[ newsletter ]
Newsletter
Jetzt kostenlos
hier abonnieren:



*

netnovate.de - innovate the internet


 
 
Vermischte Texte

  Home / Texte / III / 2

Sigurd Hebenstreit

Das vertraute Nahe und das gefährliche Außen

Eine Erzieherin morgens in ihrer Kindergruppe. Sie sieht konkrete Kinder: Kinder, die la­chen oder traurig sind, Kinder, die spielen oder sich langweilen, Kinder, die alleine, zu mehreren oder bei der Erzieherin sind. Mit diesen Kindern muss die Erzieherin für einige Stunden am Tag leben: eine Umwelt bereitstellen, in der sie spielen können, und sich selbst als Spiel-, Gesprächs-, Tröstepartnerin anbieten. Die Organisation dieser Lebens­situation soll sich dabei nicht in einer Aufbewahrung der Kinder erschöpfen, sondern sie soll Anregungen für eine Entwicklung der Kinder bieten, Möglichkeiten schaffen,  etwas sinnvolles zu lernen und soziale Fähigkeiten herauszubilden. Die Erzieherin mag das Gefühl großer Freiheit haben: Sie kann ihren Gruppenraum umstellen, neue Mate­rialien anschaffen, die Zeit nach ihren Überlegungen einteilen, Inhalte ihrer Wahl in die Gruppe einbringen, sich mit bestimmten Kindern intensiver beschäftigen. Das ist die eine Seite, die der Unabhängigkeit. Daneben muss die Erzieherin auch an die andere denken; die vorgegebenen Rahmenbedingungen: die Zahl der Kinder in der Gruppe, das zur Verfügung stehende Geld, die Zielsetzung, dass am Ende der Kindergartenzeit die Kinder erfolgreich in die Schule überwechseln können. Das eine - die Kinder und das Leben mit ihnen - ist konkret, sinnlich wahrnehmbar und emotional, trotz der spür­baren Anstrengung, befriedigend; das andere - der Rahmen, die Gesellschaft, die Po­litik - ist weiter weg, verschwindet manchmal hinter unsichtbaren Strukturen, scheint nicht oder nur wenig beeinflussbar und löst deshalb Angst oder Apathie aus.

Kontakt zu lebendigen Kindern zu haben, ist häufig ein wichtiger Bestandteil der Moti­vation zum Erzieherinnenberuf, und die Beschäftigung mit der Entwicklungspsychologie ist einsichtige Voraussetzung, um ein besseres Verständnis von Kindern zu erlangen. Die Gesellschaft dagegen erscheint abstrakt, weit weg von der Alltagserfahrung und höchstens als "das Böse", das die Rahmenbedingungen so schlecht setzt, so dass "das Eigentliche" - die Arbeit mit den Kindern - erschwert wird. Das Fach Soziologie während der Ausbildung erfreut sich deshalb geringerer Beliebtheit, es ist als theoretisches Fach weit weg von der Praxis und scheint kaum Hilfestellungen für die Berufsarbeit zu liefern.

Die Frage ist, ob dieses zweigeteilte Bild - Kind und Gesellschaft, das Nahe und das Entfernte, das Eigentliche und der Rahmen, das Befriedigende und das Gefährliche, die Freiheit und der Zwang - mit der Realität übereinstimmt. Es könnte ja sein, dass die­ses Bild ein Bestandteil unseres Alltagsbewusstseins ist, das die Wirklichkeit verzerrt wie­dergibt. Es wäre ja möglich, dass wir bestimmte Probleme im Kindergartenalltag

- z.B. die Frage, ob mehr das einzelne Kind oder mehr die Gruppe im Vordergrund stehen soll,

- z.B. ob Anpassung ein notwendiges Übel sei, und inwieweit ein Kind sich anpassen und welchen Freiheitsraum es haben soll,

- z.B. ob und in welchem Maße Erzieherinnen die Rahmenbedingungen der Kindergar­tenarbeit beeinflussen können,

dass wir diese Fragen deshalb schwerer lösen können, weil solche, der Realität nicht entsprechende Alltagsbilder wirksam sind.

Fragen in dieser Art zu stellen, heißt auch, die Richtung ihrer Beantwortung festzulegen. Wir wollen also im folgenden zu zeigen versuchen, dass eine veränderte Sichtweise von "Gesellschaft" und des Verhältnisses von "Kindheit und Gesellschaft" wichtige Vor­aussetzungen sind, um Konzeptionsfragen der Kindergartenpädagogik angehen zu können. Wir bedienen uns dabei der soziologischen Theorie von Norbert Elias, eines 1990 in Amsterdam gestorbenen Soziologen, der 1897 in Breslau geboren 1933 vor den Nationalsozialisten nach England fliehen musste. Die politischen Zwänge, aber auch Elias Weigerung, sich in die Links-rechts-Schemata der Soziologie einzuordnen, bewirkten eine erst späte Rezeption seiner Werke. Sein ursprünglich 1935 erschienenes Hauptwerk "Über den Prozeß der Zivilisation" erzeugte zunächst keine große Resonanz, es wurde 1969 erneut aufgelegt, und ab Mitte der 70er Jahre setzte dann eine breit gefächerte Aufmerksamkeit in der Soziologie, aber auch der Pädagogik ein, die auch nach dem Tod Norbert Elias unvermindert anhält.

 

 

Sokrates zugeeignet:

 

Es ist schon so: Die Fragen sind es,

aus denen das, was bleibt, entsteht.

Denkt an die Frage jenes Kindes:

"Was tut der Wind, wenn er nicht weht?"

 

(Erich Kästner)

1. Wie lässt sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bestimmen?

Denken wir nochmals an den einleitenden Spruch von Erich Kästner, die Frage des Kindes nach dem Wind, der nicht weht. Das Kind ist in eine gedankliche Falle hineinge­raten, die ihm unsere Sprache nahe legt: Wenn wir sagen, "der Wind weht", dann nehmen wir eine Substantivierung vor, bei der aus der Tätigkeit des Wehens der Ge­genstand des Windes wird, ein Objekt vergleichbar den Wolken, der Sonne, den Blät­tern. Erst im Nachhinein wird diesem vergegenständlichten Objekt durch das Verb - "wehen" - die Eigenschaft der Bewegung zugesprochen. Es gibt dann einen Gegen­stand "Wind" und durch irgend etwas wird dieser Gegenstand in Bewegung gesetzt. Diese Sprachform ist Ausdruck einer Denkweise, von der wir wissen, dass sie mit der Realität nicht in Übereinstimmung steht: es gibt keinen Wind, der nicht weht. Für Norbert Elias soll dieses Beispiel dafür dienen zu zeigen, dass die Substantivierung der Sprache uns in gedankliche Probleme hineinführen kann, deren Verzerrungen uns den Blick für die Realität versperren. Dies gilt auch für unsere Vorstellungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft.

In unserem Alltagsbewusstsein mag es so ähnlich sein: Er ist er, du bis du, und ich bin ich. Ich bin konkret: mit meinen Händen kann ich meine Haut berühren, die die Grenze zwischen meinem Ich und dem Außen bildet. In mir - in meinem Kopf, in meinem Bauch - sind meine Gefühle, mein Denken, meine Handlungsmöglichkeiten, die mir eine un­verwechselbare Individualität geben. Mein Name drückt diese Einmaligkeit aus. Da­neben weiß ich, dass ich in vielerlei Abhängigkeitsbeziehungen zu meiner Umwelt stehe: ich muss arbeiten, in meiner Freizeit tausche ich mich mit anderen Individuen aus, und als Kind bin ich durch meine Eltern, Lehrer und andere Erwachsene erzogen worden. In dieser Denkweise komme ich gleichsam doppelt vor: als einmaliges Indivi­duum und als soziales Wesen, und ein gut Teil meiner Bemühungen mag darauf ge­richtet sein, meiner Autonomie gegenüber den Fremdzwängen einen größeren Be­reich einzuräumen. Bleiben wir in dieser Denkfigur, dann besteht die Gesellschaft in der Art, wie verschiedene, unabhängige Individuen Kontakt miteinander haben. Sie lässt sich als eine Figur konzentrischer Kreise vorstellen: intime Familien- und Freundschafts­gruppen, die in einer Gemeinde oder Stadt leben, die wiederum Staaten bilden. Von mir zu meinem Familien- und Freundeskreis, zu meiner Arbeits- und Freizeitwelt, meiner politischen Gemeinde, meinem Bundesland und Bundesstaat bis zu Europa und der ganzen Welt findet ein zunehmender Prozess der Abstraktion statt, der mir fiktiv er­scheint: Meine Eltern, meine Kinder, meine Freunde habe ich als reale, autonome In­dividuen vor Augen, zu denen ich eine Beziehung habe. Die Bundesrepublik Deutsch­land und die europäische Gemeinschaft kann ich mir in meinem Kopf nur noch als un­geheuer große Zahl vieler Individuen vorstellen, aber die Beziehungen zwischen ihnen sind soweit entfernt von mir, sie erscheinen als ein "System", das Politiker konstruiert ha­ben und für das die soziologische Wissenschaft mir Begriffe anbietet, damit ich ihre Wirkungsweise verstehen kann. Diese "große Gesellschaft" erscheint abstrakt: ich kann die europäische Gemeinschaft nicht sehen, sie nicht anfassen, sie ist weit weg und hat nicht das gleiche Maß an Konkretheit wie meine Individualität. Sie steht mir gegen­über, hilft mir oder bedroht mich, ich muss im Spiel dieser Gesellschaft bemüht sein, nicht unterzugehen, sondern meine Autonomie aufrechtzuerhalten.

Von dieser Alltagsvorstellung der Aufteilung von Individuum und Gesellschaft in zwei Bereiche - von denen der eine konkret, der andere abstrakt, der eine nah, der an­dere fern, der eine ursprünglich, der andere aufgesetzt, der eine vertraut, der andere bedrohlich erscheint - müssen wir uns lösen, um den soziologischen Ansatz von Norbert Elias verstehen zu können. Der Versuch, nicht mehr in konzentrischen Kreisen mit dem Kernpunkt meines Ichs über meine Familie und Arbeitswelt bis hin zu Stadt und Staat zu denken, ist auch deshalb schwierig, weil er eine narzisstische Kränkung darstellt, die Elias mit derjenigen vergleicht, die Menschen im Mittelalter bei der Vorstellung empfanden, die Erde sei nicht der Mittelpunkt des Universums, sondern die Erde drehe sich um die Sonne. Elias führt den Begriff des "homo clausus" ein, um die Vorstellung des Verhältnis­ses von Individuum und Gesellschaft als zwei verschiedene Bereiche, die erst im Nachhinein in Beziehung gesetzt werden, kritisieren zu können.

Zu dieser anderen Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft kommt als Voraussetzung des Verständnisses der Theorie von Elias noch ein zweites hinzu: So wie die sprachliche Gestalt von: "der Wind weht", ein Denken nahe legt, als gäbe es einen Wind, der erst im Nachhinein in Bewegung gerät, so wird auch Gesell­schaft als etwas Statisches aufgefasst, eine Wesenseinheit, der dann als sekundäres Merkmal das des Wandels zugesprochen wird: eine Gesellschaft entwickelt sich nach diesem Bild von einen Zustand in einen anderen Zustand. Gegen diese Substantivie­rung versucht Elias den Begriff von Gesellschaft zu "dynamisieren": Es gibt keinen Wind, der nicht weht, und keine Gesellschaft ohne Entwicklung, sondern Entwicklung gehört unmittelbar zum Gesellschaftsbegriff hinzu. Um diesen Sachverhalt auch sprachlich deutlich zu machen, führt Elias den Begriff der "Figuration" ein, den wir zunächst an dem Beispiel des Schachspiels erläutern wollen.

 

Ein Schachspiel besteht aus sechszehn Bauern, jeweils vier Türmen, Läufern und Sprin­gern sowie zwei Damen und Königen. Die Figuren werden auf das Spielfeld gestellt, wobei in der Ausgangsposition jede Figur einen bestimmten Platz einnimmt. Einem Kind, dem wir das Schachspiel erklären wollen, können wir sagen: "Diese Figur, die so aussieht, ist ein Bauer. Die kann nur vorwärts gehen und zwar am Anfang einen oder zwei Schritte, dann nur noch einen. Schlagen kann sie eine andere Figur nur schräg nach vorne. Wenn der Bauer an der anderen Seite angekommen ist, kann er sich in eine beliebige andere Figur der gleichen Farbe verwandeln, nur nicht in einen König." So können wir Figur für Figur erklären, die Frage ist nur, ob wir mit diesem Einzeldurch­lauf das Wesentliche des Schachspiels erfaßt haben?

Betrachten wir noch eine andere Perspektive, die des Erwachsenen, der ein Schach­spiel beobachtet, ohne seine Regeln zu verstehen. Wahrscheinlich wird er das Spiel bald als Kampf der weißen gegen die schwarzen Figuren ansehen, was nicht selbstver­ständlich ist, denn er könnte das Spiel statt als Kampf auch als eine Form von Tanz be­trachten und statt als Kampf Weiß gegen Schwarz als Kampf der kleinen Bauern ge­gen die großen Springer, Läufer, Türme, Damen und Könige. Die Kampfsituation scheint dadurch charakterisiert, dass hin und wieder Figuren verschwinden, ohne dass neue hinzukommen, bis irgendwann - und es können dann noch einige oder auch viele Figuren beider Farben auf dem Schachbrett stehen - das Spiel aus ist. Für den der Regel Unkundigen erscheint das Spiel als Abfolge verschiedener Strukturen weißer und schwarzer Spielsteine, die er in einer Serie von Bildern einfangen könnte: In dem ersten Bild sind weiße und schwarze Figuren vollkommen getrennt und nur die beiden hinteren und vorderen Spielreihen besetzt. In der vorrückenden Abfolge der Bilder vermischen sich die Farben und auch die mittleren Felder werden bevölkert. Besteht das Schachspiel aus dem Durchlaufen verschiedener Strukturbilder?

Für den des Schachspiels Kundigen ist das Schachspiel beides nicht: Weder eine Addi­tion von Bauern, Türmen, Springern, Läufern, Dame und König, noch ein Ablauf von Bildern, die unterschiedliche Strukturzustände weißer und schwarzer Figuren zum Aus­druck bringen, sondern das Wesentliche des Schachspiels ist die Art der Beziehung, die die Figuren untereinander haben. Ein Bauer für sich betrachtet ist ein Stück gestaltetes Holz. Im Schachspiel erhält er seine Bedeutung durch den Bezug, den er zu den Figu­ren der gleichen und der anderen Farbe hat, und diese Bezüge verändern sich mit jedem Zug, den das Spiel nimmt. Auch wenn eine bestimmte Spielfigur nicht selbst ge­setzt oder angegriffen wird, jeder Spielzug ändert das Beziehungsgefüge, in dem die 32 Figuren stehen, und durch die jede der 32 Figuren ihre Bedeutung erhält. Das ent­scheidende Beziehungsmerkmal, durch das die 32 Figuren bestimmt werden, ist das der Macht: die Macht, eine gegnerische Figur anzugreifen, die Macht, einem Angriff auszuweichen, und die Macht, eine Figur der eigenen Farbe zu schützen. Die Figuren sind dabei nicht gleich mächtig, sondern ihre Macht bestimmt sich durch die in den Spielregeln gegebenen Handlungsmöglichkeiten (z.B. der größere Bewegungsraum der Dame im Vergleich zum Springer), aber auch durch die Stellung, in der die Figuren sich befinden und die sich im Verlauf des Spieles wandelt: So kann ein relativ wenig mächtiger Springer, wenn er in die Konstellation gebracht werden kann, die gegneri­sche Dame und den gegnerischen König gleichzeitig zu bedrohen, die starke Dame schlagen.

Das Beispiel des Schachspiels soll uns hier als Bild dienen, um einige Probleme des Ver­ständnisses von Gesellschaft und des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft besser in den Griff zu bekommen:

- So wie es keinen Sinn macht, wenn wir das Schachspiel verstehen wollen, den Bauern als konkret, die Spielregel aber als nachträgliche Fiktion anzusehen, hilft es wenig wei­ter, das Individuum als ursprüngliche Einheit, als real zu betrachten, demgegenüber die Gesellschaft eine gedankliche Abstraktion sei.

- So wie der Bauer nicht einerseits eine konkrete Spielfigur ist und andererseits eine Po­sition im Schachspiel hat, ist auch der einzelne Mensch nicht einerseits Individuum und andererseits soziales Wesen. Der Bauer besteht aus geschnitztem und lackiertem Holz, der Mensch aus Knochen, Muskelfasern, Haut, Nerven etc. Individualität erhält der Bauer durch das Bezugsgeflecht, in das er eingebunden ist, ebenso wie der Mensch Individualität nicht gegen die (oder neben der) Gesellschaft erhält, sondern nur mit und in den Bezügen, in denen er lebt und sich entwickelt.

- So wie es wenig hilfreich ist, dass Schachspiel als Summe der 32 Spielfiguren, der 64 Spielfelder und der Regeln im Schachbuch zu begreifen, kann die Gesellschaft nicht als Addition vieler einzelner Menschen und der von ihnen geschaffenen Institutionen angesehen werden, sondern nur als das Beziehungsgeflecht, in dem sie stehen.

- So wie es keinen Sinn macht, dass Schachspiel als Abfolge von Zuständen verschie­dener Strukturen schwarzer und weißer Figuren zu verstehen, besteht eine Gesellschaft nicht in einem Ruhezustand, der sich hin und wieder, wenn Störungen auftauchen, verändern muss, sondern die Entwicklung, die tatsächliche und die potentielle, ist ihr entscheidendes Wesensmerkmal.

- So wie die Beziehungen, die die Schachfiguren untereinander bilden, durch ihre po­tentielle Stärke charakterisiert sind, ist auch für menschliche Gesellschaften das Mo­ment der Macht kennzeichnend, wobei Macht ein relatives Moment ist. Nicht: ein Mensch, eine Gruppe, ein Staat haben Macht, und ein anderer Mensch, eine andere Gruppe, ein anderer Staat haben keine, sondern die Macht des einen Menschen, der einen Gruppe, des einen Staates ist in Relation zu der des anderen Menschen, der anderen Gruppe, des anderen Staates höher oder niedriger, und die Entwicklung der Gesellschaft besteht in einer Machtzunahme und Machtabnahme der einen oder an­deren Seite.

Beispiele haben aber auch Grenzen dessen, was sie illustrieren können: Ein Schach­spiel funktioniert nicht von alleine, sondern es bedarf zweier Menschen (oder von durch Menschen hergestellter Computer), die die Figuren bewegen. Es wäre falsch, sich die Gesellschaft als Spiel vorzustellen, bei dem die einzelnen Individuen Marionet­ten von Über-Menschen sind; besser wäre da das Bild eines von selbst ablaufenden Schachspiels. Und noch in einer anderen Hinsicht hinkt der Schachspiel-Vergleich: Ein Schachspiel hat einen eindeutig definierbaren Anfangspunkt und ein auf ein Ziel hin­steuerndes Ende. Beides - Anfangspunkt und gerichteter Endpunkt - gilt für die Gesell­schaft nicht.

 

Norbert Elias führt den Begriff der "Figuration" in die Soziologie, "Menschenwissenschaf­ten" wie er sie bezeichnender Weise nennt, ein, damit die statische Sichtweise des Ge­sellschaftsbildes dynamisiert wird, und um die nicht auflösbare Interdependenz von In­dividuum und Gesellschaft zu bezeichnen. An einer Stelle schreibt er:

"An die Stelle des Bildes vom Menschen als einer 'geschlossenen Persönlichkeit' ... tritt dann das Bild des Menschen als einer 'offenen Persönlichkeit', die im Verhältnis zu an­deren Menschen einen höheren oder geringeren Grad von relativer Autonomie, aber niemals absolute und totale Autonomie besitzt, die in der Tat von Grund auf Zeit ihres Lebens auf andere Menschen ausgerichtet und angewiesen, von anderen Menschen abhängig ist. Das Geflecht der Angewiesenheiten von Menschen aufeinander, ihre In­terdependenzen, sind das, was sie aneinander bindet. Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen. Da Menschen erst von Natur, dann durch gesell­schaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisierung, durch sozial erweckte Bedürfnisse gegenseitig voneinander mehr oder weniger abhängig sind, kommen Menschen, wenn man es einmal so ausdrücken darf, nur als Pluralitäten, nur in Figura­tionen vor. Das ist der Grund, aus dem es ... nicht besonders fruchtbar ist, wenn man unter einem Menschenbild das Bild von einem einzelnen Menschen versteht. Es ist an­gemessener, wenn man sich unter einem Menschenbild ein Bild vieler interdependen­ter Menschen vorstellt, die miteinander Figurationen, also Gruppen oder Gesellschaf­ten verschiedener Art, bilden. Von dieser Grundlage her verschwindet die Zwiespältig­keit der herkömmlichen Menschenbilder, die Spaltung in Bilder von einzelnen Men­schen, von Individuen, die oft so geformt sind, als ob es Individuen ohne Gesellschaf­ten gäbe, und in Bilder von Gesellschaften, die oft so geformt sind, als ob es Gesell­schaften ohne Individuen gäbe. Der Begriff der Figuration ist gerade darum eingeführt worden, weil er klarer und unzweideutiger als die vorhandenen begrifflichen Werk­zeuge der Soziologie zum Ausdruck bringt, dass das, was wir 'Gesellschaft' nennen, weder eine Abstraktion von Eigentümlichkeiten gesellschaftslose existierender Indivi­duen, noch ein 'System' oder eine 'Ganzheit' jenseits der Individuen ist, sondern viel­mehr das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht selbst." (Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt 198914, S. LXVIIf)

Diesen Gedanken verdeutlicht Norbert Elias am Beispiel gesellschaftlicher Tänze:

 

"Man kann gewiß von einem Tanz im allgemeinen sprechen, aber niemand wird sich einen Tanz als ein Gebilde außerhalb der Individuen vorstellen oder als eine bloße Abstraktion. Die gleiche Tanzfiguration kann gewiß von verschiedenen Individuen ge­tanzt werden; aber ohne eine Pluralität von aufeinander ausgerichteten, voneinander abhängigen Individuuen, die miteinander tanzen, gibt es keinen Tanz; wie jede an­dere gesellschaftliche Figuration ist eine Tanzfiguration relativ unabhängig von den spezifischen Individuen, die sie hier und jetzt bilden, aber nicht von Individuen über­haupt. Es wäre unsinnig zu sagen, dass Tänze Gedankengebilde sind, die man auf Grund von Beobachtungen an einzelnen, für sich betrachteten Individuen abstrahiert. Das gleiche gilt von allen anderen Figurationen. Wie sich kleine Tanzfigurationen wan­deln - bald langsamer, bald schneller -, so wandeln sich auch - langsamer oder schneller - die großen Figurationen, die wir Gesellschaften nennen." (ebenda, Bd. 1, S. LXVIIIf)

Als weitere Beispiele für relativ überschaubare Figurationen nennt Elias an anderer Stelle: "Lehrer und Schüler in einer Klasse, Arzt und Patienten in einer therapeutischen Gruppe, Wirtshausgäste am Stammtisch, Kinder im Kindergarten" (Was ist Soziologie, München 19712 , S. 143). Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wie gelangen wir von die­sen überschaubaren Figurationen der Kleingruppen zu der "großen" Gesellschaft?

 

Eine Kindergartengruppe können wir uns als Figuration, als Beziehungsgeflecht von 25 Kindern und zwei Erzieherinnen vorstellen, eine Drei-Gruppen-Einrichtung ebenso als etwas komplexeres Gebilde von 75 Kindern, sechs Erzieherinnen, 75 Elternpaaren, dem Träger. Nur: wenn wir so weiterdenken, verlieren wir irgendwann die Übersicht. Wie kommen wir zu dem Kindergartensystem eines Bundeslandes? Es erscheint der Realität wenig angemessen, sich dieses als eine Addition von tausenden von Figura­tionen vorzustellen, da dies die ungenügende Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft lediglich reproduzieren würde. Elias versucht die Antwort auf diese Frage durch ein Beispiel zu geben.

Zwei Spieler spielen ein Spiel, sie bilden eine "Figuration", in der eine relative Machtbalance zwischen A und B ausgehandelt wird. Dann erhöht sich die Zahl der Spieler, 4, 8, 16, 32 usw., bis schließlich die Zahl der Spieler soweit zunimmt und damit gleichzeitig die Zahl der Beziehungen, dass das Spiel für den einzelnen immer undurchschaubarer wird. Nun ist es möglich, dass diese zunehmende Komplexität dadurch aufgelöst wird, dass "'zweistöckige' Spielgruppen" (ebenda, S. 89) gebildet werden: Es wird eine zweite Gruppe von "Spielfunktionären" gewählt oder bestimmt, die jetzt für ihre Teil­gruppen handeln. In diesem zweistöckigen Spielmodell lassen sich bereits vier mögli­che Machtbalancen unterscheiden:

 

"Da ist erstens die Machtbalance in dem kleineren Spielerkreis des oberen Stockwerks, zweitens die Machtbalance zwischen den Spielern des oberen und denen des unte­ren Stockwerks, drittens die Machtbalance zwischen den Gruppen des unteren Stock­werks; und wenn man noch weiter gehen will, kann man noch die Machtbalance in­nerhalb jeder dieser Gruppen hinzufügen." (ebenda, S. 91)

Konstruiert man dieses Gedankenmodell zu drei-, vier- und mehrstöckigen Modellen weiter, so erhöht sich die Komplexität der Machtbalancen und zwar nicht additiv, son­dern sie potenziert sich. Auf jeder Ebene handelt es sich um das Spiel von individuellen Menschen, aber deren Verwobenheit in die vielfältigen Beziehungsstrukturen ist so komplex, dass sie nicht als einzelne das Spiel durchschauen und beherrschen können.

Gesellschaften lassen sich so als Figurationen von Figurationen vorstellen, die ihrerseits aus Teilfigurationen bestehen. Um dieses Figurationsgeflecht verstehen zu können, ist es nicht hilfreich, die eine Seite als Ursache und die andere als Wirkung aufzufassen. Also weder ist es so, dass die kleineren Einheiten als Ursache für die größeren, noch als deren Folge zu betrachten sind. An dem Beispiel des Kindergartens: Weder ist es rich­tig, das Kindergartensystem als Folge der Addition vieler Kindergärten zu sehen, noch umgekehrt die einzelnen Kindergärten als Wirkung des Systems, sondern auf jeder der Ebenen

- des einzelnen Kindergartens,

- des Systems von Kindergärten eines Trägers in einer Region,

- des Systems von Kindergärten eines Trägers in einem Bundesland,

- des Systems von Kindergärten in einem Bundesland

bilden sich unterschiedliche Verflechtungen aus, von denen sich die eine nicht aus der anderen heraus erklärt. Ein wesentliches Merkmal, durch den Verflechtungszusammen­hänge von Teilfigurationen, Figurationen und Figurationen von Figurationen sich ent­wickeln, ist das der Macht und der Verschiebung der Machtbalancen. Elias sagt, dass jede Teileinheit einen gewissen Spielraum für autonomes Handeln habe, und dass die­ser "je nach den Eigentümlichkeiten der übergeordneten Figuration wie auch nach der Stellung der Teilfigurationen innerhalb ihrer" variiere (Engagement und Distanzierung, Frankfurt 1987 , S. 54).

 

 

"Ihr seid nie versucht, Grenzen zu übertreten,

das Unbekannte dahinter zu ergründen ...

Immer, wenn ich auf dem Weg war,

wenn es glücken konnte, rissen mich

Grenzwächter zurück, Hüter des Anstands.

Das kann ich unter Leben nicht verstehen.

Das sind Rituale der Sicherheit, bürgerliche

Absprachen; sie reichen mir nicht."

 

(Peter Härtling)

2. Was meint "Prozeß der Zivilisation"?

Die neue Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, die mit dem zuletzt Gesagten vielleicht abstrakt klang, hat Norbert Elias in seinem Hauptwerk "Über den Prozeß der Zivilisation" konkretisiert. Dementsprechend geht es in der detaillierten Studie um die Verflechtungszusammenhänge zwischen konkreten, scheinbar individuel­len und privaten Phänomenen einerseits und politischen, gesamtgesellschaftlichen Tatbeständen andererseits. Entsprechend seines Grundverständnisses, Gesellschaft sei nur als Entwicklungsprozess zu verstehen, ist Elias an längerfristigen sozialen Wandlun­gen interessiert: grob gesagt an dem Übergang vom Mittelalter über die Renaissance in die Neuzeit.

In einem ersten Zugang untersucht er die Veränderungen, die sich in den "Benimm-Bü­chern" der jeweiligen Zeit feststellen lassen, um gleichsam die individuelle Seite des Prozesses erfassen zu können. In einem Beispiel betrachtet er die Veränderung der Esssitten: In den Oberschichten des Mittelalters aß man - für unsere Verhältnisse - Unmen­gen von Fleisch (Elias gibt eine Schätzung von 2 Pfund Fleisch pro Mann und Tag an; Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, a.a.O., S. 159), das zumeist in unzerkleinerter Weise auf den Tisch kam. Das Zerteilen eines großen Tieres gehörte deshalb zu den zu erlernenden Fähigkeiten der Mitglieder der Oberschicht, ähnlich wie Fechten und Tan­zen. Die Esskultur des Mittelalters wäre uns "unzivilisiert" erschienen: hauptsächliches Esswerkzeug war das Messer, das man selbstverständlich zum Mund führte, man aß aus einer gemeinsamen Schüssel, und die Suppe wurde aus einer gemeinsamen Schöpf­kelle geschlürft. Der Gebrauch von Servietten und Taschentüchern war nicht gewöhn­lich, man putzte sich die fettigen Hände am Tischtuch oder der Kleidung ab.

Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts änderten sich die Tischmanieren grundlegend bis hin zu unserer Weise, Fleisch zu essen, bei der nichts mehr an das ursprüngliche Tier erinnert, von dem das Fleisch stammt. Zunächst aß man die Suppe nicht mehr aus ei­ner gemeinsamen Kelle, sondern jeder bekam einen eigenen Löffel, den er - einmal benutzt - wieder abtrocknete, bevor er ihn erneut in die gemeinsame Schüssel tauchte, bis späterhin jeder einen eigenen Teller bekam. Das Messer - ursprünglich das Hauptesswerkzeug - wurde zunehmend mit Verboten belegt: es nicht mit der Schneide jemand anderem reichen, es nicht zum Mund führen, keine Kartoffel damit schneiden etc., alles Verhaltensweisen, die vordem üblich waren. Auf der anderen Seite gewann die Gabel zunehmend an Bedeutung und ersetzte so das Essen mit den Händen. Diese Veränderungen, die uns heute aus hygienischen Gründen selbstverständlich er­scheinen, wurden dabei nicht gesundheitlich begründet, sondern damit, dass es nicht "höfisch", "edel", "zivilisiert" sei.

Das Beispiel des Essens ist nur eine der "Zivilisationskurven", die Elias dokumentiert. Wei­tere Beispiele sind die Verrichtung "natürlicher Bedürfnisse", das Schnäuzen und Spuc­ken, das Schlafen sowie das Verhältnis von Mann und Frau. Immer wieder zeigen sich die gleichen Tendenzen:

- erstens ein "Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle", d.h. dasjenige, was vormals als na­türliches Bedürfnis erschien (z.B. das Spucken), wird soweit mit Tabus belegt, dass wir als "zivilisierte" Menschen dieses Bedürfnis nicht mehr empfinden, und selbst die Vorstellung als peinlich erleben (z.B. die Vorstellung, wenn wir alleine für uns sind, irgendwohin zu spucken);

- zweitens eine Verlegung ursprünglich selbstverständlicher Tätigkeiten "hinter die  Kulis­sen des gesellschaftlichen Lebens" (ebenda, Bd. 1, S. 163), wofür die Zerkleinerung der Tiere in der Metzgerei und Küche ein Beispiel, die Schaffung intimer Räume wie Toiletten und Schlafzimmer weitere sind;

- und drittens schließlich die Umwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang, d.h., das, was als zivilisiertes Verhalten entsprechend dem Stand der gesellschaftlichen Entwick­lung gilt (z.B. das Benutzen eines Taschentuchs, das Essen mit der Gabel und nicht mit den Fingern), geschieht nicht durch unmittelbaren Zwang von anderen auf uns, son­dern es ist uns durch den Erziehungsprozess während der Kindheit zur "zweiten Natur" geworden und geschieht automatisch.

 

In einem zweiten Zugang versucht Elias, den Zusammenhang zwischen der Art des Fühlens, Denkens und Handelns einzelner Menschen und der gesellschaftlichen, histori­schen Entwicklung insgesamt aufzuzeigen. Er dokumentiert am Beispiel Frankreichs, wie sich in einer Vielzahl von Einzelschritten im Verlauf des 12. bis 17. Jahrhunderts aus dem dezentralen Feudalsystem der absolutistische Staat herausbildete. Für uns mag es selbstverständlich erscheinen, dass es einen Staat gibt, der von allen Bürgern Steuern eintreibt, und der durch Polizei und Militär über einen Machtapparat verfügt, der unmit­telbare Aggressionen zwischen Mitgliedern des Staates verhindern soll. Tatsächlich sind beide - Steuer- und Gewaltmonopol - relativ junge Erscheinungen in der Geschichte. Ohne hier die differenzierte Beschreibung Elias auch nur andeuten zu können, sei nur auf das allgemeine Kennzeichen des "Königsmechanismus" (ebenda, Bd. 2, S. 236) hingewiesen: Der feudale Landadel gerät in eine Spannungsbeziehung zu dem auf­strebenden Bürgertum der Städte, das wirtschaftlich stärker wird. Diese Spannung er­möglicht die Stärkung des Königs, der zwischen beiden "vermittelt". Durch die relative Verarmung des Landadels (Inflationstendenzen und Stärkung der Geld- gegenüber der Naturalienwirtschaft sind hier nur zwei Stichworte) wird dieser an den Hof des Kö­nigs gebunden und ist von ihm abhängig. Der Hofadel, der nicht arbeitet und von wirt­schaftlichen und politischen Ämtern ausgeschlossen ist, erhält gesellschaftliche Macht, da der König ihn als Gegengewicht zum aufstrebenden Bürgertum benötigt. Im Laufe der Jahrhunderte entsteht so ein Staat, der die arbeitenden Bürger zur Steuerabgabe zwingen kann und dem  Landadel das Recht physischer Gewaltanwendung nimmt und sich somit ein Machtmonopol sichert. Dieses schafft "pazifierte" Räume im Innern des Staates, die wiederum Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung sind.

 

Zwischen dieser Herausbildung des absolutistischen Staates und der Entwicklung der Zivilisation bestehen interdependente Wechselwirkungen, wobei Elias sich gegen de­terministische Geschichtsauffassungen wehrt, die notwendige Ursache-Wirkungszu­sammenhänge auszumachen versuchen. Diese kritisiert er als falsche Analogieschlüsse aus dem Bereich der Physik auf menschliche Tatbestände. In der Soziologie muss die Suche nach einer letztendlich alles bestimmenden Ursache - verbunden damit auch der Gedanke einer idealistischen Finalität, auf die der Geschichtsprozess angeblich hinsteuere - ins Leere laufen, da in der Realität Ursache und Wirkung sich verwischen. Dies bedeutet für Elias andererseits nicht, dass der geschichtliche Wandel zufällig sei und dass zwischen verschiedenen Merkmalen dieses Wandels keine Beziehung be­stünde. Er schreibt:

"Dieser Wandel als Ganzes ist nicht 'rational' geplant; aber er ist auch nicht nur ein re­gelloses Kommen und Gehen ungeordneter Gestalten. Wie ist das möglich? Wie kommt es überhaupt in dieser Menschenwelt zu Gestaltungen, die kein einzelner Mensch beabsichtigt hat, und die dennoch alles andere sind als Wolkengebilde ohne Festigkeit, ohne Aufbau und Struktur?" (ebenda, Bd. 2, S. 313)

Elias erklärt den geschichtlichen Wandel durch die Zunahme der Verflechtungszusam­menhänge, in die Menschen hineingeraten, und die sowohl den Aufbau eines Staates und einer differenzierten Gesellschaft als auch die andere Art der Modellierung der Gefühle, des Denkens und Handelns von Menschen bewirken. Ihre Auswirkungen für das Individuum bestehen in einer  "Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhal­tung der Affekte, Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach-, die zukünftigen Folgeketten" (ebenda, Bd. 2, S. 322). Dies hat  eine "Psychologisierung" und "Rationalisierung" zur Folge.

In Bezug auf den ersten Aspekt schreibt Elias:

"Dem Umbau der Gesellschaft, dem Wandel der zwischenmenschlichen Beziehungen entsprechend, baut sich auch der Affekthaushalt des Einzelnen um: Dort wächst die Reihe der Handlungen und die Zahl der Menschen, von denen der Einzelne und seine Handlungen beständig abhängen, hier die Gewohnheit zur Sicht über längere Ketten hin. Und wie sich so Verhalten und Seelenhaushalt des Einzelnen verändern, ändert sich in entsprechender Weise auch die Art, in der ein Mensch den anderen betrachtet; das Bild, das der Mensch vom Menschen hat, wird reicher an Schattierungen, es wird freier von momentanen Emotionen: es 'psychologisiert' sich. (ebenda, Bd. 2, S. 372)

Zu den Auswirkungen, die der Prozess der Zivilisation auf das Denken hat, schreibt Elias:

"Wie das Gesamtverhalten, so wird auch die Beobachtung der Dinge und Menschen im Zuge der Zivilisation affektneutraler; auch das 'Weltbild' wird allmählich weniger unmittelbar durch die menschlichen Wünsche und Ängste bestimmt, und es orientiert sich stärker an dem, was wir 'Erfahrung' oder 'Empirie' nennen, an Verflechtungsreihen, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit haben." (ebenda, Bd. 2, S. 374f)

Diese Veränderungen im Fühlen und Denken der einzelnen Menschen, die Erschei­nungen des zivilisierten Verhaltens, sind auf vielfache Weise mit dem gesellschaftspolitischen Prozess verknüpft: das Gewaltmonopol des Staates zwingt den einzelnen, auf unmittelbare Aggression zu verzichten; dies setzt Emotionen frei, die nicht mehr nach Außen gewandt, sondern als Spannung in das Innere der Person verlegt werden (Elias spricht vom "gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang"). Die sich durchsetzende Wirt­schaftsweise des aufkommenden Kapitalismus verlangt ebenso eine längerfristige Pla­nungsweise des Menschen, eine stärkere Zurückhaltung unmittelbarer Bedürfnisbefrie­digung und eine rationalisierte Denkweise.

Für den höfischen Adel schließlich hatte die Herausbildung zivilisierter Verhaltensweisen die Funktion eines Unterscheidungsmerkmals gegenüber dem aufkommenden Bürger­tum. Ihre gesellschaftliche Funktion bestand nicht in der Arbeit, sondern in der Heraus­bildung eines "zivilisierten", "höfischen" Lebensstils. Da das Bürgertum, das wirtschaftlich mächtiger, aber lange Zeit politisch randständiger war, bestrebt war, die modellge­benden Verhaltensweisen zu kopieren, trieb dieser Prozess den höfischen Adel zu einer immer stärkeren Ausprägung zivilisierten Verhaltens, damit dieses die Funktion des Un­terscheidungsmerkmals weiterhin erfüllen konnte.

 

Nach diesem historischen Exkurs müssen wir uns nun fragen, was dieser Prozess der Zivili­sation für uns heute bedeutet. Kinder, aber nicht nur Kinder essen ihre Pommes frites und Hamburger bei Mc Donnalds mit den Fingern, Sexualität wird unverhüllt dargestellt, unsere Lebenssitten sind "locker", sexuelle Bedürfnisse werden als natürlich und wichtig angesehen und ihnen wird Freiraum zur Entfaltung gegeben. Das auch in den Medien vorherrschende Bild ist nicht das des zivilisierten, an sich haltenden Menschen, sondern dass des amerikanischen self-made-man, der sich ellbogenartig durchsetzt und mit sei­nem Geld ein möglichst großes Maß an unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zu kaufen versteht. Ist also das, was Elias beschreibt, eine Geschichte vergangener Tage? Leben wir weniger in einer Zeit des "Prozesses der Zivilisation" als in einer Zeit der Lockerung, der Loslösung von zivilisatorischen Zwängen? Diese Fragen sind wichtig, und wir wollen drei Antworten darauf geben.

Ein erster Versuch: An zwei Stellen (ebenda, Bd. 1, S. 190 und 257) geht bereits Elias auf dieses Problem ein, indem er schreibt, es sei "eine Lockerung im Rahmen des ein­mal erreichten Standards" (ebenda, S. 190). Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die freizügigeren Äußerungen triebhafter Wünsche nicht auf die Auflösung der "Selbstzwangapparatur" hinweisen, sondern im Gegenteil: weil die Möglichkeiten unse­rer Triebkontrolle uns in einem solchen Maße zur "zweiten Natur" geworden sind, be­deutet die Lockerung keine Gefahr eines Ausbruchs ungehemmter Sexualität und Ag­gression, wie dies bei weniger streng sozialisierten Menschen in früheren Zeiten der Fall gewesen wäre. Die Verlagerung äußerer Zwänge in die eigene Person ist vielmehr in einem solchen Ausmaß erreicht, dass eine persönliche Steuerung, ein individuelleres Management von Triebbefriedigung und Triebeinschränkung möglich ist.

Eine zweite Antwort auf die Frage liegt in der Veränderung der gesellschaftlichen Ent­wicklung insgesamt. Modellbildend ist nicht mehr der höfische Adel, sondern das Wirt­schaftsbürgertum. Dies hat auch zur Folge, dass gesellschaftliches Unterscheidungsmit­tel nicht die Art zivilisierten Verhaltens ist, die bis in eine Künstlichkeit hinein  gesteigert wurde, sondern das Geld. Folge davon ist auch eine stärkere Scheidung von Beruf und Freizeit. Für den Adel konnte es eine solche Unterscheidung nicht geben, da er keine berufliche Funktion erfüllte, sondern sein "Beruf" in der Elaborierung eines gesell­schaftlichen Lebensstils bestand. Wenn wir die Unterscheidung von Beruf und Freizeit auf zivilisatorisches Verhalten in unserer Zeit beziehen, so können wir feststellen, dass das, was wir als "Lockerung" gesehen haben, hauptsächlich im Freizeitbereich eine Rolle spielt, während im Arbeitsleben der Druck der Affektkontrolle und der Grad der Rationalisierung tendenziell eher zunehmen (etwa durch die Anpassung unseres Kör­pers an die Macht der Apparate). Vielleicht ist die Lockerung im Privat- und Konsum­bereich lediglich Kompensation für den zunehmenden beruflichen Druck.

Eine dritte Antwort schließlich hat Wouters (1987) in seinem Aufsatz "Informalisierung und der Prozess der Zivilisation" (in: P. Gleichmann u.a., Materialien zu Norbert Elias' Zivilisati­onstheorie, Frankfurt 19873) versucht. Er bezeichnet das, was wir bisher "Lockerung des Verhaltens" genannt haben, mit "Informalisierung'" und nennt als Beispiele den Ge­brauch der Vornamen, die Anrede- und Schlussformel in Briefen, das Sexualverhalten, Wandel in den Erziehungsvorstellungen. Sie sind für ihn Ausdruck einer sich verändern­den Machtbalance zwischen Eltern und Kindern, Männer und Frauen, Mittelschicht und Arbeiterklasse. Gerade in der Verschiebung zugunsten der Arbeiterklasse sieht Wouters "eine der am stärksten wirkenden Triebkräfte des Informalisierungsaspektes eines Pro­zesses der Zivilisation" (ebenda, S. 288). Wouters These lautet, dass die Informalisierung nicht Ausdruck einer Schwächung der Selbstzwänge ist, sondern im Gegenteil, "dass die Anforderungen an Selbstzwänge gewachsen sind" (ebenda, S. 288). Er verdeutlicht seine These u.a. an dem Wandel der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Die Ver­ringerung der Machtunterschiede zwischen ihnen, der Abbau autoritärer Erziehungs­praktiken fordert zunächst von den Eltern, den Ausbruch ihrer Aggressionstendenzen zu zügeln, selbstbeherrscht zu werden, um stärker auf die Bedürfnisse der Kinder einge­hen zu können. Langfristig fordert dieser Prozess aber auch für die Kinder eine stärkere Selbstkontrolle, da sie ihnen nicht so äußerlich bleibt, wie z.B. bei Formen autoritärer Er­ziehung. Das Maß an Selbststeuerung durch die Kinder wächst. Zusammenfassend schreibt Wouters:

"ein Nachlassen der Machtungleichheiten führt zu einer größeren Informalität. Im Ge­gensatz zum oberflächlichen Eindruck führt größere Zwanglosigkeit in der Beziehung in­terdependenter Personen zu tiefer verwurzelten Selbstzwängen und erfordert sie auch, als etwa Beziehungen mehr formeller Natur, die charakteristisch sind für größere und offenkundigere Status- und Machtungleichheiten und ein autoritäres Verhalten von so­zial Überlegenen." (ebenda, S. 293)


 

Das Schiff

 

Das eilende Schiff,

es kommt durch die Wogen

Wie Sturmwind geflogen

 

Voll Jubel ertönt's

vom Mast und vom Kiele:
"Wir nahen dem Ziele."

 

Der Fährmann am Steuer

spricht traurig und leise:
"Wir segeln im Kreise."

 

(Marie von Ebner-Eschenbach)

3. Welche pädagogischen Implikationen enthält die Zivilisationstheorie?

Wir haben einleitend in diesem Kapitel behauptet, die Beschäftigung mit soziologi­schen Theorien helfe bei der Beantwortung einiger zentraler Fragen, die sich für eine Kindergartenkonzeption stellen. Abschließend soll dies in drei Punkten gezeigt werden. Der erste bezieht sich auf die pädagogische Bewertung des beschriebenen Zivilisati­onsprozesses, der zweite beschäftigt sich mit der Frage, welche Schlussfolgerungen aus der interdependenten Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft sich für Erziehungsziele ergeben. Abgeschlossen wird dieses Kapitel schließlich mit we­nigen Bemerkungen zu dem Problem der bewußten Steuerung der Institution Kinder­garten selbst.

Ein bestimmter Stand der Zivilisationsentwicklung ist pädagogisch betrachtet weder hilfreich noch gefährlich, sondern Ausdruck der jeweiligen Gesellschaftsformation.  Es wäre naiv, unsere Form von Zivilisation pauschal zu verdammen und einer idealisti­schen Natürlichkeit nachzulaufen. Trotzdem erscheint es notwendig, danach zu fragen, was dieser gesellschaftliche Prozess, der weit in das Leben des einzelnen eingreift und es konstituiert, für die seelische Gesundheit bedeutet. In diesem Sinne spricht Elias von der Zivilisation als "recht zweischneidiger Waffe" (Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, a.a.O., S. 387). Als negative Pole nennt er "Unruhe und Unbefriedigtheit der Men­schen", die durch eine zu weite Einschränkung der Triebe und eine Selbstunterdrückung entstehen, so dass Triebäußerungen keine Form der Befriedigung finden können, quasi "anästhesiert" werden (ebenda, S. 332). Zum anderen hebt er den "Verlust an Stabili­tät" hervor, da unsere Zivilisation eine große Flexibilität in den Möglichkeiten menschli­chen Verhaltens verlangt (ebenda, S. 334). Mehr als 50 Jahre nachdem Elias dies ge­schrieben hat, ist unser Blick für die Kehrseite der Zivilisation geschärft. Der Einschrän­kung menschlicher Triebäußerungen und damit eine Verringerung befriedigender Lu­sterlebnisse, der Modellierbarkeit des Menschen durch die "gesellschaftliche Präge­apparatur" sind Grenzen gesetzt, die ein weitergetriebener Zivilisationsprozess des öfteren zu Lasten seelischer Gesundheit zu überschreiten versucht, z.B. dadurch dass Mög­lichkeiten unmittelbarer sinnlicher und körperlicher Auseinandersetzung zunehmend zu­gunsten einer Informationsverarbeitung über Informationen aus zweiter Hand reduziert werden.

Diese Probleme erhöhen sich für unsere Kinder, da es ihre Aufgabe ist, während der Zeit ihrer individuellen Entwicklung bis zum Abschluß des Jugendalters den Stand der Zivilisationsentwicklung erreicht zu haben, der für unsere Gesellschaft kennzeichnend ist. Wenn wir davon ausgehen, dass Neugeborene vor 50, vor 500 vor 1000, vor 2000 Jahren die gleiche Ausstattung mit affektiven Antrieben und kognitiven Möglichkeiten wie ein heute geborenes Baby mitbrachten, so sehen wir die Schwierigkeit, den Entwicklungsprozess so zu steuern, dass ein Handeln in einer Welt mit immer komplexeren Sozialbeziehungen, mit ihrer zunehmenden Abstraktheit und weitergehenden Triebkon­trolle möglich wird. Pädagogisch könnte daraus abgeleitet werden, immer früher und mit zunehmendem Druck von Kindern sozial angepasstes Verhalten zu verlangen. Dies wäre jedoch ein Trugschluss, da ein solch frühzeitiger Anpassungsdruck entweder seeli­sche Störungen hervorrufen muss oder eine Persönlichkeitsstruktur herausbildet, die au­ßengesteuert ist und damit nicht jene für unsere Gesellschaft zentralen Selbstkontroll­mechanismen aufbaut, die tendenziell auch ein Moment von Selbstbestimmung ent­halten.

Aus der Perspektive von Elias lässt sich als Ziel des Erziehungsprozesses die Einpassung in den gegebenen Stand der zivilisatorischen Entwicklung und deren Weiterentwicklung angeben. Nur: dies ist das Ziel und nicht der Anfangspunkt, an dem wir uns im Kinder­garten befinden. Um den ohnehin vorhandenen Zivilisationsdruck auch auf Kinder ab­zufedern, erscheint uns deshalb pädagogisch vor allem eins geboten: Vorsichtigkeit. Pädagogisch erfolgreiches Handeln zeichnet sich nicht dadurch aus, möglichst frühzei­tig den Übergang zur nächsten Stufe zu bewerkstelligen, sondern durch Möglichkeiten, die wir für Kinder eröffnen, Erfahrungen auf der jeweiligen Stufe ihrer Entwicklung ma­chen zu können, so dass wir mehr die Intensität als die Quantität des Entwicklungspro­zesses betonen. Konkret bedeutet dies für den Kindergarten:

     gegen die Tendenz zu vermittelten Informationen, die durch das Fernsehen für Kinder heute ohnehin selbstverständlich sind, einen Lebens­raum zu schaffen, in dem unmittelbar sinnliche Erfahrungen gemacht werden können;

     gegen die Tendenz zur Reduktion des Körpers des Kindes auf einen "Lern-Körper" (Rumpf), der an Tischen und auf Stühlen sitzt und sich mit Papier-Bleistift-Schere-Klebe-Aktivitäten auseinandersetzt, Möglichkei­ten für die Vielfältigkeit und Selbstverständlichkeit grobmotorischer, kör­perlicher Aktivität zu eröffnen;

     gegen die Tendenz zur Anpassung an ordentliches Verhalten, zu dem der Druck des Lebens in öffentlichen Institutionen verstärkend drängt, das Chaos unzivilisierten, lustvollen, spaßreichen Handelns zuzulassen;

     gegen die Tendenz einer Pädagogisierung und Didaktisierung der Zeit, die dazu anhält, möglichst rationell zu lernen, Raum und Zeit zu geben für die Eigentümlichkeit der kindlichen Zeitrhythmen.

Das Kind wird sich in den erreichten Stand gesellschaftlicher Zivilisationsentwicklung einarbeiten, aber eine solche Synchronisation wird am Ende des Erziehungsprozesses stehen, und sie wäre nicht befördert, sondern gefährdet, wenn wir Kindheit nicht als Phase der "Asynchronisation" verstehen würden. Die Pädagogik bezieht ihre historisch-gesellschaftliche Rechtfertigung aus ihrem Mandat für die Kindlichkeit der Kinder und nicht aus einem verfrühten Anpassungsdruck an Erwachsenenverhalten. Dieser Ge­danke ist umso wichtiger, je jünger die Kinder sind.

 

Kindergartenkonzeptionen versuchen durch unterschiedliche Umschreibungen eine Gewichtung zwischen zwei Polen vorzunehmen: der eine mag bezeichnet werden als Sozialisation, soziales Lernen, Anpassung an die Gruppe, Rücksichtnahme, Vorberei­tung auf die Anforderungen der Schule; der andere als Individualisierung, Emotionali­tät, Durchsetzungsvermögen in der Gruppe, Präsentation eigener Bedürfnisse, Zeit für freies Spiel. Dann mag der eine mehr für Schulvorbereitung, der andere mehr für freies Spiel der Kinder sein, in den meisten Konzeptionen werden wir Formulierungen wie "sowohl als auch" finden, Versuche eines Kompromisses zwischen den Anforderungen der Gesellschaft auf Anpassung und den Anforderungen der Individuen auf Freiheit. Individuum und Gesellschaft werden so zu unterschiedlichen Bereichen, von denen der eine, in dem er sich mehr ausdehnt, den jeweils anderen einschränkt und umge­kehrt. Viele Diskussionen im Kindergarten können so den Charakter von "Glaubens­kämpfen" annehmen, ob man mehr auf der Seite des Individuums oder der Gesell­schaft stehe. Häufig ist es dabei die Gesellschaft, die als notwendiges Übel gilt, an die man sich auf Grund der Macht der Notwendigkeit anpassen muss, aber nur so weit, wie es unbedingt notwendig ist, um möglichst viel von der Freiheit des Individuums zu ret­ten.

Die Gesellschaftstheorie von Elias mag helfen, einen Ausweg aus dieser Falle zwischen dem Zwang der Gesellschaft und der Freiheit des Individuums zu finden. Die Frage ist nämlich, ob solche Aufteilungen die Realität richtig beschreiben. Sind Gesellschaft und Individuum zwei getrennte Bereiche und deshalb soziales und affektives Lernen zwei verschiedene Lernfelder? Wenn das so wäre, müssten Menschen mit geringer gesell­schaftlicher Anpassung ein Mehr an individueller Freiheit aufweisen, und umgekehrt Menschen mit weniger Individualität in hohem Maße sozial angepasst sein. Dass dies in der Realität nicht so ist, zeigen uns Extrembeispiele: Menschen mit schweren psychoti­schen Störungen oder geistigen Behinderungen, Menschen, die in Obdachlosensied­lungen leben, Kriminelle, sie alle weisen im Sinne des Funktionierens in unserer Gesell­schaft einen geringen Grad an Anpassung auf, ohne dass wir auf der anderen Seite sagen könnten, ihre individuelle Freiheit, ihre Möglichkeiten der Selbsterkenntnis und der Durchsetzung individueller Bedürfnisse sei besonders hoch. Wenn wir nach einem Beispiel suchen, können wir an den Künstler denken, der in kreativer Weise mit Pinsel, Leinwand und Farbe umgeht. Es wäre unsinnig, die Anpassung des Malers an die Techniken des Umgangs mit seinem Material der Freiheit seiner Kreativität gegenüber­zustellen. Vielmehr zeigt sich, dass je mehr ein Künstler die Techniken beherrscht und sich damit den Gegebenheiten der Materialien anpasst, er nicht weniger kreativ wird, sondern im Gegenteil: durch die Beherrschung der Techniken baut er seine Kreativität auf. Kreativität und Technikbeherrschung sind nicht unterschiedliche Bereiche - etwa auch nicht so, dass man sagen könne: erst die Beherrschung der Technik, dann die Kreativität -, sondern unterschiedliche Aspekte des gleichen Prozesses: nur durch die Beherrschung der Techniken erhält der Künstler die Möglichkeit, seiner Kreativität Aus­druck zu verleihen, aber auch umgekehrt: nur durch das Verlangen, einer kreativen Idee Gestalt zu geben, wird er seine Technik verfeinern.

Individuum und Gesellschaft sind nicht unterschiedliche Bereiche, sondern verschie­dene Aspekte des gleichen Entwicklungsprozesses. Der neugeborene Säugling verfügt nicht über ein Mehr an Individualität und wird durch seine Sozialisation in die Gesell­schaft gezwungen, sondern im Verlauf seiner Entwicklung baut er im Kontakt mit der Umwelt seine Individualität auf, und indem er sie aufbaut, passt er sich in die Gesell­schaft ein. Von daher lassen sich zwei unterschiedliche Perspektiven der Betrachtung unterscheiden: die gesellschaftliche Umwelt dient als "Nahrung" für den Aufbau der Persönlichkeit, und das Individuum ist "Nahrung" für die Entwicklung der Gesellschaft. Beide - Individuum und Gesellschaft - sind zwei Seiten einer Medaille, beide - indivi­dueller und gesellschaftlicher Aufbau - sind zwei Perspektiven des gleichen Prozesses. Wenn wir für die Kindergartenkonzeption gefordert haben, sie solle die "Asynchronität" zwischen der kindlicher Entwicklung und dem Stand der gesellschaftlichen Zivilisations­entwicklung betonen, sie solle ein Mehr an unmittelbarer sinnlicher Erfahrung, an kör­perlicher Aktivität, an lustvollem Chaos, an sensiblem Umgang mit kindlichen Zeitrhyth­men zulassen, dann ist dies nicht gegen die Gesellschaft oder in einen idealistisch ge­dachten gesellschaftsfreien Raum hinein gesagt, sondern es bringt die Betrachtungs­perspektive zum Ausdruck, die der Pädagogik historisch-gesellschaftlich gegeben ist: zumindest seit der Aufklärung und den Anfängen bürgerlicher Freiheitsrechte sollen Kinder nicht blind in die Anforderungen einer als statisch gedachten Gesellschaft ein­gezwungen werden, sondern der komplizierte Verflechtungsmechanismus unserer Ge­sellschaft verlangt notwendiger Weise, auch die Frage nach der "Lustbilanz" zu stellen, wenn der Sozialisationsprozess nicht sowohl gesellschaftlich disfunktional als auch für das Individuum negativ verlaufen soll.

 

Abschließend wollen wir die Gesellschaftstheorie von Norbert Elias noch dazu benut­zen, uns die Frage vorzulegen, in wieweit der Prozess der Veränderung der Institution Kindergarten selbst bewusst erfolgen kann, oder ob er das Ergebnis eines nicht vorher­sehbaren Spiels von Zufälligkeiten ist. Erst für Lesenlernen von Kindergartenkindern dann für die freie Äußerung kindlicher Sexualität; erst für ordentliche dann für chaoti­sche Arbeitsmappen; erst für Schulvorbereitung dann für soziales Lernen; erst für Ma­thematik und Physik dann für Musik und Gestaltung; erst für inhaltsbezogene dann für situationsorientierte Curricula; erst Integration von Obdachlosenkindern dann Auslän­dern dann Behinderten und Aussiedlern; erst für den Kindergarten als pädagogische Institution und gegen die Bewahranstalt und jetzt für flexible und ausgeweitete Öff­nungszeiten wegen der Berufstätigkeit der Mütter. Dies sind einige wenige Schlag­worte, hinter denen Veränderungen des Kindergartens in den letzten 25 Jahren ste­hen. Passen wir uns jeder dieser Reformen an - mit viel Engagement und abwartend, was demnächst auf uns zukommt -, oder fühlen wir uns dem allen ohnmächtig ausge­liefert, oder beharren wir auf unserem Standpunkt und lassen die Wellen über uns hin­weggehen, weil wir wissen, dass die Reformen so schnell wieder verschwinden wer­den, wie sie gekommen sind? Sind Erzieherinnen - außerhalb des Wirkungsbereichs ih­rer unmittelbaren Arbeit - der Spielball von Veränderungen derer "da oben": der Funk­tionäre, der Politiker, der Wirtschaft? Nur: je weiter wir in der Hierarchie des Kindergar­tensystems nach oben gehen, desto größer werden die Abhängigkeiten von den "Sachzwängen", desto stärker ist die Angst, sich frei zu äußern, desto größer der Kon­formitätsdruck, mit der eigenen Meinung an sich zu halten. Sind es also die Sach­zwänge, die die Funktionäre und Politiker beherrschen, und die Entwicklung bestim­men? Nur: was sind das für Sachen, die da zwingen? Doch nichts anderes als Institutio­nen und Handlungen von Menschen, die miteinander in vielfältigen Beziehungen ste­hen.

Führen wir zur Verdeutlichung der Fragestellung in Gedanken ein Experiment durch: Wir bitten Erzieherinnen, Politiker, Kindergartenfunktionäre, Fortbildner, Fachberaterinnen, Wissenschaftler und andere Experten vorauszusehen, wie der Kindergarten in zwanzig Jahren aussehen wird, welches die Fragen sein werden, die dann im Mittelpunkt seiner Entwicklung stehen. Dabei geht es nicht darum, wie die jeweilige Gruppe sich wünscht, dass der Kindergarten sei, sondern wie er tatsächlich in zwanzig Jahren ist. Die Wahr­scheinlichkeit, dass die Prognosen aller Gruppen sich als falsch erweisen werden, scheint groß. Und weil wir nicht in die Zukunft schauen können, kann uns nur ein Blick zu­rück als Beleg dieser These dienen: Wer von den Erzieherinnen, Politikern, Kindergar­tenfunktionären, Fortbildnern, Fachberaterinnen, Wissenschaftlern und anderen Exper­ten hätte im Jahre 1980 vorausgesagt, dass im Jahre 1990 die fehlenden Kindergar­tenplätze das Hauptproblem seien, und wer hätte 1970 gesagt, dass der Betreuungs­gesichtspunkt von Kindern in der öffentlich diskutierten Forderungsliste an erster Stelle stünde?

Ist die Folgerung aus alledem, wenn wir länger- und sogar mittelfristig keine gesicher­ten Prognosen geben können, sollten wir auf Planung lieber verzichten und uns dem Tagesgeschäft widmen? Wenn die Entwicklung scheinbar so blind verläuft, geben wir uns dann nicht lieber gleich dem Treiben der Geschichte hin, so wie das unsteuerbare Boot dem Spiel der Wellen ausgesetzt? Wir denken dies nicht, sondern wollen im Ge­genteil dafür sprechen, engagiert in das Geschehen einzugreifen. Institutionen werden von Menschen gemacht, und sie verändern sich durch deren planvolles Tun. Damit dies erfolgreich geschehen kann - so können wir von der Gesellschaftstheorie Elias ler­nen -, ist eine distanzierte Haltung notwendig, die versucht, zwischen Wollen und Reali­tät, Bewertung und Wahrnehmung zu unterscheiden. In dem Bild des Gedichtes von Ebner-Eschenbach gesprochen: nicht die vom Mast bis Kiel Jubelnden, sondern der die traurige Realität erkennende Fährmann hat vielleicht noch die Möglichkeit, das im Kreis segelnde Schiff zu retten.

Um den Kurs der Entwicklung des Kindergartens beeinflussen zu können, bedarf es Struktur- und Entwicklungsmodelle, die die Machtfaktoren, ihre Interessen und relativen Stärken aufzeigen und "Einbruchstellen" von Veränderungen benennen. Wenn da­durch ein Mehr an Bewusstheit der Entwicklungsdynamik erreicht wird, erhöht sich auch die Chance der Steuerungsfähigkeit. Nur ist andererseits auch die Grenze dieses Bewusstwerdungsprozesses zu sehen: allein eine so begrenzte Frage wie die nach der Entwicklung des Kindergartens in einem Bundesland in einem Zeitraum von zwanzig Jahren steht in Verknüpfung mit einer so großen Vielzahl von Faktoren und Bereichen, die ihrerseits in einem Entwicklungsprozess stehen, dass unser Stand des verfügbaren Wissens nur ein wenig Licht in dieses Dunkel bringen kann. Im Vergleich ist die Bewusstseinsfähigkeit über gesellschaftliche Prozesse ähnlich der für innerpsychische: Beide haben ihre Grenzen und Möglichkeiten; für beide gilt, dass man hinterher klüger ist als vorher; für beide sollte aber auch gelten, angesichts der Eingeschränktheit der Bewusstseinsfähigkeit nicht zu resignieren, sondern an den Stellen, die problematisch er­scheinen, sich um eine weitergehende Aufklärung zu bemühen.


 drucken  zu favouriten hinzufügen  email