehr Glück, weil gleichzeitig
die Bedürfnisse über die natürlichen
hinaus überproportional anschwellen:
Die Menschen „waren nicht glücklich, wenn sie sie (die Bequemlichkeit der künstlichen
Bedürfnisbefriedigung) hatten,
aber doch unglücklich, wenn sie ihnen
fehlten.“ (1978d, S. 235) Der „Sündenfall“
im Übergang vom natürlichen zum gesellschaftlichen
Menschen ist mit dem Zeitpunkt des Eigentumsrechtes
eingetreten. Mit ihm folgt notwendiger
Weise der Beginn der politischen Herrschaft,
die das Eigentum zu schützen hat, und
damit die Aufgabe der ursprünglichen
Freiheit des Menschen; und aus der Einführung
der politischen Macht entsteht zwangsläufig
die Tyrannei und der Despotismus, um
die gewonnene Stärke der Überlegenen
auszubauen, zu perfektionieren und zu
vererben, und damit die Verfestigung
der Sklaverei der Masse der Menschen:
„Die
Menschen werden wieder einander gleich,
weil sie alle nichts sind.“ (1978d,
S. 262)
„Dieser
Übergang vom Naturzustand
in den staatsbürgerlichen
Zustand bewirkt im Menschen
eine sehr bemerkenswerte Veränderung,
indem im Verhalten desselben
die Gerechtigkeit an die Stelle
des Instinktes gesetzt und
seinen Handlungen die Sittlichkeit
gegeben wird, die ihnen zuvor
fehlte. Nun erst, da die Stimme
der Pflicht an die Stelle
des physischen Triebes tritt
und das Recht an die Stelle
der Begierde, sieht sich der
Mensch gezwungen, nachdem
er bislang nur auf sich selbst
Rücksicht genommen, nach anderen
Grundsätzen zu handeln und
seine Vernunft zu Rate zu
ziehen, ehe er seinen Neigungen
folgt. Obgleich er sich in
diesem Zustand mehrerer Vorteile
begibt, die ihm die Natur
gewährte, so gewinnt er doch
so große andere, seine Fähigkeiten
werden so sehr geübt und entwickelt,
seine Begriffe so sehr erweitert,
seine Gefühle so sehr veredelt,
seine ganze Seele zu solcher
Höhe erhoben, daß er - wenn
der Mißbrauch seines neuen
Zustandes ihn nicht hinter
seinen bisherigen zurückfallen
ließe - unablässig den glücklichen
Augenblick segnen müßte, der
ihn dem letzteren auf ewig
entrissen hat und der aus
einem stumpfsinnigen und beschränkten
Tier ein einsichtiges Wesen,
einen Menschen schuf.“ (1989e,
S. 284)
|
Die
Bewertung, die Jean-Jacques Rousseau
als Zusammenfassung seiner Arbeit gibt,
spricht eindeutig für den natürlichen
und gegen den gesellschaftlichen Menschen:
„Jener
(der natürliche Mensch) sehnt
sich nur nach Ruhe und Freiheit, er
will nur leben und untätig bleiben.
Gegen alles übrige ist er noch gleichgültiger
als der unempfindlichste Stoiker. Der
immer tätige Bürger hingegen schwitzt,
arbeitet und quält sich unaufhörlich,
um sich noch mühsamere Beschäftigungen
zu verschaffen. Er arbeitet sich tot,
um leben zu können ... Der wilde Mensch
lebt in sich, der gesellige hingegen
ist immer außer sich und lebt nur in
der Meinung, die andere von ihm haben.
Selbst die Empfindung seines Daseins
nimmt er nur aus ihrem Urteil.“
(1978d, S. 264) Aber folgt daraus, daß
ein „Zurück zur Natur“ die Konsequenz
ist, wie die Gegner Rousseaus es gesehen
haben? So schreibt Voltaire an Rousseau:
„Noch niemand hat soviel Geist verschwendet
wie Sie, in dem Bestreben, uns wieder
zu Bestien zu machen. Man bekommt richtig
Lust, auf allen vieren zu gehen, wenn
man Ihr Werk liest. Indessen habe ich
diese Gewohnheit schon seit sechzig
Jahren aufgegeben, und so ist es mir
unmöglich, sie wieder aufzunehmen.“
(Voltaire, in: Hansmann 1996, Bd. II,
S. 2) Doch jenes zur Charakterisierung
von Rousseau gerne benutzte Wort von
dem „Zurück zur Natur“ findet sich nicht
in seinen eigenen Schriften, und es
ist auch nicht seine Vorstellung, daß
man das Rad der Geschichte zurückdrehen
könne oder sollte. Die Zeichnung von
dem glücklichen, beschränkten, freien
„Wilden“ benötigt Rousseau, um seine
Kritik an der bestehenden Gesellschaft
verdeutlichen zu können: sein Leiden
an dem fremdbestimmten, dem „Schein“
der Vorurteile folgenden Leben, das
den Menschen nicht zu sich selbst kommen
läßt. Und er braucht den fiktiven Naturzustand,
um an dem starken Glauben festhalten
zu können, daß der Mensch gut ist, obwohl
die empirische Erfahrung der gesellschaftlichen
Wirklichkeit immer dagegen spricht -
oder, um eine Formulierung des späten
Rousseaus zu benutzen: er behauptet
immer, „daß
der Mensch gut ist, obgleich die Menschen
böse sind“ (1978 e, S. 285). Daß
er sich des fiktiven Charakters des
Naturzustandes selbst bewußt ist, wird
schon in der Einleitung der Abhandlung
über die Ungleichheit deutlich, wenn er von ihm als einem Zustand
schreibt, „der nicht mehr zu finden,
vielleicht niemals dargewesen ist, und
künftig auch, allem Ansehen nach, nie
vorkommen wird“ (1978d, S. 182)
Die
beiden Schriften zu den Preisausschreiben
der Akademie von Dijon sind wichtige
Stationen auf dem Weg der Persönlichkeitsbildung
Jean-Jacques: Er denkt selber, es sind
seine Gedanken, die er niederschreibt
- unabhängig davon, was der Modeton
der intellektuellen Führungsschicht
dazu sagen mag. Doch Jean-Jacques Rousseau
will kein Berufsschriftsteller werden,
da dies seine Unabhängigkeit einschränken
würde. Deshalb verdient er einen Teil
seines Geldes weiterhin mit dem Abschreiben
von Noten. Der andere Teil ergibt sich
aus Zuwendungen reicher Gönner, vor
allem Gönnerinnen. Das ist zwar für
die damalige Zeit keine unübliche Finanzierungsquelle,
aber für jemanden, der nicht Hofnarr
werden will, nicht ungefährlich. Ein
solches Kapitel müssen wir jetzt berühren.
Um
sich von den Salons und Cliquen der
scheinbar besseren Gesellschaft unabhängig
zu machen, drängt es Jean-Jacques aus
dem Moloch der Großstadt Paris fort
auf das Land. In seinem Leben waren
die Zeiten, in denen er abseits des
Rummels der großen Städte leben konnte,
immer die glücklichsten; und es ist
Rousseaus feste Überzeugung, daß die
Menschen, je enger zusammengepfercht
sie wohnen, sich desto mehr von dem
natürlichen Zustand entfernen, der dem
Menschen gemäß ist. Eine Gönnerin Jean-Jacques
- Madame d’ Epinay - richtet ihm ein
Landhaus ein, in das er mit Thérèse
Lavasseur und deren Mutter einzieht.
Jetzt ist er entfernt von den scheinbaren
Freunden, und er kann seiner Lieblingsbeschäftigung
- dem Spazierengehen - folgen. Die Zahl
der verpflichtenden Punkte, die ihn
mit der Gesellschaft verbinden, hat
abgenommen, aber er ist nicht allen
Abhängigkeiten entronnen, wie sich in
Bezug auf Madame d’ Epinay noch zeigen
wird.
Jean-Jacques
ist vierundvierzig Jahre alt. Damals
hatte Madame de Warens den Heranwachsenden
zum Mann gemacht, jetzt lebt er seit
gut zehn Jahren mit Thérèse Lavasseur
zusammen, die er auf seine Weise achtet,
und die er auch braucht, die er aber
nicht liebt. Ist er mit 44 Jahren zu
alt für die Liebe? „Mir
schien es, als schulde mir das Schicksal
noch etwas, das es mir noch nicht gegeben
hatte“ (1989a, S. 421), schreibt
er rückblickend auf diese Zeit. Jean-Jacques
sehnt sich nach etwas, was er „Liebe“
nennt, was aber mehr eine absolute Verschmelzung
ist. „Ich hätte zwei Seelen im selben Leib haben
müssen“ (1989a, S. 409), so drückt
er dieses verlangende Gefühl aus. Da
er im realen Leben keinen Gegenstand
für seine Bedürfnisse findet, wendet
er sich „in
das Land der Schimären“ (1989a,
S. 422); er gestaltet in seinem Kopf
Phantasien einer idealen Liebe, und
je mehr er sich mit ihnen beschäftigt,
desto konkretere Gestalt nehmen sie
an. Dies ist die Ausgangslage, die ihn
zu dem großen Roman „Julie oder Die
neue Héloise“ (1989d) treibt: Die Gefühle
zweier jugendlich Liebender haben in
der Wirklichkeit keine Chance, weil
der Vater der Frau sie mit einem anderen
Mann verheiratet. Daraufhin flieht der
Liebende, kehrt schließlich zurück und
wird von dem Ehemann in das Familienhaus
eingeladen. Darum geht es: auf der einen
Seite die erotischen Gefühle von zwei
Menschen, die füreinander bestimmt sind,
und auf der anderen Seite die Verpflichtungen
der Tugend, die es einzuhalten gilt.
Im
realen Leben Jean-Jacques ereignet sich
bald das Ereignis, das eine Konkretisierung
des Phantasiegeschehens bildet. Jean-Jacques
lebt nach seinem Roman. Er begegnet
der Gräfin d’ Houdetot, und um die Verwicklungen
noch mehr zu komplizieren: sie ist die
Schwägerin von Rousseaus Gönnerin Madame
d’ Epinay. Die Beschreibung der Gräfin
fällt nicht gerade positiv aus: Sie
„näherte
sich den Dreißigern und war keineswegs
schön. Ihr Gesicht war durch Blatternarben
entstellt. Ihr Teint war unrein, sie
war kurzsichtig, und die Augen waren
ein wenig zu rund.“ (1989a, S. 433)
Doch Rousseau ist in seinem Roman schon
zu weit fortgeschritten, er kann nicht
anders: „Ich
sah meine Julie in Frau d’ Houdetot“
(1989a, S. 434). Auch die Gräfin ist
nicht mehr frei in ihren Liebesentscheidungen,
und so muß der unsterblich Liebende
seine Begierden zügeln. Über drei Monate
sehen sie sich täglich, und sie entfalten
eine enge Zuneigung, doch „unberührt“
und „rein
an Leib und Seele“ (1989a, S. 439)
geht sie aus dieser Begegnung hervor.
Nach
dieser kurzen Episode des Glücks folgt
rasch der Umschwung: „Das
sind die letzten schönen Tage gewesen,
die mir auf der Erde beschieden waren.
Hier nun beginnt das lange Gewebe der
Leiden meines Lebens, in dem man nur
wenig Unterbrechungen sehen wird.“
(1989a, S. 440) Die Gönnerin, vielleicht
auch durch Eifersucht auf ihre Schwägerin
getrieben, setzt Jean-Jacques Rousseau
den Stuhl vor die Tür. Er muß die Ermitage
nach einem Jahr verlassen. Zum Glück
findet er in der Nähe in Montmorency
ein kleines Haus mit Garten, in das
er einziehen kann. Bei diesem Anlaß
entledigt er sich gleichzeitig der Schwiegermutter,
die er nach Paris schickt, für deren
Unterhalt er aber weiterhin aufkommt.
Hier in Montmorencey distanziert er
sich in noch größerem Maße von den alten
Freunden, und er findet langsam Ruhe,
die er benötigt, um die beiden Werke
zu schreiben, die seinen Weltruhm begründen:
Den Gesellschaftsvertrag und den Emile.
Der
Gesellschaftsvertrag ist die politische
Theorie Rousseaus. Hier finden sich
viele Thesen wieder, die wir bei John
Locke gefunden haben, dessen Schriften
Rousseau gut gekannt hat, und der auch
für einige Passagen des Emiles wertvolle
Anregungen gegeben hat. Die Aufgabe
der Theorie ist es nicht, konkrete Handlungsanweisungen
zu liefern, sondern einen Maßstab zu
begründen, von dem aus die Praxis beurteilt
und Perspektiven für eine Verbesserung
gewonnen werden können. Dies versucht
Rousseau für den Bereich politischen
Handelns in dieser Schrift. Er geht
von einem zentralen Widerspruch aus:
„Der
Mensch ist frei geboren, und überall
liegt er in Ketten.“ (1989e, S.
270) Die Freiheit aber ist das zentrale
Kennzeichen des Menschen: „Der
Freiheit entsagen heißt seiner Eigenschaft
als Mensch ... entsagen.“ (1989e,
S. 275) Wenn der zivilisierte Mensch
nicht mehr wie der ursprüngliche weitgehend
für sich alleine leben kann, sondern
wenn er in der Gesellschaft leben muß,
die ihm hilft, seine Bedürfnisse besser
und sicherer befriedigen zu können,
dann bedarf es einer Verpflichtung,
die den einzelnen einschränkt. Woher
ergibt sich eine Legitimation dieser
politischen Macht, und wie muß sie beschaffen
sein, um nicht der grundlegenden Freiheit
zu widerstreiten?
Rousseau
geht zur Beantwortung dieser Fragen
zurück auf den - fiktiven - Beginn der
Gesellschaft: Als der für sich existierende
Naturmensch an die Grenzen seiner Selbsterhaltungsmacht
stieß, die sein Überleben gefährdeten,
war er gezwungen, sich mit anderen zusammenzuschließen,
um dadurch einen Überschuß an Kraft
zu gewinnen. Dieser Zusammenschluß diente
also nicht dem Einzelinteresse einiger
weniger, sondern dem gemeinsamen Bedürfnis
aller. Ausgangspunkt der Gesellschaft
war ein Vertrag freier Einzelindividuen
aus einem „Gemeinwillen“ heraus. Man
gab etwas von seiner natürlichen Freiheit
ab, aber man gewann auf der anderen
Seite wesentlich mehr hinzu. Der Staat
beruht auf diesem Gemeinwillen, in dem
jeder einzelne sich wiederfindet. Ihm
zu gehorchen ist also kein Zwang, sonder
liegt im Eigeninteresse aller. Ihm muß
aber auch unbedingt gefolgt werden,
soll die Selbstsucht einzelner gebannt
bleiben. Der Gemeinwille äußert sich
in gesetzgeberischen Akten, die durch
Abstimmung aller legitimiert sind. Davon
getrennt ist die Regierung zu betrachten,
die für die Durchführung der Gesetze
verantwortlich ist. Hier kann es verschiedene
Formen - demokratische, aristokratische,
monarchische - geben, die jedoch alle
daran gebunden sind, daß sie nicht den
Einzelinteressen der Regierenden, sondern
ausschließlich dem Gemeinwillen aller
folgen. Rousseau führt die Schlußfolgerungen
dieses Gedankens bis hin zu politischen
Grundsatzfragen, die an dieser Stelle
nicht darzustellen sind. Nur einen Punkt
wollen wir zur Illustration, vielleicht
auch zur Anregung auf die Übertragung
auf unsere politischen Verhältnisse
anführen. Die Freiheit und Gleichheit
jedes einzelnen Bürgers - dies sind
die beiden Hauptzwecke „jedes Systems
der Gesetzgebung“ - bedeutet nicht unbedingt
eine absolute Gleichheit an Macht und
Reichtum, wohl aber einen Ausgleich
extremer Unterschiede in dem Sinne,
„daß kein Bürger so reich sein sollte, um einen anderen kaufen zu können,
und niemand so arm, daß er gezwungen
wäre, sich zu verkaufen.“ (1989e,
S. 311) Und in einer auf seine Zeit
gemünzten Anmerkung setzt er hinzu:
„Ihr
wollt also dem Staate Festigkeit verleihen?
Dann bringt die Extreme einander so
weit wie möglich näher: duldet weder
Reiche noch Bettler! Diese beiden von
Natur aus untrennbaren Stände sind für
das Gemeinwohl gleich verhängnisvoll;
aus dem einen kommen die Verfechter
der Tyrannei, aus dem anderen die Tyrannen“
(1989e, S. 311).
·
Flucht und Lebensabend
Es
wird noch dreißig Jahre dauern, bis
der „Gesellschaftsvertrag“ offizielle
politische Bedeutung erhält. Die Französische
Revolution erklärt ihn zu ihrem Grundgesetz,
Robespierre soll immer ein Exemplar
dieser Schrift auf seinem Tisch gehabt
haben (Soetard 1989 , S. 135), und 16
Jahre nach seinem Tod wird der Leichnam
Rousseaus aus seinem ursprünglichen
Grab in einem mehrtägigen Festzug nach
Paris gebracht, wo er im Pantheon beigesetzt
wird. Die Reaktion zur Lebzeit Rousseaus
sieht anders aus: Der „Gesellschaftsvertrag“
wird ebenso wie der zur gleichen Zeit
entstandene „Emile“ von Zensur verfolgt.
Das Parlament von Paris ordnet an, daß
der Emile „‘im Hofe des Palais, am Fuße
der großen daselbst befindlichen Treppe,
vom Scharfrichter des Hohen Gerichts
zerrissen und verbrannt werde’. Der
Verkauf wird verboten; wer Exemplare
davon besitzt, muß sie beim Schreiber
des Gerichtshofs abgeben. Schließlich
verfügt das Parlament noch, ‘daß man
den genannten, auf der Titelseite des
nämlichen Buches angeführten J.-J. Rousseau
aufgreife, in Verhaftung nehme und nach
den Gefängnissen der Conciergerie im
Palais bringe, auf daß man ihn daselbst
verhöre und befrage’.“ (Soetard 1989
, S. 98) Jean-Jacques Rousseau erfährt
von der bevorstehenden Verhaftung durch
den Marschall von Luxemburg, bei dem
er in der Nähe wohnt, und mit dessen
Familie er sich in den letzten Jahren
angefreundet hat. Rousseau flieht in
die Schweiz, von der er sich eine bessere
Aufnahme erhofft. Doch vergebens: auch
Genf und Bern verbieten die Schriften
und lassen deren Verfasser mit Haftbefehl
suchen. Auslöser der Verfolgungen sind
vor allem Rousseaus Äußerungen über
die Religion - wir werden darauf noch
zu sprechen kommen. So kann er auch
in Genf und Yverdon nicht bleiben, und
er flieht deshalb in das kleine Dorf
Môtiers, das in der Grafschaft Neuenburg
liegt und preußischer Besitz ist. Hier,
in der Abgeschiedenheit der Berge, hat
er jetzt für beinahe drei Jahre seine
Ruhe. Er beginnt mit einer Beschäftigung,
die ihn für den Rest seines Lebens begleiten
wird und die ihm den Frieden ermöglicht,
den er braucht: das Botanisieren. Er
schreibt Verteidigungsschriften, mit
denen er Verfolgern die Richtigkeit
seiner Anschauungen zu begründen versucht,
und er beginnt seinen großen autobiographischen
Entwurf: die „Bekenntnisse“.
Doch
schließlich ist auch sein Aufenthalt
in Môtiers nicht mehr sicher: Der Dorfpfarrer
(bzw. seine Vorgesetzten drängen ihn
dazu) will ihn vom Abendmahl ausschließen,
wozu es des Beschlusses des Konsistoriums
bedarf, vor das Rousseau geladen wird.
Er nimmt sich vor, sich zu verteidigen:
„Mit
welcher Überlegenheit, mit welcher Leichtigkeit
hätte ich diesen armen Prediger inmitten
seiner sechs Bauern niedergeschmettert!“
(1989a, S. 615) Doch da er seine „Unfähigkeit kannte, mich aus dem Steggreif zu äußern“ (1989a, S. 615),
überlegt er sich eine Verteidigungsrede,
die er auswendig lernt. Als der Tag
der Vorladung kommt, überwiegt die Angst:
Die Rede scheint vergessen - „ich verwirre mich, ich stottere, ich verliere
den Kopf“ (1989a, S. 616) - als
er sich bloß vorstellt, in der Konsistoriumssitzung
zu sein. Er geht nicht hin, der arme
„Prediger inmitten seiner sechs Bauern“
hat gewonnen. Der Pfarrer wiegelt das
Volk auf: Rousseau und Thérèse Lavasseur
werden handgreiflich verfolgt,
Steine fliegen auf ihr Haus und die
Bewohner.
Abermals
muß Rousseau fliehen. Für knapp zwei
Monate findet er Ruhe auf der Petersinsel
im Bieler See. Er beschreibt dies als
eine glückliche Zeit, einen Übergang
in das, was sich als Altersweisheit
Jean-Jacques bezeichnen läßt. Er sitzt
am Ufer des Sees: „Ich empfand eine besondere Freude, wenn ich sah, wie sich die Wellen zu
meinen Füßen brachen. Ich formte mir
daraus das Bild der Unruhe der Welt
und des Friedens meines Hauses, und
manchmal rührte mich diese Vorstellung
so, daß ich Tränen aus meinen Augen
fließen fühlte. Diese von mir mit heißer
Liebe genossene Ruhe wurde nur durch
die Besorgnis gestört, ich könnte sie
verlieren.“ (1989a, S. 635) Und
in der Tat dauert es nicht lange, bis
die Berner Behörden, zu deren Einflußbereich
die Petersinsel gehört, seine Ausweisung
einfordern.
Von
dem Philosophen David Hume wird er eingeladen,
nach England zu kommen. Doch dann zerstreitet
er sich mit seinem dortigen Gönner und
verläßt deshalb England wieder. Er lebt
- teilweise unter falschem Namen - an
wechselnden Orten in Frankreich. In
diese Zeit fällt auch die bereits erwähnte
Hochzeit mit Thérèse Lavasseur. Mit
58 Jahren läßt er sich schließlich in
Paris nieder, mit den Behörden hat er
seinen Burgfrieden geschlossen. Unverändert
verdient er den größten Teil seines
Geldes mit dem Abschreiben von Noten,
und den Rest der Zeit widmet er seinen
Lieblingsbeschäftigungen: dem Spazierengehen
und Botanisieren. Doch auch weitere
literarische Projekte beschäftigen ihn.
Die „Bekenntnisse“ hat er in der Hoffnung
geschrieben, sich, der im mündlichen
Gespräch durch seine Schüchternheit
gehemmt ist, den Mitmenschen so präsentieren
zu können, wie er tatsächlich ist. Dieser
Versuch ist gescheitert: Nachdem er
mit Vorlesungen aus seinem Buch begonnen
hat, erwirkt Madame d’ Epinay, die in
der in der Schrift Tat nicht besonders
gut wegkommt, ein Verbot jeglicher öffentlichen
Lesung. Wenn also die lebende Generation
seine Wahrheit nicht erfahren will,
so richtet er seine Hoffnung auf die
kommende: Er schreibt „Rousseau richtet
über Jean-Jacques“. Als er das Manuskript
beendet hat, versucht er, es auf dem
Altar von Notre-Dame zu hinterlegen,
ein Versuch, der scheitert, weil er
das Gitter vor dem Altar just an dem
Tage verschlossen findet, an dem er
zur Tat schreiten will. Er nimmt dies
als Indiz, daß auch für die Zukunft
nichts zu hoffen ist.
Was
bleibt? Der Rückzug auf sich selbst.
In den „Träumereien des einsamen Spaziergängers“,
seine letzte, unvollendete Schrift,
versucht er sich Rechenschaft über sein
Leben abzugeben und das herauszufinden,
was ihm als altem Mann zu lernen übrig
bleibt: das Sterben. Er erinnert sich
an zentrale Stationen seines Lebens:
Die Geschichte mit Marion - die Lüge
um das damals gestohlene Band - sei
die Grundlage dafür gewesen, daß die
Frage nach der Moral im Mittelpunkt
seines Denkens gestanden habe; die ganzen
Streitereien und Verfolgungen werden
nochmals mit der Botschaft erwähnt,
daß man sich von ihnen lösen müsse,
daß man die Feinde „nicht
grausamer bestrafen“ könne, als
wenn man, „ihnen zum Trotze, glücklich“ (1989b, S. 716) sei; und der Gedanke
an die eigenen Kinder und ihre Aussetzung
taucht auf - diesmal mit einem Unterton
trotziger Rechtfertigung. In der letzten,
der zehnten „Träumerei“, die Jean-Jacques
Rousseau im Jahr seines Todes, 1778,
begonnen hat zu schreiben, erinnert
er sich an Madame de Warens, die Begegnung,
durch die seine Seele „Gestalt“ gewonnen
habe. Und in den „Träumereien“ gibt
er sich Rechenschaft - und dem Leser
Anregung - über das menschliche Glück:
„das Joch der Notwendigkeit (sei) ohne Murren (zu) ertragen“
(1989b, S. 733) es gälte zu sich „selbst
zurückzufinden“ (1989b, S. 734),
und die Liebe zu sich selbst sei es,
die „vom Joch der öffentlichen Meinung“ befreie
(1989b, S. 735). Rückblickend schreibt
er, er habe aus eigener Erfahrung gelernt,
„daß
die Quelle des wahren Glückes in uns
selbst ist und daß keine irdische Macht
einen Menschen wahrhaft unglücklich
zu machen vermag, der da weiß, daß er
glücklich sein will“ (1989b, S.
657).
2.
Emile oder Über die Erziehung (1989c)
·
Grundgedanken
Das
erste Buch des „Emile“ beginnt mit einem
Paukenschlag: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers
der Dinge kommt; alles entartet unter
den Händen des Menschen.“ (S. 9)
Dies ist die Quintessenz der bisherigen
Schriften Rousseaus, dieser Gedanke
muß auf die Erziehung angewandt werden.
Im Gegensatz zu dem, was wir am Beispiel
August Hermann Franckes gesehen haben,
bestreitet Rousseau die Vorstellung
von der Erbsünde, durch die der „natürliche
Eigenwille“ des Kindes verdorben sei
und deshalb „gebrochen“ werden müsse.
„Es gibt keine ursprüngliche Verderbtheit im menschlichen Herzen“ (S.
86), und wenn der empirische Mensch
so scheint, als sei er allzu gerne bereit,
das Böse zu tun, „so
ist es der Mensch, den ihr gemacht habt“
(S. 85f). Durch falsche Erziehung, Politik
und gesellschaftlichen Verkehr wird
der Mensch von der Bahn der Natur abgelenkt,
seine ursprünglich wohlwollenden Quellen
werden verstopft, umgeleitet, bis nichts
Ursprüngliches mehr vorhanden ist. Die
Menschen sind von dem einfachen Weg
der Natur abgekommen und haben dadurch
alles kompliziert: Ein Gemisch aus natürlichen
und künstlichen Bedürfnissen beherrscht
sie, sie haben immer mehr, aber sie
wollen auch immer noch mehr, so daß
sie weit über sich hinausstreben und
sich selbst dabei immer mehr verlieren.
Sie werden sich selbst immer fremder,
ruhen nicht mehr in sich, sondern beziehen
sich ständig auf andere. Zerrissenheit
kennzeichnet sie. Jedes Neugeborene
aber hat noch keine Erfahrung mit dieser
entfremdenden Gesellschaft. Es repräsentiert
noch vollständig das ursprüngliche,
natürliche Gute. Doch schnell greift
die Erziehung in die Natur des Kindes
ein und zerstört sie. Noch bevor es
darüber nachdenken und sich selbst entscheiden
kann, sind seine Bedürfnisse verwirrt
worden, und ist die innere Richtschnur,
zu beurteilen was gut ist, und die Fähigkeit,
entsprechend dieser „inneren Stimme“
zu handeln, unterdrückt worden. Doch
das mit jedem Säugling erneut erscheinende
ursprünglich Gute ist auch eine große
Hoffnung: Wir können innehalten in der
traditionellen Erziehungsweise, um danach
zu fragen, was ein Kind sei, wo das
Ziel der Erziehung liege und wie wir
mit ihm umgehen müßten, um dieses Ziel
zu erreichen.
Bevor
wir diese drei für jede Erziehungskonzeption
zentralen Punkte ausführen, wollen wir
noch einen Absatz dazwischenschieben,
der für das Verständnis des Erziehungskonzeptes
Rousseaus wichtig ist. Es gibt einen
Generalschlüssel, mit dem man sich einen
Zugang zu den unterschiedlichen Passagen
des langen Textes verschaffen kann:
die Betrachtung des Verhältnisses von
Kraft und Begierde. Ein Mensch ist glücklich,
so sagt Rousseau, wenn er die Bedürfnisse,
die er hat, selbst befriedigen kann,
und er ist unglücklich, wenn seine Wünsche
seine Möglichkeiten, sie zu erfüllen,
übersteigen; und er ist nicht ausgefüllt
und bleibt hinter seinen Möglichkeiten
zurück, wenn seine Kräfte seine Begierden
überwiegen. Alles kommt auf das Gleichgewicht
von Kraft und Begierde an. Ist es gegeben,
dann ist der Mensch stark und frei;
ist es nicht gegeben, dann ist er schwach
und abhängig. Der Kernpunkt der Gesellschaftskritik
von Jean-Jacques Rousseau besteht darin,
daß die Bedürfnisse der Menschen im
Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung
immer weiter getrieben werden, so daß
sie von allem abhängig sind: „alles, was ist, alles, was sein wird, ist jedem von uns wichtig; unsere
Person ist nur mehr der geringste Teil
von uns selbst. Ein jeder verbreitet
sich sozusagen über die ganze Erde und
wird auf dieser ganzen großen Oberfläche
empfindlich. Ist es verwunderlich, daß
sich unsere Übel in all den Punkten
vervielfältigen, wo man uns verletzen
kann?“ (S. 70) Das Verhältnis von
Kraft und Begierden ist auf den Erziehungsprozeß
anzuwenden: Der Säugling ist „von Natur
aus“ schwach und abhängig, weil er Bedürfnisse
hat, die er nicht selbst befriedigen
kann. Die Eltern müssen ihm helfen,
damit er überlebt. Doch wenn sie ihn
stark und glücklich machen wollen, dann
müssen sie vorsichtig sein, damit sie
nicht durch ein überproportionales Anwachsen
der (und Anzüchten künstlicher) Bedürfnisse
vor der Entwicklung seiner steigenden
Fähigkeiten das Kind immer schwächer,
abhängiger und damit unglücklicher machen.
Mit anderen Worten: Glück, Freiheit,
Stärke sind relationale Begriffe, die
von dem Verhältnis der Bedürfnisse zu
den Fähigkeiten abhängen. Dieses gilt
es auf jeder Entwicklungsstufe neu zu
betrachten.
Kommen
wir auf den Dreischritt von Kindheitsvorstellung,
Erziehungsziel und Erziehungsbegriff
zurück. „Man kennt die Kindheit nicht“ (S. 6), so heißt es im Vorwort des „Emile“,
weil man „den
Erwachsenen im Kinde“ sucht und
nicht daran denkt, „was
es (das Kind) ist,
bevor es erwachsen wird“ (S. 6).
Ein Kind ist kein kleiner Erwachsener,
sondern es ist ein Kind; es ist als
solches zu betrachten und zu behandeln.
Es gibt von der Natur gegebene Entwicklungsperioden
- die sich mit dem benannten Schlüssel
des Verhältnisses von Fähigkeit und
Bedürfnis erschließen lassen -, und
in jedem Lebensalter stellen sich bestimmte
Aufgaben, die zu erfüllen sind. „Ein jedes Alter ... hat seine geziemende Vollkommenheit,
seine Art von Reife, die ihm eigen ist.“
(S. 183) Die Pädagogik besteht also
nicht darin, daß Kind möglichst schnell
auf die jeweils nächste Stufe vorzubereiten:
kindergartenreif, schulreif, hochschulreif,
berufsreif, rentnerreif; sondern es
gilt, dem Kind die Chance zu geben,
die jeweilige Stufe voll zu durchleben.
Die Pädagogik ist also auf das Kind
und die jeweilige Stufe der Kindheit
zu beziehen und nicht auf die Vorbereitung
auf den Erwachsenen. Erst unter dieser
Voraussetzung, daß das Kind ganz Kind
sein kann, wird ihre Bedeutsamkeit für
den menschlichen Lebenslauf insgesamt
erreicht.
Wir
haben es schon erwähnt: Das „Zurück
zur Natur“ ist nicht das Programm Jean-Jacques
Rousseaus. Es wäre eine naive Illusion
zu meinen, in dem ursprünglich natürlichen
Zustand könne das Ziel der Erziehung
liegen. Der Mensch ist aus diesem Paradies
vertrieben, und das Rad der Geschichte
läßt sich nicht zurückdrehen. Ein natürlicher
Mensch in unserer Zeit wäre „der verunstaltetste von allen“ (S. 9),
er wäre der passive Spielball der Vorurteile
aller anderen Menschen. In Bezug auf
seinen erdachten Zögling schreibt Rousseau:
„Emile ist kein Wilder, der in die Wüsten zu verweisen ist; er ist ein
Wilder, der geschaffen ist, die Städte
zu bewohnen. Er muß in ihnen seinen
notwendigen Unterhalt zu finden, sich
ihre Einwohner zunutze zu machen und
wenn nicht wie sie, so doch wenigstens
mit ihnen zu leben wissen.“ (S.
250) Auf der anderen Seite kann es aber
auch nicht das Ziel der Erziehung sein,
den Menschen an die betreffende Gesellschaft
anzupassen, denn wer wollte schon sein
Kind einer Lebensweise ausliefern, die
es nur unglücklich machen würde.
Zwischen
Natur und Gesellschaft besteht also
ein Widerspruch, der Rousseau teilweise
vorgeworfen wurde. Doch vielleicht ist
es so, daß dies kein Widerspruch in
der Konzeption von Erziehung ist, sondern
einer des realen Lebens. Wie läßt sich
Ursprünglichkeit, Menschlichkeit, Glück
unter den gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnissen erreichen? Und noch ein
weiterer Widerspruch tut sich auf: Das
Kind soll später als Erwachsener in
der Gesellschaft leben, und er muß durch
seine Arbeit aktiv Verantwortung übernehmen;
doch jetzt ist es Kind, und es muß die
Aufgaben seiner Kindheit erfüllen. Ziel
der Erziehung ist der Mensch, der in
der Gesellschaft lebt, ohne sich von
ihr abhängig zu machen, der in sich
selbst ruht, weil er sich zwar den sozialen
Notwendigkeiten ebenso beugt wie den
natürlich-physischen, aber in dieser
Abhängigkeit nicht das Wesentliche seiner
Person betrachtet.
„Vor
der Berufswahl der Eltern
beruft ihn die Natur zum menschlichen
Leben. Leben ist der Beruf,
den ich ihn lehren will. Wenn
er aus meinen Händen kommt,
so wird er, ich gestehe es,
weder eine Gerichtsperson
noch ein Soldat oder ein Priester
sein. Er wird zuerst ein Mensch
sein; alles, was ein Mensch
sein muß, das wird er im Notfalle
ebenso gut sein wie jeder
andere; und das Schicksal
kann ihn ruhig seinen Platz
verändern lassen; er wird
stets an seinem sein. ...
Wenn man aber die Veränderlichkeit
der menschlichen Verhältnisse
ansieht, wenn man den unruhigen
und aufrührerischen Geist
dieses Jahrhunderts ansieht,
welcher bei jedem neuen Geschlecht
alles um und um stürzt, kann
man sich da wohl eine unvernünftigere
Art und Weise vorstellen,
als daß man ein Kind so erzieht,
als ob es niemals aus seinem
Zimmer kommen sollte, als
ob es stets von seinen Leuten
umgeben sein müßte? ... Man
denkt nur daran, sein Kind
zu erhalten; das ist nicht
genug. Man muß es auch lehren,
sich zu erhalten, wenn es
erwachsen ist, die Schläge
des Schicksals zu ertragen,
dem Reichtum und der Armut
zu trotzen, auf Islands Eisschollen
oder auf Maltas glühenden
Felsen zu leben, wenn es sein
muß.“ (S. 16f)
|
Was
ist der Zielpunkt, wenn wir den bei
sich selbst bleibenden Menschen in der
Gesellschaft betrachten? Wesentliches
Merkmal der Gesellschaft ist ihr Wandel,
und scharfsinnig sieht Rousseau die
kommende Französische Revolution voraus:
„Wir
nähern uns dem Zustand der Krise und
dem Jahrhundert der Revolutionen.“
(S. 234f) Weil die gesellschaftlichen
Verhältnisse sich ändern, kann das Ziel
der Erziehung nicht darin bestehen,
nur auf die Gesellschaft vorzubereiten
(denn wer weiß schon, was die Zukunft
dieses Kindes bringen wird). Sondern
es gilt, das Kind mit Fähigkeiten auszustatten,
damit es sich selbständig erhalten kann,
egal welches Schicksal ihm beschieden
sein wird. Der Primat der „Menschenerziehung“
vor der „Berufserziehung“ begründet
sich nicht daher, daß der fiktive „natürliche“
Mensch sich diesen gesellschaftlichen
Aufgaben entziehen dürfe; vielmehr ist
für Rousseau „jeder
müßige Bürger ... ein Spitzbube“
und der „von
Renten“ lebende Schmarotzer unterscheidet
sich in seinen Augen „wenig von einem Straßenräuber, der auf Kosten der Reisenden lebt“
(S. 235). Das Ziel der Erziehung liegt
deshalb in der allgemeinen Menschenbildung
und nicht in der gesellschaftlichen
Vorbereitung, weil das Kind fähig werden
muß, sich den Wechselfällen der Geschichte
zu unterwerfen, um „dem Schicksal zum Trotz ein Mensch“ zu
bleiben (S. 235).
Zwischen
dem natürlichen Ausgangspunkt des Menschen
bei der Geburt und dem Zielpunkt des
distanzierten Einpassens in die Welt
liegt eine große Wegstrecke, die in
dem Erziehungsprozeß zurückgelegt werden
muß. Vielleicht kennzeichnet nichts
so prägnant die Erziehungsvorstellung
Rousseaus wie sein Appell an die Mutter:
„Baue
beizeiten einen Zaun um die Seele deines
Kindes“ (S. 10). Erziehung ist nicht
das Machen des Kindes durch den Erwachsenen,
sondern die Stütze, die er in dem Prozeß
der Selbstwerdung dem Kinde bietet.
Deshalb kann Rousseau von dem Erzieher
fordern, er müsse “sich
erst selbst zum Menschen gemacht haben“
bevor er einen Menschen bilden könne:
„Man muß in sich das Beispiel finden, das er
sich vorsetzen soll.“ (S. 90) Mit
einer paradoxen Formulierung umschreibt
Rousseau, wie die Erziehung im Spannungsfeld
von Aktivität und Passivität des Erwachsenen
einzuordnen ist: „Was
haben wir zu tun? ... Ohne Zweifel sehr
viel; nämlich zu verhindern, daß etwas
getan werde.“ (S. 15) Und je jünger
die Kinder sind, desto wichtiger ist
ihm der Grundsatz: „nicht, Zeit zu gewinnen, sondern sie zu verlieren“
(S. 87). Rousseau bezeichnet seine Erziehungskonzeption
mit dem mißverständlichen Begriff der
„negativen Erziehung“. Wir werden darauf
zurückkommen, wenn wir jetzt die Ausgestaltung
des Verhältnisses von Erwachsenen und
Kindern in den einzelnen Entwicklungsphasen
betrachten.
·
Das Säuglingsalter
Der
Empfang des Neugeborenen auf dieser
Welt ist wie der weitere Fortgang seines
Lebens: ein Zustand der „Sklaverei“:
„Bei seiner Geburt steckt man ihn in eine Windel;
bei seinem Tode nagelt man ihn in einen
Sarg; solange er die menschliche Gestalt
behält, ist er durch unsere Konventionen
gefesselt.“ (S. 17) „Schmerz“
und „Pein“, „Hindernisse“, „Fesseln“,
„Marter“ - das erwartet ein Kind auf
dieser Erde. Um hier einen Kontrapunkt
zu setzen, empfiehlt Rousseau sein Gegenprogramm:
das Kind soll nicht fest gewickelt werden,
damit sein natürlicher Bewegungsdrang
Raum zur Entfaltung hat: Der Tatendrang
des Kindes soll nicht gebremst werden,
auch wenn es Dinge zerstört, weil dies
nicht Ausdruck einer „bösen“ Handlung
ist, hat es doch noch keine Vorstellung
von gut und böse und kann deshalb nicht
im moralischen Sinne handeln. Vielmehr
ist es in der Natur immer so, daß „das Tun, das etwas bildet, allezeit langsam ist“, während das Tun,
„welches
zerstört, geschwinder ist“ (S. 53f)
Also richte man die Umgebung des kleinen
Kindes so ein, daß es sich frei entfalten
kann, ohne wertvolle Dinge zu zerstören;
und man gebe ihm einfaches Spielzeug
und keine aufgeblasenen Luxusartikel.
Die Hinweise Rousseaus zur körperlichen
Erziehung der kleinen Kinder bieten
nichts Neues, wenn wir sie mit den Vorschlägen
John Lockes vergleichen. Dies gilt auch
für seine Polemik wider den Arzt und
für sein Abhärtungsprogramm: Man gewöhne
die Kinder langsam daran, daß man sie
„winters
wie sommers in kaltem, ja sogar eiskaltem
Wasser waschen kann“. (S. 42)
Das
kleine Kind ist - und es wird es auch
noch in der nächsten Phase bleiben -
ein Mensch, der seine Umgebung durch
die Sinne und die Bewegung aufnimmt.
Diese hat man zu fördern, indem man
der Bewegung ungehinderten Raum gibt,
indem man die Hände alles berühren läßt,
und indem man die Sinneseindrücke „in
einer schicklichen Ordnung vermittelt“
(S. 48f). Gift für die frühkindliche
Erziehung ist es dagegen, die Kinder
„unaufhörlich
durch einen Schwall unnützer Wörter“
(S. 57f) zu betäuben. Das kleine Kind
kann die Wörter nicht verstehen, und,
was noch schlimmer ist, es wird ihnen
deshalb einen falschen Sinn geben.
„Der
Sinn dieser Regeln (zur frühkindlichen
Erziehung, S.H.) ist, den
Kindern mehr wahre Freiheit
und weniger Herrschaft zuzugestehen,
sie mehr aus sich selbst tun
zu lassen und weniger von
anderen zu fordern. Da sie
sich also beizeiten gewöhnen,
ihre Wünsche nach ihren Kräften
einzuschränken, werden sie
die Beraubung dessen wenig
empfinden, was nicht in ihrer
Macht steht.“ (S. 55)
|
Wir
sprachen oben davon, daß das Gleichgewicht
von Bedürfnis und Kraft der Schlüssel
sei, um die Erziehungsvorstellungen
Jean-Jacques Rousseaus zu verstehen.
Der Säugling ist schwach, weil er seine
lebenswichtigen Bedürfnisse nicht selbst
erfüllen kann. Er ist angewiesen auf
die Hilfe der Erwachsenen, deren Aufgabe
es ist, das Kind stark und frei zu machen.
Doch wenn sie allzu eilfertig mit der
Bedürfnisbefriedigung sind, wenn jedes
Weinen des Kindes durch Handlungen der
Erwachsenen sofort abgestellt wird,
dann werden aus den „Bitten“ der Kinder „bald Befehle“ (S. 52). Das Kind wird nicht glücklich dadurch, denn
seine Bedürfnisse werden künstlich gesteigert,
und es wird schwächer, weil es zunehmend
mehr von den Erwachsenen abhängig ist.
Es gilt deshalb bezüglich der Wünsche
der Kinde, die sie nur durch Schreien
zum Ausdruck bringen können, gut zu
unterscheiden, „was
unmittelbar der Natur und was der Einbildung
entspringt“ (S. 55).
In
allen Dingen ist das kleine Kind abhängig
von der Hilfe durch die Erwachsenen,
und es ist für Rousseau kein Zweifel,
daß diese Aufgabe nicht irgendwelche
„Bezugspersonen“ erfüllen können, sondern
daß sie der Mutter und dem Vater obliegen.
Alle Kritik an der Selbstentfremdung
des Menschen in der Gesellschaft fließt
in diesem Punkt zusammen: Weil die Mutter
und der Vater ihre von der Natur aufgegebenen
Verpflichtungen nicht annehmen, sondern
ihre Kinder verstoßen und beispielsweise
zur Amme abschieben, zerfällt die Familie:
„Es
gibt weder Väter noch Mütter, noch Kinder,
noch Brüder, noch Schwestern mehr“
(S. 22), und mit dem Auseinanderbrechen
der Familie zerfällt die sittliche Ordnung
der Gesellschaft. Also gilt es den Gegenweg,
der der Weg der Natur ist, einzuschlagen:
Die Mütter stillen ihre Kinder selbst,
„das
Lärmen der Kinder ... wird angenehm“
(S. 22), die Liebe der Eheleute wird
fester, der Mann achtet seine Vaterschaft
(„Wie
die Mutter die wahre Amme ist, so ist
der Vater der wahre Lehrmeister“,
S. 26) wieder hoch, die Familie wächst
zusammen, von den Außenstehenden wird
die glückliche Familie geachtet und
schließlich färbt das Glück der Familie
auf die Gesellschaft ab. Die Forderung,
die Mütter sollten ihre Kinder selbst
stillen, haben wir schon bei Comenius
gefunden, und das Bild der glückliche
Familie zeichnete auch Martin Luther.
Dies ist nicht neu; aber neu ist die
Zeit, in die Jean-Jacques Rousseau es
hineinsagt, und neu ist auch die Emotionalität,
mit der er es sagt. Er begründet das,
was man später „bürgerliches Familienideal“
nennen wird - erst programmatisch positiv,
dann im Zuge der Frauenemanzipation
des späten 20. Jahrhunderts negativ
als Unterdrückung und Einschließung
der Frau. Doch für Rousseau ist dies
kein „bürgerliches“ Familienidyll -
wie sollte dies auch bei einem Menschen
sein, bei dem die Verbindungen mit „bürgerlich“
so negativ gefärbt sind -, sondern es
ist eine Forderung der Natur, von der
die Menschen auf Grund des Druckes gesellschaftlicher
Vorurteile so weit abgewichen sind.
·
Das Kind von
2 bis 10 (12)
Die
wichtigste pädagogische Forderung Rousseaus
ist die nach Kindgemäßheit, nach Beachtung
der Aufgaben, die auf Grund des natürlichen
Entwicklungsprozesses in einer bestimmten
Phase im Vordergrund stehen: „Man muß den Mann im Manne und das Kind im Kinde betrachten.“ (S. 68)
Die Kindheitsphase, so kann man zunächst
negativ sagen, ist nicht die Zeit der
Vernunft und es ist nicht die Zeit der
Moral. Das Kind im ersten Jahrzehnt
ist ein unvernünftiges und ein unmoralischer
Mensch. Weil das Kind keine sittlichen
Vorstellungen hat, wird es sein Verhalten
nicht im Sinne eines Maßstabes von Gut
und Böse steuern können. Es kann - wie
Rousseau an einem Beispiel zeigt - im
eigentlichen Sinne nicht lügen. Ein
Kind, das im freien Verkehr mit seinem
Erzieher lebt, hat keinen Grund, etwas
zu verbergen. Weil es keine Angst vor
Strafen hat, wird es das sagen, was
es sagen will. Es braucht sich nicht
zu verstecken. Nur wenn ein Kind durch
seinen Erzieher zur „Wahrheit“ angestachelt
wird, wenn es im negativen Fall bestraft
wird, dann muß es versuchen, sich zu
verstecken, und darum sind die „Lügen der Kinder insgesamt das Werk der Erzieher“ (S. 101). Weil das
Kind noch auf einer vormoralische Stufe
steht, macht auch die „Züchtigung“ keinen
Sinn.
Das
Kind im ersten Jahrzehnt hat auch noch
keine „Vernunft“, d.h. es kann nicht
Urteile über Gegebenheiten abgeben,
in denen es verschiedene sinnliche Gegebenheiten
miteinander vergleichen und sprachlich
zum Ausdruck bringen muß. Auf Grund
des Druckes, den ein Erwachsener auf
das Kind ausübt, kann dieses zwar gezwungen
werden, den Anschein zu erwecken, als
urteile es selbständig; in Wirklichkeit
aber plappert es nur die Worte der Erwachsenen
nach. Aber genau darin liegt die Gefahr:
Das Kind paßt sich der Autorität des
Erziehers an, es meint etwas zu verstehen,
was es in Wirklichkeit noch nicht versteht.
Hat es sich einen hinreichenden Fundus
an Scheinwissen angeeignet, so unterliegt
es den Irrtümern der Vorurteile anderer.
Auch später noch wird es nicht selbst
denken, sondern denken lassen. „Von dem ersten Wort an, womit sich ein Kind abfinden läßt, von der ersten
Sache an, die es auf das Wort eines
andern hin lernt, ohne selbst den Nutzen
davon zu sehen, ist seine Urteilskraft
verloren.“ (S. 114f) Der Appell
an den Erzieher kann deshalb nur lauten:
„seid vernünftig, und vernünftelt nicht mit eurem Zögling“ (S. 88).
Weil Rousseau das verbale Lernen aus
der Kindheitsstufe verbannen möchte,
wendet er sich gegen die Bücher: „Das
Lesen ist die Geißel der Kindheit“
(S. 122). Nicht in der Welt des Papiers
soll das Kind sich bewegen - bzw. stillstehen
-, sondern in der realen Welt. Es soll
lesen im „Buch der Natur“.
Das
bisher dargestellte ist der negative
Pol: „die Kindheit (ist) der Schlaf der Vernunft“ (S. 107f), und der Erzieher soll sich hüten,
diesen zu stören. Er soll der Kinder
„Seele in Ruhe“ (S. 88) lassen, damit die Natur aus sich heraus wirken
kann. Jean-Jacques Rousseau nennt dies
„negative Erziehung“: „das Herz vor dem Laster und den Verstand vor
dem Irrtum“ (S. 88) zu bewahren.
Für das Kind als vormoralischer und
noch nicht vernünftiger Mensch wäre
eine frühzeitige Unterrichtung ein gefährliches
Unterfangen, gerade weil es von so großer
Lernbereitschaft scheint. Da es sich
der Autorität des Erziehers unterordnet,
werden nicht nur keine, sondern falsche
Begriffe in seinen Kopf hineingeraten.
Wenn es später die sittlichen und vernünftigen
Begriffe richtig erlernen könnte, müßte
es die falschen, frühzeitig erworbenen
aus seinem Kopf verbannen, ein schwieriges
Unterfangen angesichts der Zähigkeit
erster Prägungen. Deshalb ist es letztendlich
effektiver, die Unterweisungen aufzuschieben.
„Menschen,
seid menschlich ... Liebt
die Kindheit, fördert ihre
Spiele, ihre Vergnügungen,
ihren liebenswürdigen Naturtrieb!
Wer von euch hat nicht zuweilen
dieses Alter beneidet, wo
das Lachen stets auf den Lippen
und die Seele stets im Frieden
ist? ... Warum wollt ihr mit
Bitterkeit und Schmerzen diese
ersten, dahineilenden Jahre
anfüllen, die für sie ebensowenig
wiederkommen werden, wie sie
für euch zurückkommen können?
... Sobald sie die Freuden des Daseins empfinden können, so macht, daß sie
sie genießen; macht, daß,
zu welcher Stunde sie Gott
auch abruft, sie nicht sterben,
ohne das Leben genossen zu
haben.“ (S. 67)
|
Da
aber ein Kind in seiner Umwelt immer
wieder dem Druck der Vorurteile ausgesetzt
ist, hat „negative Erziehung“ neben
dem einen Aspekt - „im Nichtstun alles zu tun“ (S. 126f) noch
einen weiteren: nämlich zu verhindern,
daß andere etwas an dem Kind tun. Als
Hilfsargument führt Rousseau an dieser
Stelle die Individualität des einzelnen
Kindes an: „Ein
jeder Geist hat seine eigene Art und
Weise, nach welcher es gelenkt werden
muß“ (S. 89). Da der Erzieher diese
Besonderheit des konkreten Kindes noch
nicht kennt, würde ein frühzeitiges
Handeln seinerseits die Gefahr in sich
bergen, daß er das Falsche unternimmt.
Also ist es besser, zunächst zuzuwarten,
damit sich die natürliche Individualität
entfalten und nach Außen zeigen kann,
auf deren Erscheinen hin man erst pädagogisch
richtig handeln kann. Wie gesagt, dies
ist ein Hilfsargument, auch deswegen,
weil Rousseaus Erziehungskonzeption
wenig an der Einmaligkeit des einzelnen
Kindes ausgerichtet ist als vielmehr
an der Natur des Gemeinsamen einer bestimmten
Entwicklungsstufe von Kindern.
„Junger
Lehrmeister, ... Sie werden es niemals
so weit bringen, daß Sie Weise schaffen,
wenn Sie nicht zunächst Gassenbengel
geschaffen haben.“ (S. 126f) Es
gibt also doch etwas Positives in der
Erziehung zu tun: einen „Gassenbengel“
zu bilden. Dieser Ausdruck ist gar nicht
so schlecht, das zu bezeichnen, was
im Hinblick auf die spätere Vernunft
und Moral dem Erzieher obliegt. Es gilt
in dem Kind „die Werkzeuge unserer Intelligenz“ (S.
135) auszubilden, und dies meint, seine
Sinne zu schulen, seinen Bewegungen
Aktivitätsanreize zu bieten und seine
Hände arbeiten zu lassen. In der unmittelbaren
sinnlichen Aktivität - zu handeln, nicht
schwatzen - und in der Beschränkung
auf den nahen Lebensraum des Kindes
liegen die beiden Hauptkriterien einer
dem Kindesalter angemessenen Didaktik.
Das, was das Kind unmittelbar berührt,
dasjenige, womit es eigenhändig umgehen
kann, dasjenige, was als Bedürfnisse
sein Alltagsleben bestimmt, gilt es
pädagogisch zu gestalten. In diesem
Nahraum des unmittelbaren Erlebnisses
ist es auch schon zu „Urteilen“ fähig,
da es an der Befriedigung der Bedürfnisse
interessiert ist und die Sinnhaftigkeit
des Handelns begreifen kann, wie Jean-Jacques
Rousseau es am Beispiel des Begriffs
des „Eigentums“ zeigt.
Aus
dieser „Lektion“ - es geht um den Erwerb
eines Stücks Gartenland, damit Emile
seine eigenen Bohnen pflanzen kann -
läßt sich auch das methodische Grundprinzip
der Erziehung des Kindes aufzeigen:
So wie das Kind nicht lernen soll zu
schwatzen, sondern tätig zu sein, so
soll auch das Handeln des Erziehers
„mehr in Taten als in Reden bestehen“
(S. 97). Es gilt, Handlungsarrangements
herzustellen, in denen ein Kind praktische,
sinnliche Erfahrungen machen kann. Viele
der Beispiele, die Rousseau zur Konkretisierung
ausführt, wirken stark konstruiert,
und in ihnen erscheint der Erzieher
mehr wie ein „Gott“, der alles voraussehen,
vorausberechnen und im voraus arrangieren
kann. Doch die Bedeutung für heute scheint
darin zu liegen: Solche pädagogischen
Handlungssituationen ergeben sich nicht
spontan, sondern sie sind vom Erzieher
bewußt zu planen und herzustellen.
Das
soll das Kind in diesem Alter tun: „er arbeite, er betätige sich, er laufe, er schreie, er sei stets in Bewegung:
er sei der Kraft nach ein Mann, und
er wird es auch bald der Vernunft nach
sein“ (S. 124). Die für dieses Alter
zentralen Leibesübungen sollen nicht
im Sinne einer Künstlichkeit und Disziplinierung
des Körpers vermittelt werden. „Ich
würde viel eher einen Nacheiferer der
Gemsen als einen Operntänzer aus ihm
machen“ (S. 156) - dies sagt Rousseau
als Abschluß eines Beispieles, indem
er mit Emile, „anstatt ihn ewig mit Herumgehopse zu beschäftigen“
(S. 156) lieber einen steilen Felsen
erklimmt. Man kann das in Zeiten von
Psychomotorik und Snoezelen und ähnlich
Gekünsteltem als heilsame Provokation
sehen: Lernen in der Natur und Lernen
an tatsächlichen Herausforderungen des
Lebens.
Der
„Gassenbengel“ als das Positivbild der
Erziehung in der Kindheit läßt sich
auch auf die zurückhaltende Vorbereitung
des sittlichen Bereiches beziehen. Ein
Kind soll die Begriffe von „Gehorsam“
und „Befehl“ nicht kennen, nicht in
der passiven Form, daß es dem Erwachsenen
gehorche und seine Befehle entgegennähme,
aber auch nicht in der aktiven Form,
daß es dem Erzieher befiehlt. Denn das
ist ein sicheres Mittel, das „Kind elend zu machen“: wenn man „es gewöhnt, alles zu erhalten“ (S. 78). „Schwachheit (und wir erinnern uns: Rousseau bezeichnet das Kind im
Sinne des Verhältnisses von Kraft und
Begierde als natürlich schwaches Wesen;
S. H.) mit
Herrschsucht vereint bringt nur Torheit
und Elend hervor.“ (S. 80)) Und
er konkretisiert am Beispiel von Kindern,
die aus Frustration den Tisch schlagen
oder das Meer auspeitschen: „Sie
werden viel zu peitschen und zu schlagen
haben, ehe sie zufrieden sind.“
(S. 80) Es macht pädagogisch keinen
Sinn, dem Kind in allem seinen Willen
zu lassen, ja sogar durch die Dienstwilligkeit
der Erwachsenen die kindlichen Wünsche
immer mehr auszudehnen. Es macht andererseits
aber auch keinen Sinn, das Kind den
Launen und der Willkür der Erwachsenen
zu unterwerfen (und beide Handlungen
gehen sehr gut zusammen: Kinder dürfen
sehr viel und immer mehr - solange der
Erzieher gute Laune hat, doch wenn seine
Stimmung umschlägt, wenn der Kopfschmerz
angesichts des kindlichen Tumultes sich
meldet, dann bitte schön ...). An seiner
eigenen Krankengeschichte hat Jean-Jacques
erfahren, und er hat es zu einem Hauptbestandteil
seiner Lebensphilosophie gemacht: es
lohnt sich nicht, sich gegen die „Notwendigkeit“
aufzulehnen. Auch das Kind soll „über seinem stolzen Haupte das harte Joch, welches die Natur dem Menschen
auflegt, das schwere Joch der Notwendigkeit,
unter das sich ein jedes endliche Wesen
beugen muß“ (S. 84) fühlen. Diese
„Notwendigkeit“ muß jedoch für das Kind
„in
der bloßen Abhängigkeit von den Dingen“
(S. 76) und „niemals
in der Laune der Menschen“ (S. 84f)
liegen. Emile muß deshalb als erstes
das „Leiden“ lernen. Der „Gassenbengel“,
der rennt, klettert, springt, wird sich
Beulen zuziehen. Er muß lernen, sie
zu ertragen, ohne daß sein Aktivitätsdrang
dadurch gehemmt würde. Leiden zu lernen,
steht also nicht zu dem im Widerspruch,
was die Hauptaufgabe der Kindheitsstufe
ist: glücklich zu leben.
·
Das Kind von
10(12) bis 15
In
der präzisen Beschreibung der Lebensphase,
die der Kindheit folgt und der vorangeht,
die „Pubertät“ zu nennen wir uns angewöhnt
haben, liegt eine der großen Stärken
des „Emile“ von Rousseau. Zum ersten
und auch von Natur aus zum einzigen
Mal ist der Mensch hier wirklich stark.
Das Kind im ersten Jahrzehnt ist schwach,
weil seine Fähigkeiten noch nicht so
weit gediehen sind, daß es seine notwendigen
Bedürfnisse selbst befriedigen kann;
der Jugendliche wird schwach werden,
weil seine entkeimende Sexualität die
Begierden ins Unermeßliche treiben wird.
In der Zeitspanne jedoch, die Rousseau
zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr
ansetzt, hat das Kind einen Überschuß
an Kräften. Zuvornehmst gilt dies für
die körperlichen, die es sich in seiner
Kindheit angesammelt hat. Die Zeit gilt
es zu nutzen, um im voraus Kräfte weiterzuentwickeln,
die im Jugendalter dringend benötigt
werden. „Das starke Kind“, so sagt Rousseau, „wird einen Vorrat für den schwachen Menschen
anschaffen; es wird ... seine Waren
... in seinen Armen, in seinem Kopfe,
in sich selbst beherbergen.“ (S.
192) Das Lernen, das man vielleicht
bisher vermißt haben wird, hat jetzt
seine Zeit - doch Vorsicht, auch in
dieser Phase geht es nicht um Schulweisheit,
wie wir gleich sehen werden.
Es
mag der Gedanke aufkommen, daß eine
solche Charakterisierung von 14jährigen
eine romantische Verkennung der Wirklichkeit
sei - wie viele von ihnen wissen über
Sexualität bereits alles, haben ihre
erste Zigarette geraucht, Alkohol getrunken
und kennen sich mit allen Schlechtigkeiten
bestens aus. Aber gerade deshalb mag
die Konzeption Rousseaus eine heilsame
Provokation sein: Vom Fernsehen über
alles im Bereich der Sexualität informiert
zu sein, mit Mausklick via Internet
die ganze Welt auf den Bildschirm des
Computers zu holen, durch den Zwang
der Cliquenkonvention in ein Verhalten
sich einzuüben, das man für erwachsen
hält - all dies kann ein Kind sehr einsam
machen, wenn das Gefühl dem nicht nachkommt.
Alles über den Geschlechtsakt zu wissen,
wird die Angst erhöhen, wenn man zum
ersten Male liebt. Man glaubt zu wissen,
aber man versteht nichts, und um keinen
Preis darf man sein Nichtwissen den
anderen zeigen, will man nicht riskieren,
als nicht-dazugehörig ausgeschlossen
zu werden. Auf jeder Stufe ganz das
sein zu dürfen, was diese Stufe fordert
- dies ist der Anspruch Rousseaus, der
die Entwicklungsphasen des Menschen
nicht an dem orientiert, was zu sein
scheint, sondern an dem unveränderlichen
Plan der Natur.
Die
Phase des Lernens ist kurz, und die
Zeit muß deshalb genutzt werden. Wichtig
ist also, den Kreis des Wissens zu begrenzen,
und Rousseau bietet einige Kriterien
der Reduktion an. Zunächst einmal soll
das Kind weiterhin nichts von dem erfahren,
was die Bereiche der Moral und der Gesellschaft
angeht, denn es ist unverändert noch
kein sittliches und soziales Wesen.
Die entsprechenden Fähigkeiten entfalten
sich erst in der folgenden bzw. übernächsten
Entwicklungsstufe. Lernen soll das Kind
des weiteren nicht den ganzen Ballast
des Wissens, der keine praktische Bedeutung
hat, sondern nur Zierrad eines stolzen
Menschen ist. Der „Nutzen“, den das
Wissen hat, ist das ausschlaggebende
Kriterium, und nach der Erfahrung der
„Notwendigkeit“, die das Kind auf der
letzten Stufe gespürt hat, ist die jetzt
erlebte „Nützlichkeit“ das zweite Grundprinzip,
das das Kind der Sittlichkeit näherbringt.
„Nützlich“ meint jedoch nicht die Vorstellung
des Erwachsenen, der zu einem Kind sagt,
es werde später noch sehen, wozu das
Ganze gut gewesen sei, sondern das Kind
selbst muß von der Brauchbarkeit hier
und jetzt überzeugt sein. Ausgeschlossen
wird weiterhin alles Bücherwissen: „Das
Kind, welches liest, denkt nicht, es
liest nur; er unterrichtet sich nicht,
es lernt nur Wörter.“ (S. 195) Die
Erziehung muß aber weiterhin an der
unmittelbaren Erfahrung mit den Dingen
ausgerichtet sein und darf sich nicht
als verbale Lehre verstehen: „mit
unserer schwatzhaften Erziehung machen
wir nur Schwätzer.“ (S. 212f) Ein
einziges Buch will Rousseau von diesem
Verbot ausnehmen, und das ist der „Robinson
Crusoe“. In dessen Situation, das eigene
Leben in der Abgeschiedenheit der einsamen
Insel selbst in die Hand zu nehmen,
kann das Kind sich wiederfinden.
Gelernt
werden soll schließlich weniger positives
Wissen als die Fähigkeit, sich selbst
Kenntnisse anzueignen: Das Kind „erlerne die Wissenschaft nicht, sondern er
finde sie“ (S. 195). Dies betrifft
zum ersten die Motivation des Lernens:
Überschütten wir ein Kind mit einer
Fülle von Informationen - begierig haben
wir auf die geringste Andeutung seiner
Frage gewartet, um unseren Lehrgang
folgen zu lassen -, dann wird die Neugierde
des Kindes abgeblockt. Demgegenüber
ist es aber ein wichtiges Ziel, die
Quelle des Wissenserwerbs anzuregen,
nicht sie zuzuschütten. Der Erzieher
stelle deshalb nur selten, dann aber
gezielte und kurze Fragen an das Kind,
die diese zum eigenen Nachdenken anregen.
Auch wenn es sich bei seinen Antwortversuchen
irren sollte, korrigiere man es nicht
zu schnell, damit die Motivation wachgehalten
wird, daß das Kind den Fehler selbst
entdeckt. Umgekehrt soll der Erzieher
auch bei der Beantwortung der Fragen
des Kindes zurückhaltend sein: Man antworte
ihm „so viel, wie nötig ist, seine Neugier zu nähren, und nicht sie zu sättigen“
(201).
Das
Finden der Wissenschaft meint zum zweiten,
daß man dem Kind die Methode vermittelt,
mit der es sich selbst Wissen aneignen
kann, wenn es in die Situation gelangen
wird, dieses zu benötigen. Und schließlich
meint die Wissenschaften zu finden auch,
sich die Instrumente selber zu konstruieren,
die man zum Wissenserwerb benötigt.
Eine schon vor der Zeit vorhandene Ausstattung
mit didaktischen Apparaturen verhindert
die Entwicklung des ersten notwendigen
Schrittes: das Bedürfnis für ein solches
Hilfsmittel selbst zu spüren. Ich muß
zunächst ein Problem haben, um die Technik
sinnvoll nutzen zu können. Die Überfülle
an Apparaturen lässt überdies die Kräfte
der eigenen Sinnesorgane verkümmern:
man sieht, hört, riecht schlechter,
wenn der Ausschlag der Nadel an dem
messenden Instrument die eigene Wahrnehmung
ersetzt. „Weil wir so viele Hilfsmittel um uns herum
versammeln, finden wir keine mehr in
uns selbst.“ (S. 208)
Jean-Jacques
Rousseau hat einige Beispiele sinnvoller
Lehrsituationen ausgestaltet, die nicht
als zu kopierende „Musterstunden“ einer
Didaktik und Methodik des späten Kindesalters
verstanden werden können, sondern Illustrationen
seiner Pädagogik sind. Das Beispiel
vom Verlieren im Wald sei hier angeführt.
Emile und Jean-Jacques beschäftigen
sich mit der Astronomie und Bestimmung
der Himmelsrichtungen, bis der Zögling
auf den Gedanken kommt zu fragen, wozu
das nütze sei. Wird der Erzieher jetzt
mit einem wohlausgewogenen Vortrag antworten,
würde er sein ganzes „Wissen
eines wahren Pedanten“ (S. 214)
ausbreiten, dann verstünde Emile nichts
von alledem. Also muß man die Situation
anders gestalten: Emile und Jean-Jacques
haben gelernt, daß der Wald im Norden
von Montmorency liegt, jetzt gehen sie
dorthin spazieren. Sie laufen so lange
umher, bis sie sich schließlich verirren.
Emile wird ungeduldig, vor allem weil
der Hunger ihn treibt, und es nur in
der Stadt etwas zu essen gibt. Er weint.
Jean-Jacques erinnert ihn an das Gesetz
der Notwendigkeit: Er würde ja auch
weinen, wenn er seine „Tränen frühstücken könnte“. Doch das „Mittagbrot (wird) nicht kommen und mich hier suchen“ (S. 215). Also hilft nur ruhiges
Überlegen weiter: Wenn der Wald im Norden
von Montmorency liegt, dann muß der
Ort im Süden von uns sein. Es ist die
Mittagsstunde, und mit Hilfe des Sonnenstandes
und des Schattens läßt sich die Himmelsrichtung
ausmachen. In der Tat: Sie folgen dem
Plan, erreichen in kurzem Stadt und
Mittagessen. Durch dieses Erlebnis hat
Emile seine Frage, wozu das nutze sei
(die wichtigste Frage dieser Altersstufe),
beantwortet bekommen, und nur für den
pedantischen Erzieher fügt Rousseau
den Hinweis hinzu, daß er nicht vor
dem Kind die Moral der Geschichte aussprechen
dürfe.
Was
soll das Kind in dieser Altersstufe
lernen? In gewisser Hinsicht ist der
Bildungsgang dem entgegengesetzt, der
bisher galt. Ist für das erste Jahrzehnt
eine strikte Orientierung an dem Nahen,
Handgreiflichen geboten, so gilt es
jetzt, zu den Sternen zu greifen. Die
Astronomie ist deshalb das erste, gefolgt
von der Geographie und Physik. Nicht
auf dem „Stundenplan“ steht Geschichte,
Religion und alles, was mit dem Studium
des Menschen zusammenhängt. Im Verlaufe
der drei Jahre geht das Kind dann wieder
zu dem Näheren zurück. Es wird zwar
nicht in die Gesellschaft eingeführt,
aber es soll den Wert der Arbeitsteilung
spüren. Dies gelingt am besten, wenn
es die Wichtigkeit der einzelnen Arbeiten
einzuschätzen hat, wobei die Nützlichkeit
zur Befriedigung
grundlegender Bedürfnisse und
die Unabhängigkeit der Tätigkeit von
anderen die entscheidenden Kriterien
sind. Auch diese „Arbeitskunde“ geschieht
nicht als Wortlehre oder im Studio eines
didaktischen Arrangements, sondern im
alltäglichen Leben: Emile muß selbst
Hand anlegen, um das jeweilige Handwerk
zu begreifen. Nicht durch das Reden
über, sondern nur durch die Tätigkeit
im realen Vollzug lernt das Kind: „man bedenke, daß ihm eine Stunde Arbeit mehr
lehren wird, als er von den Erklärungen
eines Tages behalten würde“ (S.
222).
Nachdem
das Kind so einen Überblick über die
verschiedenen Arbeiten erworben hat,
soll es sich selbst ein Handwerk aussuchen,
daß es lernen möchte. Zwar gilt die
Regel, daß nicht der Erzieher für das
Kind die Arbeit wählt, sondern daß es
dies selbst tut, doch Jean-Jacques ist
sich sicher, daß Emile nicht die Luxushandwerke
eines Goldstickers, Musikers!, Bücherschreibers!
usw. berücksichtigen würde. So wählt
man schließlich das Tischlerhandwerk.
Erzieher und Zögling begeben sich gemeinsam
in die Lehre, die sie nicht „zum Spaß“
betreiben, und in der sie „nicht als Herren behandelt werden (wollen), sondern als echte Lehrlinge“ (S. 244). Die Notwendigkeit der Lehre
gilt auch für Kinder, die niemals in
ihrem Leben in diesem Beruf werden arbeiten
müssen; weil durch sie der Körper geschult
und die Fähigkeit der Bedürfnisbefriedigung
gesteigert wird. Die Ausbildung im Handwerk
macht darüber hinaus auch für die Zukunft
unabhängig, da man - welches Schicksal
einen auch ereilen mag - immer eine
Basis für das Überleben hat, kann man
sich die notwendigen Mittel doch durch
seiner eigene Hände Arbeit verschaffen.
Für das Kind und den Erwachsenen gibt
es in diesem Lehrprozeß unterschiedliche
Perspektiven, die Rousseau in einem
Grundsatz formuliert, der als Motto
über dem ganzen pädagogischen Prozeß
stehen könnte: „Das Kind muß ganz bei der Sache sein; wir aber müssen ganz bei dem Kinde
sein“ (S. 227).
·
Der Jugendliche
„.Wenn
aber seine Lebhaftigkeit gar
zu ungeduldig wird, wenn ein
hitziges Wesen sich in Wut
verwandelt, wenn er von einem
Augenblick zum andern sich
erzürnt und wieder sanftmütig
wird, wenn er ohne Ursache
Tränen vergießt, wenn bei
den Dingen, die gefährlich
für ihn zu werden anfangen,
sein Puls sich beschleunigt
und sein Auge sich entflammt,
wenn eine weibliche Hand,
die auf seiner liegt, ihn
erschauern läßt, wenn er in
der Gegenwart einer Frau verstört
oder furchtsam wird ...“ (S.
257)
|
Die
Zeit der Kindheit ist vorüber - sicherlich
ist der Zeitpunkt des Übergangs und
sind die Umstände, die mit dem Wechsel
verbunden sind, abhängig von der Kultur,
in der der Mensch groß wird, sehr unterschiedlich;
doch wann und wie auch immer; irgendwann
kündigt die „Natur“ des Kindes qualitative
Veränderungen an, auf die die Mitmenschen
und Erzieher zu reagieren haben. Mit
nebenstehenden Worten bezeichnet Jean-Jacques
Rousseau die Empfindungen des Menschen,
der „weder
Kind noch Mann“ ist, der „empfindlich
(wird), ehe
er weiß, was er empfindet“ (S. 257).
Das Verhältnis von Bedürfnissen und
Kräften ändert sich jetzt dramatisch,
weil eine Fülle neuer Begierden auf
den Jugendlichen einstürmen und er hinter
all den neuen Empfindungen nicht recht
hinterherzukommen weiß. Da der Bezugspunkt
der Pädagogik Rousseaus die Relation
von Fähigkeiten und Wünschen ist, und
da das Glück des Menschen nur im Falle
des Gleichgewichts der beiden Faktoren
erreichen werden kann, ergibt sich in
der Pädagogik des Jugendalters erneut
eine dramatische Veränderung in der
Bestimmung des pädagogischen Verhältnisses,
der erzieherischen Inhalte und der anzuwendenden
Methoden.
Die
Natur des Menschen ist gut - nichts
kann Rousseau von dieser Überzeugung
abbringen. Wie könnte dann das Erwachen
der „Leidenschaften“, die im Programm
der Natur vorgesehen sind und die jetzt
mit großer Heftigkeit nach außen drängen,
„böse“ sein? Gleichzeitig ist Rousseau
zu sehr Gesellschafts- und Kulturkritiker,
als daß er alle Erscheinungen des Menschen
unter dem Gesichtspunkt der guten Natur
betrachten könnte. So ist es auch mit
den Äußerungsformen des Gefühlslebens
des Jugendlichen. Ist nicht bereits
durch die falsche Erziehung während
der Kindheitsphasen vom natürlichen
Weg abgewichen worden, so werden die
Vorurteile der Umwelt durch die Anzeichen
des Neuen falsch geleitet. Ein Programm
der künstlichen Beschleunigung bewirkt,
daß die Bedürfnisse immer weiter ausgedehnt
und verzerrt werden. Die natürliche
„Eigenliebe“, nach der die erste Bestrebung
eines jeden Menschen in der Suche nach
dem eigenen Glück besteht, wird in die
„Selbstliebe“ („Selbstsucht“ Röhrs)
verwandelt, die von allen anderen fordert,
auch sie mögen unser und nicht ihr Glück
an die erste Stelle setzen. „Herrschsüchtig,
eifersüchtig, betrügerisch, rachgierig“
(S. 259) wird ein solcher Mensch werden.
Wie muß demgegenüber das Programm einer
Erziehung aussehen, das sich an dem
„Gang der Natur“ orientiert? In vier
Schritten entwickelt Rousseau seine
Empfehlungen zur Jugenderziehung.
1.
Schritt: Verzögerung. „Man
braucht Zeit und Kenntnisse, uns zur
Liebe fähig zu machen.“ (S. 260)
Dem starken gesellschaftlichen Druck
der Verfrühung, der den sexuellen Begierden
der Jugendlichen immer neue Anreize
verschafft, gilt es pädagogisch gegenzusteuern:
nicht möglichst schnell den Schritt
vom Kind zum Mann provozieren, sondern
„die Unschuld der Kinder“ (S. 262) möglichst
lange erhalten. Denn der Weg, den der
Jugendliche zurückzulegen hat, ist nicht
nur der Schritt der sexuellen Reife,
der erste Geschlechtsakt als Befriedigung
triebmäßiger Bedürfnisse, sondern es
gilt ein ausführliches Studium zu absolvieren,
um zur Liebe fähig und ein sittlicher
Mensch zu werden. Die Forderung nach
pädagogischer Langsamkeit hat Rousseau
bereits für die erste Kindheitsstufe
begründet. Sie ist danach durch eine
intensive Lernzeit, in der es die Zeit
gut zu nutzen galt, abgelöst worden.
Jetzt, für die erste Phase des Jugendalters,
gilt wiederum das Bemühen um Verlängerung:
„Dieses Alter dauert zu dem Gebrauch, den man davon machen soll, niemals
lange genug ... Eine der besten Vorschriften
der guten Erziehung ist, alles so lange
zu verzögern, wie es möglich ist. Man
mache die Fortschritte langsam und sicher;
man verhindere, daß der Jüngling in
dem Augenblick zum Mann wird, wo ihm
nichts mehr zu tun übrigbleibt, um es
zu werden.“ (S. 286f) Dieser pädagogischen
Forderung kommt der Erzieher zum ersten
dadurch nach, daß er den Ort, die Umgebung
und den Freundschaftskreis des Jugendlichen
sorgfältig auswählt: Nicht in der lärmenden
Großstadt Paris soll Emile diese Lebenszeit
verbringen, sondern in der ländlichen
Abgeschiedenheit; nicht in vergnügungssüchtigen
Gesellschaften, die die Begierden aufheizen,
soll er sich bewegen, sondern in kleinen
Kreisen wirklicher, einfacher Freundschaften.
Langsamkeit bewirkt der Erzieher zum
zweiten dadurch, daß er den Inhalt des
Studiums richtig auswählt: Nicht den
scheinbaren Glanz des prunkvollen, prahlerischen
Lebens soll Emile erfahren, sondern
es geht um das Studium des gemeinsam
Menschlichen, und da Leiden dasjenige
ist, dem kein Mensch in seinem Leben
ausweichen kann, soll Emile „Mitleid“
lernen. Nicht daß Rousseau wollte, der
Jugendliche solle zu einem „Krankenwärter“ oder „barmherzigen Bruder“ gemacht werden, nicht
darum geht es, „daß
man ihn von einem Siechen zum anderen,
von einem Spital ins andere und vom
Richtplatz ins Gefängnis“ (S. 285)
führe. Der Jugendliche soll in dieser
Zeit vielmehr an einigen Beispielen
das Leid von Menschen erfahren, indem
er zur Selbstbetroffenheit geführt wird.
Dies ist wichtig, weil ihm die Leiden
der anderen Menschen auch betreffen
oder betreffen könnten, und die Erfahrung
des Mitleids soll das moralische Gebot
des Engagements für die Mitmenschen
vorbereiten. Langsamkeit wird zum dritten
dadurch erreicht, daß das Verhältnis
des Jugendlichen zu dem Erzieher sich
verändert: Weil der Jugendliche in seiner
gesamten Kindheit erfahren hat, daß
der Erzieher um sein Wohl besorgt gewesen
ist, wird er jetzt Freundschaft zu ihm
verspüren, und die Freundschaft geht
nach Rousseau der gegengeschlechtlichen
Liebe voraus. Nicht indem der Erzieher
Freundschaft verbal predigt, sondern
indem der Jugendliche sie selbst erspürt:
„Wenn
Sie ihm Ihre Dienste rühmen, machen
Sie sich ihm unerträglich. Wenn Sie
sie vergessen, bewirken Sie, daß er
sich ihrer erinnert.“ (S. 290)
„Er
wisse, daß der Mensch von
Natur gut ist; ... er sehe
aber, wie die Gesellschaft
die Menschen verdirbt und
verkehrt ... er sei geneigt,
eine jede einzelne Person
hochzuschätzen, er verachte
aber die Menge; er sehe, daß
alle Menschen beinahe die
gleiche Maske tragen, er wisse
aber auch, daß es viel schönere
Gesichter gibt als die Maske,
welche sie bedeckt.“ (S. 294)
|
2.
Schritt: Menschenstudium. Der Jugendliche
soll in der Gesellschaft handlungsfähig
werden, denn es ist nicht das Ziel der
Pädagogik Rousseaus - wir haben das
schon des öfteren angeführt -, einen
„Wilden“, einen fiktiven „Naturmenschen“
zu erziehen. Weil andererseits eine
kritiklose Anpassung an die menschenverachtende
Gesellschaft nicht der Zielpunkt einer
Erziehung sein kann, die auf das Glück
des Kindes und Jugendlichen ausgerichtet
ist, ergibt sich die Frage, welche Stellung
der Mensch zu dem Leben seiner Zeit
einnehmen soll. Weil einerseits unbefragte
Teilnahme an dem gesellschaftlichen
Spiel nicht sinnvoll, andererseits ein
freies und unabhängiges Leben in der
Natur nicht möglich ist, muß der Jugendliche
den Menschen in seiner Doppelgestalt
studieren. „Bringe diese Gegensätze zusammen, liebe die
Natur, verachte die Meinung und lerne
den Menschen kennen.“ (S. 301) Für
das Studium des empirischen Menschen
bedarf es einer gewissen Distanzierung,
damit der Gefahr eines Hineintreibens
in den Strudel gesellschaftlichen Vergnügens
gesteuert wird. Für Rousseau wird dies
durch das Studium der Geschichte erreicht,
durch das Emile die Vielfältigkeit menschlichen
Lebens, die Verwicklung menschlicher
Schicksale erfahren kann. Durch diese
Distanzierung ist die Gefahr nicht so
groß, daß der Jugendliche durch die
Teilhabe am gesellschaftlichen Verkehr
völlig verdorben würde. Aber auch an
diesem kritischen Punkt der Erziehung
soll er nicht durch wortreiche Erklärungen
die Moral erlernen: Er soll vielmehr
in „die
Gefahr laufen“ (S. 306) - allerdings
auch hier mit wohlwollender Begleitung
seines Erziehers -, um die Hinterlistigkeiten
und Betrügereien am eigenen Leibe zu
spüren. Wichtig ist also, daß man dem
Jugendlichen das Recht einräumt, Fehler
machen zu können. Hat er so den „Menschen
in der Maske“ studiert, so wird er angesichts
des Kontrastes zu der bisher von ihm
empfundenen positiven Menschlichkeit
nur zu einem negativen Urteil des empirischen
Menschen und seiner Verhältnisse gelangen
können. Jetzt gilt es nur noch seiner
Hoffärtigkeit vorzubeugen, sich als
moralisch Überlegener zu fühlen. Neben
dem Studium der Geschichte und der aktiven
Teilhabe am gesellschaftlichen Spiel
ist die „Übung
der Tugend“ (S. 313) das dritte
Element in der zweiten Etappe der Erziehung
im Jugendalter. Emile, der das Mitleiden
gelernt hat, soll durch „aktive Nächstenliebe“
sich anderen Menschen zuwenden, indem
er Hand anlegt, um Menschen mit Problemen
zu helfen,.
3.
Schritt: Religiöse Erziehung. Rousseau
wendet sich mit Heftigkeit gegen eine
religiöse Erziehung im Kindesalter.
Weil die Kinder noch keine Vernunft
haben, können sie ein Reden über Gott
nicht verstehen, und sie würden ihr
Gottesbild an dem orientieren, was sie
kennen: die Stärke des Vaters beispielsweise.
Habe sich aber erst einmal ein falsches
Urteil im Kopf des Kindes festgesetzt,
so würde es späterhin nur sehr schwer
möglich sein, dieses Vorurteil zu korrigieren
und ein Gottesbild zu entwickeln, das
diesem angemessen sei. „Götzendiener“ (S. 322) nennt Rousseau deshalb das Kind, das scheinbar
an Gott glaubt. „Jedes Ding hat seine
Zeit“ - und die Zeit der Erfahrung von
Religion und Sittlichkeit ist das Jugendalter.
Hier allerdings ist sie ein, ja sogar
der wichtigste und notwendigste Schritt
in der Bildung des Menschen. An dieser
Stelle der Darstellung seiner Erziehungstheorie
wendet Rousseau ein stilistisches Kunstmittel
an: er schiebt als Buch im Buche das
„Glaubensbekenntnis des savoyischen
Vikars“ ein, mit dem wir uns gleich
in einem Exkurs befassen werden.
4.
Schritt: Sexualität und Liebe. Die
Zeit der pädagogisch bewußt reflektierten
Verzögerung ist vorbei, auch wenn Rousseau
meint, man könne die Unkenntnis der Begierden und die Reinheit der Sinne wenigstens bis
ins zwanzigste Jahr ausdehnen“ (S.
411). Irgendwann brechen die sexuellen
Bedürfnisse durch, und irgendwann wird
das Erziehungsverhältnis beendet. Die
Zeit für ersteres ist jetzt gekommen,
die Zeit für zweiteres noch lange nicht.
Der Jugendliche ist zum „Mann“ geworden,
und der Erzieher muß ihn als solchen
behandeln: „Denken
Sie daran, daß man, wenn man einen Erwachsenen
führen will, das Gegenteil von alledem
tun muß, was man getan hat, um ein Kind
zu führen.“ (S. 413) Der Heranwachsende
hat Vernunft gewonnen, und es gilt also,
mit ihm über die Hintergründe der zu
treffenden Entscheidungen bewußt zu
diskutieren. Dies heißt nicht, mit ihm
zu „vernünfteln“, denn auf „Leidenschaften (kann man) nur durch Leidenschaften einwirken“ (S.
425) und „die
Sprache des Geistes (muß) durch das
Herz gehen, damit sie verständlich wird“
(S. 419).
Der
Jugendliche hat die gute Natur des Menschen
kennen- und lieben gelernt, er hat ebenso
die gesellschaftliche Maske des Scheinmenschen
als mitleidbedürftig erfahren, und er
hat ein durch die religiöse Entscheidung
fundiertes sittliches System aufgebaut.
Gegen die Gefahren der Verführung ist
er so bereits gewappnet und es bleibt
nur noch ein „Feind“, „der gefährlichste und der einzige, den man
nicht ausschalten kann“ (S. 434):
das eigene Selbst. Der Heranwachsende
steht in der Gefahr, gegen die eigene
Entscheidung, gegen die eigene Vernunft,
gegen das eigene Gewissen zu handeln
und dem „blinden Trieb der Sinne“ zu
folgen. Als Aufgabe der Erziehung in
diesem Alter verbleibt deshalb, „ihn vor sich selbst zu schützen“ (S. 435).
Weniger im Fernhalten vor den Gefahren
der „Verführer“ von außen als in der
Übernahme der Verantwortung gegenüber
dem Jugendlichen selbst besteht die
Aufgabe des Erziehers, denn angesichts
des bisher Erreichten werden die negativen
Beispiele dem Jugendlichen nicht viel
anhaben können.
In
einem Ablauf von vier Unterphasen soll
das skizzierte Programm der Erziehung
am Ende des Jugendalters realisiert
werden. Jean-Jacques gibt zunächst in
aller Offenheit Emile Rechenschaft über
seine bisherigen Bemühungen, er reflektiert
seine Vorstellungen über die positiven
Ziele der Erziehung, er redet über die
Gefahren, denen sich Emile im Kommenden
gegenübersieht, und er nennt die Aufgaben,
die noch vor ihnen liegen, um den Bildungsprozeß
zum Abschluß zu bringen. Danach wird
ein neuer „Vertrag“ zwischen dem Erzieher
und Emile geschlossen. Dieser verlangt
dem Zögling Gehorsam gegenüber dem Erzieher
ab, wenn seine Leidenschaften ihn in
Gefahr bringen könnten; er fordert zum
zweiten von dem Erwachsenen, daß er
in den anschließenden ruhigen Zeiten
seine Gründe für mögliche Einschränkungen
offenlegt; und er bestimmt zum dritten,
daß Emile „zum Richter“ zwischen dem
Erzieher und sich selbst festgelegt
wird. Von der so bekräftigten Autorität
des Erziehers sagt Jean-Jacques, „wird meine erste Sorge sein, daß ich die Notwendigkeit
entferne, mich ihrer zu bedienen“
(S. 425). So paradox wie dieser Erziehungsvertrag
ist auch die folgende Phase: Emile wird
in die Pariser Gesellschaft eingeführt,
indem ihm gleichzeitig das Bild einer
möglichen Ehefrau vorgestellt wird.
Der Prozeß des Verliebtmachens, der
Herausbildung einer Vorstellung von
der möglich-wirklichen „Gefährtin“ geht
so weit, daß diese einen Namen erhält:
„Wir
wollen“, sagt Jean-Jacques zu Emile,
„deine
künftige Geliebte Sophie nennen. Sophie
ist ein Name von guter Vorbedeutung“
(S. 428f). Die vierte Phase besteht
schließlich darin, daß Emile den Teil
der Bildung nachholt, den der übliche
Zögling wesentlich früher erhält: Bücher
lesen, Sprachen lernen, die alte und
die neue Literatur kennenlernen (wobei
die erste hoch geschätzt, während die
zweite verachtet wird), Theater besuchen
usw. An dieser Stelle des Bildungsgangs
kommt es auch zu der einzigen Erwähnung
der Schul- und Universitätsbildung,
und sie fällt nicht gerade positiv aus:
„Um ihn zu belustigen, lasse ich ihn das Gewäsch
der Akademien hören; ich erkläre ihm,
daß jedes ihrer Mitglieder für sich
allein mehr wert ist als innerhalb der
ganzen Körperschaft.“ (S. 449)
Emile
hat jetzt die große Welt hautnah erlebt,
doch im Angesicht des Bildes seiner
künftigen Geliebten kann sie nur Verachtung
erzeugen. Sophie kann hier nicht gefunden
werden, und so gilt es Abschied zu nehmen:
„Lebe
wohl, Paris; wir suchen die Liebe, das
Glück, die Unschuld; wir können uns
dabei niemals weit genug von dir entfernen.“
(S. 465)
·
Exkurs: Das
Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars
Rousseau
in einer der Pariser Gesellschaften,
in der spöttisch über alle Religionen
hergezogen wird. Er fühlt sich provoziert
und äußert mit Heftigkeit, es sei „ein
Verbrechen, wenn einer zuläßt, daß über
seinen (Rousseaus) Gott, der gegenwärtig
ist, schlecht geredet wird. Und ich,
meine Herren, ich glaube an Gott. Wenn
Sie noch ein Wort sagen, verlasse ich
den Raum.“ (in: Schmidt 1996; S.
195) Als selbst seine Gönnerin, Madame
d’ Epinay später meint, die Argumente
der Gegner hätten mehr an Überzeugungskraft
besessen, antwortet Rousseau: „Madame,
wenn ich manchmal mit beiden Fäusten
vor den Augen in meinem Zimmer sitze,
oder mitten in der finsteren Nacht,
dann bin ich seiner (des Atheisten)
Ansicht. Aber sehen Sie ... wie der
Sonnenaufgang die Dünste hinwegfegt,
welche die Erde bedecken und mir das
leuchtende und wunderbare Schauspiel
der Natur freigibt, so vertreibt er
gleichzeitig alle Nebel aus meinem Gemüt.
Ich finde mein Vertrauen wieder, meinen
Gott, meinen Glauben an ihn. Ich bewundere
ihn, bete ihn an und werfe mich in seiner
Gegenwart nieder.“ (in: Schmidt
1996, S. 207)
Das
Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars
gehört zu den stärksten Stücken, die
Jean-Jacques Rousseau verfaßt hat. Die
Argumente, die er vorträgt, mögen im
Vergleich zu dem, was andere zu seiner
Zeit geschrieben haben, nicht neu sein,
doch alles ist hier mit einer einzigartigen
Kraft komponiert, die sich aus der Kombination
von persönlicher Überzeugung und klarer,
einfacher Gedankenführung ergibt. Die
sprachliche Gestaltung des Textes ist
vielfältig: sie reicht von Passagen,
die dem Ernst des Gegenstandes angemessen
sind, bis zu ironischen Einschüben,
die mal bissig, mal leicht und heiter
sich geben. Alle grundlegenden Themen
- erkenntnistheoretische Probleme ebenso
wie philosophische Erörterungen zum
Menschenbild und theologische zum Gottesbild
und Gottesbeweis, vor allem auch ethische
Fragen und persönliche Glaubenskonsequenzen
- werden abgehandelt, ohne daß dies
der Einheitlichkeit des Textes Abbruch
täte oder der Eindruck eines kurzen
Abrisses aufkäme, der nach weiterführenden
Abhandlungen riefe. Auf den 70 Seiten
ist alles gesagt, was gesagt werden
muß, und entweder der Leser ist überzeugt
und weiß das Gehörte auf sein eigenes
Leben zu übertragen, oder er ist es
nicht, und dann würden auch ganze Bibliotheken
weiterer Argumente daran nichts ändern.
Nicht dem langatmigen, spitzfindigen
Philosophieren, gegenüber dem Rousseau
immer seine Abneigung hatte, widmet
er sich, sondern er richtet seine Ansprache
an das „Herz“ als die entscheidende
Instanz des Menschlichen im Menschen.
Die ganze Pädagogik des Emile kann als
„Herzensbildung“ charakterisiert werden,
wobei das „Herz“ nicht der Ort einer
irrationalen, blind den Menschen anstürmenden
Gefühlsanwallung ist, sondern die Instanz,
in die Gefühl, Vernunft, Sittlichkeit
und selbstverantwortete Entscheidung
zusammenfließen.
Nun
aber zu dem Text, der durch einen wenig
verhüllten biographischen Bezug eingeleitet
wird: der jugendliche Jean-Jacques,
durch Bauchsorgen zum katholischen Glauben
konvertiert, befindet sich in einer
physischen und psychischen Krise, die
alle religiösen und sittlichen Bestimmungen
zum Einsturz hat bringen lassen. Er
trifft auf einen katholischen Geistlichen,
der ihm, um zu helfen, von seinem eigenen
Glaubensweg berichtet. Doch damit eine
Offenheit für die eigene Entscheidungsfähigkeit
geschaffen werden kann, muß zunächst
einmal das Selbstwertgefühl des in die
Krise geratenen gestärkt werden. Dann
begibt sich der Vikar mit Jean-Jacques
zur frühen Morgenstunde (denn es geht
um das Licht, das den Nebel vertreibt)
in die freie Natur, deren Schönheit
und Mächtigkeit das unterstreicht, was
gesagt werden muß. Indem der Geistliche
in aller Offenheit über sich selber
spricht, bietet er sich als lebendiges
Beispiel an, nicht damit Jean-Jacques
dies übernähme, sondern damit er einen
Reibungspunkt hat, um seine eigenen
glaubensmäßigen und sittlichen Entscheidungen
treffen zu können. Das Glaubensbekenntnis
des savoyischen Vikars ist so aufgebaut,
daß es zwischen zwei extremen Polen
mehrfach hin- und herschwingt: der eigenen,
subjektiven Person einerseits und der
großen weiten Welt bis hin zu Gott andererseits.
Zeichnen wir die einzelnen Stationen
kurz nach:
·
Welche Möglichkeiten
der Erkenntnis habe ich in mir? Ich
fühle die Empfindungen meiner Sinne.
Also muß sowohl ich wie die Welt außen
existieren, da ich es bin, der Empfindungen
hat, und ich etwas empfinde, was nicht
in mir selbst ist. In meinem Kopf kann
ich verschiedene Sinneseindrücke miteinander
vergleichen, ich kann sie ordnen, ihnen
Bedeutung zuschreiben, doch ich muß
vorsichtig sein, denn diese „Urteile“,
die ich in meinem Kopf treffe, können
falsch sein, während dies für die passiv
empfangenen Wahrnehmungen nicht gilt.
·
Wie kann ich
die Existenz Gottes „beweisen“? Alle
„Materie“, die ich um mich herum wahrnehme,
kann sich im Zustand der Ruhe oder in
Bewegung befinden. Die „beseelten Körper“
haben den Grund ihrer Bewegung in sich
selbst. Was aber ist Ursache der Bewegung
der anderen Körper? Und, was diese Frage
noch komplizierter macht: ich sehe beispielsweise
im Kreislauf der Gestirne eine Bewegung,
die in höchstem Maße nach bestimmten
Gesetzen geordnet ist. Da es keine Wirkung
ohne Ursache gibt, muß es einen „Urheber“
geben, der einen Willen hat, der „das
Universum bewegt“ (S. 346), und
der Intelligenz hat, die „die nach gewissen Gesetzen bewegte Materie“ (S. 348) ausdrückt. In
der Natur der Welt und des gesamten
Weltalls sehe ich ein so hohes Maß an
Ordnung, daß es unmöglich ist, sie durch
Zufall zu erklären. „Es steht nicht in meiner Macht zu glauben,
daß die passive und tote Materie lebende
und empfindende Wesen hat hervorbringen
können, daß ein blindes Schicksal intelligente
Wesen hat hervorbringen können, daß
etwas, was nicht denkt, Wesen hat hervorbringen
können, welche denken. Ich glaube also,
daß die Welt von einem mächtigen und
weisen Willen regiert wird“ (S.
350) und diesem gibt Rousseau die Bezeichnung
„Gott“.
·
Was ist der
Mensch? Auf der einen Seite ist der
Mensch die Spitze der Schöpfung, denn
durch seine Intelligenz und seine Fähigkeiten
hat er die Möglichkeit, über alles andere
zu herrschen. Doch auf der anderen Seite
zeigen die konkreten gesellschaftlichen
Verhältnisse der Menschen ein unendliches
„Chaos“,
während die übrige Natur wohl geordnet
ist. „Der
Mensch ist nicht eins“ (S. 353),
sondern „zwei
deutlich unterschiedene Prinzipien“
(S. 353) scheinen ihn zu bestimmen.
Es ist die Freiheit der eigenen Entscheidung,
die den Menschen bestimmt, und „als freies Wesen (ist er) von einer immateriellen Substanz beseelt“
(357). Er selbst hat die Möglichkeit,
das „Gute“ zu wollen, und wenn er das
„Böse“ tut, so erfüllt er nicht Gottes
Willen, sondern mißbraucht die eigene
Freiheit. Mag in der empirischen Welt
auch das Schlechte obsiegen, so müssen
letztendlich alle vor den Richterstuhl
Gottes treten: „Wenn ich auch keinen anderen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele
hätte als den Triumph des Bösen und
die Unterdrückung des Gerechten in dieser
Welt, so würde der allein mich abhalten,
daran zu zweifeln.“ (S. 360)
·
Was ist Gott?
Gott ist intelligent, gut und gerecht.
Doch der Versuch, ihn näher zu erfassen,
ist dem Menschen mit seinem beschränkten
Verstand nicht möglich: „Er
existiert aber, das ist mir genug. Je
weniger ich ihn begreife, desto mehr
bete ich ihn an.“ (S. 364)
·
Wo finde ich
den Maßstab für mein sittliches Verhalten?
„Ich
finde sie im Grunde meines Herzens von
der Natur mit unauslöschlichen Zügen
geschrieben. ... Alles, was ich als
gut empfinde, ist gut; alles, was ich
als böse empfinde, ist böse.“ (S.
365) Dies ist der Kern alles dessen,
was Rousseau sagen möchte, und nicht
zufällig findet sich diese Stelle in
der Mitte des Glaubensbekenntnis des
savoyischen Vikars. Jeder Mensch hat
diese Stimme des Gewissens, ein „göttlicher Instinkt“, in sich, das einzige,
was ihn „über
die Tiere erhebt“; und wenn der
Mensch lernt, auf „die
Sprache der Natur“ zu hören, dann
wird er gut und glücklich werden. Nicht
in der abstrakten Vernunft liegt das
Kennzeichen des Menschen, sondern in
der Stimme des Gewissens, die „zu
allen Herzen spricht“. Die Konsequenz:
„wir
können Menschen sein, ohne gelehrt zu
sein“ (S. 371). Das Gute, das uns
unser Gewissen vorschreibt, liegt zum
einen in unserer Eigenliebe (nicht in
unserer Selbstsucht) und zum anderen,
da wir soziale Wesen sind, in unseren
Empfindungen gegenüber anderen, deren
Wohlergehen uns ebenso am Herzen liegt
wie das eigene.
·
Was ist die
richtige Religion? Die Antworten Rousseaus
sind zwiespältig. Auf der einen Seite
gilt, daß das entscheidende religiöse
Gefühl jedem Menschen eingeboren ist
und daß jeder Mensch „im Buch der Natur“,
die vor seinen Augen steht, lesen kann,
um darin Gott zu erkennen. Alle Offenbarungsreligionen
fügen demgegenüber nur menschliche Worte
hinzu, die eine dogmatische Anerkennung
von Autoritäten verlangen. Das Wichtigste,
was Gott fordert, ist „der
Dienst des Herzens“ und nicht der
äußerliche Gottesdienst, der im wesentlichen
„Sache der Polizei“ (S. 379) ist. Alles
was den Alleinvertretungsanspruch einer
Religion angeht, findet die scharfe
Kritik Jean-Jacques Rousseaus. Wir können
nicht wissen, was die richtige Religion
ist, weil unser Verstand zu begrenzt
ist und weil der Zufall des Ortes unserer
Geburt unsere religiöse Konfession bestimmt.
Weil dies so ist, müssen wir allen unterschiedlichen
religiösen Überzeugungen Toleranz entgegenbringen,
und wir sollen wissen, daß jenseits
verschiedener Bekenntnisformulierungen
der innere Gottesdienst, die innere
Stimme des Gewissens und die Erkenntnis
der Existenz Gottes durch die Betrachtung
des „Schauspiels der Natur“ allen Menschen
gemein sind. Auf der anderen Seite zeigt
aber die Betrachtung der Bibel eine
solche „Erhabenheit“,
daß sie unmöglich nur ein menschliches
Produkt sein kann. Hätte ein Mensch
sie von Anfang bis Ende erfunden, so
wäre ihr „Erfinder
noch erstaunlicher ... als sein Held
(Jesus)“ (S. 397). Weil wir nicht wissen können, welches die richtige Religion
ist, ist es das Beste, wenn jedermann
in der „Religion seiner Väter“ verbleibt,
allerdings immer eingedenk der Toleranzforderung,
die Entscheidung eines jeden anderen
zu respektieren. Zwar ist die Entscheidung
für eine positive Religion eine Frage
des Zufalls der Geburt, doch es gilt
auch, daß jeder die Anforderungen und
Formen, die das eigene Bekenntnis verlangt,
auf das Peinlichste erfüllen muß. Durch
diese doppelte Argumentationsweise begründet
Jean-Jacques Rousseau auf der einen
Seite die Offenheit für eine religiöse
Toleranz, ohne auf der anderen Seite
in Beliebigkeit abzugleiten, die gefährlich
wäre, weil es „ohne
Glauben keine wahre Tugend gibt“
(S. 403). Das entscheidende Gebot formuliert
der Vikar gegenüber Jean-Jacques: „Sagen
Sie, was wahr ist, tun Sie, was recht
ist.“ (S. 405) Und alle Wege aus
der Krise des Menschen ergeben sich
aus dem Rat: „halten
Sie Ihre Seele in dem Zustand, daß sie
allezeit die Existenz eines Gottes wünscht“
(S. 402). Vieles in der Welt geht über
den Verstand des Menschen weit hinaus,
und die Verantwortung für Alles ist
zu schwer, als daß sie ein Mensch tragen
könnte. Aber wir können uns auf uns
selbst zurückziehen und offen werden
für die innere Stimme des Gewissens,
und wir können die Verantwortung für
uns selbst wahrnehmen, indem wir unsere
Lebenssituation so wählen und gestalten,
daß wir nicht die „gute Natur“ in uns
ersticken, sondern offenbleiben für
das Menschliche in uns.
·
Exkurs: Mädchenerziehung
Kehren
wir zurück zu Emile und seiner Suche
nach Sophie. Bisher hat Rousseau sich
mit der Erziehung der Jungen beschäftigt,
an dieser Stelle wird es nun notwendig,
die Frage nach dem Verhältnis von Mann
und Frau zu stellen. In einigen Passagen
ließe sich jetzt angesichts unserer
Diskussionen dieses Themas viel Fragwürdiges
an der Position Rousseaus zu Tage fördern.
Doch wir folgen vielmehr weiter unserem
Weg, dasjenige offenzulegen, das für
uns heute hilfreiche Gedanken enthält.
Das Verhältnis der Geschlechter zueinander
reflektiert Rousseau nicht im Sinne
der Gleichheit, sondern der Gleichwertigkeit.
Erst die Gemeinsamkeit von Mann und
Frau ergibt zusammengenommen die wirkliche
Potentialität des Menschen. Eine entsprechende
Formulierung, die sich auf den Bereich
der Sittlichkeit bezieht, lautet: „Aus dieser Gemeinschaft (von Mann und Frau)
entsteht eine sittliche Person, deren
Auge die Frau und deren Arm der Mann
ist, aber mit einer solchen Abhängigkeit
voneinander, daß die Frau von dem Manne
lernt, was man sehen muß, und der Mann
von der Frau lernt, was man tun muß.“
(S. 494)
Die
Verschränkung der Beziehungen gilt auch
für die generellen Frage des Machtverhältnisses:
Für Rousseau gibt es keinen Zweifel,
daß der Mann der Mächtigere ist, daß
die Frau sich seinem Willen unterordnen
muß. Doch dieser herrschende Wille des
Mannes wird ihm im wesentlichen von
der Frau eingegeben. Gerade durch ihre
scheinbare Schwäche ist sie stark, weil
sie dem Mann vermittelt, was sein Wille
ist: „Das
stärkere (Geschlecht ist)
dem Anschein nach der Herr ..., in der
Tat aber (hängt er ) von dem schwächeren ab“ (S. 469).
Neben
dem, was Mann und Frau trennt, gibt
es einen großen Bereich, der beiden
gemeinsam ist. In der Formulierung Rousseaus:
„die Maschine ist auf die gleiche Art gebaut,
ihre Teile sind gleich, ihre Verwendung
ist gleich“ (S. 466). In allem,
was nicht geschlechtsspezifisch ist,
darf man also keine Differenzen machen,
und in diesen Punkten darf auch die
Erziehung von Jungen und Mädchen sich
nicht unterscheiden. Die Verschiedenheiten
ergeben sich in Bezug auf die Aspekte,
die „zum
Geschlecht“ gehören, und alles hängt
also von der Scheidung dieser Bereiche
ab (und wie gesagt, wir nehmen sie heute
anders vor als Jean-Jacques Rousseau
dies in seiner Zeit getan hat).
Die
vielleicht prägnanteste Umschreibung
der Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen Mann und Frau gibt folgende
Stelle aus dem „Emile“ wieder: „Eine
vollkommene Frau und ein vollkommener
Mann dürfen einander nicht mehr im Geiste
als im Gesicht ähnlich sein, und in
der Vollkommenheit kann es ein Mehr
oder Weniger nicht geben.“ (S. 467)
Entgegen der Struktur des Satzes kann
man zunächst das Verbindende festhalten:
Im Vergleich zu allem Nichtmenschlichen
sind die menschlichen Gesichter zunächst
einmal gleich, das Gesicht charakterisiert
dessen Träger als Menschen, wie groß
die Bandbreite auch immer sein mag.
Aber es lassen sich auch spezifische
Charakteristika finden, die es uns ermöglichen,
allein vom Gesicht her eine Unterscheidung
in männlich und weiblich vorzunehmen.
Und dann der Nebensatz: „in
der Vollkommenheit kann es ein Mehr
oder Weniger nicht geben“. Darum
geht es in der Erziehung: die „Vollkommenheit“
der jeweiligen Altersstufe und jetzt
des jeweiligen Geschlechtes auszuprägen
(und in Bezug auf unsere pädagogische
Diskussion heute können wir ergänzend
hinzufügen: die „Vollkommenheit“ der
jeweiligen Individualität des Einzelnen).
Feminine Gesichtszüge mit Gewalt einer
männlichen Erscheinung anzupassen, würde
ebenso zur Verformung und Verunstaltung
führen wie der umgekehrte Weg.
Aus
den Gemeinsamkeiten und Unterschieden
zwischen den Geschlechtern ergeben sich
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede
in der Erziehung. Da es das Bestreben
Rousseaus ist, an dieser Stelle Sophie
als die ideale Ehefrau Emiles und Mutter
seiner zukünftigen Kinder zu charakterisieren,
hebt er vor allem auf die Aspekte ab,
die ihre zukünftige Aufgabe betreffen.
Wir sprachen oben von der Zwiespältigkeit,
mit der Rousseau die Frage nach Macht
und Ohnmacht der Frau behandelt, und
diese Widersprüchlichkeit findet sich
auch in seinen geschlechtsspezifischen
Erziehungsvorschlägen wieder. Auf der
einen Seite finden wir Formulierungen,
die dem Leser und der Leserin heute
einen Schauer über den Rücken laufen
lassen. Um einige Kostproben zu geben:
· „Müßiggang
und Eigensinn sind die beiden gefährlichsten
Fehler“ für die Frau, weshalb sie „wachsam und arbeitsam“ (S. 483) sein muß;
· die
Mädchen müssen „fühlen,
daß sie zum Gehorchen geboren sind“
(S. 484);
· der
Zwang soll ihnen „zur
Gewohnheit“ werden (S. 484); und
· „die ganze Erziehung der Frauen muß sich ...
auf die Männer beziehen“ (S. 477).
Auf
der anderen Seite sollen die fraulichen
Pflichten den Mädchen nicht so vermittelt
werden, daß sie glauben, „daß man verdrießlich sei, wenn man sie erfülle; keine Grämlichkeit, keine
Leichenbittermiene!“ (S. 512) Des
öfteren betont deshalb Rousseau, daß
ungezwungene Fröhlichkeit das Erziehungsklima
präge: „Man nehme ihnen nicht die Lustigkeit, das Lachen, die laute Ausgelassenheit,
die närrischen Spiele“ (S. 484).
Viele
der Regeln, die Rousseau für die Mädchenerziehung
gibt, lassen sich als zeitbedingte,
heute nur noch für Anekdoten interessante
Formulierungen verstehen, etwa wenn
er für sie ein im Vergleich zur Jungenerziehung
reduziertes Bildungsprogramm vorschlägt:
weniger an Verstandes-, an religiöser,
an wissenschaftlicher Bildung. Problematisch
wird es insbesondere, wenn er, der mit
Vehemenz gegen den „Schein“ des gesellschaftlichen
Spiels und für das „Sein“ der wirklichen
Persönlichkeit plädiert, bei der Mädchenbildung
Gegenteiliges zu begründen versucht.
Bei ihnen sei der „Schein“ der Persönlichkeit,
der die anderen blendet und den sie
kritiklos und vorurteilsbelastet anerkennen,
ein positiver Erziehungswert. All diesem
kann man eine Verurteilung als chauvinistisches
Vorurteil nicht versagen. Doch in einem
Punkt bleibt sich Rousseau treu. Seine
wichtigste Lebensregel lautet: Lehne
Dich nicht gegen die Notwendigkeit auf,
wenn Du glücklich sein willst. Das Mädchen
wird als Frau gezwungen sein, „einem so unvollkommenen Wesen wie dem Mann
zu gehorchen, der oftmals so voller
Laster und stets so voller Mängel ist“,
und deshalb „muß
sie beizeiten selbst Ungerechtigkeit
erdulden und das Unrecht eines Mannes,
ohne sich zu beschweren, ertragen lernen.“
(S. 484f) „Sanftmut“
muß deshalb eine ihrer wichtigen Eigenschaft
sein: „nicht seinetwegen, sondern ihretwegen“ (S. 485). Mit ihr lernt sie,
sich der Notwendigkeit zu beugen, sie
zu ertragen, ohne sich in ihrem Persönlichkeitskern
davon berühren zu lassen; und mit ihr
beherrscht sie den Mann, das zu tun,
was sie will.
Nochmals:
dies alles ist sehr zeitbedingt, aber
vielleicht gerade deshalb eine hilfreiche
Provokation, um über die Differenzen
in der Erziehung von Jungen und Mädchen
jenseits einer ausschließlich postulierten
Gleichheit neu nachzudenken.
·
Der Heranwachsende
Nachdem
Rousseau Sophie als die ideale Ehefrau
und zukünftige Mutter charakterisiert
hat, wobei selbst ihre Fehler die Vollkommenheit
nur steigern können, geht das Buch völlig
in den Roman über. In einem ersten Schritt
nehmen Sophies Eltern von ihrem traditionellen
Recht Abstand, den künftigen Gatten
für die Tochter zu bestimmen. Weil die
„gegenseitige Neigung“ (S. 527) das erste
Band der Ehe ist, kommt es „den
Eheleuten ... zu, einander auszusuchen“
(S. 527). Ähnlich dem Erziehungsvertrag,
der zwischen dem heranwachsenden Emile
und Jean-Jacques geschlossen wurde,
ist es nur noch die Aufgabe der Eltern
Sophies „zu
beurteilen, ob du, ohne es zu wissen,
nicht etwas anderes tust als du willst“
(S. 529). Sophie wartet in der dörflichen
Abgeschiedenheit auf den unbekannten
Gatten, und sie wird verzehrt von der
ungewissen Liebe zu dem möglichen Liebhaber.
Dann
wieder der Blick auf Emile, der sich
gemeinsam mit Jean-Jacques von Paris
entfernt. Zu Fuß wandern sie, sie verirren
sich und finden Aufnahme bei einem armen
Bauern, der sie zu einem wohlhabenderen
Haus verweist. Auch hier wird ihnen
Gastfreundschaft gewährt, und der Tisch
ist für fünf Personen gedeckt. Ein Mädchen
kommt zu der Gesellschaft der Eheleute,
des Erziehers und seinem Zögling hinzu,
Emile beachtet sie zunächst wenig. Doch
dann fällt der Name „Sophie“, und augenblicklich
ändert sich die Situation. Emile findet
die Geliebte, die er gesucht hat. Rasch
macht der Liebesroman Fortschritte.
Doch auch eine erste Mißstimmung bleibt
nicht aus: Sie fühlen ihr Herz füreinander
bestimmt, doch Sophie ist bei der wechselseitigen
Verpflichtung zurückhaltend, weil sie
angesichts des Reichtums Emiles Komplikationen
fürchtet. Der Erzieher vermittelt, indem
er dem Zögling den Rat gibt, „durch Beständigkeit und Zeit ihren Widerstand“
(S. 560) zu überwinden. Und in der Tat:
wir sehen Emile, wie er, wenn er nicht
zu Besuch bei Sophie ist, mit Wohltaten,
die er den Armen des Landes erweist,
und Tischlerarbeiten sich nützlich macht.
Sophie sieht so, daß er nicht einer
von den üblichen Männern ist, die mit
ihrem Geld sich den Schein der Vergnügungen
erkaufen und sich ihrer Verpflichtungen
entledigen. Als sie eines Tages erfährt,
daß Emile deshalb nicht zu einem Treffen
mit ihr erschienen sei, weil er einem
armen Bauern, den er mit gebrochenem
Bein in unwegsamen Gelände gefunden
hat, und seiner schwangeren Frau, die
angesichts der Ereignisse vor Schreck
vorzeitig ihr Kind gebar, geholfen hatte,
gibt sie ihren Widerstand auf: „Werde,
wann du willst, mein Mann und mein Herr.“
(S. 586)
erstrecke
das Gesetz der Notwendigkeit
auch auf die sittlichen Dinge;
lerne das verlieren, was dir
genommen werden kann; lerne
alles aufgeben, wenn die Tugend
es fordert, dich über alle
Wechselfälle hinwegsetzen,
dein Herz losreißen, ohne
daß sie es zerreißen; lerne
in Widrigkeiten mutig sein,
damit du niemals elend bist,
in deiner Pflicht standhaft
sein, damit du niemals zum
Verbrecher wirst. Alsdann
wirst du dem Schicksal zum
Trotz glücklich und den Leidenschaften
zum Trotz weise sein’“ (593)
|
Der
Leser erwartet jetzt das Ende des Romans,
und auch Emile sieht sich am Ziel seiner
Wünsche. Doch Jean-Jacques hat noch
eine Überraschung parat, denn noch ist
der Erziehungsprozeß nicht zu Ende gebracht.
Als Emile Sophie einige Tage nicht gesehen
hat, tritt er, einen Brief in der Hand,
mit der lapidaren Frage in sein Zimmer:
„Was
würdest du tun, wenn man dir meldete,
Sophie sei gestorben?“ (S. 587)
Emile ist außer sich, und die Tatsache,
daß die Frage Jean-Jacques nur eine
fiktive war, scheint nicht für den Erzieher
zu sprechen. Doch noch hat Emile zwei
Dinge zu lernen: Er muß eingeführt werden
in die gesellschaftlichen Ordnungen,
um sie beurteilen zu können und um seine
diesbezüglichen politischen Pflichten
zu erfahren; und er muß lernen, sich
von allem, was vergänglich ist, zu lösen,
damit er dem „Gesetz der Notwendigkeit“
voll gehorchen kann: „Sei ein Mensch; zieh dein Herz in die Schranken
deines Daseins ein. ... So eng sie auch
sein mögen, man ist nicht unglücklich,
solange man darin eingeschlossen bleibt.
Man ist nur unglücklich, ... wenn man
in seinen unvernünftigen Begierden das
für möglich hält, was nicht möglich
ist“ (S. 592). Nur wenn man jederzeit
seine Begierden beherrscht und nicht
von ihnen beherrscht wird, kann man
ein glücklicher Mensch werden.
Mit
diesem Doppelziel - die politischen
Verhältnisse beurteilen und Versagungen
ertragen zu können - begibt Emile sich
mit Jean-Jacques auf eine Bildungsreise,
so daß der Liebende sich von der Geliebten
trennen sich: „Du
mußt sie verlassen, um ihrer würdig
wiederzukommen.“ (S. 596) Nach zwei
Jahren kehrt Emile zurück, und er hat
das Bildungsziel der Reise erreicht,
vor allem scheint er das „Gesetz der
Notwendigkeit“ gelernt zu haben: „Mich dünkt, man brauche, um frei zu werden, nichts zu tun; es genügt,
daß man nur nicht aufhören will, es
zu sein. Sie, mein Lehrer, haben mich
frei gemacht, indem Sie mich lehrten,
der Notwendigkeit nachzugeben. ... weil
ich nicht gegen sie ankämpfen will,
hänge ich mich an nichts, das mich zurückhalten
könnte.“ (S. 629) Nur eine Korrektur
hat Jean-Jacques noch anzufügen: Aus
der Beobachtung der Schlechtigkeit der
empirischen Gesellschaften und der Tatsache,
daß überall das politische Recht pervertiert
wird, darf nicht der Schluß gezogen
werden, der Mensch dürfe sich vollständig
aus ihr zurückziehen. Vielmehr hat jedermann
dem Staat gegenüber, in dem er geboren
ist, seine Pflichten zu erfüllen: „Deine
Mitbürger beschützten dich als Kind,
als Mann mußt du sie lieben.“ (S.
632) Es gilt also den rechten Ort zu
wählen: abseits der großen Städte, die
den Menschen verführen, aber nahe genug
bei den Mitmenschen, um helfen zu können.
Das dörfliche Leben erscheint so als
das für Emile geeignete, um die richtige
Balance von Rückzug und Engagement realisieren
zu können.
Emile
trifft seine Sophie wieder, sie sind
überglücklich. Die Hochzeit wird arrangiert,
und auf einem Spaziergang, den der Erzieher
mit den Brautleuten unternimmt, hält
Jean-Jacques seine Hochzeitsansprache,
die mit einem Überraschungsmoment beginnt,
prophezeit er ihnen doch, daß das Glück,
das sie gegenwärtig auf seinem Höhepunkt
genießen, von nun an schwächer werden
wird. Er benötigt diese Einleitung,
um seine Ratschläge für eine glückliche
Ehe geben zu können: „man
muß ... fortfahren, ein Liebespaar zu
sein, wenn man ein Ehepaar ist“;
und: „Knoten, die man gar zu fest zuziehen will,
reißen“; und: „in
der Ehe sind die Herzen verbunden, die
Leiber aber sind nicht unterjocht. Ihr
seid einander Treue, nicht Willfährigkeit
schuldig“ (S. 636).
Zu
fünft wohnen sie jetzt in dem Haus der
Eltern Sophies und bilden eine glückliche
Gemeinschaft. Das letzte Wort gehört
Emile, der zu Jean-Jacques geht, um
ihm seine kommende Vaterschaft anzukündigen.
Dabei gibt er den Erziehungsauftrag
zurück, der hiermit beendet ist, wenngleich
Jean-Jacques als Ratgeber wichtig bleiben
soll. Doch die Pflicht, das kommende
eigene Kind selbst zu erziehen, ist
Emile heilig. Das Buch schließt mit
Emiles Dank an Jean-Jacques: „ruhen
Sie aus: Es ist Zeit.“ (S. 641)
·
Emile und Sophie
oder die Einsamen (1989a)
Der
alte Rousseau nimmt in den einsamen
Tagen seiner Vertreibung sich den „Emile“
noch einmal vor. Geplant ist ein Fortsetzungsroman
in Briefform, der über das weitere Lebensschicksal
des ehemaligen Zöglings berichten soll.
Das Vorhaben ist Fragment geblieben:
neben dem ersten vollständigen Brief
bricht der zweite mittendrin ab, so
daß nicht klar ist, ob der mit Überraschungsmomenten
nicht geizende Romanschriftsteller Jean-Jacques
Rousseau nicht doch noch ein Hollywood
gemäßes Happyend bereitgehalten hätte. Das erhalten gebliebene Textstück kann man
als eine Probe auf die Erziehungstheorie
Jean-Jacques Rousseaus lesen: Wird Emile
das gelernt haben, was er hat lernen
sollen, um glücklich zu werden? Berichten
wir über die Handlung, wie sie uns in
den beiden Briefen, die Emile an Jean-Jacques
richtet, bekannt wird.
Das
Leben zu fünft, zu sechst und dann zu
siebt - Sophie und ihre Eltern, Emile
und sein ehemaliger Erzieher, dann der
erstgeborene Sohn und schließlich die
folgende Tochter - ist überaus glücklich.
Doch dann verkehrt das Schicksal Emiles
Lebensweg Schritt für Schritt ins Traurige.
Als erstes verläßt Jean-Jacques aus
Gründen, die im Dunklen bleiben, das
friedliche Idylle. Danach sterben in
rascher Folge Vater und Mutter Sophies
und schließlich die kleine, neugeborene
Tochter. Für Sophie sind das zu viele
Schicksalsschläge: sie verfällt in eine
tiefe Melancholie, aus der Emile sie
herausholen will, indem er ihr vorschlägt,
gemeinsam mit ihm und einem befreundeten
Ehepaar nach Paris zu ziehen. Trotz
Sophies anfänglichem Widerstand gegen
diesen Plan und trotz des mulmigen Gefühls,
das Emile selbst bei der Abreise beschleicht,
leben sie in der Hauptstadt, und in
der Tat verschwindet vorübergehend die
Traurigkeit Sophies.
Beide
geben sich den Vergnügungen hin, zu
erst gemeinsam, später zunehmend getrennt,
und so wie von dem ehemals gelebten
Familienideal nichts mehr übrig bleibt,
so verliert sich auch der ehemaligen
Zögling Emile, der der früheren Stabilität
seiner Persönlichkeit Schritt für Schritt
verlustig geht: „Ich
war ein galanter Mann ohne Zärtlichkeit,
ein Stoiker ohne Tugenden, ein Weiser,
der nichts als Narrheiten im Kopf hatte“
(S. 650). Das ganze bunte Treiben, dem
sie sich hingeben, läßt eine Leere in
Kopf und Herz zurück; sie müssen vor
sich selbst fliehen, und sie fliehen
voreinander. Es kann nicht ausbleiben,
daß sich der Gemütszustand Sophies wieder
hin zu der tiefen Traurigkeit ändert,
ohne daß sie Emile den Grund dieser
Wandlung verriete. Doch plötzlich bricht
ein Geständnis aus ihr heraus: Sie hat
Emile mit einem anderen betrogen, und
jetzt ist sie schwanger.
Emiles
Schmerz ist heftig: er flieht aus dem
Haus, irrt in der Stadt herum, er rennt
um sein Leben, er martert seinen Körper,
er weiß nicht ein noch aus. Als er in
einem Park für den Bruchteil einer Sekunde
einen klaren Moment hat, erkennt er,
daß seine Leidenschaften zu heftig sind,
als daß er sie durch seine Vernunft
beherrschen könnte. Also gibt er sich
ganz seiner Trauer hin und hofft auf
ruhigere Zeiten nach dem Sturm. Kurz
kehrt er noch einmal in sein Haus zurück,
verläßt es dann aber, „entschlossen, es nie wieder zu betreten“ (S. 658). Emile flieht aus
der Stadt, und auf seiner Wanderung
steigert er sich in seinen Gedanken
in einen Haß auf Sophie hinein, doch
dann beginnt er sich selbst zu fragen,
ob er nicht durch sein eigenes vergnügungssüchtiges
Verhalten den Grundstein für diesen
Betrug gelegt habe: „du
(Emile) mußt
dich hassen und sie beklagen“ (661f)
- sagt er zu sich selbst.
Nach
langer, ununterbrochener Wanderung gelangt
Emile schließlich in ein dörfliches
Gasthaus. Er ißt und schläft, um ausgeruht
am nächsten Morgen einen zumindest vorläufigen
Entschluß fällen zu können: Er wird
bei einem Tischlermeister des Tages
arbeiten und in den freien Stunden des
Abends seine Überlegungen, wie er sein
Leben in Zukunft werden soll, fortsetzen.
Diese ergeben, daß angesichts des Vorgefallenen
an eine Wiedervereinigung nicht zu denken
ist: „Ändern
sich die Herzen, so ändert sich alles
... ich will lieber fern von ihr leiden
als durch sie“ (S. 667). Als dieser
Entschluß feststeht, kann Emile ruhiger
werden, um über sich selbst und sein
Unglück nachzudenken. Doch auch dieses
relativiert sich durch die Überlegung,
daß das Leben „eine Abfolge von gegenwärtigen Augenblicken“ ist und daß er selbst
sich gleichgeblieben ist und er deshalb
- wo immer er auch sei - glücklich werden
könne, wenn er es wolle.
Eine
erneute Wende tritt ein, als Emile erfährt,
daß Sophie ihn vor einigen Tagen bei
seiner Arbeit, ohne daß er es gemerkt
hätte und hatte bemerken sollen, beobachtete.
Also muß er weiter weg fliehen, damit
sie sich nicht wiederfinden können.
Er zieht in Richtung Süden - ohne Gepäck,
aber frei; Sophie immer noch liebend,
aber ganz bei sich selbst und deshalb
glücklich. Sein Geld verdient er sich
durch verschiedene Arbeiten, denn Fähigkeiten
hat er ja zu Vielem. Als er schließlich
nach Marseille kommt, schifft er sich
ein, die Überfahrt bezahlt er, indem
er sich als Schiffsarbeiter verdingt.
Auch in dieser Tätigkeit ist er erfolgreich,
erfolgreicher als der unfähige Kapitän,
weil er aufmerksam die Naturereignisse
beobachten kann und sich nicht auf künstliche
Schiffsinstrumente verläßt, die täuschen
können.
Die
Geschichte der Unglücksfälle ist noch
nicht auf dem Tiefpunkt angelangt. Das
Schiff wird von Seeräubern gekapert,
und die Passagiere werden als Sklaven
nach Algier verkauft, und so gerät auch
Emile in die Ketten. Doch inzwischen
kann dem in sich selbst wieder Gefestigten
auch dieser Schlag nichts anhaben: „Was
werde ich durch dieses Ereignis verlieren?
Die Fähigkeit, eine Torheit zu begehen.
Ich bin freier als zuvor. ... Was von
meiner ursprünglichen Freiheit habe
ich denn verloren? Wurde ich nicht als
Sklave der Notwendigkeit geboren? ...
Es gibt nur eine Knechtschaft: die der
Natur. Die Menschen sind nur ihre Werkzeuge.
Ob ein Herr mich erschlägt oder ein
Fels mich zerschmettert - in meinen
Augen ist es gleichviel, und das Schlimmste,
was mir in der Sklaverei begegnen kann,
ist ein Tyrann, der sich nicht mehr
erweichen läßt als ein Stein.“ (S.
682f)
Der
Sklave Emile wechselt des öfteren seinen
Besitzer. Schließlich gerät er in eine
Arbeitskolonne, die von einem derben
Aufseher gepeinigt wird. Mit unveränderter
Ruhe arbeitet Emile auch unter grausamsten
Bedingungen weiter, doch als er erkennen
muß, daß der Zwang so groß wird, daß
sein physisches Überleben gefährdet
ist, entschließt er sich zur Rebellion
und wird zum Anführer der Mitsklaven.
Seinen Herren überzeugt er schließlich
davon, daß die ausbeuterische Gewalt
auch die Interessen des Sklavenbesitzers
gefährde. Dieser bestimmt daraufhin
Emile zum Sklavenaufsehen, macht ihn
schließlich aber - weil Emiles Ruhmestat
sich inzwischen in ganz Algier herumgesprochen
hat - dem Stellvertreter des Sultans
zum Geschenk. Emile als geachteter Sklave
dieses angesehenen Herren - hier endet
das Fragment.
Das
Ziel der Erziehung ist ein doppeltes:
Der Mensch soll auf jeder Stufe seiner
Entwicklung ganz das sein können, was
diese Stufe fordert, und deshalb soll
auch das Kind in der Gegenwart glücklich
leben können. Doch die Erziehung hat
den Menschen gleichzeitig auf die Zukunft
vorzubereiten, ihn auszustatten mit
Fähigkeiten und seine Psyche bereit
zu machen, „die
Schläge des Schicksals zu ertragen ...
auf Islands Eisschollen oder auf Maltas
glühenden Felsen zu leben“ (S. 17)
- wie es zu Beginn des „Emiles“ heißt.
Emile hat seine Lektion gelernt: wohin
das Schicksal ihn treibt, und lebte
er als Sklave in Afrika, nichts kann
ihn, der sich in allen Lebenslagen zu
erhalten vermag, vernichten.
Doch
nicht nur sich zu „erhalten“ gilt es,
sondern glücklich leben soll er, und
sei es, daß er „dem
Schicksal zum Trotz glücklich“ ist
(S. 593). „Glück“ ist wohl das Wort,
das im „Emile“ am häufigsten vorkommt.
Und entgegen einer in unserer Zeit häufig
verschenkten und gelesenen „Anleitung
zum Unglücklichsein“ (Watzlawick 1992)
schreibt Jean-Jacques Rousseau eine
„Anleitung zum Glücklichsein“. In der
Rede, die Jean-Jacques an Emile hält,
um ihn aufzufordern für zwei Jahre die
gerade gefundene Geliebte zu verlassen,
sagt er: „Man
muß glücklich sein ... das ist der Endweck
eines jeden fühlenden Wesens“ (S.
588). Der erwachsene Emile scheint wenig
glücklich, zu hart treffen ihn die Schicksalsschläge.
Doch um diesen Schein geht es auch nicht,
sondern um die Wirklichkeit, und in
seiner Wirklichkeit ist Emile dann wieder
glücklich, als es ihm gelingt, sich
wieder auf sich selbst zurückzuziehen.
Das ist Rousseaus Definition von Glück,
die er mit einer für ihn charakteristischen
doppelten Verschränkung definiert: „Wer
das tut, was er will, ist glücklich,
wenn er sich selbst genug ist“ (S.
75). Die Freiheit ist das Entscheidende,
um über sich selbst Herr zu sein. Es
geht nicht um die Willkür, dieses oder
jenes zu tun, was der Reiz des Augenblicks
einem gerade eingibt; es geht nicht
um die ständig ausgedehnte Sucht nach
neuen Befriedigungen, die immer nur
einen schalen Nachgeschmack zurücklassen.
Sondern glücklich ist der Mensch, der
ganz bei sich selber bleiben kann, weil
er sich nicht selber fliehen muß, der
die Fähigkeiten zur Befriedigung seiner
begrenzten Bedürfnisse in sich hat und
der alles verlassen kann, und den deshalb
die Wechselfälle des Lebens nicht in
seiner wichtigen Existenz berühren.
Der Mensch ist glücklich, der „sich
selbst genug ist“. Dieses Glück,
sich selbst, findet der Mensch nicht
in einem einmaligen Akt seiner Biographie,
sondern es verlangt „Mut“
und „Kampf“ in der Auseinandersetzung mit anderen
und vor allem mit sich selbst. Es geht
weniger um Glücklichsein als um das
lebenslange Bemühen, glücklich werden
zu wollen.
„Mein
Sohn, halten Sie Ihre Seele in dem Zustand,
daß sie allezeit die Existenz eines
Gottes wünscht“ (S. 402) - dies
ist der Rat, den der savoyische Vikar
dem verzweifelten Jean-Jacques gibt,
und mit den er den Weg zu diesem Prozeß
des Glücklichwerdens weist. Der Mensch
kann seinem Herzen nicht befehlen, glücklich
zu sein, denn so stark ist die Vernunft
nicht, daß sie allezeit die „Leidenschaften“
zu kontrollieren vermag. Aber der Mensch
ist verantwortlich für seine Wahl des
Lebensortes und der Umstände, die ihn
umgeben sollen. Emile weicht von diesem
Rat ab, er zieht in die Großstadt, und
Paris steht hier als Symbol für die
Kräfte der Verführung, die den Menschen
von sich selbst abbringen. Will der
Mensch glücklich werden, so muß er äußerlich
und innerlich sich eine Situation gestalten,
in der er zur Ruhe gelangen kann und
in der er in Klarheit das helle und
schlichte Bild der Wahrheit sehen kann.
Licht und Ruhe sind die Voraussetzungen,
um in sich selbst den eigenen richtigen
Lebensweg zu entdecken, der auch das
Verhalten zu den Mitmenschen einschließt.
Die Voraussetzungen herzustellen, um
auf die innere Stimme zu hören, dafür
ist der Mensch in seinem Leben verantwortlich.
Die innere Stimme selbst ist von Gott
eingegeben.
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