Sigurd
Hebenstreit
Ein
Tisch ist ein Tisch -
oder:
Was heißt "Pädagogik lernen"
im Rahmen der Ausbildung zur Heilpädagogin?
Mein
Vortrag besteht aus
-
einer Vorbemerkung vor der Vorbemerkung,
-
einer Vorbemerkung,
-
einer langen Einleitung über den Tisch,
-
der Entfaltung zweier von mir wahrgenommener
Probleme und
-
der Beantwortung von sechs selbstgestellten
Fragen.
Die
Vorbemerkung vor der Vorbemerkung:
Falls hier jemand im Raum ist, dem
ich eine Prüfung abnehmen soll, er
oder sie mögen durch den Vortrag nicht
erschrecken. Dies hier ist kein Prüfungswissen,
dies ist kein Beispiel eines notwendigen
Prüfungsstils. Dies ist meine Prüfung.
Deine Prüfung ist deine Prüfung.
Die
Vorbemerkung: Ich mag keine Rechtfertigungen,
vor allem keine Selbstrechtfertigungen.
Weil ich aber spüre, dass von Außen
Fragen an mich über meine Lehrinhalte
und Lehrweisen herangetragen werden,
und weil ich auch spüre, dass sich
in meinem Inneren nach zweieinhalb
Monatiger Praxis in der heilpädagogischen
Ausbildung Fragen meines beruflichen
Selbstverständnisses aufdrängen, möchte
ich heute das tun, was ich eigentlich
ungern tue: Rechtfertigung und vor
allem Selbstrechtfertigung.
Um
aber das schlechte Gewissen, das durch
diese Spannung erzeugt wird, zumindest
teilweise zu entlasten, füge ich als
Vorbemerkung auch hinzu: Ihr müsst
hinter jedem Satz, den ich im folgenden
sage, ein Fragezeichen setzen, ein
Fragezeichen, das zur Diskussion und
Kritik einladen soll. Ich trage das
folgende vor, nicht weil ich meine,
so ist es, was nicht heißen soll,
ich trüge irgendetwas Zufälliges vor,
von dem ich genau so gut das Gegenteil
sagen könnte, sondern ich entfalte
meine Thesen in der Absicht, einen
Beitrag zu einer demokratischen, klärenden
Streitkultur zu leisten.
1.
Ein Tisch ist ein Tisch
"Ein
Tisch ist ein Tisch", so der
Titel einer Kindergeschichte von Peter
Bichsel - und das ist auch die einzige
Zitatquelle, die ich in meinem Vortrag
gebrauchen will. Es ist eine traurig-nachdenkliche
Geschichte von einem alten Mann, dem
seine vertraute, kleine Welt zu langweilig
wird, so dass er sie umdefiniert:
"'Weshalb
heißt das Bett nicht Bild', dachte
der Mann und lächelte, dann lachte
er, lachte, bis die Nachbarn an die
Wand klopften und 'Ruhe' riefen.
'Jetzt
ändert es sich', rief er, und er sagte
von nun an dem Bett 'Bild'.
'Ich
bin müde, ich will ins Bild', sagte
er, und morgens blieb er oft lange
im Bild liegen und überlegte, wie
er nun dem Stuhl sagen wolle, und
er nannte den Stuhl 'Wecker'."
Dies
geht bis hin zu dem Punkt, an dem
eine Verständigung nicht mehr möglich
ist:
"Am
Mann blieb der alte Fuß lange im Bild
läuten, um neun stellte das Fotoalbum,
der Fuß fror auf und blätterte sich
auf den Schrank, damit er nicht an
die Morgen schaute."
Und
Bichsel schreibt zum Schluss der Geschichte:
"Aber
eine lustige Geschichte ist das nicht.
Sie hat traurig angefangen und hört
traurig auf.
Der
alte Mann im grauen Mantel konnte
die Leute nicht mehr verstehen, das
war nicht so schlimm.
Viel
schlimmer war, sie konnten ihn nicht
mehr verstehen.
Und
deshalb sagte er nichts mehr.
Er
schwieg,
sprach
nur noch mit sich selbst,
grüßte
nicht einmal mehr."
Wir
wollen dies nicht: kommunikationsunfähig
werden. Deshalb also:
Ein
Tisch ist ein Tisch!
Aber:
Was ist ein Tisch?
Für
diejenigen, die mich aus Seminaren
kennen, vielleicht eins der Beispiele
für unnutzes, intellektuell überzogenes
Fragen.
Wir
alle wissen, was ein Tisch ist: Ein
Tisch hat vier senkrechte Füße, manchmal
auch nur einen oder auch sechs und
eine darüber liegende waagerechte
Platte, die mehr oder weniger hoch,
rund, quadratisch, rechteckig oder
auch anders geformt sein kann.
Nur:
auch ein Hocker hat bis zu vier senkrechten
Füßen und eine waagerecht darauf aufliegende
Platte.
Woher
weiß ich: dies ist ein Tisch und kein
Hocker?
Ich
mache es an Tätigkeiten fest: der
Tisch dient als Objekt zur Ausübung
bestimmter Funktionen: Essen, Arbeiten,
Spielen. Meinen Fußschemel benutze
ich als Stütze meiner Füße, wenn ich
im Schaukelstuhl sitze.
Nur:
Wenn ich lese, lege ich meine Füße
auch auf meinen Schreibtisch, und
kleine Kinder benutzen die Fußbank
gerne, um darauf zu malen, daran zu
essen.
Nun
kann man sagen: normalerweise ist
ein Tisch ein Gegenstand mit vier
senkrechten Füßen und einer waagerechten
Platte und normalerweise dient ein
Tisch dazu, arbeiten, essen usw. zu
ermöglichen. Alle anderen Formen,
andere Benutzungszwecke sind Ausnahmen
und - wie ein Student einmal richtig
seinen Vater zitierte: "Ausnahmen
bestätigen die Regel".
Genau
dies ist der Punkt: Wir alle leben
in einer Alltagswelt, in der wir selbstverständlich
und mit Erfolg davon ausgehen, dass
ein Tisch ein Tisch ist, dass morgen
die Sonne wieder aufgehen wird. Man
kann sich mit seinen laufenden Fragen
auch selbst ein Bein stellen.
Ich
bestreite nicht den Nutzen und Sinn
einer solchen lebenspraktischen Regel:
Ein Tisch ist ein Tisch, Regelfälle
sind Regelfälle und Ausnahmen Ausnahmen.
Nur: Dies genau unterscheidet eine
alltagsweltliche Haltung von einer
wissenschaftlich-intellektuellen.
Während in der ersten die Regel zählt,
die von der Ausnahme nicht angekratzt
wird, sondern sie vielmehr bestätigt,
geht es in wissenschaftlichen Versuchen
der Weltsicht um die Ausnahme, um
die Veränderung der Regel durch die
Integration der Ausnahme.
Ich
füge nur in Klammern hinzu, dass mir
eine solche - wissenschaftliche, ironische,
distanzierte Haltung gerade für ein
Verständnis von "Behinderung"
sinnvoll erscheint. Im Alltagsverständnis
ist es wohl so: In der Regel hat ein
Mensch zwei Beine und Arme, kann sehen
und hören und ist nicht wirren Geistes;
und dass es Körper-, Sinnes-, geistig
und psychisch Behinderte gibt, ist
eine bedauernswerte Tatsache, die
aber die Regel, dass ein
Mensch zwei Beine und Arme
hat, sehen und hören kann und nicht
wirren Geistes ist, nicht erschüttern
kann.
Die
professionelle heilpädagogische Haltung,
die sich um Integration der Behinderten
bemüht, sieht dies etwas anders: Es
geht um die Menschen ohne Hände und
Füße, die, die nicht sehen oder hören
können, um die mit wirrem Geist. Und
es ist unmenschlich, behinderte Menschen
als Ausnahmefall menschlichen Lebens
zu definieren, als etwas, was anders
ist als wir "nicht behinderten"
Menschen. Sondern vielmehr: Der Ausnahmefall
ist die Regel, "behindert"-Sein
ist ein Grundmerkmal menschlichen
Lebens, das ich nicht nur beim anderen,
quasi objektiv feststelle, sondern
das ein Teil meines Lebens ist.
Ich
komme später noch mal darauf zurück,
bitte euch jetzt aber, noch ein wenig
mit mir über meinen Tisch nachzudenken.
Wie
gesagt: bisher war es nicht ganz einfach,
anzugeben, was ein Tisch sei, wenn
wir alle Ausnahmefälle berücksichtigen
wollen.
Vielleicht
hilft ein anderer Gedanke uns weiter:
Der Tisch gehört zu der Klasse von
Dingen, die in bestimmten Gesellschaften
zu irgendeinem Zeitpunkt einmal aus
praktischen Gründen erfunden wurden,
ein Gegenstand, dem man den Namen
"Tisch" gab, und der über
viele Jahrtausende hinweg in einer
Gesellschaft weiterentwickelt und
differenziert wurde. Vielleicht -
aber die Betonung des Satzes liegt
hier auf dem vielleicht - , vielleicht
war es ja so, dass irgendwann ein
Mensch sich darüber ärgerte, dass
sein Weinkrug immer umkippte, weil
er auf keiner glatten Oberfläche stand,
und dieser Mensch erfand den Tisch,
um nicht so vieles Weines verlustig
zu gehen. Über Generationen hinweg
machten sich Menschen diese Erfindung
zu Nutze: die Frau zerschnitt das
Gemüse am Tisch und zerlegte an ihm
das Huhn; die Erfindung war hilfreich,
um ein Buch zu studieren und Gedanken
zu Papier zu bekommen (auch diese
hier übrigens); sie (die Erfindung)
wurde einbezogen in ein Arrangement
zwischenmenschlicher Kommunikation
(wenn ihr jetzt beispielsweise an
euren Wohnzimmertisch denkt oder an
den großen Konferenztisch, der in
der Tagesschau aus dem Kreml gezeigt
wird, hinter dem Gorbatschow Besuch
empfängt).
Ich
verlasse jetzt diese Ebene, denn ich
muss ehrlich gestehen, ich weiß eigentlich
gar nichts über die Soziogenese des
Tisches. Ich stelle nur fest: als
ich auf die Welt kam und mich als
Neugeborener weder begrifflich noch
praktisch zu dem Tisch verhalten konnte,
sondern auf ihm - in Form eines Wickeltisches
- nur abgelegt wurde, gab es eine
vielschichtige, differenzierte Tatsache
von Tisch, in der ein Teil der gesellschaftlichen
Menschheitsentwicklung mit eingezimmert
war.
Woher
weiß ich also heute, dass ein Tisch
ein Tisch ist? Ich habe es von Kindesbeinen
an gelernt. Mein Tisch, an dem ich
das Tischsein gelernt habe, war gelb
lackiert mit einer Schublade, in der
meine Malutensilien lagen, unter der
Platte. Ich saß in meinem kleinen
Kindersessel, und der Tisch diente
mir als Spieltisch. Er hatte noch
einen Zwillingstisch, einen blau lackierten
ohne Schublade, der meiner knapp ein
Jahr älteren Schwester gehörte. Mein
Tisch diente, wenn wir viel Besuch
hatten und der große Eßtisch trotz
zweier Ausziehplatten nicht ausreichte,
für meine Schwester und mich auch
als Katzentisch. Er wurde dann mit
einem weißen Tischtuch bedeckt.
Überhaupt
der große Esstisch. Er hatte nicht
nur vier Beine, sondern zur Stabilisierung
auf dem Boden
auch diagonale Verbindungsstreben
zwischen ihnen. Diese Tatsache und
dass man sich darunter verstecken
konnte, machten für uns den Tisch
zu einem strukturierten Spielfeld,
eine Perspektive des Tisches, die
Erwachsene nicht nachvollziehen konnten.
Ich werde mich beim Hochgehen oft
an der Tischkante gestoßen haben,
und da half es gegen den Schmerz,
wenn meine Eltern oder ich den bösen
Tisch an der richtigen Stelle gehauen
haben.
Gelernt,
was ein Tisch ist, habe ich auch durch
die beiden Tische im Arbeitszimmer
meines Vaters: da war der nierenförmige
Tisch mit Glasplatte - ganz im Stile
des Wirtschaftswunders der 50er Jahre.
Er stand vor der Bank, auf der Trauernde,
Traupaare und bedeutungsvolle Personen
saßen. Imposant war für mich der Schreibtisch
meines Vaters: er erschien mir riesig,
überfüllt mit Büchern, handschriftlichen
Notizen und einem wichtigen Requisite,
dem Telephon: Vom Tisch aus die ganze
Welt erreichen und beherrschen.
Ich
breche hier in der Erwartung ab, dass
bei einigen vielleicht die Frage auftaucht:
Was hat dies alles mit Allgemeiner
Pädagogik und vor allem mit dem Verhältnis
von Allgemeiner und Heilpädagogik
zu tun? Ich bitte um etwas Geduld.
Mir sind die Fragen gut im Kopf, und
ich hoffe, gleich auch noch die Beziehung
dieses Beispiels zu den allgemeinen
Fragen deutlich machen zu können.
Aber
ein letztes Mal zurück zu dem Tisch.
Wahrscheinlich hätte ich mir nie in
meinem Leben die Frage vorgelegt,
was ein Tisch sei, wenn die praktische,
in der Kindheit erworbene Selbstverständlichkeit
nicht durch meine Erfahrungen in pädagogischen
Institutionen in Frage gestellt worden
wäre.
Während
eines Praktikums in meinem Studium
habe ich zum ersten Mal seit meiner
Kindheit einen Kindergarten gesehen.
Das Arbeitsfeld hat mich interessiert
und seit jetzt 20 Jahren nicht mehr
losgelassen. Bedingt durch meine Lehr-
und Fortbildungstätigkeit sowie auf
Grund persönlicher Kontakte zu Erzieherinnen
habe ich in der Zwischenzeit mehrere
hundert Kindergärten gesehen. Die
Eindrücke wirkten auf mich, und irgendwann
habe ich mir einmal die Frage vorgelegt,
woran ich eigentlich merke, dass dies
ein Kindergarten und nicht was weiß
ich sonst ist. Diese Frage hat mich
sensibel gemacht für die Dinge, die
in allen - oder nahezu allen - Kindergärten
gleich sind. Hier nur als anekdotische
Randnotiz: z.B. der von der Decke
baumelnde Ast, bemalte Fensterscheiben
usw. Mich hat diese Gleichheit zu
einer Kritik an der pädagogischen
Institution Kindergarten geführt,
aber das gehört jetzt nicht hierher;
sondern nur eine Beobachtung: Ein
Punkt, der in allen Kindergärten gleich
ist, ist die Fülle von Tischen und
Stühlen. Es scheint ein Kindergarten-Grundgesetz
zu geben: Für jedes Kind muss zu jedem
Zeitpunkt gleichzeitig ein Stuhl und
ein Platz an einem Tisch vorhanden
sein.
Ich
habe mich dann gefragt: Welche Auswirkungen
hat dieses Grundgesetz, das weitgehend
unbewusst bleibt, für das Spiel der
Kinder? Ich bin an dieser Stelle immer
leicht versucht, ins Erzählen zu kommen,
möchte mich hier aber bewusst abbremsen
und nur den Endpunkt meiner bisherigen
Überlegungen präsentieren: Tische
und Stühle füllen den Raum so an,
dass für grobmotorische Bewegungen,
die für dieses Alter eigentlich eher
typisch sind, wenig Raum bleibt. Sie
dienen als Bremsen für emotionale
Ausbrüche von Sexualität und Aggression
und regeln so eine ordnende Normalität.
Der Tisch fängt die Emotionen ein.
Wie
gesagt: Ich habe von diesem Gedanken
aus eine Kritik traditioneller Kindergartenarbeit
versucht und Anregungen für die pädagogisch
sinnvolle Veränderung der Praxis vorgeschlagen.
Dies hat für mich den Tisch zu einem
fragwürdigen Instrument gemacht: In
der Aneignung des Tisches erwirbt
ein Kind nicht nur einen Teil gesellschaftlicher
Tradition, sondern an seiner Härte
und Glattheit prallen lebendige Emotionen
ab, die in das Unbewusste des Kindes
eingegraben werden müssen.
Nochmals
in einer Klammer gesagt: Dies alles
scheint vielleicht wieder weit weg
von dem Thema "Heilpädagogik"
zu sein. Nur denken wir einmal einen
Moment lang an heil- und sonderpädagogische
Institutionen im Bereich von Unterricht,
Erziehung, Betreuung und Therapie;
ich bin sicher, nicht nur mir fallen
viele Beispiele von Kälte, Sterilität,
Hygiene, Glattheit ein, die ihre therapeutische
oder betreuerische Plausibilität haben,
aber auch Leben, emotionale Tiefe,
Abarbeiten von Chaos durch weiche,
natürliche Formen verhindern.
Und
mit dem Hinweis schließe ich auch
die Klammer und wende mich diese lange
Einleitung abschließend der Frage
zu: Was fangen wir mit all dem Gesagten
angesichts der Frage nach dem Stellenwert
des Lernens der Allgemeinen Pädagogik
für das Selbstverständnis der Heilpädagogik
an?
Kurz
und bündig - wiederum als Fragen formuliert:
Wenn es schon nicht so einfach ist
mit dem "Ein Tisch ist ein Tisch",
woher sollen wir dann die Hoffnung
nehmen, dass es mit "Kindheit",
"Gesellschaft", "Erziehung",
"Behinderung" einfacher
geht? Wenn wir uns zwar auf einen
Tisch stellen können und bei festem
Untergrund auch einen Halt finden,
aber wenn unser Bild und Begriff vom
Tisch in unserem Kopf so vielschichtig
ist, eine große emotionale Bedeutung
hat und auf die Bedeutsamkeit einer
ganzen gesellschaftlichen und individuellen
Geschichte verweist, wie wollen wir
dann Grund in den Dingen finden, die
weniger konkret als ein Tisch sind,
aber damit nicht weniger real?
Das
bisher Gesagte sollte dazu dienen,
eine Sensibilität, eine offene Fragehaltung
aufzubauen, von der aus wir uns der
Behandlung einiger wichtiger Probleme
der Ausbildung, des Berufsbildes und
des Selbstverständnisses der Heilpädagogin
und der Heilpädagogik zuwenden können.
2.
Wahrgenommene Erwartungen
Ich
habe einleitende bemerkt, dieser Vortrag
enthalte über weite Strecken eine
Selbstrechtfertigung. Ich muss mein
Selbst rechtfertigen, wenn es einen
Konflikt zwischen Außenerwartungen
an mich und meinen eigenen Handlungswünschen
und -möglichkeiten gibt. Worin besteht
nun dieser Konflikt? Was lässt sich
an ihm über subjektive Einstellungen
von Sympathie und Antipathie auf beiden
Seiten hinaus an Allgemeinem lernen?
Ich zeichne jetzt einige Aspekte des
Bildes nach, so wie ich es wahrnehme;
es ist ein Bild von Erwartungen, die
von Studierenden kommen, aber nicht
nur von ihnen, sondern auch von Strukturbedingungen
des Lernens an der Fachhochschule,
der Praxis des Studienbetriebs hier,
Erwartungen von Kolleginnen und Kollegen.
Und
dabei zunächst eine Vorbemerkung:
Ich zeichne hier nur einige wenige
Aspekte nach, und ich zeichne sie
als eindeutiges Bild, obwohl mir die
Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit
der Außenerwartungen sehr wohl im
Bewusstsein ist; und ich zeichne ein
überspitztes Bild, nicht weil ich
meine, dass es so überspitzt ist,
sondern um in der Überspitzung Möglichkeiten
von Einsicht offenzulegen.
Den
Heilpädagogen kennzeichnet gegenüber
dem Sonderschullehrer ein breiter
Adressatenkreis: nicht Auswahl bestimmter
Behinderungsarten, nicht Reduktion
auf eine bestimmte Altersstufe, nicht
Beschränkung auf einen bestimmten
institutionellen Rahmen; und den Heilpädagogen
kennzeichnet gegenüber dem Therapeuten
ein breites Handlungsspektrum: nicht
Begrenzung auf bestimmte Techniken
mit spezifischen Wirkungsmöglichkeiten.
In
dieser Unspezifität liegt ein hoher
Anspruch - und nur in Klammern formuliert:
Ich halte diesen Anspruch für notwendig
und pädagogisch geboten -, zumal das
Berufsbild der Heilpädagogin in Abgrenzung
zu den übrigen dort tätigen Professionen
(Lehrern, Therapeuten, Ärzten, Erziehern,
Psychologen) angesichts der Jungheit
unseres Studiengangs sich erst langsam
abzuklären beginnt.
Bezeichnen
wir es einmal als das Ziel der Ausbildung
an dieser Fachhochschule, dass Studentinnen
und Studenten für einen breiten Alterskreis
(von der Frühförderung bis zum Altenheim),
für unterschiedliche Behinderungsarten
(von Verhaltensgestörten bis zu schwer
Mehrfachbehinderten), für verschiedene
Institutionsformen (von integrativen
Einrichtungen bis hin zu großen Behindertenzentren),
für viele Tätigkeitsmerkmale (von
der Betreuung bis zur gezielten Förderung)
eine heilpädagogische
Handlungskompetenz erwerben sollen.
Diese
könnte nun dadurch erreicht werden,
dass man Studierende in Behinderungsart
nach Behinderungsart, in Altersgruppe
nach Altersgruppe, in Institution
nach Institution, in Handlungstechnik
nach Handlungstechnik einführt. Dies
geschieht in dieser Fachhochschule
nicht, und es wäre wohl auch wenig
sinnvoll, weil dies ein Fass ohne
Boden wäre und weil es die Frage nach
dem "Verbindenden in der Heilpädagogik"
(so das Kongressthema im Juni in Freiburg)
nicht beantworten könnte. Statt dessen
findet eine Zweiteilung statt: Heilpädagogische
Handlungskompetenz wird erreicht,
indem auf der einen Seite ein Einblick,
ein Hinführen, ein Ausprobieren von
Handeln in exemplarisch ausgewählten
Institutionen angeboten wird (Praktika,
Vor- und Nachbereitung sowie Begleitung
der Praxis in der Hochschule) und
andererseits in einem Fächerkanon
Wissen und Einstellungen erworben
werden sollen. Dieser an der Fachhochschule
zu studierende Fächerkanon differenziert
sich nochmals in allgemeine Grundlagenfächer
(Pädagogik, Psychologie, Soziologie,
Sozialethik, Recht) und in speziell
auf heilpädagogisches Handeln bezogene
Fächer, in denen so etwas wie eine
Integration geleistet werden soll
(Heilpädagogik und Didaktik und Methodik
der Heilpädagogik).
So
weit, so gut. Jetzt kann man sich
um die Gewichtung der einzelnen Anteile
streiten: Ich bin z.B - sicherlich
gegenüber den Wünschen einiger oder
vieler Studierender - der Meinung,
dass der Anteil der Praxis im Verhältnis
zu den theoretischen Fächern zu stark
gewichtet ist, und als Vertreter für
das Fach "Allgemeine Pädagogik"
würde ich sicherlich für einen größeren
Stellenwert meines Faches gute Gründe
vorbringen können. Aber lassen wir
das. Ich gehe davon aus, dass wir
mit der hier knapp nachgezeichneten
Struktur einen Rahmen haben, der weiterentwickelt
werden kann (beispielsweise in die
andiskutierte Richtung eines Projektstudiums),
der aber in sich sinnvoll ist.
Meine
jetzt vorzubringenden Probleme liegen
auf einer anderen Ebene, und ich möchte
sie im folgenden unter zwei Stichworten
ansprechen:
-
das Containerdenken von Ganzheitlichkeit
und
-
das Streben nach Sicherheit und Konfliktlosigkeit.
a)
Zum Containerdenken von Ganzheitlichkeit
Wenn
ich nicht Pädagoge geworden wäre,
wäre ein mir lieber Berufswunsch der
des Verkehrsplaners gewesen. Deshalb
finde ich, dass Container faszinierende
Objekte sind. Sie sind groß, genormt,
lassen sich von einer Fahrzeugart
auf eine andere umsetzen, sie können
zu einer riesigen Ansammlung gestapelt
werden. Der Inhalt, der in ihnen Platz
hat, ist beliebig: riesige Maschinen
oder auch Salatköpfe. Das Innere eines
Containers stelle ich mir durch eine
geordnete Ansammlung von Kästen vor,
in denen wiederum kleinere, genormte
Kisten sich befinden. Der Container
ist glatt und lässt sich durch seine
Normiertheit vielfältig einsetzen.
Dies
ist ein Bild. Manchmal nehme ich Erwartungen
in diesem Studienbetrieb wahr, die
mich an dieses Bild erinnern: Die
evangelische Fachhochschule bietet
Raum für vier Container. Einer davon
ist mit "heilpädagogische Handlungskompetenz"
beschriftet. In dem Container befinden
sich zwei große Abteilungen: "Praxis"
und "Theorie". Die mit "Praxis"
bezeichnete Abteilung enthält Kisten
wie: "Vorbereitung", "Begleitung"
und "Nachbereitung" und
innerhalb dieser Kisten sind Pakete,
die beispielsweise "unmittelbare
betreuerische Handlungen", "fördernde
Handlungen", "Handeln in
Institutionen" benannt sind.
In der Abteilung "Theorie"
gibt es die Kisten: "Pädagogik",
"Psychologie", "Soziologie",
"Sozialethik", "Recht"
und zwei etwas größere Kisten: "Heilpädagogik"
und "Didaktik und Methodik der
Heilpädagogik". Die Kiste mit
"Allgemeiner Pädagogik"
enthält Pakete, die wiederum Überschriften
enthalten: "Geschichte der ...",
Theorie der...", "Ziele",
"Inhalte", "Methoden"
usw.
Als
Studentin öffne ich den Container,
ich gehe durch beide Abteilungen,
ich werde angehalten, mir alle Kisten
anzuschauen, bei einigen tue ich es
lieber, zu den anderen muss ich mehr
gezwungen werden. Einige Pakete betrachte
ich genauer, ich schnüre sie auf und
erwarte viele kleine Päckchen. So
könnte das Paket "theoretische
Konzepte der Erziehungswissenschaft"
die Päckchen "geisteswissenschaftliche
Pädagogik", "empirische
Erziehungswissenschaft", "kritische
Erziehungswissenschaft" enthalten.
Ich betrachte die fettgedruckten Überschriften
der Päckchen und eins davon schnüre
ich auf und sehe, es enthält viele
einzelne Briefe, geordnet im C5-Format.
Einen Brief öffne ich und lese ihn.
In ihm steht: Karl Popper: "Wir
wissen nicht, wir raten." Manchmal
verwirrt mich die Überfülle, ich weiß
nicht mehr, warum ich überhaupt den
Container betreten habe, aber dann
vergewissere ich mich der Struktur:
-
Container,
-
Abteilungen,
-
Kisten,
-
Pakete,
-
Päckchen,
-
C5-Briefe.
Zug
um Zug absolviere ich den Container,
und ich werde immer am Ausgang aufgefordert,
die Überschriften auf den Päckchen,
Paketen und Kisten wiederzugeben.
Schließlich verlasse ich den Container
und mit meiner Kenntnis der Überschriften
der Abteilungen, Kisten, Pakete, Päckchen
und einiger Briefe bin ich in der
Lage, endlich das zu tun, weshalb
ich die Reise durch den Container
angetreten habe: mir einen Arbeitsplatz
im heilpädagogischen Handlungsfeld
zu suchen.
Ich
habe es angekündigt: Ich überzeichne
mit diesem Bild, aber ich überzeichne
mit gutem Gewissen, nämlich in heuristischer
Funktion. An das, was ich Container-Denken
von Ganzheitlichkeit nenne, habe ich
drei Fragen, die auf verschiedenen
Ebenen liegen:
(1)
auf der Ebene einer grundsätzlichen
Zielüberlegung - Was heißt eigentlich
Ganzheitlichkeit?
(2)
auf der Ebene der "Objekt"seite
- Was bedeutet dies für heilpädagogisches
Handeln? und
(3)
auf der Ebene der Studierenden - Wie
bringe ich die Einzelheiten wieder
zusammen?
zu
(1): Wenn Ganzheitlichkeit darin
besteht, dass vieles wichtig ist,
dass immer mehr immer wichtiger wird
bis hin zu dem Punkt, an dem Alles
wichtig und nichts mehr unwichtig
ist, was ist dann noch wichtig? Ganzheitlichkeit
kann deshalb m.E. nicht in der Addition
einzelner Inhalte, Betrachtungs- oder
Handlungsweisen bestehen, sondern
nur in einer spezifischen Struktur,
einer Perspektive, die die Einzelheiten
zusammenhält und ihre Gewichtung bestimmt.
Dies klingt formal, ich gebe es zu.
Und obgleich ich nicht kompetent bin,
diese Frage für die heilpädagogische
Ausbildung inhaltlich zu beantworten,
wage ich hier eine Hypothese: Heilpädagogische
Ausbildung gewinnt ihren Stellenwert
aus einer sich verändernden gesellschaftlichen
Einstellung zu behinderten Menschen:
nicht mehr fachkompetente Behandlung
von Andersartigkeit, sondern Sensibilität
und Betroffenheit für Gemeinsamkeiten.
Zu
(2): Das, was ich Container-Denken
von Ganzheitlichkeit nenne, legt eine
Übertragung auf die Ebene der Planung
und Realisierung späterer Handlungsweisen
nahe. Wenn man gelernt hat, in Schubladen
zu denken, ist vielleicht das wichtigste
Lernergebnis nicht der Inhalt der
Schubladen, sondern das System des
Schubladendenkens. Naheliegend ist
dann zum Beispiel das medizinische
oder in gradueller Unterschiedlichkeit
psychotherapeutische Modell:
-
eine möglichst abgesicherte Entwicklungsdiagnose,
-
die Suche nach eindeutig feststellbaren
chemisch-physikalisch-biologischen
Ursachen oder zumindest analogisch
nachgebildeten psycho-sozialen Begriffen,
-
eine bewährte, empirisch überprüfbare
und überprüfte Therapie.
Nun
mag es ja sein, dass es einzelne Behinderungen
gibt, die sich durch diesen eindeutigen
Kreislauf von Ursache - Diagnose -
Therapie einfangen lassen, so dass
dem Betroffenen dadurch wirksame Hilfe
zukommen kann; nur: eine pädagogische
Sichtweise ist dies nicht. In der
Pädagogik fließt alles drei zusammen;
Ursache und Wirkung verwischen sich,
weil auch die Ursache erst in dem
Erziehungsprozess selbst hergestellt
wird.
Ich
stelle hier also die These auf: das
medizinische Modell mag in Einzelfällen
seine Berechtigung haben, für
heilpädagogisches Handeln ist es ein
falscher Analogieschluss. Das Leben,
das Leben der Behinderten, das Leben
der Heilpädagogin und unser gemeinsames
Leben ist nicht so. Wir müssen also
gegen unsere Denkgewohnheiten, gegen
unsere Schul- und Hochschulerfahrungen
lernen, nicht in Kästen zu packen,
was sich zum Glück diesen Kästen sperrt,
wir müssen eine offene Fragehaltung
gewinnen, die Unkonventionalität ausprägt,
um an das Fremde sich annähern zu
können.
zu
(3): Ich übersehe nicht, dass
das hinter meinem Container-Bild stehende
Lernmodell für Studierende einige
Vorteile bietet: es lässt anknüpfen
an die eigenen Bildungserfahrungen
in der Schule, es ist bis zu der Untergliederung
von Container - Abteilungen - Kästen
leicht durchschaubar, und es überwindet
Prüfungsängste, denn das hochschulinterne
Aushandeln kann darum kreisen, möglichst
selbstbestimmt die Auswahl der zu
betrachtenden Pakete vorzunehmen.
Abgesehen davon, dass Dozenten nervig
sind, die immer ihr Fach für das wichtigste
halten und deshalb bemüht sind, auch
noch diesen und jenen C5-Brief als
unbedingt wichtig anzusehen, scheint
mir ein Problem dieses Lernmodells
aus der Perspektive der Studierenden
in dem Bemühen um Integration der
Einzelheiten zu liegen. Ich kann meine
Prüfungen Zug um Zug absolvieren,
indem ich mir die von Dozenten als
wichtig angesehenen Inhalte anlese
und zum richtigen Zeitpunkt wiedergebe,
nur irgendwann taucht die Frage nach
dem Wesen (nicht den Einzelheiten)
des Containers auf. Dies macht sich
beispielsweise an den Fragen nach
dem Berufsbild der Heilpädagogin oder
dem Selbstverständnis der Heilpädagogik,
dem Verbindenden in der Heilpädagogik
fest. M.E. ist auch das subjektive
Empfinden, trotz dreieinhalb jähriger
Studienzeit nirgendwann einmal Zeit
für das Wesentliche zu haben, sondern
nach einer Eingewöhnungsphase in die
Institution Fachhochschule von Praktikum
zu Praktikum und Prüfung zu Prüfung
zu hecheln, ein Ausdruck dieser Problemstellung.
Probleme
stellen sich, um gelöst zu werden,
und ich glaube auch nicht - falls
dies ein Trost ist -, dass die angedeuteten
Fragen ein Spezifikum der Heilpädagoginnenausbildung
sind. Weil es "die" Heilpädagogik
nicht gibt, die das Problem bereits
gelöst hätte, aus der Summe der Einzelheiten
heraus zu dem "Wesen" dem
"Verbindenden", dem "Selbstverständnis"
der "Integration" vorgedrungen
zu sein, sondern nur unterschiedliche
Ansätze, die wiederum in der Addition
verschiedener Inhalte und Betrachtungsweisen
bestehen - so habe ich zumindest die
bisherige Diskussion hier verstanden
- kann das Fach Heilpädagogik - wenigstens
im Moment - auch nicht die Leitdisziplin
sein, der die anderen Fächer als Hilfsdisziplinen
zuarbeiten. Studierende in der notwendigen
Integrationsarbeit nicht alleine zu
lassen, sondern auch als Aufgabe der
Dozenten anzusehen, erfordert deshalb
Lehrbedingungen, die gemeinsames Arbeiten
ermöglichen. Sie herzustellen wäre
eine notwendige Voraussetzung für
eine sinnvolle und gewünschte Studienreform.
3.
Sechs Fragen
In
einem Gespräch mit einem Studenten
ist mir vorgehalten worden, mit meiner
skeptischen Haltung könne ich wohl
kaum einen Beitrag zum Berufsbild
der Heilpädagogin leisten, sie sei
vielmehr destruktiv, mit Intellektualität
könne man alles zerstören, aber nichts
aufbauen. Ich habe über diese Anfrage
nachgedacht und möchte hier darauf
antworten:
-
Ich stehe zu meiner skeptizistischen
Haltung,
-
ich halte sie nicht für destruktiv,
und
-
wenngleich ich zugebe, der Intellektualität
tut Kritik auch gegenüber sich selbst
gut,
-
halte ich Skeptizismus, Fragen, Kritik,
Ironie, Intellektualität für notwendige
Voraussetzungen zum Verständnis von
Behinderung, zur Klärung des Selbstverständnisses
der Heilpädagogik als integrierender
Lehrwissenschaft und zum Professionsverständnis
der Heilpädagogin und des Heilpädagogen.
Dies ist nun meine anfänglich angekündigte
Selbstrechtfertigung, und, um sie
nachvollziehbar zu gestalten, habe
ich mir sechs Fragen vorgelegt, denen
ich mich jetzt zuwenden will.
a)
Die erste Frage: Was ist eine Erkenntnis?
Erkenntnis
eines außerhalb von mir sich befindenden
Objektes heißt nicht, dieses Objekt
möglichst genau in meinem Kopf abzubilden,
sondern sie bildet einen Prozeß, der
von einer Frage in meinem Kopf ausgeht,
mich motiviert, in den Objektbereich
einzugreifen, um das Objekt in meinem
Kopf neu zu konstruieren. Das Objekt
und die Erkenntnis des Objektes in
meinem Kopf sind zwei verschiedene,
nie identische Dinge, sie haben ihre
jeweils eigene Struktur, und wir können
uns allenfalls bemühen, mit der Logik
unserer Begriffe und Theorien uns
der Struktur der Realität außerhalb
von uns anzunähern.
Dazu
hier ein Beispiel:
b)
Die zweite Frage: Was ist eine sozialwissenschaftliche
Erkenntnis?
Es
ist nicht so, dass die Methoden der
Naturwissenschaften objektiv oder
objektiver als die der Sozialwissenschaften
wären, vielmehr sind die Instrumente
unseres Biologen von Menschenhand
hergestellte Hilfsmittel, und seine
Begriffe und Theorien, mit denen er
den Baum einfangen will, enthalten
die ganze Menschheitsgeschichte in
ihrer Beziehung zu Bäumen.
Der
Unterschied zwischen Sozial- und Naturwissenschaft
liegt vielmehr in einem unterschiedlichen
Verhältnis des Innen und Außen, von
Subjekt und Objekt. Bäume gab es,
bevor es Menschen gab, die etwas über
sie erkennen wollten, damit sie (die
Menschen) sich die Bäume nutzbar machen
konnten; Bäume existieren auch jetzt
unabhängig von unserem Bemühen um
Erkenntnis, und sie werden wohl auch
- egal wie viele Bäume unser Biologe
zerschneidet und wie sehr wir Menschen
uns um das Waldsterben bemühen - nach
der Menschheitsgeschichte existieren.
Wir können also trennen zwischen einem
unabhängig von der Erkenntnis existierenden
Außen und einem um Erkenntnis bemühten
Innen.
Diese
Trennung fällt bei all den Dingen
schwerer, die der Mensch erst geschaffen
hat, und durch die er gleichzeitig
geschaffen wurde, also der Bereich,
der in den Sozialwissenschaften thematisiert
wird. Hier steht nicht ein erkennendes
Subjekt einer von ihm unterschiedenen
Objektwelt gegenüber, sondern dieses
Außen ist mit seiner ganzen Geschichte,
Gegenwart und Perspektive in dem Innen
enthalten, und in dem Bemühen um sozialwissenschaftliche
Erkenntnis wird dieses Außen nicht
nur im erkennenden Kopf, sondern im
realen Außen umgestaltet.
Auch
hierfür ein Beispiel: Ich richte meine
Erkenntnisbemühungen auf das Thema
"Liebespaare". Nicht anders
als für den Biologen der "Baum"
kein Thema ist, sondern erst seine
Frage an den Baum, ist auch bei mir
das Liebespaar als Liebespaar kein
Thema, sondern meine Frage, mein Interesse
daran. Lassen wir das.
Um
meinem Erkenntnisbemühen näher zu
kommen, kann ich Liebespaare beobachten,
ich kann sie befragen, ich kann mir
die Geschichte von Paarbeziehungen
vergegenwärtigen usw. Vor allem aber
kann ich von einem nicht absehen:
Ich würde nicht existieren, wenn ich
nicht in einer Liebesbeziehung gezeugt
worden wäre, ich bin als Kind in Beziehungen
zu anderen Menschen geschaffen worden,
alles, was ich bin, und alles, was
ich denke, ist eine individuelle Geschichte
von Beziehungen, hinter der die gesamte
Entwicklung gesellschaftlich geprägter
Beziehungen steht. Bei dem Bemühen
um Erkenntnis steht mein Erkenntnisobjekt
also nicht Außen, sondern es ist gleichzeitig
Außen und Innen.
Nur
in Klammern formuliert: M.E. ist der
empiristische Hinweis, diese Selbstbetroffenheit
möglichst methodisch kontrolliert
auszuklammern, wenig hilfreich, da
diese Selbstbetroffenheit nicht der
Störfall sozialwissenschaftlicher
Erkenntnis ist, sondern ihr Wesen.
Selbstbetroffenheit auszuklammern,
um sich dem Ideal naturwissenschaftlicher
Erkenntnis anzunähern, würde den Gegenstand,
der erkannt werden soll, zerstören,
und es blieben nur noch Äußerlichkeiten,
Belanglosigkeiten übrig.
Aber
am Beispiel der Liebesbeziehung lässt
sich nicht nur zeigen, dass der Gegenstand,
der erkannt werden soll, in mir selbst
ist, sondern auch, dass durch die
Erkenntnis des Gegenstandes dieser
Gegenstand selbst verändert wird.
Wir haben eben bei dem Biologen gesehen,
dass er auch, um den Baum zu erkennen,
in den Baum eingreifen, ihn zerstören
muss. Aber sein Eingreifen ist konkret:
es bezieht sich auf den zu untersuchenden
Baum, es betrifft nicht den Baum an
sich.
Mein
Erkenntnisbemühen um Liebesbeziehung
wird meine Liebesbeziehungen verändern.
Indem ich versuche zu erkennen, schaffe
ich neu. Nach meiner Erkenntnis wird
der Gegenstand nicht mehr der gleiche
sein wie vordem, sondern er ist die
Geschichte bisheriger Erkenntnis +
der Bemühungen um Neuformulierung.
Dies ist kein individueller Akt, der
dem Wesen der Liebesbemühung so äußerlich
bleibt, wie der eine zerschnittene
Baum unseres Biologen dem Wesen des
Baumes insgesamt, sondern, da es in
den Sozialwissenschaften um den Bereich
geht, den der Mensch in gleichem Maße
schafft, wie er durch ihn konstituiert
wird, ist mit der einen erkennenden
Veränderung das Ganze verändert, wenn
auch mit meiner Erkenntnis über die
Liebesbeziehung nur ein kleines Zipfelchen
dieses Ganzen.
Dies
war trotz des Schönen in dem Beispiel,
der Liebe, zugegebener Maßen abstrakt,
es mag nach intellektueller Überzogenheit
klingen. Ich bitte um Entschuldigung.
Nur: ich denke, dass dieser Gedanke
der Erkenntnisgewinnung wichtige Auswirkungen
für das Verständnis und die Organisation
des Lernens sozialwissenschaftlicher
Inhalte auch hier an der Fachhochschule
hat. Aber dazu später.
Ich
fasse vorläufig zusammen: Erkenntnis
bezieht sich in den Sozialwissenschaften
immer auf das Selbst; in dem Erkenntnisprozess
wird das Selbst ebenso wie das Erkenntnisobjekt
in dialektischer Verschränkung erzeugt,
hergestellt, geschaffen. Diese Selbsterkenntnis
kommt in den Sozialwissenschaften
nicht als ein Aspekt neben anderen
additiv hinzu, sondern sie ist als
Wesensmerkmal in ihr enthalten. Von
dieser Verschränkung abzusehen, sozialwissenschaftliche
Inhalte als äußere Objekte erkennen
zu wollen, müsste deshalb den Gegenstand
verfehlen.
c)
Die dritte Frage: Was ist die "Allgemeine
Pädagogik"?
Aus
der Tatsache, dass von einer "Allgemeinen"
Pädagogik gesprochen wird, lässt sich
schließen, dass es auch Spezielle
Pädagogiken gibt. Und in der Tat:
Von der Kleinkindpädagogik über die
Erwachsenenbildung bis zur Geragogik,
von der Schul- über die Sozial- bis
hin zur Sonder- und Heilpädagogik.
Die Liste ist lang, scheint unübersichtlich
zu werden, und die im Wissenschaftsbetrieb
Tätigen sind kreativ: alle paar Jahre
entsteht eine neue spezielle Pädagogik.
In welchem Verhältnis stehen diese
speziellen Pädagogiken zur allgemeinen?
Diese Frage beschäftigt uns im Zusammenhang
mit der Heilpädagogik; ich stelle
sie jetzt noch für einen Augenblick
zurück, weil wir, um sie beantworten
zu können, vorweg noch wissen müssen,
was Pädagogik überhaupt ist.
Schon
wieder eine Frage, über die stundenlang
zu reden wäre. Also: fassen wir uns
kurz: Weil Pädagogik sich mit einem
bestimmten Ausschnitt gesellschaftlicher
Wirklichkeit beschäftigt, ist sie
innerhalb der Systematik des Wissenschaftsbetriebs
Teil der Sozialwissenschaften.
Wie
lässt sich nun dieser bestimmte Ausschnitt
bestimmen, auf den die Pädagogik bezogen
ist? Ich beschreibe ihn vorläufig
mit den Stichworten "Erziehung",
"Bildung", "Krisenintervention"
und nehme jetzt nur den Begriff "Erziehung"
heraus, weil er zwar nicht den Gesamt-
wohl aber den Kernbereich der Pädagogik
abdeckt.
Was
also ist Erziehung? In unserer Gesellschaft
gibt es Kinder und Erwachsene; das
ist simpel, aber nicht selbstverständlich,
weil Kindheit (und damit Erwachsensein)
nicht oder nicht nur eine natürliche,
sondern (auch) eine sozial hergestellte
Tatsache ist. Die Erwachsenen müssen
auf diesen Tatsachenbereich "Kindheit"
reagieren: in einer personalen Interaktion
- eine Mutter streichelt ihr Kind
-, in Gruppen - die Erzieherin führt
im Kindergarten ein Stuhlkreisspiel
durch -, in zeitlichen und räumlichen
Arrangements - das Grünflächenamt
baut einen Spielplatz und das Hochbauamt
plant eine Trabantenstadt mit Hochhäusern
für kinderreiche Familien.
Nennen
wir einmal all die Reaktionen der
Erwachsenengeneration auf die Kindergeneration
"Erziehung", dann ergibt
sich die Frage: Was unterscheidet
solche erzieherischen Handlungen von
nicht-erzieherischen? Ich meine, dass
es ein Handeln in Widersprüchlichkeiten
- die geisteswissenschaftliche Pädagogik
hat sie im Anschluss an Schleiermacher
"Antinomien" genannt - ist:
-
Abhängigkeit und Freiheit,
-
Gegenwart und Zukunft,
-
Stellvertretung und Selbständigkeit.
Nun
reicht diese Bestimmung aber leider
noch nicht hin, denn - nehmen wir
nochmals das Beispiel der Liebesbeziehung
- in jeder Beziehung wird eine Balance
der Spannung von Nähe und Distanz
ausgehandelt, ohne dass es deshalb
sinnvoll wäre, Liebesbeziehungen als
erzieherische Prozesse zu betrachten.
Worin liegt also das Spezifische der
Widersprüche erzieherischer Beziehungen?
In der Gewissheit der Auflösung dieser
Beziehung - aus Kindern werden Erwachsene
-, und dieses spezifische Ende ist
nicht irgendeine beliebige, später
stattfindende Randbedingung, sondern
von dieser notwendigen Auflösung her
und damit von der Grenze von Abhängigkeit
und Stellvertretung bestimmt sich
auch die Gegenwart erzieherischen
Handelns. Auch in dem Stillen des
Säuglings an der Mutterbrust ist das
Ende der Beziehung mit enthalten.
Nun
denn, fassen wir diesen Gedanken zusammen:
Erziehung ist die Reaktion der Erwachsenen
auf Kinder in der Gewissheit, dass
diese Unterscheidung aufgehoben wird.
Was hat dies mit Pädagogik zu tun?
Indem die Gesellschaft einen eigenständigen
Bereich von Wissenschaft und Praxis
konstituiert, den sie mit "Pädagogik"
umschreibt, reagiert sie auf einen
gesellschaftlichen Prozess, in dem
Kindheit, wenn nicht erzeugt, so doch
herausgehoben wurde. Diese Ausdifferenzierung
der Pädagogik ist bedeutsam: sie entlastet
Kindheit von den Bedingungen des Produktions-
und Machtapparats, und sie ermöglicht
die Reflexion der unbewusst ablaufenden
Erziehungsprozesse und schafft damit
Raum für eigenständige Zielüberlegungen
im Interesse der heranwachsenden Generation
- in einem Konfliktfeld mit den Ansprüchen
des gesellschaftlichen Kernbereichs
von Produktion und Macht. Dies ist
das, was die geisteswissenschaftliche
Pädagogik mit "relativer Autonomie"
zu umschreiben versucht hat, nur darf
man sich dies nicht idealistisch vorstellen:
Pädagogik ist kein gegenüber der Gesellschaft
autonomer Bereich, sondern die Schaffung
des pädagogischen Spielraums ist ihrerseits
nur als Prozess gesellschaftlicher
Entwicklung zu verstehen.
Fassen
wir auch hier zusammen: Pädagogik
ist die Reflexion auch unbewusst ablaufender
Erziehungsprozesse im Interesse sinnvoller,
wirksamer, vernünftiger partieller
Steuerungsfähigkeit.
Ich
schenke uns jetzt die sich unmittelbar
daran anschließende Frage, was denn
sinnvoll, wirksam und vernünftig heißt,
und ich verweise nochmals auf die
einleitend genannte Einschränkung,
dass mit dem Erziehungsbegriff nicht
der Gesamtinhalt der Pädagogik abgedeckt
ist, sondern wir auch noch Bildung
und Krisenintervention betrachten
müßten. Wie gesagt, ich schenke uns
dies jetzt und wende mich lieber der
vierten Frage zu.
d)
Die vierte Frage: Wie lerne ich "Allgemeine
Pädagogik"?
Ich
hoffe, dass viel von dieser Frage
sich durch das weiter oben Ausgeführte
erübrigt. Zunächst negativ: Sicherlich
nicht dadurch, dass ich Schubladen
bilde: Pädagogik als Theorie hier
in der Hochschule, praktische pädagogische
Fähigkeiten im Praktikum, Selbsterfahrung
in der Psychologie oder im privaten
Kreis; sicherlich nicht dadurch, dass
ich es als äußeres Wissen in meinem
Gedächtnis abspeichere: theoretische
Begriffe, geschichtliche Zahlen, institutioneller
Aufbau.
"Pädagogik
lernen" bedeutet für mich vielmehr,
eine pädagogische Sensibilität zu
elaborieren, eine Sensibilität, die
nicht in einem diffusen Fühlen oder
einer kindertümelnden Haltung, sondern
in einer denkenden Eigenaktivität
besteht: In der Auseinandersetzung
mit geschichtlichen Texten, in dem
Verstehen theoretischer Ansätze, in
der Reflexion praktisch vorgefundener
Erziehungswirklichkeit mehr über sich
selbst erfahren, über das Erzogensein
der eigenen Person, um über die eigene
Biographie hinaus eine verantwortbare,
begründbare pädagogische Haltung aufzubauen,
die kritische und selbstkritische
Nachdenklichkeit zur Voraussetzung
hat. Ich lege viel Wert auf die Nachdenklichkeit,
auf den Aufbau einer intellektuellen
Struktur, weil wir nur durch die reflektierende
Überwindung des Egozentrismus unserer
Selbsterzogenheit das Lernen können,
was Inhalt der Pädagogik ist: die
Bewusstmachung des unbewussten Reaktionsmusters
Erwachsener auf Kinder.
Ein
solches "Pädagogik lernen"
hat einige Voraussetzungen, von denen
ich hier nur eine andeuten will: Wir
müssen lernen, unsere Schullernhaltung
zu verlernen:
-
dass es ein System von Fächern gäbe,
das unsere Welt einfinge,
-
dass abfragbares Wissen der entscheidende
Wert im Tauschgeschäft um die gute
Zensur sei,
-
dass ein Lehrer uns von Außen motivieren
könne,
-
dass das Denken erst später erfolge,
wenn ein hinreichendes Wissen erworben
sei,
-
dass das Denken unseres Kopfes banal
sei und nur in dem Hersagen von Zitaten
großer Geister Anlehnung an das eigentliche
Denken erfolgen könne.
Vieles
ließe sich aufzählen. Ich lasse es
und versuche lieber, diesen Punkt
abschließend auf zwei Fragen einzugehen,
eine, die manchmal an mich gestellt
wird, und eine, die ich mir selbst
stelle.
Ist
"Wissen" dann eigentlich
nicht mehr nötig, kann ich alles aus
mir selbst, meinen Erfahrungen schöpfen?
Antwort: Nein. So wie ich den Satz
richtig finde: Es gibt keine Antworten,
sondern nur Fragen, so gilt auch:
Es entsteht keine Frage, wenn ich
nicht aus meiner Selbstverständlichkeit
durch Konfrontation mit dem Anderen
herausgerissen werde. Lernen bedeutet
so für mich nicht die Addition von
Ich bin Ich, der Stoff ist der Stoff,
die Gesellschaft ist die Gesellschaft,
sondern die Spannung zwischen dem
Innen und dem Außen, eine Spannung,
die nicht mit einer Antwort endet,
sondern in einen spiralenförmigen
Frageprozess hinüberreicht.
Und
die mir selbst gestellte Frage: Welche
psychische Fähigkeit ist Voraussetzung,
um solche Lernprozesse einleiten zu
können? Antwort: Frustrationstoleranz,
das Aushalten der Spannung, dass es
auf Fragen keine Antworten gibt, sondern
nur ein Mehr an Fragen, dass ich mit
einer Frage neue Fragen aufschließe
und nicht das Bedürfnis habe, sie
mit Antworten zuzuschließen. In diesem
Sinne habe ich einmal gesagt, es gehe
beim Erlernen der Pädagogik nicht
darum, Sicherheit zu gewinnen, sondern
verunsichert zu werden. So simpel
dies klingen mag, ich erlebe, dass
es schwierig ist.
An
dieser Frage setzt meine Selbstreflexion
ein, aber bevor es ins Uferlose ausartet,
breche ich jetzt lieber ab und wende
mich den beiden letzten Fragen zu,
die sich unmittelbar auf die heilpädagogische
Ausbildung beziehen.
e)
Die fünfte Frage: In welchem Verhältnis
steht die Allgemeine Pädagogik zur
Heilpädagogik?
Neu
entstehende wissenschaftliche Disziplinen
oder Teildisziplinen neigen dazu,
die Grenzen zwischen dem Entstehenden
und dem Außen zu betonen - wie ein
Gärtner, der um ein kleines Pflänzchen
einen schützenden Zaun legt. Man fürchtet,
überrollt zu werden, und zieht sich
deshalb zurück. Als die Pädagogik
begann, sich als unabhängige Disziplin
zu konstituieren, sollte mit dem Begriff
der "Autonomie" ein solcher
Schutzzaun errichtet werden, der aber
auch bewirkte, dass - als er Ende
der 60er Jahre endgültig zerbrach
- die Pädagogik unter einem solchen
Innovationsdruck stand, der sie teilweise
sprachlos machte und aufzulösen schien,
wenn man etwa glaubte, den Begriff
der "Erziehung" durch den
der "Sozialisation" vollständig
ersetzen zu können.
Oder
ein weiteres Beispiel, das ich am
eigenen Leibe miterlebt habe: Der
Boom vorschulischer Erziehung in der
Bundesrepublik Ende der 60er/Anfang
der 70er Jahre führte zur Errichtung
von Lehrstühlen für frühkindliche
Erziehung an einer Reihe von Universitäten.
Der Aufbauprozess war noch im Gange,
als die Frage diskutiert wurde, ob
sich die Vorschulerziehung nicht als
eigene wissenschaftliche Teildisziplin
begründen und damit von der Sozialpädagogik,
aus der sie stammte, emanzipieren
müsse. Das Ergebnis nach der Aufbauphase
lässt sich seit einiger Zeit beobachten:
Die Stellen im universitären Bereich
wurden gestrichen oder umgewandelt
und selbst auf der Ebene der Fachhochschule
für Sozialpädagogik findet Kindergartenpädagogik
nur noch in wenigen Fällen statt.
Dieser Bereich droht damit - obwohl
in der Praxis ausgebaut und fest verankert
- in einen Dornröschenschlaf zu fallen.
Was
ich damit sagen will: Die Tendenz
jeder neuen Disziplin, einen Schutzwall
zu bauen, das "Eigentliche",
das "Spezifische" zu betrachten,
ist psychologisch verständlich, mag
auch in der politischen Auseinandersetzung
des Wissenschaftsbetriebs hilfreich
erscheinen, die Frage jedoch ist,
was angesichts der zu lösenden Probleme
sachlich geboten ist.
Nun
mag Frau Hellmann sagen: Ich will
ja gerade keinen Schutzzaun bauen,
sondern betone mit dem Begriff der
"Heilpädagogik als integrativer
Wissenschaft" die Notwendigkeit,
Inhalte und Verfahrensweisen vieler
Disziplinen in die Heilpädagogik aufzunehmen.
Und das genau ist für mich die Frage:
Ist die Heilpädagogik eine eigenständige
Disziplin, die etwas Spezifisches
in ihrer Problemstellung, ihren Zielsetzungen
und Methoden hat, in das sie Ergebnisse
der anderen Wissenschaften - von der
Pädagogik über die Psychologie bis
zur Medizin usw. - integriert? Oder
ist die Heilpädagogik ein Teil der
Pädagogik, die danach fragt, wie die
allgemein pädagogischen Aufgaben von
Erziehung, Bildung und Krisenintervention
bei Menschen mit unterschiedlichen
Problemstellungen zu bewerkstelligen
sind? Im ersten Fall integriert die
Heilpädagogik - unter anderem auch
die Allgemeine Pädagogik -, im zweiten
Fall würde die Heilpädagogik in die
Allgemeine Pädagogik integriert, um
bislang hier vernachlässigte Fragen
verstärkt zur Geltung zu bringen.
Für
einige mag dies eine drittrangige
akademische Frage sein, aber ich vermute,
dass ihre Beantwortung bis hinein
in die Struktur der Studienordnung
und die Gewichtung einzelner Studieninhalte
praktische Konsequenzen hat.
Die
Frage ließe sich auf der Ebene machtorientierter
Positionen im Wissenschaftsbetrieb
entscheiden. Dies wäre wiederum psychologisch
verständlich, würde aber den zu lösenden
inhaltlichen Problemen kaum gerecht
werden, und ich denke, dies ist auch
nicht der Sinn dieser Vortragsreihe
am Dienstag Abend. Also fragen wir
nach den sachlichen Aufgaben.
Wie
ich es bisher verstanden habe, sollen
in unserem Fachbereich Menschen ausgebildet
werden, die in Bezug auf einen breiten
Alterskreis - von der Geburt bis zum
Tod -, unterschiedlichste Behinderungsarten
- von den Körperbehinderten über die
Verhaltensgestörten bis zu den schwerst
Mehrfachbehinderten -, in vielfältigen
Institutionsformen - von der Familie
über Integrationsgruppen bis zu riesigen
Behinderungszentren - mit mannigfaltigen
Arbeitsweisen - von den direkten Interaktionen
über die Koordination bis hin zu planerischen
und leitenden Aufgaben - tätig werden
sollen und dies in dreifacher Abgrenzung:
-
zur Plege der Schwestern und des Hilfspersonals,
-
zur Schulpädagogik der Sonderschullehrer
-
und zur am Defekt orientierten psychologischen
und medizinischen Therapie.
Dies
war ein langer Satz, aber es ist ja
auch ein breites Tätigkeitsfeld, das
der Heilpädagogin. Nur: Was ist dann
das Tätigkeitsfeld, wenn die Antwort:
ein bisschen Entwicklungsdiagnose,
ein bisschen Therapie, ein bisschen
Lehren, ein bisschen Pflege nicht
gerade befriedigend erscheint, gibt
es doch den Psychologen, den Arzt,
den Therapeuten, den Lehrer, die Schwester,
die jeweils von ihrem Fach her ihr
Teilgebiet kompetenter beherrschen?
Ich
versuche jetzt auf diese Frage einzugehen
und schließe mit meiner Antwort an
das an, was Frau Schildmann in ihrem
Vortrag unter "Integration"
behandelt hat. Dass wir diese Fragen
jetzt diskutieren, dass der Studiengang
"Heilpädagogik" einen Aufschwung
nimmt, dass der Arbeitsmarkt offensichtlich
gerne solche Absolventinnen aufnimmt,
sind, so denke ich, keine Zufälle,
sondern sie entspringen einer veränderten
gesellschaftlichen Sichtweise von
Behinderung: Behinderung nicht als
das bedauernswert Andere, das abgeschoben,
auch qualifiziert abgeschoben werden
kann, sondern Behinderung als Teil
und Wesensmerkmal menschlichen Lebens,
ein Teil von Normalität, ein Teil
von mir. Dass integrative Arbeit in
unserer Zeit so an Bedeutung gewonnen
hat, ist m.E. Ausdruck dieser neuen
Sichtweise von Behinderung. Man mag
sich darüber streiten, ob alle Sondereinrichtungen
aufzulösen seien oder ob es Integrations-
und Sondereinrichtungen nebeneinander
geben muss, dies scheint nicht die
entscheidende Frage. Denn die gesellschaftlich
veränderte Sichtweise von Behinderung
trifft auch die Behinderteneinrichtungen,
verändert ihr Selbstverständnis.
Behinderte
Kinder mögen ihr Leben lang auf aufwendige
Pflege angewiesen sein, sie mögen
einer speziellen sonderschulpädagogischen
Didaktik und Methodik bedürfen, um
lernen zu können, sie mögen spezielle
Therapien benötigen, um ihren Defekt
zu kompensieren, in erster Linie sind
sie Kinder und benötigen deshalb das,
was alle Kinder benötigen: Körperlichkeit,
Liebe, Zubertrauen; sie benötigen
ein erzieherisches Verhältnis, das
ihnen Nähe und den befriedigenden
Augenblick gibt, aber auch die Anforderung
und den Blick auf die Zukunft, das
für und im Interesse des Kindes entscheidet,
aber gleichermaßen Selbständigkeit
zugesteht. Im Kern der gesellschaftlichen
Reaktionsweise auf behinderte Kinder
steht deshalb nicht Pflege, Schule
oder Therapie, sondern Erziehung.
Nehmen
wir einmal an, dies wäre nicht eine
von mir individuell gewünschte, am
Schreibtisch ausgedachte Blickweise,
sondern sie würde eine gesellschaftliche
Tendenz zum Ausdruck bringen, dann
bedürften wir einer Berufsgruppe,
die diese gesellschaftliche Bestrebung
aufzugreifen vermag, die sie umsetzt
in dem traditionellen Alltag pflegerischen,
schulischen und therapeutischen Umgangs
mit behinderten Kindern und die diesen
Gedanken in die Regeleinrichtungen
hineinbringt. Die Heilpädagogin wäre
deshalb nicht Vertreterin einer zusätzlichen
Berufsgruppe, die zu den vielen anderen
hinzukäme, sondern sie würde, um es
mit einem Begriff aus der Organisationsentwicklung
zu sagen, als "Innovationsagentin"
zu verstehen sein.
Auf
der Ebene der hier gestellten Frage
der Einordnung der Heilpädagogik in
den Wissenschaftsbetrieb hat dieser
Gedanke zur Konsequenz, dass es nicht
um eine neue (Teil)disziplin mit eigener
Spezifität geht, in die unter anderem
die Pädagogik integriert wäre, sondern
um eine Integration der spezifischen
Voraussetzungen, Ziele, Inhalte, Organisationsweisen
etc. behinderter Kinder in den Reflexionshorizont
von Erziehung, Bildung und Krisenintervention
in der Allgemeinen Pädagogik.
In
Klammern formuliert: ich betrachte
dies als Aufgabe, nicht als gelöstes
Problem. Nur: der Defizitcharakter
der Allgemeinen Pädagogik an dieser
Stelle sollte nicht Begründung für
eine Teildisziplin sein, die in Gefahr
stünde, die Aufgabe zu verfehlen,
die ihr gesellschaftlich gegeben ist:
über Lebens- und Integrationschancen
behinderter Kinder nachzudenken.
Also:
Integration der Heilpädagogik in die
allgemeine Pädagogik.
Konkret
an einem Beispiel: Die Erziehungsaufgabe,
eine Balance von Abhängigkeit und
Freiheit, von Gegenwart und Zukunft
zu finden, stellt sich bei behinderten
Kindern in einer anderen Akzentsetzung
als bei nichtbehinderten Kindern,
aber sie stellt sich in jedem pädagogischen
Verhältnis überhaupt in spezifischer,
konkreter Weise. Und ob es in Bezug
auf diese Frage wirklich eine hilfreiche
Einteilung ist, blinde, stumme, bewegungsunfähige,
geistig behinderte und verhaltensgestörte
Kinder über einen Leisten zu schlagen,
wage ich zu bezweifeln. Dass alle
diese Gruppen zu der der Heilpädagogik
bedürftigen Behinderten zusammengefasst
wurden, ist Ausdruck der gesellschaftlichen
Aussonderung und der Verengung des
Normalitätsbegriffs. Nur, auch dies,
die Aussonderung, ist nicht den Behinderten
eigen, sondern sie teilen es mit einem
gut Teil der Klientel sozialpädagogischen
und sozialarbeiterischen Handelns.
Betrachten
wir es also als unsere Aufgabe, dass
wir die gesellschaftliche Tendenz,
Behinderte nicht als das Andere auszugrenzen,
sondern nach ihren Partizipations-
und Integrationsansprüchen zu fragen,
aufnehmen und verstärken. Für die
hier in der Diskussion stehende Ausbildung
zur Heilpädagogin hat dies zur Konsequenz,
die pädagogischen Fragen nach Erziehung,
Bildung und Krisenintervention zu
entwickeln und auf Menschen mit sehr
unterschiedlichen Problemen zu beziehen.
Eigentlich
hatte ich mir bei der Planung dieses
Vortrags jetzt noch die Frage notiert:
Kann die Allgemeine Pädagogik einen
Beitrag zum Berufsbild der Heilpädagogin
leisten? Aber ich habe den Eindruck,
dazu schon einiges gesagt zu haben,
und ich mache deshalb jetzt einen
großen Punkt und freue mich auf Kritik.