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Sigurd
Hebenstreit
Das
vertraute Nahe und das gefährliche Außen
Eine
Erzieherin morgens in ihrer Kindergruppe.
Sie sieht konkrete Kinder: Kinder, die
lachen oder traurig sind, Kinder, die
spielen oder sich langweilen, Kinder,
die alleine, zu mehreren oder bei der
Erzieherin sind. Mit diesen Kindern
muss die Erzieherin für einige Stunden
am Tag leben: eine Umwelt bereitstellen,
in der sie spielen können, und sich
selbst als Spiel-, Gesprächs-, Tröstepartnerin
anbieten. Die Organisation dieser Lebenssituation
soll sich dabei nicht in einer Aufbewahrung
der Kinder erschöpfen, sondern sie soll
Anregungen für eine Entwicklung der
Kinder bieten, Möglichkeiten schaffen,
etwas sinnvolles zu lernen und
soziale Fähigkeiten herauszubilden.
Die Erzieherin mag das Gefühl großer
Freiheit haben: Sie kann ihren Gruppenraum
umstellen, neue Materialien anschaffen,
die Zeit nach ihren Überlegungen einteilen,
Inhalte ihrer Wahl in die Gruppe einbringen,
sich mit bestimmten Kindern intensiver
beschäftigen. Das ist die eine Seite,
die der Unabhängigkeit. Daneben muss
die Erzieherin auch an die andere denken;
die vorgegebenen Rahmenbedingungen:
die Zahl der Kinder in der Gruppe, das
zur Verfügung stehende Geld, die Zielsetzung,
dass am Ende der Kindergartenzeit die
Kinder erfolgreich in die Schule überwechseln
können. Das eine - die Kinder und das
Leben mit ihnen - ist konkret, sinnlich
wahrnehmbar und emotional, trotz der
spürbaren Anstrengung, befriedigend;
das andere - der Rahmen, die Gesellschaft,
die Politik - ist weiter weg, verschwindet
manchmal hinter unsichtbaren Strukturen,
scheint nicht oder nur wenig beeinflussbar
und löst deshalb Angst oder Apathie
aus.
Kontakt
zu lebendigen Kindern zu haben, ist
häufig ein wichtiger Bestandteil der
Motivation zum Erzieherinnenberuf,
und die Beschäftigung mit der Entwicklungspsychologie
ist einsichtige Voraussetzung, um ein
besseres Verständnis von Kindern zu
erlangen. Die Gesellschaft dagegen erscheint
abstrakt, weit weg von der Alltagserfahrung
und höchstens als "das Böse",
das die Rahmenbedingungen so schlecht
setzt, so dass "das Eigentliche"
- die Arbeit mit den Kindern - erschwert
wird. Das Fach Soziologie während der
Ausbildung erfreut sich deshalb geringerer
Beliebtheit, es ist als theoretisches
Fach weit weg von der Praxis und scheint
kaum Hilfestellungen für die Berufsarbeit
zu liefern.
Die
Frage ist, ob dieses zweigeteilte Bild
- Kind und Gesellschaft, das Nahe und
das Entfernte, das Eigentliche und der
Rahmen, das Befriedigende und das Gefährliche,
die Freiheit und der Zwang - mit der
Realität übereinstimmt. Es könnte ja
sein, dass dieses Bild ein Bestandteil
unseres Alltagsbewusstseins ist, das
die Wirklichkeit verzerrt wiedergibt.
Es wäre ja möglich, dass wir bestimmte
Probleme im Kindergartenalltag
-
z.B. die Frage, ob mehr das einzelne
Kind oder mehr die Gruppe im Vordergrund
stehen soll,
-
z.B. ob Anpassung ein notwendiges Übel
sei, und inwieweit ein Kind sich anpassen
und welchen Freiheitsraum es haben soll,
-
z.B. ob und in welchem Maße Erzieherinnen
die Rahmenbedingungen der Kindergartenarbeit
beeinflussen können,
dass
wir diese Fragen deshalb schwerer lösen
können, weil solche, der Realität nicht
entsprechende Alltagsbilder wirksam
sind.
Fragen
in dieser Art zu stellen, heißt auch,
die Richtung ihrer Beantwortung festzulegen.
Wir wollen also im folgenden zu zeigen
versuchen, dass eine veränderte Sichtweise
von "Gesellschaft" und des
Verhältnisses von "Kindheit und
Gesellschaft" wichtige Voraussetzungen
sind, um Konzeptionsfragen der Kindergartenpädagogik
angehen zu können. Wir bedienen uns
dabei der soziologischen Theorie von
Norbert Elias, eines 1990 in Amsterdam
gestorbenen Soziologen, der 1897 in
Breslau geboren 1933 vor den Nationalsozialisten
nach England fliehen musste. Die politischen
Zwänge, aber auch Elias Weigerung, sich
in die Links-rechts-Schemata der Soziologie
einzuordnen, bewirkten eine erst späte
Rezeption seiner Werke. Sein ursprünglich
1935 erschienenes Hauptwerk "Über
den Prozeß der Zivilisation" erzeugte
zunächst keine große Resonanz, es wurde
1969 erneut aufgelegt, und ab Mitte
der 70er Jahre setzte dann eine breit
gefächerte Aufmerksamkeit in der Soziologie,
aber auch der Pädagogik ein, die auch
nach dem Tod Norbert Elias unvermindert
anhält.
Sokrates zugeeignet:
Es
ist schon so: Die Fragen sind es,
aus
denen das, was bleibt, entsteht.
Denkt
an die Frage jenes Kindes:
"Was
tut der Wind, wenn er nicht weht?"
(Erich
Kästner)
1.
Wie lässt sich das Verhältnis von Individuum
und Gesellschaft bestimmen?
Denken
wir nochmals an den einleitenden Spruch
von Erich Kästner, die Frage des Kindes
nach dem Wind, der nicht weht. Das Kind
ist in eine gedankliche Falle hineingeraten,
die ihm unsere Sprache nahe legt: Wenn
wir sagen, "der Wind weht",
dann nehmen wir eine Substantivierung
vor, bei der aus der Tätigkeit des Wehens
der Gegenstand des Windes wird, ein
Objekt vergleichbar den Wolken, der
Sonne, den Blättern. Erst im Nachhinein
wird diesem vergegenständlichten Objekt
durch das Verb - "wehen" -
die Eigenschaft der Bewegung zugesprochen.
Es gibt dann einen Gegenstand "Wind"
und durch irgend etwas wird dieser Gegenstand
in Bewegung gesetzt. Diese Sprachform
ist Ausdruck einer Denkweise, von der
wir wissen, dass sie mit der Realität
nicht in Übereinstimmung steht: es gibt
keinen Wind, der nicht weht. Für Norbert
Elias soll dieses Beispiel dafür dienen
zu zeigen, dass die Substantivierung
der Sprache uns in gedankliche Probleme
hineinführen kann, deren Verzerrungen
uns den Blick für die Realität versperren.
Dies gilt auch für unsere Vorstellungen
des Verhältnisses von Individuum und
Gesellschaft.
In
unserem Alltagsbewusstsein mag es so
ähnlich sein: Er ist er, du bis du,
und ich bin ich. Ich bin konkret: mit
meinen Händen kann ich meine Haut berühren,
die die Grenze zwischen meinem Ich und
dem Außen bildet. In mir - in meinem
Kopf, in meinem Bauch - sind meine Gefühle,
mein Denken, meine Handlungsmöglichkeiten,
die mir eine unverwechselbare Individualität
geben. Mein Name drückt diese Einmaligkeit
aus. Daneben weiß ich, dass ich in
vielerlei Abhängigkeitsbeziehungen zu
meiner Umwelt stehe: ich muss arbeiten,
in meiner Freizeit tausche ich mich
mit anderen Individuen aus, und als
Kind bin ich durch meine Eltern, Lehrer
und andere Erwachsene erzogen worden.
In dieser Denkweise komme ich gleichsam
doppelt vor: als einmaliges Individuum
und als soziales Wesen, und ein gut
Teil meiner Bemühungen mag darauf gerichtet
sein, meiner Autonomie gegenüber den
Fremdzwängen einen größeren Bereich
einzuräumen. Bleiben wir in dieser Denkfigur,
dann besteht die Gesellschaft in der
Art, wie verschiedene, unabhängige Individuen
Kontakt miteinander haben. Sie lässt
sich als eine Figur konzentrischer Kreise
vorstellen: intime Familien- und Freundschaftsgruppen,
die in einer Gemeinde oder Stadt leben,
die wiederum Staaten bilden. Von mir
zu meinem Familien- und Freundeskreis,
zu meiner Arbeits- und Freizeitwelt,
meiner politischen Gemeinde, meinem
Bundesland und Bundesstaat bis zu Europa
und der ganzen Welt findet ein zunehmender
Prozess der Abstraktion statt, der mir
fiktiv erscheint: Meine Eltern, meine
Kinder, meine Freunde habe ich als reale,
autonome Individuen vor Augen, zu denen
ich eine Beziehung habe. Die Bundesrepublik
Deutschland und die europäische Gemeinschaft
kann ich mir in meinem Kopf nur noch
als ungeheuer große Zahl vieler Individuen
vorstellen, aber die Beziehungen zwischen
ihnen sind soweit entfernt von mir,
sie erscheinen als ein "System",
das Politiker konstruiert haben und
für das die soziologische Wissenschaft
mir Begriffe anbietet, damit ich ihre
Wirkungsweise verstehen kann. Diese
"große Gesellschaft" erscheint
abstrakt: ich kann die europäische Gemeinschaft
nicht sehen, sie nicht anfassen, sie
ist weit weg und hat nicht das gleiche
Maß an Konkretheit wie meine Individualität.
Sie steht mir gegenüber, hilft mir
oder bedroht mich, ich muss im Spiel
dieser Gesellschaft bemüht sein, nicht
unterzugehen, sondern meine Autonomie
aufrechtzuerhalten.
Von
dieser Alltagsvorstellung der Aufteilung
von Individuum und Gesellschaft in zwei
Bereiche - von denen der eine konkret,
der andere abstrakt, der eine nah, der
andere fern, der eine ursprünglich,
der andere aufgesetzt, der eine vertraut,
der andere bedrohlich erscheint - müssen
wir uns lösen, um den soziologischen
Ansatz von Norbert Elias verstehen zu
können. Der Versuch, nicht mehr in konzentrischen
Kreisen mit dem Kernpunkt meines Ichs
über meine Familie und Arbeitswelt bis
hin zu Stadt und Staat zu denken, ist
auch deshalb schwierig, weil er eine
narzisstische Kränkung darstellt, die
Elias mit derjenigen vergleicht, die
Menschen im Mittelalter bei der Vorstellung
empfanden, die Erde sei nicht der Mittelpunkt
des Universums, sondern die Erde drehe
sich um die Sonne. Elias führt den Begriff
des "homo clausus" ein, um
die Vorstellung des Verhältnisses von
Individuum und Gesellschaft als zwei
verschiedene Bereiche, die erst im Nachhinein
in Beziehung gesetzt werden, kritisieren
zu können.
Zu
dieser anderen Bestimmung des Verhältnisses
von Individuum und Gesellschaft kommt
als Voraussetzung des Verständnisses
der Theorie von Elias noch ein zweites
hinzu: So wie die sprachliche Gestalt
von: "der Wind weht", ein
Denken nahe legt, als gäbe es einen
Wind, der erst im Nachhinein in Bewegung
gerät, so wird auch Gesellschaft als
etwas Statisches aufgefasst, eine Wesenseinheit,
der dann als sekundäres Merkmal das
des Wandels zugesprochen wird: eine
Gesellschaft entwickelt sich nach diesem
Bild von einen Zustand in einen anderen
Zustand. Gegen diese Substantivierung
versucht Elias den Begriff von Gesellschaft
zu "dynamisieren": Es gibt
keinen Wind, der nicht weht, und keine
Gesellschaft ohne Entwicklung, sondern
Entwicklung gehört unmittelbar zum Gesellschaftsbegriff
hinzu. Um diesen Sachverhalt auch sprachlich
deutlich zu machen, führt Elias den
Begriff der "Figuration" ein,
den wir zunächst an dem Beispiel des
Schachspiels erläutern wollen.
Ein
Schachspiel besteht aus sechszehn Bauern,
jeweils vier Türmen, Läufern und Springern
sowie zwei Damen und Königen. Die Figuren
werden auf das Spielfeld gestellt, wobei
in der Ausgangsposition jede Figur einen
bestimmten Platz einnimmt. Einem Kind,
dem wir das Schachspiel erklären wollen,
können wir sagen: "Diese Figur,
die so aussieht, ist ein Bauer. Die
kann nur vorwärts gehen und zwar am
Anfang einen oder zwei Schritte, dann
nur noch einen. Schlagen kann sie eine
andere Figur nur schräg nach vorne.
Wenn der Bauer an der anderen Seite
angekommen ist, kann er sich in eine
beliebige andere Figur der gleichen
Farbe verwandeln, nur nicht in einen
König." So können wir Figur für
Figur erklären, die Frage ist nur, ob
wir mit diesem Einzeldurchlauf das
Wesentliche des Schachspiels erfaßt
haben?
Betrachten
wir noch eine andere Perspektive, die
des Erwachsenen, der ein Schachspiel
beobachtet, ohne seine Regeln zu verstehen.
Wahrscheinlich wird er das Spiel bald
als Kampf der weißen gegen die schwarzen
Figuren ansehen, was nicht selbstverständlich
ist, denn er könnte das Spiel statt
als Kampf auch als eine Form von Tanz
betrachten und statt als Kampf Weiß
gegen Schwarz als Kampf der kleinen
Bauern gegen die großen Springer, Läufer,
Türme, Damen und Könige. Die Kampfsituation
scheint dadurch charakterisiert, dass
hin und wieder Figuren verschwinden,
ohne dass neue hinzukommen, bis irgendwann
- und es können dann noch einige oder
auch viele Figuren beider Farben auf
dem Schachbrett stehen - das Spiel aus
ist. Für den der Regel Unkundigen erscheint
das Spiel als Abfolge verschiedener
Strukturen weißer und schwarzer Spielsteine,
die er in einer Serie von Bildern einfangen
könnte: In dem ersten Bild sind weiße
und schwarze Figuren vollkommen getrennt
und nur die beiden hinteren und vorderen
Spielreihen besetzt. In der vorrückenden
Abfolge der Bilder vermischen sich die
Farben und auch die mittleren Felder
werden bevölkert. Besteht das Schachspiel
aus dem Durchlaufen verschiedener Strukturbilder?
Für
den des Schachspiels Kundigen ist das
Schachspiel beides nicht: Weder eine
Addition von Bauern, Türmen, Springern,
Läufern, Dame und König, noch ein Ablauf
von Bildern, die unterschiedliche Strukturzustände
weißer und schwarzer Figuren zum Ausdruck
bringen, sondern das Wesentliche des
Schachspiels ist die Art der Beziehung,
die die Figuren untereinander haben.
Ein Bauer für sich betrachtet ist ein
Stück gestaltetes Holz. Im Schachspiel
erhält er seine Bedeutung durch den
Bezug, den er zu den Figuren der gleichen
und der anderen Farbe hat, und diese
Bezüge verändern sich mit jedem Zug,
den das Spiel nimmt. Auch wenn eine
bestimmte Spielfigur nicht selbst gesetzt
oder angegriffen wird, jeder Spielzug
ändert das Beziehungsgefüge, in dem
die 32 Figuren stehen, und durch die
jede der 32 Figuren ihre Bedeutung erhält.
Das entscheidende Beziehungsmerkmal,
durch das die 32 Figuren bestimmt werden,
ist das der Macht: die Macht, eine gegnerische
Figur anzugreifen, die Macht, einem
Angriff auszuweichen, und die Macht,
eine Figur der eigenen Farbe zu schützen.
Die Figuren sind dabei nicht gleich
mächtig, sondern ihre Macht bestimmt
sich durch die in den Spielregeln gegebenen
Handlungsmöglichkeiten (z.B. der größere
Bewegungsraum der Dame im Vergleich
zum Springer), aber auch durch die Stellung,
in der die Figuren sich befinden und
die sich im Verlauf des Spieles wandelt:
So kann ein relativ wenig mächtiger
Springer, wenn er in die Konstellation
gebracht werden kann, die gegnerische
Dame und den gegnerischen König gleichzeitig
zu bedrohen, die starke Dame schlagen.
Das
Beispiel des Schachspiels soll uns hier
als Bild dienen, um einige Probleme
des Verständnisses von Gesellschaft
und des Verhältnisses von Individuum
und Gesellschaft besser in den Griff
zu bekommen:
-
So wie es keinen Sinn macht, wenn wir
das Schachspiel verstehen wollen, den
Bauern als konkret, die Spielregel aber
als nachträgliche Fiktion anzusehen,
hilft es wenig weiter, das Individuum
als ursprüngliche Einheit, als real
zu betrachten, demgegenüber die Gesellschaft
eine gedankliche Abstraktion sei.
-
So wie der Bauer nicht einerseits eine
konkrete Spielfigur ist und andererseits
eine Position im Schachspiel hat, ist
auch der einzelne Mensch nicht einerseits
Individuum und andererseits soziales
Wesen. Der Bauer besteht aus geschnitztem
und lackiertem Holz, der Mensch aus
Knochen, Muskelfasern, Haut, Nerven
etc. Individualität erhält der Bauer
durch das Bezugsgeflecht, in das er
eingebunden ist, ebenso wie der Mensch
Individualität nicht gegen die (oder
neben der) Gesellschaft erhält, sondern
nur mit und in den Bezügen, in denen
er lebt und sich entwickelt.
-
So wie es wenig hilfreich ist, dass
Schachspiel als Summe der 32 Spielfiguren,
der 64 Spielfelder und der Regeln im
Schachbuch zu begreifen, kann die Gesellschaft
nicht als Addition vieler einzelner
Menschen und der von ihnen geschaffenen
Institutionen angesehen werden, sondern
nur als das Beziehungsgeflecht, in dem
sie stehen.
-
So wie es keinen Sinn macht, dass Schachspiel
als Abfolge von Zuständen verschiedener
Strukturen schwarzer und weißer Figuren
zu verstehen, besteht eine Gesellschaft
nicht in einem Ruhezustand, der sich
hin und wieder, wenn Störungen auftauchen,
verändern muss, sondern die Entwicklung,
die tatsächliche und die potentielle,
ist ihr entscheidendes Wesensmerkmal.
-
So wie die Beziehungen, die die Schachfiguren
untereinander bilden, durch ihre potentielle
Stärke charakterisiert sind, ist auch
für menschliche Gesellschaften das Moment
der Macht kennzeichnend, wobei Macht
ein relatives Moment ist. Nicht: ein
Mensch, eine Gruppe, ein Staat haben
Macht, und ein anderer Mensch, eine
andere Gruppe, ein anderer Staat haben
keine, sondern die Macht des einen Menschen,
der einen Gruppe, des einen Staates
ist in Relation zu der des anderen Menschen,
der anderen Gruppe, des anderen Staates
höher oder niedriger, und die Entwicklung
der Gesellschaft besteht in einer Machtzunahme
und Machtabnahme der einen oder anderen
Seite.
Beispiele
haben aber auch Grenzen dessen, was
sie illustrieren können: Ein Schachspiel
funktioniert nicht von alleine, sondern
es bedarf zweier Menschen (oder von
durch Menschen hergestellter Computer),
die die Figuren bewegen. Es wäre falsch,
sich die Gesellschaft als Spiel vorzustellen,
bei dem die einzelnen Individuen Marionetten
von Über-Menschen sind; besser wäre
da das Bild eines von selbst ablaufenden
Schachspiels. Und noch in einer anderen
Hinsicht hinkt der Schachspiel-Vergleich:
Ein Schachspiel hat einen eindeutig
definierbaren Anfangspunkt und ein auf
ein Ziel hinsteuerndes Ende. Beides
- Anfangspunkt und gerichteter Endpunkt
- gilt für die Gesellschaft nicht.
Norbert
Elias führt den Begriff der "Figuration"
in die Soziologie, "Menschenwissenschaften"
wie er sie bezeichnender Weise nennt,
ein, damit die statische Sichtweise
des Gesellschaftsbildes dynamisiert
wird, und um die nicht auflösbare Interdependenz
von Individuum und Gesellschaft zu
bezeichnen. An einer Stelle schreibt
er:
"An
die Stelle des Bildes vom Menschen als
einer 'geschlossenen Persönlichkeit'
... tritt dann das Bild des Menschen
als einer 'offenen Persönlichkeit',
die im Verhältnis zu anderen Menschen
einen höheren oder geringeren Grad von
relativer Autonomie, aber niemals absolute
und totale Autonomie besitzt, die in
der Tat von Grund auf Zeit ihres Lebens
auf andere Menschen ausgerichtet und
angewiesen, von anderen Menschen abhängig
ist. Das Geflecht der Angewiesenheiten
von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen,
sind das, was sie aneinander bindet.
Sie sind das Kernstück dessen, was hier
als Figuration bezeichnet wird, als
Figuration aufeinander ausgerichteter,
voneinander abhängiger Menschen. Da
Menschen erst von Natur, dann durch
gesellschaftliches Lernen, durch ihre
Erziehung, durch Sozialisierung, durch
sozial erweckte Bedürfnisse gegenseitig
voneinander mehr oder weniger abhängig
sind, kommen Menschen, wenn man es einmal
so ausdrücken darf, nur als Pluralitäten,
nur in Figurationen vor. Das ist der
Grund, aus dem es ... nicht besonders
fruchtbar ist, wenn man unter einem
Menschenbild das Bild von einem einzelnen
Menschen versteht. Es ist angemessener,
wenn man sich unter einem Menschenbild
ein Bild vieler interdependenter Menschen
vorstellt, die miteinander Figurationen,
also Gruppen oder Gesellschaften verschiedener
Art, bilden. Von dieser Grundlage her
verschwindet die Zwiespältigkeit der
herkömmlichen Menschenbilder, die Spaltung
in Bilder von einzelnen Menschen, von
Individuen, die oft so geformt sind,
als ob es Individuen ohne Gesellschaften
gäbe, und in Bilder von Gesellschaften,
die oft so geformt sind, als ob es Gesellschaften
ohne Individuen gäbe. Der Begriff der
Figuration ist gerade darum eingeführt
worden, weil er klarer und unzweideutiger
als die vorhandenen begrifflichen Werkzeuge
der Soziologie zum Ausdruck bringt,
dass das, was wir 'Gesellschaft' nennen,
weder eine Abstraktion von Eigentümlichkeiten
gesellschaftslose existierender Individuen,
noch ein 'System' oder eine 'Ganzheit'
jenseits der Individuen ist, sondern
vielmehr das von Individuen gebildete
Interdependenzgeflecht selbst."
(Über den Prozeß der Zivilisation, Bd.
1, Frankfurt 198914, S. LXVIIf)
Diesen
Gedanken verdeutlicht Norbert Elias
am Beispiel gesellschaftlicher Tänze:
"Man
kann gewiß von einem Tanz im allgemeinen
sprechen, aber niemand wird sich einen
Tanz als ein Gebilde außerhalb der Individuen
vorstellen oder als eine bloße Abstraktion.
Die gleiche Tanzfiguration kann gewiß
von verschiedenen Individuen getanzt
werden; aber ohne eine Pluralität von
aufeinander ausgerichteten, voneinander
abhängigen Individuuen, die miteinander
tanzen, gibt es keinen Tanz; wie jede
andere gesellschaftliche Figuration
ist eine Tanzfiguration relativ unabhängig
von den spezifischen Individuen, die
sie hier und jetzt bilden, aber nicht
von Individuen überhaupt. Es wäre unsinnig
zu sagen, dass Tänze Gedankengebilde
sind, die man auf Grund von Beobachtungen
an einzelnen, für sich betrachteten
Individuen abstrahiert. Das gleiche
gilt von allen anderen Figurationen.
Wie sich kleine Tanzfigurationen wandeln
- bald langsamer, bald schneller -,
so wandeln sich auch - langsamer oder
schneller - die großen Figurationen,
die wir Gesellschaften nennen."
(ebenda, Bd. 1, S. LXVIIIf)
Als
weitere Beispiele für relativ überschaubare
Figurationen nennt Elias an anderer
Stelle: "Lehrer und Schüler in
einer Klasse, Arzt und Patienten in
einer therapeutischen Gruppe, Wirtshausgäste
am Stammtisch, Kinder im Kindergarten"
(Was ist Soziologie, München 19712
, S. 143). Die Frage, die sich nun stellt,
ist: Wie gelangen wir von diesen überschaubaren
Figurationen der Kleingruppen zu der
"großen" Gesellschaft?
Eine
Kindergartengruppe können wir uns als
Figuration, als Beziehungsgeflecht von
25 Kindern und zwei Erzieherinnen vorstellen,
eine Drei-Gruppen-Einrichtung ebenso
als etwas komplexeres Gebilde von 75
Kindern, sechs Erzieherinnen, 75 Elternpaaren,
dem Träger. Nur: wenn wir so weiterdenken,
verlieren wir irgendwann die Übersicht.
Wie kommen wir zu dem Kindergartensystem
eines Bundeslandes? Es erscheint der
Realität wenig angemessen, sich dieses
als eine Addition von tausenden von
Figurationen vorzustellen, da dies
die ungenügende Gegenüberstellung von
Individuum und Gesellschaft lediglich
reproduzieren würde. Elias versucht
die Antwort auf diese Frage durch ein
Beispiel zu geben.
Zwei
Spieler spielen ein Spiel, sie bilden
eine "Figuration", in der
eine relative Machtbalance zwischen
A und B ausgehandelt wird. Dann erhöht
sich die Zahl der Spieler, 4, 8, 16,
32 usw., bis schließlich die Zahl der
Spieler soweit zunimmt und damit gleichzeitig
die Zahl der Beziehungen, dass das Spiel
für den einzelnen immer undurchschaubarer
wird. Nun ist es möglich, dass diese
zunehmende Komplexität dadurch aufgelöst
wird, dass "'zweistöckige' Spielgruppen"
(ebenda, S. 89) gebildet werden: Es
wird eine zweite Gruppe von "Spielfunktionären"
gewählt oder bestimmt, die jetzt für
ihre Teilgruppen handeln. In diesem
zweistöckigen Spielmodell lassen sich
bereits vier mögliche Machtbalancen
unterscheiden:
"Da
ist erstens die Machtbalance in dem
kleineren Spielerkreis des oberen Stockwerks,
zweitens die Machtbalance zwischen den
Spielern des oberen und denen des unteren
Stockwerks, drittens die Machtbalance
zwischen den Gruppen des unteren Stockwerks;
und wenn man noch weiter gehen will,
kann man noch die Machtbalance innerhalb
jeder dieser Gruppen hinzufügen."
(ebenda, S. 91)
Konstruiert
man dieses Gedankenmodell zu drei-,
vier- und mehrstöckigen Modellen weiter,
so erhöht sich die Komplexität der Machtbalancen
und zwar nicht additiv, sondern sie
potenziert sich. Auf jeder Ebene handelt
es sich um das Spiel von individuellen
Menschen, aber deren Verwobenheit in
die vielfältigen Beziehungsstrukturen
ist so komplex, dass sie nicht als einzelne
das Spiel durchschauen und beherrschen
können.
Gesellschaften
lassen sich so als Figurationen von
Figurationen vorstellen, die ihrerseits
aus Teilfigurationen bestehen. Um dieses
Figurationsgeflecht verstehen zu können,
ist es nicht hilfreich, die eine Seite
als Ursache und die andere als Wirkung
aufzufassen. Also weder ist es so, dass
die kleineren Einheiten als Ursache
für die größeren, noch als deren Folge
zu betrachten sind. An dem Beispiel
des Kindergartens: Weder ist es richtig,
das Kindergartensystem als Folge der
Addition vieler Kindergärten zu sehen,
noch umgekehrt die einzelnen Kindergärten
als Wirkung des Systems, sondern auf
jeder der Ebenen
-
des einzelnen Kindergartens,
-
des Systems von Kindergärten eines Trägers
in einer Region,
-
des Systems von Kindergärten eines Trägers
in einem Bundesland,
-
des Systems von Kindergärten in einem
Bundesland
bilden
sich unterschiedliche Verflechtungen
aus, von denen sich die eine nicht aus
der anderen heraus erklärt. Ein wesentliches
Merkmal, durch den Verflechtungszusammenhänge
von Teilfigurationen, Figurationen und
Figurationen von Figurationen sich entwickeln,
ist das der Macht und der Verschiebung
der Machtbalancen. Elias sagt, dass
jede Teileinheit einen gewissen Spielraum
für autonomes Handeln habe, und dass
dieser "je nach den Eigentümlichkeiten
der übergeordneten Figuration wie auch
nach der Stellung der Teilfigurationen
innerhalb ihrer" variiere (Engagement
und Distanzierung, Frankfurt 1987 ,
S. 54).
"Ihr
seid nie versucht, Grenzen zu übertreten,
das
Unbekannte dahinter zu ergründen ...
Immer,
wenn ich auf dem Weg war,
wenn
es glücken konnte, rissen mich
Grenzwächter
zurück, Hüter des Anstands.
Das
kann ich unter Leben nicht verstehen.
Das
sind Rituale der Sicherheit, bürgerliche
Absprachen;
sie reichen mir nicht."
(Peter
Härtling)
2.
Was meint "Prozeß der Zivilisation"?
Die
neue Bestimmung des Verhältnisses von
Individuum und Gesellschaft, die mit
dem zuletzt Gesagten vielleicht abstrakt
klang, hat Norbert Elias in seinem Hauptwerk
"Über den Prozeß der Zivilisation"
konkretisiert. Dementsprechend geht
es in der detaillierten Studie um die
Verflechtungszusammenhänge zwischen
konkreten, scheinbar individuellen
und privaten Phänomenen einerseits und
politischen, gesamtgesellschaftlichen
Tatbeständen andererseits. Entsprechend
seines Grundverständnisses, Gesellschaft
sei nur als Entwicklungsprozess zu verstehen,
ist Elias an längerfristigen sozialen
Wandlungen interessiert: grob gesagt
an dem Übergang vom Mittelalter über
die Renaissance in die Neuzeit.
In
einem ersten Zugang untersucht er die
Veränderungen, die sich in den "Benimm-Büchern"
der jeweiligen Zeit feststellen lassen,
um gleichsam die individuelle Seite
des Prozesses erfassen zu können. In
einem Beispiel betrachtet er die Veränderung
der Esssitten: In den Oberschichten
des Mittelalters aß man - für unsere
Verhältnisse - Unmengen von Fleisch
(Elias gibt eine Schätzung von 2 Pfund
Fleisch pro Mann und Tag an; Über den
Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, a.a.O.,
S. 159), das zumeist in unzerkleinerter
Weise auf den Tisch kam. Das Zerteilen
eines großen Tieres gehörte deshalb
zu den zu erlernenden Fähigkeiten der
Mitglieder der Oberschicht, ähnlich
wie Fechten und Tanzen. Die Esskultur
des Mittelalters wäre uns "unzivilisiert"
erschienen: hauptsächliches Esswerkzeug
war das Messer, das man selbstverständlich
zum Mund führte, man aß aus einer gemeinsamen
Schüssel, und die Suppe wurde aus einer
gemeinsamen Schöpfkelle geschlürft.
Der Gebrauch von Servietten und Taschentüchern
war nicht gewöhnlich, man putzte sich
die fettigen Hände am Tischtuch oder
der Kleidung ab.
Im
Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts
änderten sich die Tischmanieren grundlegend
bis hin zu unserer Weise, Fleisch zu
essen, bei der nichts mehr an das ursprüngliche
Tier erinnert, von dem das Fleisch stammt.
Zunächst aß man die Suppe nicht mehr
aus einer gemeinsamen Kelle, sondern
jeder bekam einen eigenen Löffel, den
er - einmal benutzt - wieder abtrocknete,
bevor er ihn erneut in die gemeinsame
Schüssel tauchte, bis späterhin jeder
einen eigenen Teller bekam. Das Messer
- ursprünglich das Hauptesswerkzeug
- wurde zunehmend mit Verboten belegt:
es nicht mit der Schneide jemand anderem
reichen, es nicht zum Mund führen, keine
Kartoffel damit schneiden etc., alles
Verhaltensweisen, die vordem üblich
waren. Auf der anderen Seite gewann
die Gabel zunehmend an Bedeutung und
ersetzte so das Essen mit den Händen.
Diese Veränderungen, die uns heute aus
hygienischen Gründen selbstverständlich
erscheinen, wurden dabei nicht gesundheitlich
begründet, sondern damit, dass es nicht
"höfisch", "edel",
"zivilisiert" sei.
Das
Beispiel des Essens ist nur eine der
"Zivilisationskurven", die
Elias dokumentiert. Weitere Beispiele
sind die Verrichtung "natürlicher
Bedürfnisse", das Schnäuzen und
Spucken, das Schlafen sowie das Verhältnis
von Mann und Frau. Immer wieder zeigen
sich die gleichen Tendenzen:
-
erstens ein "Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle",
d.h. dasjenige, was vormals als natürliches
Bedürfnis erschien (z.B. das Spucken),
wird soweit mit Tabus belegt, dass wir
als "zivilisierte" Menschen
dieses Bedürfnis nicht mehr empfinden,
und selbst die Vorstellung als peinlich
erleben (z.B. die Vorstellung, wenn
wir alleine für uns sind, irgendwohin
zu spucken);
-
zweitens eine Verlegung ursprünglich
selbstverständlicher Tätigkeiten "hinter
die
Kulissen des gesellschaftlichen
Lebens" (ebenda, Bd. 1, S. 163),
wofür die Zerkleinerung der Tiere in
der Metzgerei und Küche ein Beispiel,
die Schaffung intimer Räume wie Toiletten
und Schlafzimmer weitere sind;
-
und drittens schließlich die Umwandlung
von Fremdzwang in Selbstzwang, d.h.,
das, was als zivilisiertes Verhalten
entsprechend dem Stand der gesellschaftlichen
Entwicklung gilt (z.B. das Benutzen
eines Taschentuchs, das Essen mit der
Gabel und nicht mit den Fingern), geschieht
nicht durch unmittelbaren Zwang von
anderen auf uns, sondern es ist uns
durch den Erziehungsprozess während
der Kindheit zur "zweiten Natur"
geworden und geschieht automatisch.
In
einem zweiten Zugang versucht Elias,
den Zusammenhang zwischen der Art des
Fühlens, Denkens und Handelns einzelner
Menschen und der gesellschaftlichen,
historischen Entwicklung insgesamt
aufzuzeigen. Er dokumentiert am Beispiel
Frankreichs, wie sich in einer Vielzahl
von Einzelschritten im Verlauf des 12.
bis 17. Jahrhunderts aus dem dezentralen
Feudalsystem der absolutistische Staat
herausbildete. Für uns mag es selbstverständlich
erscheinen, dass es einen Staat gibt,
der von allen Bürgern Steuern eintreibt,
und der durch Polizei und Militär über
einen Machtapparat verfügt, der unmittelbare
Aggressionen zwischen Mitgliedern des
Staates verhindern soll. Tatsächlich
sind beide - Steuer- und Gewaltmonopol
- relativ junge Erscheinungen in der
Geschichte. Ohne hier die differenzierte
Beschreibung Elias auch nur andeuten
zu können, sei nur auf das allgemeine
Kennzeichen des "Königsmechanismus"
(ebenda, Bd. 2, S. 236) hingewiesen:
Der feudale Landadel gerät in eine Spannungsbeziehung
zu dem aufstrebenden Bürgertum der
Städte, das wirtschaftlich stärker wird.
Diese Spannung ermöglicht die Stärkung
des Königs, der zwischen beiden "vermittelt".
Durch die relative Verarmung des Landadels
(Inflationstendenzen und Stärkung der
Geld- gegenüber der Naturalienwirtschaft
sind hier nur zwei Stichworte) wird
dieser an den Hof des Königs gebunden
und ist von ihm abhängig. Der Hofadel,
der nicht arbeitet und von wirtschaftlichen
und politischen Ämtern ausgeschlossen
ist, erhält gesellschaftliche Macht,
da der König ihn als Gegengewicht zum
aufstrebenden Bürgertum benötigt. Im
Laufe der Jahrhunderte entsteht so ein
Staat, der die arbeitenden Bürger zur
Steuerabgabe zwingen kann und dem Landadel das Recht physischer Gewaltanwendung
nimmt und sich somit ein Machtmonopol
sichert. Dieses schafft "pazifierte"
Räume im Innern des Staates, die wiederum
Voraussetzung für die wirtschaftliche
Entwicklung sind.
Zwischen
dieser Herausbildung des absolutistischen
Staates und der Entwicklung der Zivilisation
bestehen interdependente Wechselwirkungen,
wobei Elias sich gegen deterministische
Geschichtsauffassungen wehrt, die notwendige
Ursache-Wirkungszusammenhänge auszumachen
versuchen. Diese kritisiert er als falsche
Analogieschlüsse aus dem Bereich der
Physik auf menschliche Tatbestände.
In der Soziologie muss die Suche nach
einer letztendlich alles bestimmenden
Ursache - verbunden damit auch der Gedanke
einer idealistischen Finalität, auf
die der Geschichtsprozess angeblich
hinsteuere - ins Leere laufen, da in
der Realität Ursache und Wirkung sich
verwischen. Dies bedeutet für Elias
andererseits nicht, dass der geschichtliche
Wandel zufällig sei und dass zwischen
verschiedenen Merkmalen dieses Wandels
keine Beziehung bestünde. Er schreibt:
"Dieser
Wandel als Ganzes ist nicht 'rational'
geplant; aber er ist auch nicht nur
ein regelloses Kommen und Gehen ungeordneter
Gestalten. Wie ist das möglich? Wie
kommt es überhaupt in dieser Menschenwelt
zu Gestaltungen, die kein einzelner
Mensch beabsichtigt hat, und die dennoch
alles andere sind als Wolkengebilde
ohne Festigkeit, ohne Aufbau und Struktur?"
(ebenda, Bd. 2, S. 313)
Elias
erklärt den geschichtlichen Wandel durch
die Zunahme der Verflechtungszusammenhänge,
in die Menschen hineingeraten, und die
sowohl den Aufbau eines Staates und
einer differenzierten Gesellschaft als
auch die andere Art der Modellierung
der Gefühle, des Denkens und Handelns
von Menschen bewirken. Ihre Auswirkungen
für das Individuum bestehen in einer "Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung
der Affekte, Weitung des Gedankenraums
über den Augenblick hinaus in die vergangenen
Ursach-, die zukünftigen Folgeketten"
(ebenda, Bd. 2, S. 322). Dies hat
eine "Psychologisierung"
und "Rationalisierung" zur
Folge.
In
Bezug auf den ersten Aspekt schreibt
Elias:
"Dem
Umbau der Gesellschaft, dem Wandel der
zwischenmenschlichen Beziehungen entsprechend,
baut sich auch der Affekthaushalt des
Einzelnen um: Dort wächst die Reihe
der Handlungen und die Zahl der Menschen,
von denen der Einzelne und seine Handlungen
beständig abhängen, hier die Gewohnheit
zur Sicht über längere Ketten hin. Und
wie sich so Verhalten und Seelenhaushalt
des Einzelnen verändern, ändert sich
in entsprechender Weise auch die Art,
in der ein Mensch den anderen betrachtet;
das Bild, das der Mensch vom Menschen
hat, wird reicher an Schattierungen,
es wird freier von momentanen Emotionen:
es 'psychologisiert' sich. (ebenda,
Bd. 2, S. 372)
Zu
den Auswirkungen, die der Prozess der
Zivilisation auf das Denken hat, schreibt
Elias:
"Wie
das Gesamtverhalten, so wird auch die
Beobachtung der Dinge und Menschen im
Zuge der Zivilisation affektneutraler;
auch das 'Weltbild' wird allmählich
weniger unmittelbar durch die menschlichen
Wünsche und Ängste bestimmt, und es
orientiert sich stärker an dem, was
wir 'Erfahrung' oder 'Empirie' nennen,
an Verflechtungsreihen, die ihre eigene
Gesetzmäßigkeit haben." (ebenda,
Bd. 2, S. 374f)
Diese
Veränderungen im Fühlen und Denken der
einzelnen Menschen, die Erscheinungen
des zivilisierten Verhaltens, sind auf
vielfache Weise mit dem gesellschaftspolitischen
Prozess verknüpft: das Gewaltmonopol
des Staates zwingt den einzelnen, auf
unmittelbare Aggression zu verzichten;
dies setzt Emotionen frei, die nicht
mehr nach Außen gewandt, sondern als
Spannung in das Innere der Person verlegt
werden (Elias spricht vom "gesellschaftlichen
Zwang zum Selbstzwang"). Die sich
durchsetzende Wirtschaftsweise des
aufkommenden Kapitalismus verlangt ebenso
eine längerfristige Planungsweise des
Menschen, eine stärkere Zurückhaltung
unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung
und eine rationalisierte Denkweise.
Für
den höfischen Adel schließlich hatte
die Herausbildung zivilisierter Verhaltensweisen
die Funktion eines Unterscheidungsmerkmals
gegenüber dem aufkommenden Bürgertum.
Ihre gesellschaftliche Funktion bestand
nicht in der Arbeit, sondern in der
Herausbildung eines "zivilisierten",
"höfischen" Lebensstils. Da
das Bürgertum, das wirtschaftlich mächtiger,
aber lange Zeit politisch randständiger
war, bestrebt war, die modellgebenden
Verhaltensweisen zu kopieren, trieb
dieser Prozess den höfischen Adel zu
einer immer stärkeren Ausprägung zivilisierten
Verhaltens, damit dieses die Funktion
des Unterscheidungsmerkmals weiterhin
erfüllen konnte.
Nach
diesem historischen Exkurs müssen wir
uns nun fragen, was dieser Prozess der
Zivilisation für uns heute bedeutet.
Kinder, aber nicht nur Kinder essen
ihre Pommes frites und Hamburger bei
Mc Donnalds mit den Fingern, Sexualität
wird unverhüllt dargestellt, unsere
Lebenssitten sind "locker",
sexuelle Bedürfnisse werden als natürlich
und wichtig angesehen und ihnen wird
Freiraum zur Entfaltung gegeben. Das
auch in den Medien vorherrschende Bild
ist nicht das des zivilisierten, an
sich haltenden Menschen, sondern dass
des amerikanischen self-made-man, der
sich ellbogenartig durchsetzt und mit
seinem Geld ein möglichst großes Maß
an unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung
zu kaufen versteht. Ist also das, was
Elias beschreibt, eine Geschichte vergangener
Tage? Leben wir weniger in einer Zeit
des "Prozesses der Zivilisation"
als in einer Zeit der Lockerung, der
Loslösung von zivilisatorischen Zwängen?
Diese Fragen sind wichtig, und wir wollen
drei Antworten darauf geben.
Ein
erster Versuch: An zwei Stellen (ebenda,
Bd. 1, S. 190 und 257) geht bereits
Elias auf dieses Problem ein, indem
er schreibt, es sei "eine Lockerung
im Rahmen des einmal erreichten Standards"
(ebenda, S. 190). Damit soll zum Ausdruck
gebracht werden, dass die freizügigeren
Äußerungen triebhafter Wünsche nicht
auf die Auflösung der "Selbstzwangapparatur"
hinweisen, sondern im Gegenteil: weil
die Möglichkeiten unserer Triebkontrolle
uns in einem solchen Maße zur "zweiten
Natur" geworden sind, bedeutet
die Lockerung keine Gefahr eines Ausbruchs
ungehemmter Sexualität und Aggression,
wie dies bei weniger streng sozialisierten
Menschen in früheren Zeiten der Fall
gewesen wäre. Die Verlagerung äußerer
Zwänge in die eigene Person ist vielmehr
in einem solchen Ausmaß erreicht, dass
eine persönliche Steuerung, ein individuelleres
Management von Triebbefriedigung und
Triebeinschränkung möglich ist.
Eine
zweite Antwort auf die Frage liegt in
der Veränderung der gesellschaftlichen
Entwicklung insgesamt. Modellbildend
ist nicht mehr der höfische Adel, sondern
das Wirtschaftsbürgertum. Dies hat
auch zur Folge, dass gesellschaftliches
Unterscheidungsmittel nicht die Art
zivilisierten Verhaltens ist, die bis
in eine Künstlichkeit hinein gesteigert wurde, sondern das Geld. Folge davon ist auch eine stärkere
Scheidung von Beruf und Freizeit. Für
den Adel konnte es eine solche Unterscheidung
nicht geben, da er keine berufliche
Funktion erfüllte, sondern sein "Beruf"
in der Elaborierung eines gesellschaftlichen
Lebensstils bestand. Wenn wir die Unterscheidung
von Beruf und Freizeit auf zivilisatorisches
Verhalten in unserer Zeit beziehen,
so können wir feststellen, dass das,
was wir als "Lockerung" gesehen
haben, hauptsächlich im Freizeitbereich
eine Rolle spielt, während im Arbeitsleben
der Druck der Affektkontrolle und der
Grad der Rationalisierung tendenziell
eher zunehmen (etwa durch die Anpassung
unseres Körpers an die Macht der Apparate).
Vielleicht ist die Lockerung im Privat-
und Konsumbereich lediglich Kompensation
für den zunehmenden beruflichen Druck.
Eine
dritte Antwort schließlich hat Wouters
(1987) in seinem Aufsatz "Informalisierung
und der Prozess der Zivilisation"
(in: P. Gleichmann u.a., Materialien
zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie,
Frankfurt 19873) versucht.
Er bezeichnet das, was wir bisher "Lockerung
des Verhaltens" genannt haben,
mit "Informalisierung'" und
nennt als Beispiele den Gebrauch der
Vornamen, die Anrede- und Schlussformel
in Briefen, das Sexualverhalten, Wandel
in den Erziehungsvorstellungen. Sie
sind für ihn Ausdruck einer sich verändernden
Machtbalance zwischen Eltern und Kindern,
Männer und Frauen, Mittelschicht und
Arbeiterklasse. Gerade in der Verschiebung
zugunsten der Arbeiterklasse sieht Wouters
"eine der am stärksten wirkenden
Triebkräfte des Informalisierungsaspektes
eines Prozesses der Zivilisation"
(ebenda, S. 288). Wouters These lautet,
dass die Informalisierung nicht Ausdruck
einer Schwächung der Selbstzwänge ist,
sondern im Gegenteil, "dass die
Anforderungen an Selbstzwänge gewachsen
sind" (ebenda, S. 288). Er verdeutlicht
seine These u.a. an dem Wandel der Beziehung
zwischen Eltern und Kindern. Die Verringerung
der Machtunterschiede zwischen ihnen,
der Abbau autoritärer Erziehungspraktiken
fordert zunächst von den Eltern, den
Ausbruch ihrer Aggressionstendenzen
zu zügeln, selbstbeherrscht zu werden,
um stärker auf die Bedürfnisse der Kinder
eingehen zu können. Langfristig fordert
dieser Prozess aber auch für die Kinder
eine stärkere Selbstkontrolle, da sie
ihnen nicht so äußerlich bleibt, wie
z.B. bei Formen autoritärer Erziehung.
Das Maß an Selbststeuerung durch die
Kinder wächst. Zusammenfassend schreibt Wouters:
"ein
Nachlassen der Machtungleichheiten führt
zu einer größeren Informalität. Im Gegensatz
zum oberflächlichen Eindruck führt größere
Zwanglosigkeit in der Beziehung interdependenter
Personen zu tiefer verwurzelten Selbstzwängen
und erfordert sie auch, als etwa Beziehungen
mehr formeller Natur, die charakteristisch
sind für größere und offenkundigere
Status- und Machtungleichheiten und
ein autoritäres Verhalten von sozial
Überlegenen." (ebenda, S. 293)
Das
Schiff
Das
eilende Schiff,
es
kommt durch die Wogen
Wie
Sturmwind geflogen
Voll
Jubel ertönt's
vom
Mast und vom Kiele:
"Wir nahen dem Ziele."
Der
Fährmann am Steuer
spricht
traurig und leise:
"Wir segeln im Kreise."
(Marie
von Ebner-Eschenbach)
3.
Welche pädagogischen Implikationen enthält
die Zivilisationstheorie?
Wir
haben einleitend in diesem Kapitel behauptet,
die Beschäftigung mit soziologischen
Theorien helfe bei der Beantwortung
einiger zentraler Fragen, die sich für
eine Kindergartenkonzeption stellen.
Abschließend soll dies in drei Punkten
gezeigt werden. Der erste bezieht sich
auf die pädagogische Bewertung des beschriebenen
Zivilisationsprozesses, der zweite
beschäftigt sich mit der Frage, welche
Schlussfolgerungen aus der interdependenten
Bestimmung des Verhältnisses von Individuum
und Gesellschaft sich für Erziehungsziele
ergeben. Abgeschlossen wird dieses Kapitel
schließlich mit wenigen Bemerkungen
zu dem Problem der bewußten Steuerung
der Institution Kindergarten selbst.
Ein
bestimmter Stand der Zivilisationsentwicklung
ist pädagogisch betrachtet weder hilfreich
noch gefährlich, sondern Ausdruck der
jeweiligen Gesellschaftsformation.
Es wäre naiv, unsere Form von
Zivilisation pauschal zu verdammen und
einer idealistischen Natürlichkeit
nachzulaufen. Trotzdem erscheint es
notwendig, danach zu fragen, was dieser
gesellschaftliche Prozess, der weit
in das Leben des einzelnen eingreift
und es konstituiert, für die seelische
Gesundheit bedeutet. In diesem Sinne
spricht Elias von der Zivilisation als
"recht zweischneidiger Waffe"
(Über den Prozeß der Zivilisation, Bd.
2, a.a.O., S. 387). Als negative Pole
nennt er "Unruhe und Unbefriedigtheit
der Menschen", die durch eine
zu weite Einschränkung der Triebe und
eine Selbstunterdrückung entstehen,
so dass Triebäußerungen keine Form der
Befriedigung finden können, quasi "anästhesiert"
werden (ebenda, S. 332). Zum anderen
hebt er den "Verlust an Stabilität"
hervor, da unsere Zivilisation eine
große Flexibilität in den Möglichkeiten
menschlichen Verhaltens verlangt (ebenda,
S. 334). Mehr als 50 Jahre nachdem Elias
dies geschrieben hat, ist unser Blick
für die Kehrseite der Zivilisation geschärft.
Der Einschränkung menschlicher Triebäußerungen
und damit eine Verringerung befriedigender
Lusterlebnisse, der Modellierbarkeit
des Menschen durch die "gesellschaftliche
Prägeapparatur" sind Grenzen gesetzt,
die ein weitergetriebener Zivilisationsprozess
des öfteren zu Lasten seelischer Gesundheit
zu überschreiten versucht, z.B. dadurch
dass Möglichkeiten unmittelbarer sinnlicher
und körperlicher Auseinandersetzung
zunehmend zugunsten einer Informationsverarbeitung
über Informationen aus zweiter Hand
reduziert werden.
Diese
Probleme erhöhen sich für unsere Kinder,
da es ihre Aufgabe ist, während der
Zeit ihrer individuellen Entwicklung
bis zum Abschluß des Jugendalters den
Stand der Zivilisationsentwicklung erreicht
zu haben, der für unsere Gesellschaft
kennzeichnend ist. Wenn wir davon ausgehen,
dass Neugeborene vor 50, vor 500 vor
1000, vor 2000 Jahren die gleiche Ausstattung
mit affektiven Antrieben und kognitiven
Möglichkeiten wie ein heute geborenes
Baby mitbrachten, so sehen wir die Schwierigkeit,
den Entwicklungsprozess so zu steuern,
dass ein Handeln in einer Welt mit immer
komplexeren Sozialbeziehungen, mit ihrer
zunehmenden Abstraktheit und weitergehenden
Triebkontrolle möglich wird. Pädagogisch
könnte daraus abgeleitet werden, immer
früher und mit zunehmendem Druck von
Kindern sozial angepasstes Verhalten
zu verlangen. Dies wäre jedoch ein Trugschluss,
da ein solch frühzeitiger Anpassungsdruck
entweder seelische Störungen hervorrufen
muss oder eine Persönlichkeitsstruktur
herausbildet, die außengesteuert ist
und damit nicht jene für unsere Gesellschaft
zentralen Selbstkontrollmechanismen
aufbaut, die tendenziell auch ein Moment
von Selbstbestimmung enthalten.
Aus
der Perspektive von Elias lässt sich
als Ziel des Erziehungsprozesses die
Einpassung in den gegebenen Stand der
zivilisatorischen Entwicklung und deren
Weiterentwicklung angeben. Nur: dies
ist das Ziel und nicht der Anfangspunkt,
an dem wir uns im Kindergarten befinden.
Um den ohnehin vorhandenen Zivilisationsdruck
auch auf Kinder abzufedern, erscheint
uns deshalb pädagogisch vor allem eins
geboten: Vorsichtigkeit. Pädagogisch
erfolgreiches Handeln zeichnet sich
nicht dadurch aus, möglichst frühzeitig
den Übergang zur nächsten Stufe zu bewerkstelligen,
sondern durch Möglichkeiten, die wir
für Kinder eröffnen, Erfahrungen auf
der jeweiligen Stufe ihrer Entwicklung
machen zu können, so dass wir mehr
die Intensität als die Quantität des
Entwicklungsprozesses betonen. Konkret
bedeutet dies für den Kindergarten:
• gegen die Tendenz zu vermittelten Informationen,
die durch das Fernsehen für Kinder heute
ohnehin selbstverständlich sind, einen
Lebensraum zu schaffen, in dem unmittelbar
sinnliche Erfahrungen gemacht werden
können;
• gegen die Tendenz zur Reduktion des Körpers
des Kindes auf einen "Lern-Körper"
(Rumpf), der an Tischen und auf Stühlen
sitzt und sich mit Papier-Bleistift-Schere-Klebe-Aktivitäten
auseinandersetzt, Möglichkeiten für
die Vielfältigkeit und Selbstverständlichkeit
grobmotorischer, körperlicher Aktivität
zu eröffnen;
• gegen die Tendenz zur Anpassung an ordentliches
Verhalten, zu dem der Druck des Lebens
in öffentlichen Institutionen verstärkend
drängt, das Chaos unzivilisierten, lustvollen,
spaßreichen Handelns zuzulassen;
• gegen die Tendenz einer Pädagogisierung und
Didaktisierung der Zeit, die dazu anhält,
möglichst rationell zu lernen, Raum
und Zeit zu geben für die Eigentümlichkeit
der kindlichen Zeitrhythmen.
Das
Kind wird sich in den erreichten Stand
gesellschaftlicher Zivilisationsentwicklung
einarbeiten, aber eine solche Synchronisation
wird am Ende des Erziehungsprozesses
stehen, und sie wäre nicht befördert,
sondern gefährdet, wenn wir Kindheit
nicht als Phase der "Asynchronisation"
verstehen würden. Die Pädagogik bezieht
ihre historisch-gesellschaftliche Rechtfertigung
aus ihrem Mandat für die Kindlichkeit
der Kinder und nicht aus einem verfrühten
Anpassungsdruck an Erwachsenenverhalten.
Dieser Gedanke ist umso wichtiger,
je jünger die Kinder sind.
Kindergartenkonzeptionen
versuchen durch unterschiedliche Umschreibungen
eine Gewichtung zwischen zwei Polen
vorzunehmen: der eine mag bezeichnet
werden als Sozialisation, soziales Lernen,
Anpassung an die Gruppe, Rücksichtnahme,
Vorbereitung auf die Anforderungen
der Schule; der andere als Individualisierung,
Emotionalität, Durchsetzungsvermögen
in der Gruppe, Präsentation eigener
Bedürfnisse, Zeit für freies Spiel.
Dann mag der eine mehr für Schulvorbereitung,
der andere mehr für freies Spiel der
Kinder sein, in den meisten Konzeptionen
werden wir Formulierungen wie "sowohl
als auch" finden, Versuche eines
Kompromisses zwischen den Anforderungen
der Gesellschaft auf Anpassung und den
Anforderungen der Individuen auf Freiheit.
Individuum und Gesellschaft werden so
zu unterschiedlichen Bereichen, von
denen der eine, in dem er sich mehr
ausdehnt, den jeweils anderen einschränkt
und umgekehrt. Viele Diskussionen im
Kindergarten können so den Charakter
von "Glaubenskämpfen" annehmen,
ob man mehr auf der Seite des Individuums
oder der Gesellschaft stehe. Häufig
ist es dabei die Gesellschaft, die als
notwendiges Übel gilt, an die man sich
auf Grund der Macht der Notwendigkeit
anpassen muss, aber nur so weit, wie
es unbedingt notwendig ist, um möglichst
viel von der Freiheit des Individuums
zu retten.
Die
Gesellschaftstheorie von Elias mag helfen,
einen Ausweg aus dieser Falle zwischen
dem Zwang der Gesellschaft und der Freiheit
des Individuums zu finden. Die Frage
ist nämlich, ob solche Aufteilungen
die Realität richtig beschreiben. Sind
Gesellschaft und Individuum zwei getrennte
Bereiche und deshalb soziales und affektives
Lernen zwei verschiedene Lernfelder?
Wenn das so wäre, müssten Menschen mit
geringer gesellschaftlicher Anpassung
ein Mehr an individueller Freiheit aufweisen,
und umgekehrt Menschen mit weniger Individualität
in hohem Maße sozial angepasst sein.
Dass dies in der Realität nicht so ist,
zeigen uns Extrembeispiele: Menschen
mit schweren psychotischen Störungen
oder geistigen Behinderungen, Menschen,
die in Obdachlosensiedlungen leben,
Kriminelle, sie alle weisen im Sinne
des Funktionierens in unserer Gesellschaft
einen geringen Grad an Anpassung auf,
ohne dass wir auf der anderen Seite
sagen könnten, ihre individuelle Freiheit,
ihre Möglichkeiten der Selbsterkenntnis
und der Durchsetzung individueller Bedürfnisse
sei besonders hoch. Wenn wir nach einem
Beispiel suchen, können wir an den Künstler
denken, der in kreativer Weise mit Pinsel,
Leinwand und Farbe umgeht. Es wäre unsinnig,
die Anpassung des Malers an die Techniken
des Umgangs mit seinem Material der
Freiheit seiner Kreativität gegenüberzustellen.
Vielmehr zeigt sich, dass je mehr ein
Künstler die Techniken beherrscht und
sich damit den Gegebenheiten der Materialien
anpasst, er nicht weniger kreativ wird,
sondern im Gegenteil: durch die Beherrschung
der Techniken baut er seine Kreativität
auf. Kreativität und Technikbeherrschung
sind nicht unterschiedliche Bereiche
- etwa auch nicht so, dass man sagen
könne: erst die Beherrschung der Technik,
dann die Kreativität -, sondern unterschiedliche
Aspekte des gleichen Prozesses: nur
durch die Beherrschung der Techniken
erhält der Künstler die Möglichkeit,
seiner Kreativität Ausdruck zu verleihen,
aber auch umgekehrt: nur durch das Verlangen,
einer kreativen Idee Gestalt zu geben,
wird er seine Technik verfeinern.
Individuum
und Gesellschaft sind nicht unterschiedliche
Bereiche, sondern verschiedene Aspekte
des gleichen Entwicklungsprozesses.
Der neugeborene Säugling verfügt nicht
über ein Mehr an Individualität und
wird durch seine Sozialisation in die
Gesellschaft gezwungen, sondern im
Verlauf seiner Entwicklung baut er im
Kontakt mit der Umwelt seine Individualität
auf, und indem er sie aufbaut, passt
er sich in die Gesellschaft ein. Von
daher lassen sich zwei unterschiedliche
Perspektiven der Betrachtung unterscheiden:
die gesellschaftliche Umwelt dient als
"Nahrung" für den Aufbau der
Persönlichkeit, und das Individuum ist
"Nahrung" für die Entwicklung
der Gesellschaft. Beide - Individuum
und Gesellschaft - sind zwei Seiten
einer Medaille, beide - individueller
und gesellschaftlicher Aufbau - sind
zwei Perspektiven des gleichen Prozesses.
Wenn wir für die Kindergartenkonzeption
gefordert haben, sie solle die "Asynchronität"
zwischen der kindlicher Entwicklung
und dem Stand der gesellschaftlichen
Zivilisationsentwicklung betonen, sie
solle ein Mehr an unmittelbarer sinnlicher
Erfahrung, an körperlicher Aktivität,
an lustvollem Chaos, an sensiblem Umgang
mit kindlichen Zeitrhythmen zulassen,
dann ist dies nicht gegen die Gesellschaft
oder in einen idealistisch gedachten
gesellschaftsfreien Raum hinein gesagt,
sondern es bringt die Betrachtungsperspektive
zum Ausdruck, die der Pädagogik historisch-gesellschaftlich
gegeben ist: zumindest seit der Aufklärung
und den Anfängen bürgerlicher Freiheitsrechte
sollen Kinder nicht blind in die Anforderungen
einer als statisch gedachten Gesellschaft
eingezwungen werden, sondern der komplizierte
Verflechtungsmechanismus unserer Gesellschaft
verlangt notwendiger Weise, auch die
Frage nach der "Lustbilanz"
zu stellen, wenn der Sozialisationsprozess
nicht sowohl gesellschaftlich disfunktional
als auch für das Individuum negativ
verlaufen soll.
Abschließend
wollen wir die Gesellschaftstheorie
von Norbert Elias noch dazu benutzen,
uns die Frage vorzulegen, in wieweit
der Prozess der Veränderung der Institution
Kindergarten selbst bewusst erfolgen
kann, oder ob er das Ergebnis eines
nicht vorhersehbaren Spiels von Zufälligkeiten
ist. Erst für Lesenlernen von Kindergartenkindern
dann für die freie Äußerung kindlicher
Sexualität; erst für ordentliche dann
für chaotische Arbeitsmappen; erst
für Schulvorbereitung dann für soziales
Lernen; erst für Mathematik und Physik
dann für Musik und Gestaltung; erst
für inhaltsbezogene dann für situationsorientierte
Curricula; erst Integration von Obdachlosenkindern
dann Ausländern dann Behinderten und
Aussiedlern; erst für den Kindergarten
als pädagogische Institution und gegen
die Bewahranstalt und jetzt für flexible
und ausgeweitete Öffnungszeiten wegen
der Berufstätigkeit der Mütter. Dies
sind einige wenige Schlagworte, hinter
denen Veränderungen des Kindergartens
in den letzten 25 Jahren stehen. Passen
wir uns jeder dieser Reformen an - mit
viel Engagement und abwartend, was demnächst
auf uns zukommt -, oder fühlen wir uns
dem allen ohnmächtig ausgeliefert,
oder beharren wir auf unserem Standpunkt
und lassen die Wellen über uns hinweggehen,
weil wir wissen, dass die Reformen so
schnell wieder verschwinden werden,
wie sie gekommen sind? Sind Erzieherinnen
- außerhalb des Wirkungsbereichs ihrer
unmittelbaren Arbeit - der Spielball
von Veränderungen derer "da oben":
der Funktionäre, der Politiker, der
Wirtschaft? Nur: je weiter wir in der
Hierarchie des Kindergartensystems
nach oben gehen, desto größer werden
die Abhängigkeiten von den "Sachzwängen",
desto stärker ist die Angst, sich frei
zu äußern, desto größer der Konformitätsdruck,
mit der eigenen Meinung an sich zu halten.
Sind es also die Sachzwänge, die die
Funktionäre und Politiker beherrschen,
und die Entwicklung bestimmen? Nur:
was sind das für Sachen, die da zwingen?
Doch nichts anderes als Institutionen
und Handlungen von Menschen, die miteinander
in vielfältigen Beziehungen stehen.
Führen
wir zur Verdeutlichung der Fragestellung
in Gedanken ein Experiment durch: Wir
bitten Erzieherinnen, Politiker, Kindergartenfunktionäre,
Fortbildner, Fachberaterinnen, Wissenschaftler
und andere Experten vorauszusehen, wie
der Kindergarten in zwanzig Jahren aussehen
wird, welches die Fragen sein werden,
die dann im Mittelpunkt seiner Entwicklung
stehen. Dabei geht es nicht darum, wie
die jeweilige Gruppe sich wünscht, dass
der Kindergarten sei, sondern wie er
tatsächlich in zwanzig Jahren ist. Die
Wahrscheinlichkeit, dass die Prognosen
aller Gruppen sich als falsch erweisen
werden, scheint groß. Und weil wir nicht
in die Zukunft schauen können, kann
uns nur ein Blick zurück als Beleg
dieser These dienen: Wer von den Erzieherinnen,
Politikern, Kindergartenfunktionären,
Fortbildnern, Fachberaterinnen, Wissenschaftlern
und anderen Experten hätte im Jahre
1980 vorausgesagt, dass im Jahre 1990
die fehlenden Kindergartenplätze das
Hauptproblem seien, und wer hätte 1970
gesagt, dass der Betreuungsgesichtspunkt
von Kindern in der öffentlich diskutierten
Forderungsliste an erster Stelle stünde?
Ist
die Folgerung aus alledem, wenn wir
länger- und sogar mittelfristig keine
gesicherten Prognosen geben können,
sollten wir auf Planung lieber verzichten
und uns dem Tagesgeschäft widmen? Wenn
die Entwicklung scheinbar so blind verläuft,
geben wir uns dann nicht lieber gleich
dem Treiben der Geschichte hin, so wie
das unsteuerbare Boot dem Spiel der
Wellen ausgesetzt? Wir denken dies nicht,
sondern wollen im Gegenteil dafür sprechen,
engagiert in das Geschehen einzugreifen.
Institutionen werden von Menschen gemacht,
und sie verändern sich durch deren planvolles
Tun. Damit dies erfolgreich geschehen
kann - so können wir von der Gesellschaftstheorie
Elias lernen -, ist eine distanzierte
Haltung notwendig, die versucht, zwischen
Wollen und Realität, Bewertung und
Wahrnehmung zu unterscheiden. In dem
Bild des Gedichtes von Ebner-Eschenbach
gesprochen: nicht die vom Mast bis Kiel
Jubelnden, sondern der die traurige
Realität erkennende Fährmann hat vielleicht
noch die Möglichkeit, das im Kreis segelnde
Schiff zu retten.
Um
den Kurs der Entwicklung des Kindergartens
beeinflussen zu können, bedarf es Struktur-
und Entwicklungsmodelle, die die Machtfaktoren,
ihre Interessen und relativen Stärken
aufzeigen und "Einbruchstellen"
von Veränderungen benennen. Wenn dadurch
ein Mehr an Bewusstheit der Entwicklungsdynamik
erreicht wird, erhöht sich auch die
Chance der Steuerungsfähigkeit. Nur
ist andererseits auch die Grenze dieses
Bewusstwerdungsprozesses zu sehen: allein
eine so begrenzte Frage wie die nach
der Entwicklung des Kindergartens in
einem Bundesland in einem Zeitraum von
zwanzig Jahren steht in Verknüpfung
mit einer so großen Vielzahl von Faktoren
und Bereichen, die ihrerseits in einem
Entwicklungsprozess stehen, dass unser
Stand des verfügbaren Wissens nur ein
wenig Licht in dieses Dunkel bringen
kann. Im Vergleich ist die Bewusstseinsfähigkeit
über gesellschaftliche Prozesse ähnlich
der für innerpsychische: Beide haben
ihre Grenzen und Möglichkeiten; für
beide gilt, dass man hinterher klüger
ist als vorher; für beide sollte aber
auch gelten, angesichts der Eingeschränktheit
der Bewusstseinsfähigkeit nicht zu resignieren,
sondern an den Stellen, die problematisch
erscheinen, sich um eine weitergehende
Aufklärung zu bemühen.
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