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Sigurd Hebenstreit

Ein Tisch ist ein Tisch -

oder: Was heißt "Pädagogik lernen" im Rahmen der Ausbildung zur Heilpädagogin?

Mein Vortrag besteht aus

- einer Vorbemerkung vor der Vorbemerkung,

- einer Vorbemerkung,

- einer langen Einleitung über den Tisch,

- der Entfaltung zweier von mir wahrgenommener Probleme und

- der Beantwortung von sechs selbstgestellten Fragen.

Die Vorbemerkung vor der Vorbemerkung: Falls hier jemand im Raum ist, dem ich eine Prüfung abnehmen soll, er oder sie mögen durch den Vortrag nicht erschrecken. Dies hier ist kein Prüfungswissen, dies ist kein Beispiel eines notwendigen Prüfungsstils. Dies ist meine Prüfung. Deine Prüfung ist deine Prüfung.

Die Vorbemerkung: Ich mag keine Rechtfertigungen, vor allem keine Selbstrechtfertigungen. Weil ich aber spüre, dass von Außen Fragen an mich über meine Lehrinhalte und Lehrweisen herangetragen werden, und weil ich auch spüre, dass sich in meinem Inneren nach zweieinhalb Monatiger Praxis in der heilpädagogischen Ausbildung Fragen meines beruflichen Selbstverständnisses aufdrängen, möchte ich heute das tun, was ich eigentlich ungern tue: Rechtfertigung und vor allem Selbstrechtfertigung.

Um aber das schlechte Gewissen, das durch diese Spannung erzeugt wird, zumindest teilweise zu entlasten, füge ich als Vorbemerkung auch hinzu: Ihr müsst hinter jedem Satz, den ich im folgenden sage, ein Fragezeichen setzen, ein Fragezeichen, das zur Diskussion und Kritik einladen soll. Ich trage das folgende vor, nicht weil ich meine, so ist es, was nicht heißen soll, ich trüge irgendetwas Zufälliges vor, von dem ich genau so gut das Gegenteil sagen könnte, sondern ich entfalte meine Thesen in der Absicht, einen Beitrag zu einer demokratischen, klärenden Streitkultur zu leisten.

1. Ein Tisch ist ein Tisch

"Ein Tisch ist ein Tisch", so der Titel einer Kindergeschichte von Peter Bichsel - und das ist auch die einzige Zitatquelle, die ich in meinem Vortrag gebrauchen will. Es ist eine traurig-nachdenkliche Geschichte von einem alten Mann, dem seine vertraute, kleine Welt zu langweilig wird, so dass er sie umdefiniert:

"'Weshalb heißt das Bett nicht Bild', dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und 'Ruhe' riefen.

'Jetzt ändert es sich', rief er, und er sagte von nun an dem Bett 'Bild'.

'Ich bin müde, ich will ins Bild', sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl 'Wecker'."

Dies geht bis hin zu dem Punkt, an dem eine Verständigung nicht mehr möglich ist:

"Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute."

Und Bichsel schreibt zum Schluss der Geschichte:

"Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf.

Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm.

Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.

Und deshalb sagte er nichts mehr.

Er schwieg,

sprach nur noch mit sich selbst,

grüßte nicht einmal mehr."

Wir wollen dies nicht: kommunikationsunfähig werden. Deshalb also:

Ein Tisch ist ein Tisch!

Aber: Was ist ein Tisch?

Für diejenigen, die mich aus Seminaren kennen, vielleicht eins der Beispiele für unnutzes, intellektuell überzogenes Fragen.

Wir alle wissen, was ein Tisch ist: Ein Tisch hat vier senkrechte Füße, manchmal auch nur einen oder auch sechs und eine darüber liegende waagerechte Platte, die mehr oder weniger hoch, rund, quadratisch, rechteckig oder auch anders geformt sein kann.

Nur: auch ein Hocker hat bis zu vier senkrechten Füßen und eine waagerecht darauf aufliegende Platte.

Woher weiß ich: dies ist ein Tisch und kein Hocker?

Ich mache es an Tätigkeiten fest: der Tisch dient als Objekt zur Ausübung bestimmter Funktionen: Essen, Arbeiten, Spielen. Meinen Fußschemel benutze ich als Stütze meiner Füße, wenn ich im Schaukelstuhl sitze.

Nur: Wenn ich lese, lege ich meine Füße auch auf meinen Schreibtisch, und kleine Kinder benutzen die Fußbank gerne, um darauf zu malen, daran zu essen.

Nun kann man sagen: normalerweise ist ein Tisch ein Gegenstand mit vier senkrechten Füßen und einer waagerechten Platte und normalerweise dient ein Tisch dazu, arbeiten, essen usw. zu ermöglichen. Alle anderen Formen, andere Benutzungszwecke sind Ausnahmen und - wie ein Student einmal richtig seinen Vater zitierte: "Ausnahmen bestätigen die Regel".

Genau dies ist der Punkt: Wir alle leben in einer Alltagswelt, in der wir selbstverständlich und mit Erfolg davon ausgehen, dass ein Tisch ein Tisch ist, dass morgen die Sonne wieder aufgehen wird. Man kann sich mit seinen laufenden Fragen auch selbst ein Bein stellen.

Ich bestreite nicht den Nutzen und Sinn einer solchen lebenspraktischen Regel: Ein Tisch ist ein Tisch, Regelfälle sind Regelfälle und Ausnahmen Ausnahmen. Nur: Dies genau unterscheidet eine alltagsweltliche Haltung von einer wissenschaftlich-intellektuellen. Während in der ersten die Regel zählt, die von der Ausnahme nicht angekratzt wird, sondern sie vielmehr bestätigt, geht es in wissenschaftlichen Versuchen der Weltsicht um die Ausnahme, um die Veränderung der Regel durch die Integration der Ausnahme.

Ich füge nur in Klammern hinzu, dass mir eine solche - wissenschaftliche, ironische, distanzierte Haltung gerade für ein Verständnis von "Behinderung" sinnvoll erscheint. Im Alltagsverständnis ist es wohl so: In der Regel hat ein Mensch zwei Beine und Arme, kann sehen und hören und ist nicht wirren Geistes; und dass es Körper-, Sinnes-, geistig und psychisch Behinderte gibt, ist eine bedauernswerte Tatsache, die aber die Regel, dass ein  Mensch zwei Beine und Arme hat, sehen und hören kann und nicht wirren Geistes ist, nicht erschüttern kann.

Die professionelle heilpädagogische Haltung, die sich um Integration der Behinderten bemüht, sieht dies etwas anders: Es geht um die Menschen ohne Hände und Füße, die, die nicht sehen oder hören können, um die mit wirrem Geist. Und es ist unmenschlich, behinderte Menschen als Ausnahmefall menschlichen Lebens zu definieren, als etwas, was anders ist als wir "nicht behinderten" Menschen. Sondern vielmehr: Der Ausnahmefall ist die Regel, "behindert"-Sein ist ein Grundmerkmal menschlichen Lebens, das ich nicht nur beim anderen, quasi objektiv feststelle, sondern das ein Teil meines Lebens ist.

Ich komme später noch mal darauf zurück, bitte euch jetzt aber, noch ein wenig mit mir über meinen Tisch nachzudenken.

Wie gesagt: bisher war es nicht ganz einfach, anzugeben, was ein Tisch sei, wenn wir alle Ausnahmefälle berücksichtigen wollen.

Vielleicht hilft ein anderer Gedanke uns weiter: Der Tisch gehört zu der Klasse von Dingen, die in bestimmten Gesellschaften zu irgendeinem Zeitpunkt einmal aus praktischen Gründen erfunden wurden, ein Gegenstand, dem man den Namen "Tisch" gab, und der über viele Jahrtausende hinweg in einer Gesellschaft weiterentwickelt und differenziert wurde. Vielleicht - aber die Betonung des Satzes liegt hier auf dem vielleicht - , vielleicht war es ja so, dass irgendwann ein Mensch sich darüber ärgerte, dass sein Weinkrug immer umkippte, weil er auf keiner glatten Oberfläche stand, und dieser Mensch erfand den Tisch, um nicht so vieles Weines verlustig zu gehen. Über Generationen hinweg machten sich Menschen diese Erfindung zu Nutze: die Frau zerschnitt das Gemüse am Tisch und zerlegte an ihm das Huhn; die Erfindung war hilfreich, um ein Buch zu studieren und Gedanken zu Papier zu bekommen (auch diese hier übrigens); sie (die Erfindung) wurde einbezogen in ein Arrangement zwischenmenschlicher Kommunikation (wenn ihr jetzt beispielsweise an euren Wohnzimmertisch denkt oder an den großen Konferenztisch, der in der Tagesschau aus dem Kreml gezeigt wird, hinter dem Gorbatschow Besuch empfängt).

Ich verlasse jetzt diese Ebene, denn ich muss ehrlich gestehen, ich weiß eigentlich gar nichts über die Soziogenese des Tisches. Ich stelle nur fest: als ich auf die Welt kam und mich als Neugeborener weder begrifflich noch praktisch zu dem Tisch verhalten konnte, sondern auf ihm - in Form eines Wickeltisches - nur abgelegt wurde, gab es eine vielschichtige, differenzierte Tatsache von Tisch, in der ein Teil der gesellschaftlichen Menschheitsentwicklung mit eingezimmert war.

Woher weiß ich also heute, dass ein Tisch ein Tisch ist? Ich habe es von Kindesbeinen an gelernt. Mein Tisch, an dem ich das Tischsein gelernt habe, war gelb lackiert mit einer Schublade, in der meine Malutensilien lagen, unter der Platte. Ich saß in meinem kleinen Kindersessel, und der Tisch diente mir als Spieltisch. Er hatte noch einen Zwillingstisch, einen blau lackierten ohne Schublade, der meiner knapp ein Jahr älteren Schwester gehörte. Mein Tisch diente, wenn wir viel Besuch hatten und der große Eßtisch trotz zweier Ausziehplatten nicht ausreichte, für meine Schwester und mich auch als Katzentisch. Er wurde dann mit einem weißen Tischtuch bedeckt.

Überhaupt der große Esstisch. Er hatte nicht nur vier Beine, sondern zur Stabilisierung auf dem Boden  auch diagonale Verbindungsstreben zwischen ihnen. Diese Tatsache und dass man sich darunter verstecken konnte, machten für uns den Tisch zu einem strukturierten Spielfeld, eine Perspektive des Tisches, die Erwachsene nicht nachvollziehen konnten. Ich werde mich beim Hochgehen oft an der Tischkante gestoßen haben, und da half es gegen den Schmerz, wenn meine Eltern oder ich den bösen Tisch an der richtigen Stelle gehauen haben.

Gelernt, was ein Tisch ist, habe ich auch durch die beiden Tische im Arbeitszimmer meines Vaters: da war der nierenförmige Tisch mit Glasplatte - ganz im Stile des Wirtschaftswunders der 50er Jahre. Er stand vor der Bank, auf der Trauernde, Traupaare und bedeutungsvolle Personen saßen. Imposant war für mich der Schreibtisch meines Vaters: er erschien mir riesig, überfüllt mit Büchern, handschriftlichen Notizen und einem wichtigen Requisite, dem Telephon: Vom Tisch aus die ganze Welt erreichen und beherrschen.

Ich breche hier in der Erwartung ab, dass bei einigen vielleicht die Frage auftaucht: Was hat dies alles mit Allgemeiner Pädagogik und vor allem mit dem Verhältnis von Allgemeiner und Heilpädagogik zu tun? Ich bitte um etwas Geduld. Mir sind die Fragen gut im Kopf, und ich hoffe, gleich auch noch die Beziehung dieses Beispiels zu den allgemeinen Fragen deutlich machen zu können.

Aber ein letztes Mal zurück zu dem Tisch. Wahrscheinlich hätte ich mir nie in meinem Leben die Frage vorgelegt, was ein Tisch sei, wenn die praktische, in der Kindheit erworbene Selbstverständlichkeit nicht durch meine Erfahrungen in pädagogischen Institutionen in Frage gestellt worden wäre.

Während eines Praktikums in meinem Studium habe ich zum ersten Mal seit meiner Kindheit einen Kindergarten gesehen. Das Arbeitsfeld hat mich interessiert und seit jetzt 20 Jahren nicht mehr losgelassen. Bedingt durch meine Lehr- und Fortbildungstätigkeit sowie auf Grund persönlicher Kontakte zu Erzieherinnen habe ich in der Zwischenzeit mehrere hundert Kindergärten gesehen. Die Eindrücke wirkten auf mich, und irgendwann habe ich mir einmal die Frage vorgelegt, woran ich eigentlich merke, dass dies ein Kindergarten und nicht was weiß ich sonst ist. Diese Frage hat mich sensibel gemacht für die Dinge, die in allen - oder nahezu allen - Kindergärten gleich sind. Hier nur als anekdotische Randnotiz: z.B. der von der Decke baumelnde Ast, bemalte Fensterscheiben usw. Mich hat diese Gleichheit zu einer Kritik an der pädagogischen Institution Kindergarten geführt, aber das gehört jetzt nicht hierher; sondern nur eine Beobachtung: Ein Punkt, der in allen Kindergärten gleich ist, ist die Fülle von Tischen und Stühlen. Es scheint ein Kindergarten-Grundgesetz zu geben: Für jedes Kind muss zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig ein Stuhl und ein Platz an einem Tisch vorhanden sein.

Ich habe mich dann gefragt: Welche Auswirkungen hat dieses Grundgesetz, das weitgehend unbewusst bleibt, für das Spiel der Kinder? Ich bin an dieser Stelle immer leicht versucht, ins Erzählen zu kommen, möchte mich hier aber bewusst abbremsen und nur den Endpunkt meiner bisherigen Überlegungen präsentieren: Tische und Stühle füllen den Raum so an, dass für grobmotorische Bewegungen, die für dieses Alter eigentlich eher typisch sind, wenig Raum bleibt. Sie dienen als Bremsen für emotionale Ausbrüche von Sexualität und Aggression und regeln so eine ordnende Normalität. Der Tisch fängt die Emotionen ein.

Wie gesagt: Ich habe von diesem Gedanken aus eine Kritik traditioneller Kindergartenarbeit versucht und Anregungen für die pädagogisch sinnvolle Veränderung der Praxis vorgeschlagen. Dies hat für mich den Tisch zu einem fragwürdigen Instrument gemacht: In der Aneignung des Tisches erwirbt ein Kind nicht nur einen Teil gesellschaftlicher Tradition, sondern an seiner Härte und Glattheit prallen lebendige Emotionen ab, die in das Unbewusste des Kindes eingegraben werden müssen.

Nochmals in einer Klammer gesagt: Dies alles scheint vielleicht wieder weit weg von dem Thema "Heilpädagogik" zu sein. Nur denken wir einmal einen Moment lang an heil- und sonderpädagogische Institutionen im Bereich von Unterricht, Erziehung, Betreuung und Therapie; ich bin sicher, nicht nur mir fallen viele Beispiele von Kälte, Sterilität, Hygiene, Glattheit ein, die ihre therapeutische oder betreuerische Plausibilität haben, aber auch Leben, emotionale Tiefe, Abarbeiten von Chaos durch weiche, natürliche Formen verhindern.

Und mit dem Hinweis schließe ich auch die Klammer und wende mich diese lange Einleitung abschließend der Frage zu: Was fangen wir mit all dem Gesagten angesichts der Frage nach dem Stellenwert des Lernens der Allgemeinen Pädagogik für das Selbstverständnis der Heilpädagogik an?

Kurz und bündig - wiederum als Fragen formuliert: Wenn es schon nicht so einfach ist mit dem "Ein Tisch ist ein Tisch", woher sollen wir dann die Hoffnung nehmen, dass es mit "Kindheit", "Gesellschaft", "Erziehung", "Behinderung" einfacher geht? Wenn wir uns zwar auf einen Tisch stellen können und bei festem Untergrund auch einen Halt finden, aber wenn unser Bild und Begriff vom Tisch in unserem Kopf so vielschichtig ist, eine große emotionale Bedeutung hat und auf die Bedeutsamkeit einer ganzen gesellschaftlichen und individuellen Geschichte verweist, wie wollen wir dann Grund in den Dingen finden, die weniger konkret als ein Tisch sind, aber damit nicht weniger real?

Das bisher Gesagte sollte dazu dienen, eine Sensibilität, eine offene Fragehaltung aufzubauen, von der aus wir uns der Behandlung einiger wichtiger Probleme der Ausbildung, des Berufsbildes und des Selbstverständnisses der Heilpädagogin und der Heilpädagogik zuwenden können.

2. Wahrgenommene Erwartungen

Ich habe einleitende bemerkt, dieser Vortrag enthalte über weite Strecken eine Selbstrechtfertigung. Ich muss mein Selbst rechtfertigen, wenn es einen Konflikt zwischen Außenerwartungen an mich und meinen eigenen Handlungswünschen und -möglichkeiten gibt. Worin besteht nun dieser Konflikt? Was lässt sich an ihm über subjektive Einstellungen von Sympathie und Antipathie auf beiden Seiten hinaus an Allgemeinem lernen? Ich zeichne jetzt einige Aspekte des Bildes nach, so wie ich es wahrnehme; es ist ein Bild von Erwartungen, die von Studierenden kommen, aber nicht nur von ihnen, sondern auch von Strukturbedingungen des Lernens an der Fachhochschule, der Praxis des Studienbetriebs hier, Erwartungen von Kolleginnen und Kollegen.

Und dabei zunächst eine Vorbemerkung: Ich zeichne hier nur einige wenige Aspekte nach, und ich zeichne sie als eindeutiges Bild, obwohl mir die Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit der Außenerwartungen sehr wohl im Bewusstsein ist; und ich zeichne ein überspitztes Bild, nicht weil ich meine, dass es so überspitzt ist, sondern um in der Überspitzung Möglichkeiten von Einsicht offenzulegen.

Den Heilpädagogen kennzeichnet gegenüber dem Sonderschullehrer ein breiter Adressatenkreis: nicht Auswahl bestimmter Behinderungsarten, nicht Reduktion auf eine bestimmte Altersstufe, nicht Beschränkung auf einen bestimmten institutionellen Rahmen; und den Heilpädagogen kennzeichnet gegenüber dem Therapeuten ein breites Handlungsspektrum: nicht Begrenzung auf bestimmte Techniken mit spezifischen Wirkungsmöglichkeiten.

In dieser Unspezifität liegt ein hoher Anspruch - und nur in Klammern formuliert: Ich halte diesen Anspruch für notwendig und pädagogisch geboten -, zumal das Berufsbild der Heilpädagogin in Abgrenzung zu den übrigen dort tätigen Professionen (Lehrern, Therapeuten, Ärzten, Erziehern, Psychologen) angesichts der Jungheit unseres Studiengangs sich erst langsam abzuklären beginnt.

Bezeichnen wir es einmal als das Ziel der Ausbildung an dieser Fachhochschule, dass Studentinnen und Studenten für einen breiten Alterskreis (von der Frühförderung bis zum Altenheim), für unterschiedliche Behinderungsarten (von Verhaltensgestörten bis zu schwer Mehrfachbehinderten), für verschiedene Institutionsformen (von integrativen Einrichtungen bis hin zu großen Behindertenzentren), für viele Tätigkeitsmerkmale (von der Betreuung bis zur gezielten Förderung) eine heilpädagogische Handlungskompetenz erwerben sollen.

Diese könnte nun dadurch erreicht werden, dass man Studierende in Behinderungsart nach Behinderungsart, in Altersgruppe nach Altersgruppe, in Institution nach Institution, in Handlungstechnik nach Handlungstechnik einführt. Dies geschieht in dieser Fachhochschule nicht, und es wäre wohl auch wenig sinnvoll, weil dies ein Fass ohne Boden wäre und weil es die Frage nach dem "Verbindenden in der Heilpädagogik" (so das Kongressthema im Juni in Freiburg) nicht beantworten könnte. Statt dessen findet eine Zweiteilung statt: Heilpädagogische Handlungskompetenz wird erreicht, indem auf der einen Seite ein Einblick, ein Hinführen, ein Ausprobieren von Handeln in exemplarisch ausgewählten Institutionen angeboten wird (Praktika, Vor- und Nachbereitung sowie Begleitung der Praxis in der Hochschule) und andererseits in einem Fächerkanon Wissen und Einstellungen erworben werden sollen. Dieser an der Fachhochschule zu studierende Fächerkanon differenziert sich nochmals in allgemeine Grundlagenfächer (Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Sozialethik, Recht) und in speziell auf heilpädagogisches Handeln bezogene Fächer, in denen so etwas wie eine Integration geleistet werden soll (Heilpädagogik und Didaktik und Methodik der Heilpädagogik).

So weit, so gut. Jetzt kann man sich um die Gewichtung der einzelnen Anteile streiten: Ich bin z.B - sicherlich gegenüber den Wünschen einiger oder vieler Studierender - der Meinung, dass der Anteil der Praxis im Verhältnis zu den theoretischen Fächern zu stark gewichtet ist, und als Vertreter für das Fach "Allgemeine Pädagogik" würde ich sicherlich für einen größeren Stellenwert meines Faches gute Gründe vorbringen können. Aber lassen wir das. Ich gehe davon aus, dass wir mit der hier knapp nachgezeichneten Struktur einen Rahmen haben, der weiterentwickelt werden kann (beispielsweise in die andiskutierte Richtung eines Projektstudiums), der aber in sich sinnvoll ist.

Meine jetzt vorzubringenden Probleme liegen auf einer anderen Ebene, und ich möchte sie im folgenden unter zwei Stichworten ansprechen:

- das Containerdenken von Ganzheitlichkeit und

- das Streben nach Sicherheit und Konfliktlosigkeit.

a) Zum Containerdenken von Ganzheitlichkeit

Wenn ich nicht Pädagoge geworden wäre, wäre ein mir lieber Berufswunsch der des Verkehrsplaners gewesen. Deshalb finde ich, dass Container faszinierende Objekte sind. Sie sind groß, genormt, lassen sich von einer Fahrzeugart auf eine andere umsetzen, sie können zu einer riesigen Ansammlung gestapelt werden. Der Inhalt, der in ihnen Platz hat, ist beliebig: riesige Maschinen oder auch Salatköpfe. Das Innere eines Containers stelle ich mir durch eine geordnete Ansammlung von Kästen vor, in denen wiederum kleinere, genormte Kisten sich befinden. Der Container ist glatt und lässt sich durch seine Normiertheit vielfältig einsetzen.

Dies ist ein Bild. Manchmal nehme ich Erwartungen in diesem Studienbetrieb wahr, die mich an dieses Bild erinnern: Die evangelische Fachhochschule bietet Raum für vier Container. Einer davon ist mit "heilpädagogische Handlungskompetenz" beschriftet. In dem Container befinden sich zwei große Abteilungen: "Praxis" und "Theorie". Die mit "Praxis" bezeichnete Abteilung enthält Kisten wie: "Vorbereitung", "Begleitung" und "Nachbereitung" und innerhalb dieser Kisten sind Pakete, die beispielsweise "unmittelbare betreuerische Handlungen", "fördernde Handlungen", "Handeln in Institutionen" benannt sind. In der Abteilung "Theorie" gibt es die Kisten: "Pädagogik", "Psychologie", "Soziologie", "Sozialethik", "Recht" und zwei etwas größere Kisten: "Heilpädagogik" und "Didaktik und Methodik der Heilpädagogik". Die Kiste mit "Allgemeiner Pädagogik" enthält Pakete, die wiederum Überschriften enthalten: "Geschichte der ...", Theorie der...", "Ziele", "Inhalte", "Methoden" usw.

Als Studentin öffne ich den Container, ich gehe durch beide Abteilungen, ich werde angehalten, mir alle Kisten anzuschauen, bei einigen tue ich es lieber, zu den anderen muss ich mehr gezwungen werden. Einige Pakete betrachte ich genauer, ich schnüre sie auf und erwarte viele kleine Päckchen. So könnte das Paket "theoretische Konzepte der Erziehungswissenschaft" die Päckchen "geisteswissenschaftliche Pädagogik", "empirische Erziehungswissenschaft", "kritische Erziehungswissenschaft" enthalten. Ich betrachte die fettgedruckten Überschriften der Päckchen und eins davon schnüre ich auf und sehe, es enthält viele einzelne Briefe, geordnet im C5-Format. Einen Brief öffne ich und lese ihn. In ihm steht: Karl Popper: "Wir wissen nicht, wir raten." Manchmal verwirrt mich die Überfülle, ich weiß nicht mehr, warum ich überhaupt den Container betreten habe, aber dann vergewissere ich mich der Struktur:

- Container,

- Abteilungen,

- Kisten,

- Pakete,

- Päckchen,

- C5-Briefe.

Zug um Zug absolviere ich den Container, und ich werde immer am Ausgang aufgefordert, die Überschriften auf den Päckchen, Paketen und Kisten wiederzugeben. Schließlich verlasse ich den Container und mit meiner Kenntnis der Überschriften der Abteilungen, Kisten, Pakete, Päckchen und einiger Briefe bin ich in der Lage, endlich das zu tun, weshalb ich die Reise durch den Container angetreten habe: mir einen Arbeitsplatz im heilpädagogischen Handlungsfeld zu suchen.

Ich habe es angekündigt: Ich überzeichne mit diesem Bild, aber ich überzeichne mit gutem Gewissen, nämlich in heuristischer Funktion. An das, was ich Container-Denken von Ganzheitlichkeit nenne, habe ich drei Fragen, die auf verschiedenen Ebenen liegen:

(1) auf der Ebene einer grundsätzlichen Zielüberlegung - Was heißt eigentlich Ganzheitlichkeit?

(2) auf der Ebene der "Objekt"seite - Was bedeutet dies für heilpädagogisches Handeln? und

(3) auf der Ebene der Studierenden - Wie bringe ich die Einzelheiten wieder zusammen?

zu (1): Wenn Ganzheitlichkeit darin besteht, dass vieles wichtig ist, dass immer mehr immer wichtiger wird bis hin zu dem Punkt, an dem Alles wichtig und nichts mehr unwichtig ist, was ist dann noch wichtig? Ganzheitlichkeit kann deshalb m.E. nicht in der Addition einzelner Inhalte, Betrachtungs- oder Handlungsweisen bestehen, sondern nur in einer spezifischen Struktur, einer Perspektive, die die Einzelheiten zusammenhält und ihre Gewichtung bestimmt. Dies klingt formal, ich gebe es zu. Und obgleich ich nicht kompetent bin, diese Frage für die heilpädagogische Ausbildung inhaltlich zu beantworten, wage ich hier eine Hypothese: Heilpädagogische Ausbildung gewinnt ihren Stellenwert aus einer sich verändernden gesellschaftlichen Einstellung zu behinderten Menschen: nicht mehr fachkompetente Behandlung von Andersartigkeit, sondern Sensibilität und Betroffenheit für Gemeinsamkeiten.

Zu (2): Das, was ich Container-Denken von Ganzheitlichkeit nenne, legt eine Übertragung auf die Ebene der Planung und Realisierung späterer Handlungsweisen nahe. Wenn man gelernt hat, in Schubladen zu denken, ist vielleicht das wichtigste Lernergebnis nicht der Inhalt der Schubladen, sondern das System des Schubladendenkens. Naheliegend ist dann zum Beispiel das medizinische oder in gradueller Unterschiedlichkeit psychotherapeutische Modell:

- eine möglichst abgesicherte Entwicklungsdiagnose,

- die Suche nach eindeutig feststellbaren chemisch-physikalisch-biologischen Ursachen oder zumindest analogisch nachgebildeten psycho-sozialen Begriffen,

- eine bewährte, empirisch überprüfbare und überprüfte Therapie.

Nun mag es ja sein, dass es einzelne Behinderungen gibt, die sich durch diesen eindeutigen Kreislauf von Ursache - Diagnose - Therapie einfangen lassen, so dass dem Betroffenen dadurch wirksame Hilfe zukommen kann; nur: eine pädagogische Sichtweise ist dies nicht. In der Pädagogik fließt alles drei zusammen; Ursache und Wirkung verwischen sich, weil auch die Ursache erst in dem Erziehungsprozess selbst hergestellt wird.

Ich stelle hier also die These auf: das medizinische Modell mag in Einzelfällen  seine Berechtigung haben, für heilpädagogisches Handeln ist es ein falscher Analogieschluss. Das Leben, das Leben der Behinderten, das Leben der Heilpädagogin und unser gemeinsames Leben ist nicht so. Wir müssen also gegen unsere Denkgewohnheiten, gegen unsere Schul- und Hochschulerfahrungen lernen, nicht in Kästen zu packen, was sich zum Glück diesen Kästen sperrt, wir müssen eine offene Fragehaltung gewinnen, die Unkonventionalität ausprägt, um an das Fremde sich annähern zu können.

zu (3): Ich übersehe nicht, dass das hinter meinem Container-Bild stehende Lernmodell für Studierende einige Vorteile bietet: es lässt anknüpfen an die eigenen Bildungserfahrungen in der Schule, es ist bis zu der Untergliederung von Container - Abteilungen - Kästen leicht durchschaubar, und es überwindet Prüfungsängste, denn das hochschulinterne Aushandeln kann darum kreisen, möglichst selbstbestimmt die Auswahl der zu betrachtenden Pakete vorzunehmen. Abgesehen davon, dass Dozenten nervig sind, die immer ihr Fach für das wichtigste halten und deshalb bemüht sind, auch noch diesen und jenen C5-Brief als unbedingt wichtig anzusehen, scheint mir ein Problem dieses Lernmodells aus der Perspektive der Studierenden in dem Bemühen um Integration der Einzelheiten zu liegen. Ich kann meine Prüfungen Zug um Zug absolvieren, indem ich mir die von Dozenten als wichtig angesehenen Inhalte anlese und zum richtigen Zeitpunkt wiedergebe, nur irgendwann taucht die Frage nach dem Wesen (nicht den Einzelheiten) des Containers auf. Dies macht sich beispielsweise an den Fragen nach dem Berufsbild der Heilpädagogin oder dem Selbstverständnis der Heilpädagogik, dem Verbindenden in der Heilpädagogik fest. M.E. ist auch das subjektive Empfinden, trotz dreieinhalb jähriger Studienzeit nirgendwann einmal Zeit für das Wesentliche zu haben, sondern nach einer Eingewöhnungsphase in die Institution Fachhochschule von Praktikum zu Praktikum und Prüfung zu Prüfung zu hecheln, ein Ausdruck dieser Problemstellung.

Probleme stellen sich, um gelöst zu werden, und ich glaube auch nicht - falls dies ein Trost ist -, dass die angedeuteten Fragen ein Spezifikum der Heilpädagoginnenausbildung sind. Weil es "die" Heilpädagogik nicht gibt, die das Problem bereits gelöst hätte, aus der Summe der Einzelheiten heraus zu dem "Wesen" dem "Verbindenden", dem "Selbstverständnis" der "Integration" vorgedrungen zu sein, sondern nur unterschiedliche Ansätze, die wiederum in der Addition verschiedener Inhalte und Betrachtungsweisen bestehen - so habe ich zumindest die bisherige Diskussion hier verstanden - kann das Fach Heilpädagogik - wenigstens im Moment - auch nicht die Leitdisziplin sein, der die anderen Fächer als Hilfsdisziplinen zuarbeiten. Studierende in der notwendigen Integrationsarbeit nicht alleine zu lassen, sondern auch als Aufgabe der Dozenten anzusehen, erfordert deshalb Lehrbedingungen, die gemeinsames Arbeiten ermöglichen. Sie herzustellen wäre eine notwendige Voraussetzung für eine sinnvolle und gewünschte Studienreform.

3. Sechs Fragen

In einem Gespräch mit einem Studenten ist mir vorgehalten worden, mit meiner skeptischen Haltung könne ich wohl kaum einen Beitrag zum Berufsbild der Heilpädagogin leisten, sie sei vielmehr destruktiv, mit Intellektualität könne man alles zerstören, aber nichts aufbauen. Ich habe über diese Anfrage nachgedacht und möchte hier darauf antworten:

- Ich stehe zu meiner skeptizistischen Haltung,

- ich halte sie nicht für destruktiv, und

- wenngleich ich zugebe, der Intellektualität tut Kritik auch gegenüber sich selbst gut,

- halte ich Skeptizismus, Fragen, Kritik, Ironie, Intellektualität für notwendige Voraussetzungen zum Verständnis von Behinderung, zur Klärung des Selbstverständnisses der Heilpädagogik als integrierender Lehrwissenschaft und zum Professionsverständnis der Heilpädagogin und des Heilpädagogen. Dies ist nun meine anfänglich angekündigte Selbstrechtfertigung, und, um sie nachvollziehbar zu gestalten, habe ich mir sechs Fragen vorgelegt, denen ich mich jetzt zuwenden will.

a) Die erste Frage: Was ist eine Erkenntnis?

Erkenntnis eines außerhalb von mir sich befindenden Objektes heißt nicht, dieses Objekt möglichst genau in meinem Kopf abzubilden, sondern sie bildet einen Prozeß, der von einer Frage in meinem Kopf ausgeht, mich motiviert, in den Objektbereich einzugreifen, um das Objekt in meinem Kopf neu zu konstruieren. Das Objekt und die Erkenntnis des Objektes in meinem Kopf sind zwei verschiedene, nie identische Dinge, sie haben ihre jeweils eigene Struktur, und wir können uns allenfalls bemühen, mit der Logik unserer Begriffe und Theorien uns der Struktur der Realität außerhalb von uns anzunähern.

Dazu hier ein Beispiel:

b) Die zweite Frage: Was ist eine sozialwissenschaftliche Erkenntnis?

Es ist nicht so, dass die Methoden der Naturwissenschaften objektiv oder objektiver als die der Sozialwissenschaften wären, vielmehr sind die Instrumente unseres Biologen von Menschenhand hergestellte Hilfsmittel, und seine Begriffe und Theorien, mit denen er den Baum einfangen will, enthalten die ganze Menschheitsgeschichte in ihrer Beziehung zu Bäumen.

Der Unterschied zwischen Sozial- und Naturwissenschaft liegt vielmehr in einem unterschiedlichen Verhältnis des Innen und Außen, von Subjekt und Objekt. Bäume gab es, bevor es Menschen gab, die etwas über sie erkennen wollten, damit sie (die Menschen) sich die Bäume nutzbar machen konnten; Bäume existieren auch jetzt unabhängig von unserem Bemühen um Erkenntnis, und sie werden wohl auch - egal wie viele Bäume unser Biologe zerschneidet und wie sehr wir Menschen uns um das Waldsterben bemühen - nach der Menschheitsgeschichte existieren. Wir können also trennen zwischen einem unabhängig von der Erkenntnis existierenden Außen und einem um Erkenntnis bemühten Innen.

Diese Trennung fällt bei all den Dingen schwerer, die der Mensch erst geschaffen hat, und durch die er gleichzeitig geschaffen wurde, also der Bereich, der in den Sozialwissenschaften thematisiert wird. Hier steht nicht ein erkennendes Subjekt einer von ihm unterschiedenen Objektwelt gegenüber, sondern dieses Außen ist mit seiner ganzen Geschichte, Gegenwart und Perspektive in dem Innen enthalten, und in dem Bemühen um sozialwissenschaftliche Erkenntnis wird dieses Außen nicht nur im erkennenden Kopf, sondern im realen Außen umgestaltet.

Auch hierfür ein Beispiel: Ich richte meine Erkenntnisbemühungen auf das Thema "Liebespaare". Nicht anders als für den Biologen der "Baum" kein Thema ist, sondern erst seine Frage an den Baum, ist auch bei mir das Liebespaar als Liebespaar kein Thema, sondern meine Frage, mein Interesse daran. Lassen wir das.

Um meinem Erkenntnisbemühen näher zu kommen, kann ich Liebespaare beobachten, ich kann sie befragen, ich kann mir die Geschichte von Paarbeziehungen vergegenwärtigen usw. Vor allem aber kann ich von einem nicht absehen: Ich würde nicht existieren, wenn ich nicht in einer Liebesbeziehung gezeugt worden wäre, ich bin als Kind in Beziehungen zu anderen Menschen geschaffen worden, alles, was ich bin, und alles, was ich denke, ist eine individuelle Geschichte von Beziehungen, hinter der die gesamte Entwicklung gesellschaftlich geprägter Beziehungen steht. Bei dem Bemühen um Erkenntnis steht mein Erkenntnisobjekt also nicht Außen, sondern es ist gleichzeitig Außen und Innen.

Nur in Klammern formuliert: M.E. ist der empiristische Hinweis, diese Selbstbetroffenheit möglichst methodisch kontrolliert auszuklammern, wenig hilfreich, da diese Selbstbetroffenheit nicht der Störfall sozialwissenschaftlicher Erkenntnis ist, sondern ihr Wesen. Selbstbetroffenheit auszuklammern, um sich dem Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis anzunähern, würde den Gegenstand, der erkannt werden soll, zerstören, und es blieben nur noch Äußerlichkeiten, Belanglosigkeiten übrig.

Aber am Beispiel der Liebesbeziehung lässt sich nicht nur zeigen, dass der Gegenstand, der erkannt werden soll, in mir selbst ist, sondern auch, dass durch die Erkenntnis des Gegenstandes dieser Gegenstand selbst verändert wird. Wir haben eben bei dem Biologen gesehen, dass er auch, um den Baum zu erkennen, in den Baum eingreifen, ihn zerstören muss. Aber sein Eingreifen ist konkret: es bezieht sich auf den zu untersuchenden Baum, es betrifft nicht den Baum an sich.

Mein Erkenntnisbemühen um Liebesbeziehung wird meine Liebesbeziehungen verändern. Indem ich versuche zu erkennen, schaffe ich neu. Nach meiner Erkenntnis wird der Gegenstand nicht mehr der gleiche sein wie vordem, sondern er ist die Geschichte bisheriger Erkenntnis + der Bemühungen um Neuformulierung. Dies ist kein individueller Akt, der dem Wesen der Liebesbemühung so äußerlich bleibt, wie der eine zerschnittene Baum unseres Biologen dem Wesen des Baumes insgesamt, sondern, da es in den Sozialwissenschaften um den Bereich geht, den der Mensch in gleichem Maße schafft, wie er durch ihn konstituiert wird, ist mit der einen erkennenden Veränderung das Ganze verändert, wenn auch mit meiner Erkenntnis über die Liebesbeziehung nur ein kleines Zipfelchen dieses Ganzen.

Dies war trotz des Schönen in dem Beispiel, der Liebe, zugegebener Maßen abstrakt, es mag nach intellektueller Überzogenheit klingen. Ich bitte um Entschuldigung. Nur: ich denke, dass dieser Gedanke der Erkenntnisgewinnung wichtige Auswirkungen für das Verständnis und die Organisation des Lernens sozialwissenschaftlicher Inhalte auch hier an der Fachhochschule hat. Aber dazu später.

Ich fasse vorläufig zusammen: Erkenntnis bezieht sich in den Sozialwissenschaften immer auf das Selbst; in dem Erkenntnisprozess wird das Selbst ebenso wie das Erkenntnisobjekt in dialektischer Verschränkung erzeugt, hergestellt, geschaffen. Diese Selbsterkenntnis kommt in den Sozialwissenschaften nicht als ein Aspekt neben anderen additiv hinzu, sondern sie ist als Wesensmerkmal in ihr enthalten. Von dieser Verschränkung abzusehen, sozialwissenschaftliche Inhalte als äußere Objekte erkennen zu wollen, müsste deshalb den Gegenstand verfehlen.

c) Die dritte Frage: Was ist die "Allgemeine Pädagogik"?

Aus der Tatsache, dass von einer "Allgemeinen" Pädagogik gesprochen wird, lässt sich schließen, dass es auch Spezielle Pädagogiken gibt. Und in der Tat: Von der Kleinkindpädagogik über die Erwachsenenbildung bis zur Geragogik, von der Schul- über die Sozial- bis hin zur Sonder- und Heilpädagogik. Die Liste ist lang, scheint unübersichtlich zu werden, und die im Wissenschaftsbetrieb Tätigen sind kreativ: alle paar Jahre entsteht eine neue spezielle Pädagogik. In welchem Verhältnis stehen diese speziellen Pädagogiken zur allgemeinen? Diese Frage beschäftigt uns im Zusammenhang mit der Heilpädagogik; ich stelle sie jetzt noch für einen Augenblick zurück, weil wir, um sie beantworten zu können, vorweg noch wissen müssen, was Pädagogik überhaupt ist.

Schon wieder eine Frage, über die stundenlang zu reden wäre. Also: fassen wir uns kurz: Weil Pädagogik sich mit einem bestimmten Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit beschäftigt, ist sie innerhalb der Systematik des Wissenschaftsbetriebs Teil der Sozialwissenschaften.

Wie lässt sich nun dieser bestimmte Ausschnitt bestimmen, auf den die Pädagogik bezogen ist? Ich beschreibe ihn vorläufig mit den Stichworten "Erziehung", "Bildung", "Krisenintervention" und nehme jetzt nur den Begriff "Erziehung" heraus, weil er zwar nicht den Gesamt- wohl aber den Kernbereich der Pädagogik abdeckt.

Was also ist Erziehung? In unserer Gesellschaft gibt es Kinder und Erwachsene; das ist simpel, aber nicht selbstverständlich, weil Kindheit (und damit Erwachsensein) nicht oder nicht nur eine natürliche, sondern (auch) eine sozial hergestellte Tatsache ist. Die Erwachsenen müssen auf diesen Tatsachenbereich "Kindheit" reagieren: in einer personalen Interaktion - eine Mutter streichelt ihr Kind -, in Gruppen - die Erzieherin führt im Kindergarten ein Stuhlkreisspiel durch -, in zeitlichen und räumlichen Arrangements - das Grünflächenamt baut einen Spielplatz und das Hochbauamt plant eine Trabantenstadt mit Hochhäusern für kinderreiche Familien.

Nennen wir einmal all die Reaktionen der Erwachsenengeneration auf die Kindergeneration "Erziehung", dann ergibt sich die Frage: Was unterscheidet solche erzieherischen Handlungen von nicht-erzieherischen? Ich meine, dass es ein Handeln in Widersprüchlichkeiten - die geisteswissenschaftliche Pädagogik hat sie im Anschluss an Schleiermacher "Antinomien" genannt - ist:

- Abhängigkeit und Freiheit,

- Gegenwart und Zukunft,

- Stellvertretung und Selbständigkeit.

Nun reicht diese Bestimmung aber leider noch nicht hin, denn - nehmen wir nochmals das Beispiel der Liebesbeziehung - in jeder Beziehung wird eine Balance der Spannung von Nähe und Distanz ausgehandelt, ohne dass es deshalb sinnvoll wäre, Liebesbeziehungen als erzieherische Prozesse zu betrachten. Worin liegt also das Spezifische der Widersprüche erzieherischer Beziehungen? In der Gewissheit der Auflösung dieser Beziehung - aus Kindern werden Erwachsene -, und dieses spezifische Ende ist nicht irgendeine beliebige, später stattfindende Randbedingung, sondern von dieser notwendigen Auflösung her und damit von der Grenze von Abhängigkeit und Stellvertretung bestimmt sich auch die Gegenwart erzieherischen Handelns. Auch in dem Stillen des Säuglings an der Mutterbrust ist das Ende der Beziehung mit enthalten.

Nun denn, fassen wir diesen Gedanken zusammen: Erziehung ist die Reaktion der Erwachsenen auf Kinder in der Gewissheit, dass diese Unterscheidung aufgehoben wird. Was hat dies mit Pädagogik zu tun? Indem die Gesellschaft einen eigenständigen Bereich von Wissenschaft und Praxis konstituiert, den sie mit "Pädagogik" umschreibt, reagiert sie auf einen gesellschaftlichen Prozess, in dem Kindheit, wenn nicht erzeugt, so doch herausgehoben wurde. Diese Ausdifferenzierung der Pädagogik ist bedeutsam: sie entlastet Kindheit von den Bedingungen des Produktions- und Machtapparats, und sie ermöglicht die Reflexion der unbewusst ablaufenden Erziehungsprozesse und schafft damit Raum für eigenständige Zielüberlegungen im Interesse der heranwachsenden Generation - in einem Konfliktfeld mit den Ansprüchen des gesellschaftlichen Kernbereichs von Produktion und Macht. Dies ist das, was die geisteswissenschaftliche Pädagogik mit "relativer Autonomie" zu umschreiben versucht hat, nur darf man sich dies nicht idealistisch vorstellen: Pädagogik ist kein gegenüber der Gesellschaft autonomer Bereich, sondern die Schaffung des pädagogischen Spielraums ist ihrerseits nur als Prozess gesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen.

Fassen wir auch hier zusammen: Pädagogik ist die Reflexion auch unbewusst ablaufender Erziehungsprozesse im Interesse sinnvoller, wirksamer, vernünftiger partieller Steuerungsfähigkeit.

Ich schenke uns jetzt die sich unmittelbar daran anschließende Frage, was denn sinnvoll, wirksam und vernünftig heißt, und ich verweise nochmals auf die einleitend genannte Einschränkung, dass mit dem Erziehungsbegriff nicht der Gesamtinhalt der Pädagogik abgedeckt ist, sondern wir auch noch Bildung und Krisenintervention betrachten müßten. Wie gesagt, ich schenke uns dies jetzt und wende mich lieber der vierten Frage zu.

d) Die vierte Frage: Wie lerne ich "Allgemeine Pädagogik"?

Ich hoffe, dass viel von dieser Frage sich durch das weiter oben Ausgeführte erübrigt. Zunächst negativ: Sicherlich nicht dadurch, dass ich Schubladen bilde: Pädagogik als Theorie hier in der Hochschule, praktische pädagogische Fähigkeiten im Praktikum, Selbsterfahrung in der Psychologie oder im privaten Kreis; sicherlich nicht dadurch, dass ich es als äußeres Wissen in meinem Gedächtnis abspeichere: theoretische Begriffe, geschichtliche Zahlen, institutioneller Aufbau.

"Pädagogik lernen" bedeutet für mich vielmehr, eine pädagogische Sensibilität zu elaborieren, eine Sensibilität, die nicht in einem diffusen Fühlen oder einer kindertümelnden Haltung, sondern in einer denkenden Eigenaktivität besteht: In der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Texten, in dem Verstehen theoretischer Ansätze, in der Reflexion praktisch vorgefundener Erziehungswirklichkeit mehr über sich selbst erfahren, über das Erzogensein der eigenen Person, um über die eigene Biographie hinaus eine verantwortbare, begründbare pädagogische Haltung aufzubauen, die kritische und selbstkritische Nachdenklichkeit zur Voraussetzung hat. Ich lege viel Wert auf die Nachdenklichkeit, auf den Aufbau einer intellektuellen Struktur, weil wir nur durch die reflektierende Überwindung des Egozentrismus unserer Selbsterzogenheit das Lernen können, was Inhalt der Pädagogik ist: die Bewusstmachung des unbewussten Reaktionsmusters Erwachsener auf Kinder.

Ein solches "Pädagogik lernen" hat einige Voraussetzungen, von denen ich hier nur eine andeuten will: Wir müssen lernen, unsere Schullernhaltung zu verlernen:

- dass es ein System von Fächern gäbe, das unsere Welt einfinge,

- dass abfragbares Wissen der entscheidende Wert im Tauschgeschäft um die gute Zensur sei,

- dass ein Lehrer uns von Außen motivieren könne,

- dass das Denken erst später erfolge, wenn ein hinreichendes Wissen erworben sei,

- dass das Denken unseres Kopfes banal sei und nur in dem Hersagen von Zitaten großer Geister Anlehnung an das eigentliche Denken erfolgen könne.

Vieles ließe sich aufzählen. Ich lasse es und versuche lieber, diesen Punkt abschließend auf zwei Fragen einzugehen, eine, die manchmal an mich gestellt wird, und eine, die ich mir selbst stelle.

Ist "Wissen" dann eigentlich nicht mehr nötig, kann ich alles aus mir selbst, meinen Erfahrungen schöpfen? Antwort: Nein. So wie ich den Satz richtig finde: Es gibt keine Antworten, sondern nur Fragen, so gilt auch: Es entsteht keine Frage, wenn ich nicht aus meiner Selbstverständlichkeit durch Konfrontation mit dem Anderen herausgerissen werde. Lernen bedeutet so für mich nicht die Addition von Ich bin Ich, der Stoff ist der Stoff, die Gesellschaft ist die Gesellschaft, sondern die Spannung zwischen dem Innen und dem Außen, eine Spannung, die nicht mit einer Antwort endet, sondern in einen spiralenförmigen Frageprozess hinüberreicht.

Und die mir selbst gestellte Frage: Welche psychische Fähigkeit ist Voraussetzung, um solche Lernprozesse einleiten zu können? Antwort: Frustrationstoleranz, das Aushalten der Spannung, dass es auf Fragen keine Antworten gibt, sondern nur ein Mehr an Fragen, dass ich mit einer Frage neue Fragen aufschließe und nicht das Bedürfnis habe, sie mit Antworten zuzuschließen. In diesem Sinne habe ich einmal gesagt, es gehe beim Erlernen der Pädagogik nicht darum, Sicherheit zu gewinnen, sondern verunsichert zu werden. So simpel dies klingen mag, ich erlebe, dass es schwierig ist.

An dieser Frage setzt meine Selbstreflexion ein, aber bevor es ins Uferlose ausartet, breche ich jetzt lieber ab und wende mich den beiden letzten Fragen zu, die sich unmittelbar auf die heilpädagogische Ausbildung beziehen.

e) Die fünfte Frage: In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Pädagogik zur Heilpädagogik?

Neu entstehende wissenschaftliche Disziplinen oder Teildisziplinen neigen dazu, die Grenzen zwischen dem Entstehenden und dem Außen zu betonen - wie ein Gärtner, der um ein kleines Pflänzchen einen schützenden Zaun legt. Man fürchtet, überrollt zu werden, und zieht sich deshalb zurück. Als die Pädagogik begann, sich als unabhängige Disziplin zu konstituieren, sollte mit dem Begriff der "Autonomie" ein solcher Schutzzaun errichtet werden, der aber auch bewirkte, dass - als er Ende der 60er Jahre endgültig zerbrach - die Pädagogik unter einem solchen Innovationsdruck stand, der sie teilweise sprachlos machte und aufzulösen schien, wenn man etwa glaubte, den Begriff der "Erziehung" durch den der "Sozialisation" vollständig ersetzen zu können.

Oder ein weiteres Beispiel, das ich am eigenen Leibe miterlebt habe: Der Boom vorschulischer Erziehung in der Bundesrepublik Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre führte zur Errichtung von Lehrstühlen für frühkindliche Erziehung an einer Reihe von Universitäten. Der Aufbauprozess war noch im Gange, als die Frage diskutiert wurde, ob sich die Vorschulerziehung nicht als eigene wissenschaftliche Teildisziplin begründen und damit von der Sozialpädagogik, aus der sie stammte, emanzipieren müsse. Das Ergebnis nach der Aufbauphase lässt sich seit einiger Zeit beobachten: Die Stellen im universitären Bereich wurden gestrichen oder umgewandelt und selbst auf der Ebene der Fachhochschule für Sozialpädagogik findet Kindergartenpädagogik nur noch in wenigen Fällen statt. Dieser Bereich droht damit - obwohl in der Praxis ausgebaut und fest verankert - in einen Dornröschenschlaf zu fallen.

Was ich damit sagen will: Die Tendenz jeder neuen Disziplin, einen Schutzwall zu bauen, das "Eigentliche", das "Spezifische" zu betrachten, ist psychologisch verständlich, mag auch in der politischen Auseinandersetzung des Wissenschaftsbetriebs hilfreich erscheinen, die Frage jedoch ist, was angesichts der zu lösenden Probleme sachlich geboten ist.

Nun mag Frau Hellmann sagen: Ich will ja gerade keinen Schutzzaun bauen, sondern betone mit dem Begriff der "Heilpädagogik als integrativer Wissenschaft" die Notwendigkeit, Inhalte und Verfahrensweisen vieler Disziplinen in die Heilpädagogik aufzunehmen. Und das genau ist für mich die Frage: Ist die Heilpädagogik eine eigenständige Disziplin, die etwas Spezifisches in ihrer Problemstellung, ihren Zielsetzungen und Methoden hat, in das sie Ergebnisse der anderen Wissenschaften - von der Pädagogik über die Psychologie bis zur Medizin usw. - integriert? Oder ist die Heilpädagogik ein Teil der Pädagogik, die danach fragt, wie die allgemein pädagogischen Aufgaben von Erziehung, Bildung und Krisenintervention bei Menschen mit unterschiedlichen Problemstellungen zu bewerkstelligen sind? Im ersten Fall integriert die Heilpädagogik - unter anderem auch die Allgemeine Pädagogik -, im zweiten Fall würde die Heilpädagogik in die Allgemeine Pädagogik integriert, um bislang hier vernachlässigte Fragen verstärkt zur Geltung zu bringen.

Für einige mag dies eine drittrangige akademische Frage sein, aber ich vermute, dass ihre Beantwortung bis hinein in die Struktur der Studienordnung und die Gewichtung einzelner Studieninhalte praktische Konsequenzen hat.

Die Frage ließe sich auf der Ebene machtorientierter Positionen im Wissenschaftsbetrieb entscheiden. Dies wäre wiederum psychologisch verständlich, würde aber den zu lösenden inhaltlichen Problemen kaum gerecht werden, und ich denke, dies ist auch nicht der Sinn dieser Vortragsreihe am Dienstag Abend. Also fragen wir nach den sachlichen Aufgaben.

Wie ich es bisher verstanden habe, sollen in unserem Fachbereich Menschen ausgebildet werden, die in Bezug auf einen breiten Alterskreis - von der Geburt bis zum Tod -, unterschiedlichste Behinderungsarten - von den Körperbehinderten über die Verhaltensgestörten bis zu den schwerst Mehrfachbehinderten -, in vielfältigen Institutionsformen - von der Familie über Integrationsgruppen bis zu riesigen Behinderungszentren - mit mannigfaltigen Arbeitsweisen - von den direkten Interaktionen über die Koordination bis hin zu planerischen und leitenden Aufgaben - tätig werden sollen und dies in dreifacher Abgrenzung:

- zur Plege der Schwestern und des Hilfspersonals,

- zur Schulpädagogik der Sonderschullehrer

- und zur am Defekt orientierten psychologischen und medizinischen Therapie.

Dies war ein langer Satz, aber es ist ja auch ein breites Tätigkeitsfeld, das der Heilpädagogin. Nur: Was ist dann das Tätigkeitsfeld, wenn die Antwort: ein bisschen Entwicklungsdiagnose, ein bisschen Therapie, ein bisschen Lehren, ein bisschen Pflege nicht gerade befriedigend erscheint, gibt es doch den Psychologen, den Arzt, den Therapeuten, den Lehrer, die Schwester, die jeweils von ihrem Fach her ihr Teilgebiet kompetenter beherrschen?

Ich versuche jetzt auf diese Frage einzugehen und schließe mit meiner Antwort an das an, was Frau Schildmann in ihrem Vortrag unter "Integration" behandelt hat. Dass wir diese Fragen jetzt diskutieren, dass der Studiengang "Heilpädagogik" einen Aufschwung nimmt, dass der Arbeitsmarkt offensichtlich gerne solche Absolventinnen aufnimmt, sind, so denke ich, keine Zufälle, sondern sie entspringen einer veränderten gesellschaftlichen Sichtweise von Behinderung: Behinderung nicht als das bedauernswert Andere, das abgeschoben, auch qualifiziert abgeschoben werden kann, sondern Behinderung als Teil und Wesensmerkmal menschlichen Lebens, ein Teil von Normalität, ein Teil von mir. Dass integrative Arbeit in unserer Zeit so an Bedeutung gewonnen hat, ist m.E. Ausdruck dieser neuen Sichtweise von Behinderung. Man mag sich darüber streiten, ob alle Sondereinrichtungen aufzulösen seien oder ob es Integrations- und Sondereinrichtungen nebeneinander geben muss, dies scheint nicht die entscheidende Frage. Denn die gesellschaftlich veränderte Sichtweise von Behinderung trifft auch die Behinderteneinrichtungen, verändert ihr Selbstverständnis.

Behinderte Kinder mögen ihr Leben lang auf aufwendige Pflege angewiesen sein, sie mögen einer speziellen sonderschulpädagogischen Didaktik und Methodik bedürfen, um lernen zu können, sie mögen spezielle Therapien benötigen, um ihren Defekt zu kompensieren, in erster Linie sind sie Kinder und benötigen deshalb das, was alle Kinder benötigen: Körperlichkeit, Liebe, Zubertrauen; sie benötigen ein erzieherisches Verhältnis, das ihnen Nähe und den befriedigenden Augenblick gibt, aber auch die Anforderung und den Blick auf die Zukunft, das für und im Interesse des Kindes entscheidet, aber gleichermaßen Selbständigkeit zugesteht. Im Kern der gesellschaftlichen Reaktionsweise auf behinderte Kinder steht deshalb nicht Pflege, Schule oder Therapie, sondern Erziehung.

Nehmen wir einmal an, dies wäre nicht eine von mir individuell gewünschte, am Schreibtisch ausgedachte Blickweise, sondern sie würde eine gesellschaftliche Tendenz zum Ausdruck bringen, dann bedürften wir einer Berufsgruppe, die diese gesellschaftliche Bestrebung aufzugreifen vermag, die sie umsetzt in dem traditionellen Alltag pflegerischen, schulischen und therapeutischen Umgangs mit behinderten Kindern und die diesen Gedanken in die Regeleinrichtungen hineinbringt. Die Heilpädagogin wäre deshalb nicht Vertreterin einer zusätzlichen Berufsgruppe, die zu den vielen anderen hinzukäme, sondern sie würde, um es mit einem Begriff aus der Organisationsentwicklung zu sagen, als "Innovationsagentin" zu verstehen sein.

Auf der Ebene der hier gestellten Frage der Einordnung der Heilpädagogik in den Wissenschaftsbetrieb hat dieser Gedanke zur Konsequenz, dass es nicht um eine neue (Teil)disziplin mit eigener Spezifität geht, in die unter anderem die Pädagogik integriert wäre, sondern um eine Integration der spezifischen Voraussetzungen, Ziele, Inhalte, Organisationsweisen etc. behinderter Kinder in den Reflexionshorizont von Erziehung, Bildung und Krisenintervention in der Allgemeinen Pädagogik.

In Klammern formuliert: ich betrachte dies als Aufgabe, nicht als gelöstes Problem. Nur: der Defizitcharakter der Allgemeinen Pädagogik an dieser Stelle sollte nicht Begründung für eine Teildisziplin sein, die in Gefahr stünde, die Aufgabe zu verfehlen, die ihr gesellschaftlich gegeben ist: über Lebens- und Integrationschancen behinderter Kinder nachzudenken.

Also: Integration der Heilpädagogik in die allgemeine Pädagogik.

Konkret an einem Beispiel: Die Erziehungsaufgabe, eine Balance von Abhängigkeit und Freiheit, von Gegenwart und Zukunft zu finden, stellt sich bei behinderten Kindern in einer anderen Akzentsetzung als bei nichtbehinderten Kindern, aber sie stellt sich in jedem pädagogischen Verhältnis überhaupt in spezifischer, konkreter Weise. Und ob es in Bezug auf diese Frage wirklich eine hilfreiche Einteilung ist, blinde, stumme, bewegungsunfähige, geistig behinderte und verhaltensgestörte Kinder über einen Leisten zu schlagen, wage ich zu bezweifeln. Dass alle diese Gruppen zu der der Heilpädagogik bedürftigen Behinderten zusammengefasst wurden, ist Ausdruck der gesellschaftlichen Aussonderung und der Verengung des Normalitätsbegriffs. Nur, auch dies, die Aussonderung, ist nicht den Behinderten eigen, sondern sie teilen es mit einem gut Teil der Klientel sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns.

Betrachten wir es also als unsere Aufgabe, dass wir die gesellschaftliche Tendenz, Behinderte nicht als das Andere auszugrenzen, sondern nach ihren Partizipations- und Integrationsansprüchen zu fragen, aufnehmen und verstärken. Für die hier in der Diskussion stehende Ausbildung zur Heilpädagogin hat dies zur Konsequenz, die pädagogischen Fragen nach Erziehung, Bildung und Krisenintervention zu entwickeln und auf Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemen zu beziehen.

Eigentlich hatte ich mir bei der Planung dieses Vortrags jetzt noch die Frage notiert: Kann die Allgemeine Pädagogik einen Beitrag zum Berufsbild der Heilpädagogin leisten? Aber ich habe den Eindruck, dazu schon einiges gesagt zu haben, und ich mache deshalb jetzt einen großen Punkt und freue mich auf Kritik.


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