[ newsletter ]
Newsletter
Jetzt kostenlos
hier abonnieren:



*

netnovate.de - innovate the internet


 
 
Johann Heinrich Pestalozzi II

  Home / Texte / II / Johann Heinrich Pestalozzi II

Sigurd Hebenstreit

Zweihundertfünfzig Jahre Johann Heinrich Pestalozzi

in: Welt des Kindes, Jg. 74 (1996), Heft 1, S. 34 bis 35

 

 

Das Äußere des Mannes ist hässlich: die Nase viel zu groß, das Gesicht durch Narben und Pocken entstellt, die Kleidung nachlässig und unordentlich, oft unrasiert der Bart und schmutzig der Körper. Der Gang ist stolpernd, tölpelig manchmal das Auftreten. Oft fuchteln die Arme unkontrolliert in der Gegend herum, und die Sprache ist stotternd und schlecht. Aber die Augen: sie sind schön, spiegeln wieder, was die Seele bewegt - manchmal Wehmut, auch Zorn und Ärger, dann Wohlwollen. Wie immer die Stimmung ist, die Augen strahlen warme Menschlichkeit aus. „Liebe“ ist ein häufig von ihm benutztes Wort, und in seinem Mund klingt es nicht verkitscht, weil man unmittelbar spürt, dass da jemand ist, der Liebe gibt und Liebe sucht.

Geboren wird er am 12. Januar 1746 in der einflussreichen Stadt Zürich. Die Familie gehört zwar zur Mittelschicht, doch ökonomische Not beherrscht seine Kindheit (und weite Phasen seines langen Lebens), und es droht der soziale Abstieg, auch weil der Vater früh verstirbt. Der Junge besucht die weiterführende Schule und beginnt eine akademische Ausbildung, die er jedoch vorzeitig abbricht. Mittellos und ohne Berufsausbildung beschließt der Jüngling, Bauer zu werden - ein Lebensplan, den er mit Energie anpackt, der aber im ökonomischen Fiasko endet. Er heiratet nach zweijährigem, erbitterten Widerstand der Schwiegereltern eine um acht Jahre ältere Frau. Aus der erhofft großen Kinderschar wird nichts, nur ein Sohn ist ihr gemeinsames Kind, dazu noch einer, der sich als untüchtig erweist. Die Eltern geben ihn zur besseren Erziehung in fremde Hände, holen ihn aber wieder heim, als sich die ersten epileptischen Anfälle zeigen. Es gelingt den Eltern, ihren behinderten Sohn zu verheiraten, ein Enkelkind wird geboren, doch der Sohn stirbt früh, 25 Jahre vor dem Vater.

Der Mann versucht, den Konkurs seines landwirtschaftlichen Betriebes aufzuhalten, indem er eine Armenerziehungsanstalt auf dem Hof einrichtet. Kinderarbeit und Bildung sollen miteinander verbunden werden. So kommt er zur Pädagogik. Doch auch dieses Vorhaben endet im ökonomischen Desaster. Der größte Teil des Ackerlandes muss verkauft werden, aber es bleibt ihm der Hof, auf dem er jetzt als zumeist einsamer Schriftsteller lebt, der sich seine Gedanken über den Menschen, die Politik und die Erziehung macht. Europaweiten Erfolg hat er in dieser Zeit mit der Veröffentlichung eines Romans. Grundlegend wandelt sich seine Situation aber erst, als die Revolution die politischen Verhältnisse von Grund auf verändert. Er hat jetzt einflussreiche Freunde, und er kann deshalb seine Lieblingsidee verwirklichen: mit 52 Jahren wird er Leiter einer Armenerziehungsanstalt. Er will seiner 80 köpfigen Kinderschar „alles in Einem“ sein, und er realisiert dies für ein halbes Jahr, bevor widrige politische Umstände ihn vertreiben. Doch sein Lebensfaden ist gefunden, er bleibt Erzieher, der mehrere Anstalten gründet, und der durch seine Erziehungsversuche die Pädagogik auf neue Füße stellt. Hohes Ansehen und enttäuschende Misserfolge wechseln sich ab, bis er 81-jährig am 17. Februar 1827 stirbt.

Der Mann hinterlässt ein umfangreiches schriftstellerisches Werk: 28 dicke Bände umfasst die Ausgabe seiner „Sämtlichen Schriften“ und 13 Bände der von ihm verfassten Briefe kommen noch hinzu. Es ist nicht einfach, sich heute durch diese Tausende von Seiten durchzulesen. Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrscht er nur unvollkommen, der Sprachstil ist meinst holperig und, die Sätze sind oft so lang, dass man am Ende vergessen hat, wie der Satz begann. Die systematische Gliederung der umfangreichen Werke ist zumeist nicht seine Sache, so dass das Auffinden des roten Fadens Schwierigkeiten bereitet. Doch hat man als Leser anfängliche Schwierigkeiten überwunden, dann entdeckt man in dem ganzen Wust sprachliche Bilder, die von einer ungeheuren Lebendigkeit und Prägnanz sind. Der Mann denkt fühlend, sein Kopf ist bemüht, das auf das Papier zu diktieren, wovon das Herz überfließt. Die wichtigen Gedanken können nicht leicht und locker aus der Feder fließen, sondern hier kämpft jemand in ehrlicher Absicht, um ein wenig Licht in das Dunkel existentieller Fragen zu bringen.

·       Es geht ihm um die Frage nach dem Menschen, der getrieben ist von seiner Selbstsucht und geprägt durch seine Erziehung. Doch weder die Triebe noch die Sozialisation bilden den Kern des Menschlichen, sondern dieser besteht in der freien Entscheidung, und persönlichen Verantwortung eines jeden für das, was er will, fühlt, denkt und tut. Der Mensch ist nicht außengesteuertes Produkt der anderen, sondern er ist „Werk seiner selbst“.

·       Es geht um die Frage nach dem Verhältnis von kindlicher Selbstentwicklung und Erziehung. Jedes Kind hat in sich ein Kräftepotential, das sich entfalten will, damit es das Gute will, das Wahre denkt und das Richtige tut. Dieses Selber-Wollen, Selber-Denken, Selber-Tun ist die Basis. Keine Erziehung darf das Kind zu etwas hinlenken, das nicht in dem Selbst des Kindes angelegt ist. Doch ohne Erziehung würde das Kind seine Kräfte nicht entdecken und entfalten können, sondern hilflos und schwach stünde es sich selbst und der Welt gegenüber. Alles pädagogische Bemühen muss deshalb der Aufgabe gelten, eine bewusste Erziehung (eine „Erziehungskunst“) zu finden, die dem Kind das gibt, was es zu einer Selbstentwicklung an Hilfen benötigt.

·       Es geht um die Frage nach der grundlegenden, anfänglichen Erziehung. Alles beginnt mit der Liebe der Mutter und des Vaters zu ihrem Kind. Die familiären Verhältnisse sind so zu gestalten, dass das Kind in einer begreifbaren, sinnvollen Welt lebt, dass es durch die Befriedigung seiner Bedürfnisse Geborgenheit erfährt, dass es sein eigenes Tun als bedeutsam erfährt. Erst auf dem Fundament einer erfüllten frühkindlichen Erziehung kann die weitere Bildung des Kindes aufbauen, und alle institutionelle Bildung muss den Grundprinzipien der häuslichen Erziehung verpflichtet sein.

·       Es geht um die Frage nach einer gerechten Gesellschaft. Eine soziale Politik muss hierzu ihren Beitrag leisten, doch sie muss ergänzt werden durch eine Soziale-Pädagogik. Die Erziehung der armen, der benachteiligten Kinder muss Priorität haben. Sie sollen darauf vorbereitet werden, ein selbstbestimmtes Leben in Würde und menschlichem Glück leben zu können, egal in welcher Lebenslage sie sich befinden werden.

Dieser hier vorgestellte Mann, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, wird zum Urgestein der Pädagogik. Er liefert sperrige Brocken, die der immer wieder neuen Bearbeitung harren. Wir können uns an ihnen abarbeiten: eine Perspektive für unser eigenes erzieherisches Handeln gewinnen, unsere pädagogische Alltagswelt in neuem Licht sehen und aus dem oft kleinlichen, kleinkarierten Streit herausgelangen. Es lohnt sich, sich mit Leben und Werk des Mannes zu beschäftigen, der wie kein zweiter die Pädagogikgeschichte geprägt hat:

 

Johann Heinrich Pestalozzi.

 

Anmerkung: Ausführlicher zu diesem Themenkreis: Sigurd Hebenstreit, Johann Heinrich Pestalozzi - Leben und Schriften, Freiburg (Herder Verlag) 1996

 

 


 drucken  zu favouriten hinzufügen  email